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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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die Schönheit selber die im Sinnlichen und Wirklichen realisierte Idee<br />

ist und das Kunstwerk das Geistige zur Unmittelbarkeit des Daseins<br />

für Auge und Ohr herausstellt, so muß auch der Künstler nicht in der<br />

ausschließlich geistigen Form des Denkens, sondern innerhalb der<br />

Anschauung und Empfindung und näher in bezug auf ein sinnliches<br />

Material und im Elemente desselben gestalten. Dies künstlerische<br />

Schaffen schließt deshalb, wie die Kunst überhaupt, die Seite der<br />

Unmittelbarkeit und Natürlichkeit in sich, und diese Seite ist es, welche<br />

das Subjekt nicht in sich selbst hervorbringen kann, sondern als<br />

unmittelbar gegeben in sich vorfinden muß. Dies allein ist die Bedeutung,<br />

in welcher man sagen kann, das Genie und Talent müsse angeboren<br />

sein.<br />

/368/<br />

ln ähnlicher Art sind auch die verschiedenen Künste mehr oder weniger<br />

nationell und stehen mit der Naturseite eines Volks im Zusammenhange.<br />

Die Italiener z. B. haben Gesang und Melodie fast von<br />

Natur, bei den nordische n Völkern dagegen ist die Musik und Oper,<br />

obgleich sie die Ausbildung derselben sich mit großem Erfolg haben<br />

angelegentlich sein lassen, ebensowenig als die Orangenbäume vollständig<br />

einheimisch geworden. Den Griechen ist die schönste Ausgestaltung<br />

der epischen Dichtkunst und vor allem die Vollendung der<br />

Skulptur eigen, wogegen die Römer keine eigentlich selbständige<br />

Kunst besaßen, sondern sie erst von Griechenland her in ihren Boden<br />

verpflanzen mußten. Am allgemeinsten verbreitet ist daher überhaupt<br />

die Poesie, weil in ihr das sinnliche Material und dessen Formierung<br />

die wenigsten Anforderungen macht. Innerhalb der Poesie<br />

ist wiederum das Volkslied am meisten nationell und an Seiten der<br />

Natürlichkeit geknüpft, weshalb das Volkslied auch den Zeiten geringer<br />

geistiger Ausbildung angehört und am meisten die Unbefangenheit<br />

des Natürlichen bewahrt. Goethe hat in allen Formen und Gattungen<br />

der Poesie Kunstwerke produziert, das Innigste aber und Unabsichtlichste<br />

sind seine ersten Lieder. Zu ihnen gehört die geringste<br />

Kultur. Die Neugriechen z. B. sind ηοch jetzt ein dichtendes, singendes<br />

Volk. Was heut oder gestern Tapferes geschehen, ein Todesfall,<br />

die besonderen Umstände desselben, ein Begräbnis, jedes Abenteuer,<br />

eine einzelne Unterdrückung von seiten der Türken — alles und<br />

jedes wird bei ihnen sogleich zum Liede, und man hat viele Beispiele,<br />

daß oft an dem Tage einer Schlacht schon Lieder auf den neuerrungenen<br />

Sieg gesungen wurden. Fauriel 18 hat eine Sammlung neugriechischer<br />

Lieder herausgegeben, zum Teil aus dem Munde der Frauen,<br />

Ammen und Kindermädchen, die sich nicht genug verwundern<br />

konnten, daß er über ihre Lieder erstaunte. — In dieser Weise hängt<br />

die Kunst und ihre bestimmte Produktionsart mit der<br />

/369/<br />

18 Claude Charles Fauriel, 1772-1844, französischer Philologe<br />

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