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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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dem inneren Selbst. Nach dieser Seite hin muß der Künstler sich<br />

nicht nur viel in der Welt umgesehen und mit ihren äußeren und inneren<br />

Erscheinungen bekannt gemacht haben, sondern es muß auch<br />

vieles und Großes durch seine eigene Brust gezogen, sein Herz muß<br />

schon tief ergriffen und bewegt worden sein, er muß viel durchgemacht<br />

und durchgelebt haben, ehe er die echten Tiefen des Lebens<br />

zu konkreten Erscheinungen herauszubilden imstande ist. Deshalb<br />

braust wohl in der Jugend der Genius auf, wie dies bei Goethe und<br />

Schiller z. B. der Fall war, aber das Mannes- und Greisenalter erst<br />

kann die echte Reife des Kunstwerks zur Vollendung bringen.<br />

b. Das Talent und Genie<br />

Diese produktive Tätigkeit nun der Phantasie, durch welche der<br />

Künstler das an und für sich Vernünftige in sich selbst als sein eigenstes<br />

Werk zur realen Gestalt herausarbeitet, ist es, die Genie, Talent<br />

usf. genannt wird.<br />

α) Welche Seiten zum Genie gehören, haben wir daher soeben bereits<br />

betrachtet. Das Genie ist die allgemeine Fähigkeit zur wahren<br />

Produktion des Kunstwerks sowie die Energie der Ausbildung und<br />

Betätigung derselben. Ebensosehr aber ist diese Befähigung und<br />

Energie zugleich nur als subjektive, denn geistig produzieren kann<br />

nur ein selbstbewußtes Subjekt, das sich ein solches Hervorbringen<br />

zum Zwecke setzt. Näher jedoch pflegt man noch einen bestimmten<br />

Unterschied zwischen Genius und Talent zu machen. Und in der Tat<br />

sind beide auch nicht unmittelbar identisch, obschon ihre Identität<br />

zum vollkommenen künstlerischen Schaffen notwendig ist. Die Kunst<br />

nämlich, insofern sie überhaupt individualisiert und zur realen Erscheinung<br />

ihrer Produkte<br />

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herauszutreten hat, fordert nun auch zu den besonderen Arten dieser<br />

Verwirklichung unterschiedene besondere Fähigkeiten. Eine solche<br />

kann man als Talent bezeichnen, wie der eine z. B. ein Talent zum<br />

vollendeten Violinspiel hat, der andere zum Gesang usf. Ein bloßes<br />

Talent aber kann es nur in einer so ganz vereinzelten Seite der Kunst<br />

zu etwas Tüchtigem bringen und fordert, um in sich selber vollendet<br />

zu sein, dennoch immer wieder die allgemeine Kunstbefähigung und<br />

Beseelung, welche der Genius allein verleiht. Talent ohne Genie daher<br />

kommt nicht weit über die äußere Fertigkeit hinaus.<br />

β) Talent und Genie nun ferner, heißt es gewöhnlich, müßten dem<br />

Menschen angeboren sein. Auch hierin liegt eine Seite, mit der es<br />

seine Richtigkeit hat, obschon sie in anderer Beziehung ebensosehr<br />

wieder falsch ist. Denn der Mensch als Mensch ist auch zur Religion<br />

z. B., zum Denken, zur Wissenschaft geboren, d. h. er hat als<br />

Mensch die Fähigkeit, ein Bewußtsein von Gott zu erhalten und zur<br />

denkenden Erkenntnis zu kommen. Es braucht dazu nichts als der<br />

Geburt überhaupt und der Erziehung, Bildung, des Fleißes. Mit der<br />

Kunst verhält es sich anders; sie fordert eine spezifische Anlage, in<br />

welche auch ein natürliches Moment als wesentlich hineinspielt. Wie<br />

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