Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger
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fens für wichtiger als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre<br />
in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.<br />
147<br />
Die Kunst als Totenbeschwörerin. – Die Kunst versieht nebenbei die<br />
Aufgabe, zu konservieren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen<br />
ein wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese<br />
Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren<br />
Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie über Gräbern,<br />
welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter<br />
Toten im Traume; aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte<br />
Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst<br />
vergessenen Takte. Nun muß man wegen dieses allgemeinen Nutzens<br />
der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in<br />
den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Vermännlichung<br />
der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder ein<br />
Jüngling geblieben und auf dem Standpunkt zurückgehalten, auf welchem<br />
er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der<br />
ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaßen denen früherer<br />
Zeitläufte näher als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich<br />
wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen;<br />
dies ist sein Ruhm und seine Begrenztheit.<br />
148<br />
Dichter als Erleichterer des Lebens. – Die Dichter, insofern auch sie<br />
das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder<br />
von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart<br />
durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen,<br />
zu neuen Farben. Um dies zu können, müssen sie selbst in<br />
manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein: so daß man<br />
sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden<br />
oder abgestorbenen<br />
/547/<br />
Religionen und Kulturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer<br />
und notwendig Epigonen. Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung<br />
des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie beschwichtigen<br />
und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick; sie halten sogar die<br />
Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu<br />
arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche<br />
zur Tat drängen, aufheben und palliativisch entladen.<br />
149<br />
Der langsame Pfeil der Schönheit. – Die edelste Art der Schönheit ist<br />
die, welche nicht auf einmal hinreißt, welche nicht stürmische und<br />
berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern<br />
jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich<br />
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