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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie<br />

für das Leben<br />

In: Werke in drei Bänden, Bd.1, München: <strong>Hans</strong>er 1954. S.252-258<br />

/252/<br />

7<br />

Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Konsequenzen<br />

zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört<br />

und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein<br />

leben können. Die historische Gerechtigkeit, selbst wenn sie<br />

wirklich und in reiner Gesinnung geübt wird, ist deshalb eine schreckliche<br />

Tugend, weil sie immer das Lebendige untergräbt und zu Fall<br />

bringt: ihr Richten ist immer ein Vernichten. Wenn hinter dem historischen<br />

Triebe kein Bautrieb wirkt, wenn nicht zerstört und aufgeräumt<br />

wird, damit eine bereits in der Hoffnung lebendige Zukunft auf dem<br />

befreiten Boden ihr Haus baue, wenn die Gerechtigkeit allein waltet,<br />

dann wird der schaffende Instinkt entkräftet und entmutigt. Eine Religion<br />

zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten der<br />

rei nen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch<br />

und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses<br />

Weges zugleich vernichtet. Der Grund liegt darin, daß bei der historischen<br />

Nachrechnung jedesmal so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches,<br />

Absurdes, Gewaltsames zutage tritt, daß die pietätvolle Illusions-Stimmung,<br />

in der alles, was leben will, allein leben kann, notwendig<br />

zerstiebt: nur in Liebe aber, nur umschattet von der Illusion<br />

der Liebe, schafft der Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben<br />

an das Vollkommne und Rechte. Jedem, den man zwingt, nicht mehr<br />

unbedingt zu lieben, hat man die Wurzeln seiner Kraft abgeschnitten:<br />

er muß verdorren, nämlich unehrlich werden. In solchen Wirkungen<br />

ist der Historie die Kunst entgegengesetzt: und nur wenn die Historie<br />

es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu<br />

werden, kann sie vielleicht Instinkte erhalten oder sogar wecken. Eine<br />

solche Geschichtsschreibung würde aber durchaus dem analytischen<br />

und unkünstlerischen Zuge unserer Zeit widersprechen, ja von ihr als<br />

Fälschung empfunden werden. Historie aber, die nur zerstört, ohne<br />

daß ein innrer Bautrieb sie führt, macht auf die Dauer ihre Werkzeuge<br />

blasiert und unnatürlich: denn solche Menschen zerstören Illusionen,<br />

und »wer die Illusion in sich und anderen zerstört, den straft die Natur<br />

als der strengste Tyrann«. Eine gute Zeit lang zwar kann man sich<br />

wohl mit der Historie völlig harmlos und unbedachtsam beschäftigen,<br />

/253/<br />

als ob es eine Beschäftigung so gut wie jede andre wäre; insbesondere<br />

scheint die neuere Theologie sich rein aus Harmlosigkeit mit der<br />

Geschichte eingelassen zu haben und jetzt noch will sie es kaum<br />

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