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Geniebegriffe - Hans-Joachim Lenger

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Tier die Entstehung der mächtigsten Eiche verhindern kann, dadurch,<br />

daß es die Eichel verschluckt. Alles Lebendige braucht um sich eine<br />

Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese<br />

Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt,<br />

als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über<br />

das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbarwerden nicht mehr<br />

wundern. So ist es nun einmal bei allen großen Dingen,<br />

»die nie ohn' ein'gen Wahn gelingen«,<br />

wie <strong>Hans</strong> Sachs in den Meistersingern sagt.<br />

Aber selbst jedes Volk, ja jeder Mensch, der reif werden will, braucht<br />

einen solchen umhüllenden Wahn, eine solche schützende und<br />

umschleiernde Wolke; jetzt aber haßt man das Reifwerden überhaupt,<br />

weil man die Historie mehr als das Leben ehrt. Ja man triumphiert<br />

darüber, daß jetzt »die Wissenschaft anfange, über das Leben<br />

zu herrschen«: möglich, daß man das erreicht; aber gewiß ist ein<br />

derartig beherrschtes Leben nicht viel wert, weil es viel weniger Leben<br />

ist und viel weniger Leben für die Zukunft verbürgt als das ehemals<br />

nicht durch das Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige<br />

Wahnbilder beherrschte Leben. Aber es soll auch gar nicht, wie gesagt,<br />

das Zeitalter der fertig und reif gewordenen, der harmonischen<br />

Persönlichkeiten sein, sondern das der gemeinsamen möglichst<br />

nutzbaren Arbeit. Das<br />

/255/<br />

heißt eben doch nur: die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit<br />

abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen: sie<br />

sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif<br />

sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxus<br />

wäre, der »dem Arbeitsmarkte« eine Menge von Kraft entziehen würde.<br />

Man blendet einige Vögel, damit sie schöner singen: ich glaube<br />

nicht, daß die jetzigen Menschen schöner singen als ihre Großväter,<br />

aber das weiß ich, daß man sie zeitig blendet. Das Mittel aber, das<br />

verruchte Mittel, das man anwendet, um sie zu blenden, ist allzu helles,<br />

allzu plötzliches, allzu wechselndes Licht. Der junge Mensch<br />

wird durch alle Jahrtausende gepeitscht: Jünglinge, die nichts von<br />

einem Kriege, einer diplomatischen Aktion, einer Handelspolitik<br />

verstehen, werden der Einführung in die politische Geschichte für<br />

würdig befunden. So aber, wie der junge Mensch durch die<br />

Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern,<br />

so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes,<br />

das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr<br />

zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen, endlich alles<br />

sich gefallen zu lassen – das nennt man dann wohl den historischen<br />

Sinn, die historische Bildung. Ohne Beschönigung des Ausdrucks<br />

gesprochen: die Masse des Einströmenden ist so groß, das<br />

Befremdende, Barbarische und Gewaltsame dringt so übermächtig,<br />

»zu scheußlichen Klumpen geballt«, auf die jugendliche Seele ein,<br />

daß sie sich nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß.<br />

Wo ein feineres und stärkeres Bewußtsein zugrunde lag, stellt sich<br />

wohl auch eine andre Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so<br />

heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt<br />

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