Ein CND-Kongeß in Rom. Fast eine Liebesgeschichte
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<strong>E<strong>in</strong></strong> <strong>CND</strong>-<strong>Kongeß</strong> <strong>in</strong> <strong>Rom</strong>. <strong>Fast</strong> e<strong>in</strong>e <strong>Liebesgeschichte</strong><br />
1<br />
Von He<strong>in</strong>er Halberstadt<br />
Sie saß zwei Reihen vor mir. Das war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kongresssaal <strong>in</strong> <strong>Rom</strong> 1963.<br />
Doch wie soll ich diese Römer<strong>in</strong> –als d i e Römer<strong>in</strong> schlechth<strong>in</strong>, so wie ich sie<br />
damals sogleich aufgenommen hatte – wie lässt sie sich aus me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung<br />
heraus beschreiben?<br />
Nun denn. Das Gesicht dieser Frau er<strong>in</strong>nerte mich an Frauenprofile, wie ich sie<br />
von klassischen griechischen oder römischen Statuen oder Büsten her kannte.<br />
Aber hier, das war nun e<strong>in</strong> lebendiges Gesicht, ke<strong>in</strong>es aus Marmor. <strong>E<strong>in</strong></strong>e<br />
schmale Nase, e<strong>in</strong>gefügt als vollkommener Teil des ovalem Gesichts.<br />
Große, dunkle Augen unter fe<strong>in</strong> gestrichenen Brauen. <strong>E<strong>in</strong></strong> leicht lächelnder, sehr<br />
weiblicher Mund.<br />
Der Kopf umrundet von glatten schwarzen, gescheitelten Haaren. Dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige<br />
Silberfäden, im Nacken gebündelt durch e<strong>in</strong>e Silberspange. Also - das soll nun<br />
reichen um me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit zu erklären.<br />
Doch, ihr Kleid muss ich noch erwähnen; denn es war e<strong>in</strong> Kontrastmoment<br />
<strong>in</strong>mitten der wenn auch gehobenen Bekleidung der Mehrzahl der<br />
Kongressteilnehmer; aber erst recht zu den Wenigen, die im bekannten Demo-<br />
Look gekommen waren. Me<strong>in</strong>e Römer<strong>in</strong> trug e<strong>in</strong> beigefarbenes, fe<strong>in</strong>faserig<br />
gewirktes Tuch von geradezu vornehmer Schlichtheit, eher e<strong>in</strong>er eng<br />
anliegenden Toga als e<strong>in</strong>em Kleid gleichend. Die Hüften umgürtet von e<strong>in</strong>er<br />
schmal geflochtenen, silberfarbenen Kordel, an der Seite geknotet.<br />
Die westdeutsche Gruppe, der ich zugehörte, befand sich, zusammen mit etwa<br />
dreihundert Teilnehmern aus vielen Ländern <strong>in</strong> der römischen Kongresshalle des<br />
italienischen Automobilclubs. Der ist dem ADAC vergleichbar. Die neue<br />
römischen Stadterweiterung, <strong>in</strong> der sich die Kongressanlage bef<strong>in</strong>det, ist das<br />
Esposizare Universale <strong>Rom</strong>ana. <strong>Fast</strong> alle Gebäude dort s<strong>in</strong>d im Stil von der<br />
neo-klassistischen Architektur der Mussol<strong>in</strong>i-Ära her bestimmt. Corso-Straßen<br />
führen durch die Gevierte von Messe- Ausstellungs- und Kongresshallen und<br />
Büro-Anlagen, da und dort umrunden sie Rondelle, <strong>in</strong> deren Mitte Podeste mit<br />
athletisch-olympischen Mamorfiguren stehen.<br />
Veranstalter unseres <strong>in</strong>ternationalen Treffens war die <strong>CND</strong> (Campaigne for<br />
Nuklear Disarmament). Es g<strong>in</strong>g um e<strong>in</strong>en politisch-organisatorischen<br />
Erfahrungsaustausch und um die Verstärkung der Kooperation der<br />
<strong>in</strong>ternationalen Antikriegskampagne, vor allem bezogen auf Europa (West). Der<br />
Kongress, wie die Veranstaltung offiziell hieß, wurde im wesentlichen, wie<br />
immer bei solchen Treffen, von der am Rande e<strong>in</strong>es 8-köpfigen Präsidiums<br />
sitzenden, aber ständig präsenten, die aktive Seele und den Kopf der <strong>CND</strong><br />
verkörpernden Peggy Duff (London) gemanagt.<br />
Zu dem Zeitpunkt, als ich me<strong>in</strong>e Römer<strong>in</strong> entdeckte, sprach He<strong>in</strong>z Kloppenburg,<br />
der Oberkirchenrat aus Dortmund.
2<br />
Er berichtete, simultan viersprachig übersetzt, über den aktuellen Stand der<br />
Ostermärsche <strong>in</strong> der BRD, über den schwierigen Versuch <strong>in</strong> der Ära des Kalten<br />
Kriegs der Vernunft und e<strong>in</strong>er friedliche Zukunft auch <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>e<br />
Gasse zu bahnen.<br />
Er berichtete von den besonderen Schwierigkeiten, die durch die Grenze, die<br />
mitten durch Deutschland zwischen Ost und West verlaufe, für Verständigung<br />
über diese Grenze h<strong>in</strong>weg, e<strong>in</strong>zutreten. <strong>E<strong>in</strong></strong> von herrschender Politik ideologisch<br />
geförderter und irrational wirkender, auch aus der faschistischen Zeit<br />
überkommener Antikommunismus, bilde dabei e<strong>in</strong>e beträchtliche Barriere; quer<br />
auch durch die westdeutsche Bevölkerung h<strong>in</strong>durch. Kloppenburg sprach sehr<br />
e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich, vermied jegliches Pathos zugunsten kritischer Bestandaufnahme.<br />
Er erhielt großen Beifall.<br />
Nach dem Ende se<strong>in</strong>er Rede stand die Römer<strong>in</strong> auf. Neben mir saß He<strong>in</strong>z-<br />
Joachim Heydorn.<br />
Ich hatte bereits bemerkt, dass se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit personell <strong>in</strong> gleicher<br />
Richtung verlief wie die me<strong>in</strong>e. Deshalb stieß ich ihn an und nickte ihm<br />
aufmunternd zu.<br />
Wir g<strong>in</strong>gen dann, der Römer<strong>in</strong> folgend, <strong>in</strong> Richtung Foyer. Dort befand sich<br />
e<strong>in</strong>e Cafeteria mit runden Stehtischen. Wie wir hatte sich Olivia e<strong>in</strong>en Espresso<br />
geholt. Ich nenne hier bereits ihren Namen, den wir anschließend erfuhren, als<br />
wir uns selbst vorgestellt hatten. Sie hatte uns, als wir mit unserem Tablett<br />
kamen, entgegen geschaut und uns, als wir uns näherten, mit e<strong>in</strong>em buona sera<br />
begrüßt. Sie sagte uns, die Unterhaltung verlief englischsprachig, dass sie ke<strong>in</strong>er<br />
Delegation angehöre, sehr wohl aber aktiv <strong>in</strong> der italienischen<br />
Friedensbewegung tätig sei. >>Nicht nur dort
3<br />
Guide. Doch im dichten und lauten Stadtverkehr hatte ich wenig Gelegenheit,<br />
die Gebäude, Kirchen, Palazzos, Brunnen, antiken Ru<strong>in</strong>en, Piazzas, Brunnen<br />
und Denkmäler, an denen wir vorbei fuhren und auf die Olivia erläuternd<br />
h<strong>in</strong>wies, <strong>in</strong>tensiv s<strong>in</strong>nlich aufzunehmen.<br />
Zumal ihre dunkeltönende klangvolle Stimme und ihre Ausdrucksweise, e<strong>in</strong><br />
Gemisch von Englisch, Italienisch und gelegentlich auch mit deutschen<br />
Wörtern angereichert, von denen ich den <strong>E<strong>in</strong></strong>druck hatte, sie rekapituliere sie aus<br />
dem Gedächtnis, mich ohneh<strong>in</strong> vom Schauen ablenkte.<br />
Als wir am Colosseum vorbei fuhren, wusste ich dazu e<strong>in</strong>e Anekdote zu<br />
berichten. >>Beim <strong>E<strong>in</strong></strong>marsch der US-Army <strong>in</strong> <strong>Rom</strong>kam der<br />
Panzergeneral Patton hier vorbei. Als er die gewaltige antike Arena-Ru<strong>in</strong>e sah,<br />
soll er gesagt haben: >>Sorry, sorry. But that´s war…
4<br />
Aufrufe zu Kundgebungen, zumeist mit rotem Stern und dem Wort Communista<br />
ausgestattet. An der Mitte der l<strong>in</strong>ken Seitenwand h<strong>in</strong>gen vier größere gerahmte<br />
Fotos mit mir durchaus bekannten Gesichtern: Len<strong>in</strong>, Toglioatti, Berl<strong>in</strong>guer und<br />
Gramsci, aber ke<strong>in</strong> Stal<strong>in</strong>bild.<br />
Mir fiel e<strong>in</strong>, dass die italienische kommunistische Partei zur führenden Kraft auf<br />
dem Weg zum Euro-Kommunismus war, was sich offensichtlich bis <strong>in</strong> diese<br />
l<strong>in</strong>ke Albergo h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> bemerkbar machte.<br />
>>Wenn es Dir recht ist<strong>E<strong>in</strong></strong>e besondere Spezialität der Signor<strong>in</strong>a Elisa Bucc<strong>in</strong>i.<br />
Versuch es mal…dann geht <strong>in</strong> <strong>Rom</strong> und <strong>in</strong> der gesamten Region nichts<br />
mehr. Da müssen auch christdemokratische Regierungen <strong>in</strong> die Knie gehenWenn sich me<strong>in</strong>e deutsche ÖTV<br />
davon mal e<strong>in</strong> Stück abschneiden könnte, dann würde das (vielleicht) die<br />
Frontl<strong>in</strong>ie zugunsten der unteren Klasse auch <strong>in</strong> Deutschland nicht unwesentlich<br />
verändern…<br />
Gegen 23 Uhr fuhr mich Olivia zu me<strong>in</strong>em Hotel. Wir schauten uns an. Dann<br />
legte ich me<strong>in</strong>e Hände auf ihre Schultern - zugegeben etwas unsicher – und<br />
versuchte, wie ich es bei Begrüßungen und Verabschiedungen auch schon <strong>in</strong><br />
Deutschland gesehen hatte, rechts und l<strong>in</strong>ks ihre Wangen mit e<strong>in</strong>em Kuss zu<br />
streifen. Sie lächelte dazu, dann aber, als ich mich zum Aussteigen anschickte,<br />
lehnte sie sich zu mir herüber und gab mir e<strong>in</strong>en leichten Kuss auf die Lippen.
5<br />
>>Addio – bis morgen
6<br />
Olivia sagte schalkhaft und unsere Verlegenheit überspielend: >>Ja, Freunde<br />
und Genossen aus Deutschland – hier wohnt und lebt e<strong>in</strong>e italienische L<strong>in</strong>ke,<br />
e<strong>in</strong>e kommunistisch orientierte Schriftsteller<strong>in</strong> gar. Und - me<strong>in</strong> Lebensgefährte,<br />
das ist Alberto Moravia>Die Römer<strong>in</strong>> Römer<strong>in</strong>>Römische ErzählungenDie GleichgültigenDie Römer<strong>in</strong>Historischen Kompromiss><strong>E<strong>in</strong></strong>e Diktatur ist e<strong>in</strong> Staat, <strong>in</strong> dem sich alle vor e<strong>in</strong>em fürchten und e<strong>in</strong>er vor<br />
allenUnion des Thèâtres de L´Europe
7<br />
3) Johann Amo Comenius (1592 – 1670), Geistlicher und Volkserzieher, Bischof der böhm.<br />
Brüdergeme<strong>in</strong>de, wollte das Unterrichtswesen neu gestalten: Die Schule sollte nach dem<br />
Pr<strong>in</strong>zip der Lebensnähe, Anschauung und Sachb<strong>in</strong>dung zur Entwicklung der besten Anlagen<br />
und zu e<strong>in</strong>er persönlichen Gottesverehrung führen.<br />
- * -<br />
Ostermarschierer Gäste <strong>in</strong> der Vatikanstadt<br />
Wir waren mit vier anderen Konferenzteilnehmern von dem Schriftsteller Stefan<br />
Andres 1) e<strong>in</strong>geladen. Andres, e<strong>in</strong> entschiedener Gegner der Atombewaffnung<br />
hatte e<strong>in</strong> umfangreiches literarisches Werk geschaffen; <strong>Rom</strong>ane, Novellen,<br />
philosophische und theologische Essays, aber auch immer wieder Aufrufe für<br />
e<strong>in</strong>e umfassende Abrüstungs- und Friedenspolitik und für e<strong>in</strong>e Entspannung<br />
zwischen West und Ost.<br />
Nachdem 1958 SPD und Gewerkschaften ihre Aktion >>Kampf dem<br />
Atomtod
8<br />
wie es <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung erhalten: Nun, Freunde, Sie kennen vielleicht e<strong>in</strong>en<br />
Teil me<strong>in</strong>er Schriften und me<strong>in</strong>er dar<strong>in</strong> zum Ausdruck kommenden Weltsicht<br />
und Deutungen.<br />
Nun neige ich mit zunehmendem Alter – wer wollte es schon verleugnen - mehr<br />
und mehr dazu, Zusammenfassungen und e<strong>in</strong>e Zusammenschau me<strong>in</strong>er<br />
Erfahrungen vorzunehmen. Auch literarisch.<br />
Vielleicht können wir uns im Gespräch austauschen; denn Sie s<strong>in</strong>d sicherlich<br />
unterschiedliche Lebenswege gegangen und s<strong>in</strong>d so wahrsche<strong>in</strong>lich auch von<br />
unterschiedlichen persönlichen und zeitgeschichtlich prägenden Ereignissen und<br />
Erfahrungen bestimmt. Also können wir, wenn es Ihnen recht ist und besonders<br />
an diesem Ort, wo sich e<strong>in</strong> Jahrtausende alter Weltgeist manifestiert, uns Zeit<br />
lassen und dabei diesen köstlichen We<strong>in</strong> genießen. Anders erhob se<strong>in</strong> Glas. Die<br />
Lichtbrechungen gedämpfter Leuchter und großer Kerzen ließen den We<strong>in</strong><br />
fantastisch schimmern.<br />
In der Tat wurde es e<strong>in</strong> langes Gespräch. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Besonderheit war daran u. a., dass<br />
- wir haben uns später darüber ausgetauscht - <strong>in</strong> unseren angeregt reagierenden<br />
Köpfen dabei Gedanken, Betrachtungen und Wertungen aufkamen, die uns<br />
bisher so gar nicht oder jedenfalls nicht ständig geläufig waren; gelegentlich<br />
äußerste sich dies <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er uns selbst überraschend neu ersche<strong>in</strong>enden<br />
Artikulationsfähigkeit. Das alles verband, vernetzte sich zudem im ständig<br />
austauschenden Gesprächsverlauf.<br />
So wurde z. B. H. G. Wells 2) e<strong>in</strong>gebracht; se<strong>in</strong>e Beschreibung des Erdplaneten,<br />
der durch die Weite des tödlich-kalten Raumes rast, dessen Oberfläche von e<strong>in</strong>er<br />
dünnen grünlich-blauen, wie Schimmel anmutenden Haut umgeben ist, unserer<br />
Bioatmosphäre. Dar<strong>in</strong> entstand der Mensch, e<strong>in</strong> besonderes Wunderwerk der<br />
Natur. Aber, statt sich se<strong>in</strong>er Existenz zu erfreuen, statt se<strong>in</strong>e Fähigkeit zu<br />
denken und zu gestalten zu nutzen, um sich und se<strong>in</strong>esgleichen e<strong>in</strong> freundliches<br />
Leben e<strong>in</strong>zurichten – besonders im H<strong>in</strong>blick auf die beigegebene Endlichkeit,<br />
werden diese Fähigkeiten zumeist verwandt, sich gegenseitig zu traktieren, zu<br />
verletzen, zu unterwerfen und zu töten. Kant wurde zitiert und erörtert. Se<strong>in</strong><br />
kategorischer Imperativ, se<strong>in</strong>e Bemerkung, die auf se<strong>in</strong>em Grabste<strong>in</strong> steht: Es<br />
hätten ihn immer zwei D<strong>in</strong>ge mit großer Bewunderung erfüllt – der gestirnte<br />
Himmel über sich und das moralische Gesetz <strong>in</strong> ihm. Viele, manchmal sogar<br />
Politiker, würden sich auf Kant beziehen; aber im täglichen oder<br />
perspektivischen Tun habe das <strong>in</strong> der Regel ke<strong>in</strong>en Bezug.<br />
Es wurde gesprochen über die e<strong>in</strong>stige und immer noch wirksame Weltmacht<br />
Kirche und deren Widerstand gegen die Veränderung von Weltbildern und<br />
Weltsichten und dass die Abwehr dieser beachtlichen Institution gegen<br />
gründliche Veränderung - wie die anderer Machtkonstellationen auch -<br />
<strong>in</strong>nerhalb des Überlieferten und Bestehenden ihre Macht gegründet hätten.
9<br />
Es kam deshalb auch das Gespräch auf Giordano Bruno; es wurde er<strong>in</strong>nert an<br />
Galileo Galilei, und was ihnen geschah, als sie den Blick nach draußen, über das<br />
Bestehende h<strong>in</strong>aus öffneten - erst <strong>in</strong>s Weltall und von dort zurück adäquat<br />
gerichtet auf die irdische Ordnung; wie dann aber auch die nachfolgende und<br />
sich verbreiternde neue Erkenntnis mit neuen Bezügen der Moral und Ethik<br />
auch im gesellschaftlichen Gefüge neue Bezugspunkte gegeben hätte.<br />
Anders selbst bezeichnete sich als christlichen Existenzialisten. Er habe gelernt,<br />
se<strong>in</strong>e Verantwortung gegenüber den Geboten des sittlichen Gesetzes aus sich<br />
selbst und se<strong>in</strong>er Stellung <strong>in</strong> dieser Welt, abzuleiten. Wer sich an dieser Stelle<br />
auf den Herrn da oben beziehe wolle, nun gut. Aber Name sei Schall und Rauch,<br />
wie auch schon der Herr von Goethe me<strong>in</strong>te, fügte er h<strong>in</strong>zu.<br />
Anders hatte übrigens noch persönlichen Kontakt zu Papst Johannes XXIII 3)<br />
gehabt. Vielleicht hatte dies <strong>E<strong>in</strong></strong>fluss auf se<strong>in</strong>en nonkonformen Katholizismus,<br />
wie er ihm jetzt offensichtlich zu eigen war, gehabt.<br />
Wir erörterten, ob gesellschaftliche Systeme, von Menschen e<strong>in</strong>gerichtet und<br />
mith<strong>in</strong> ihrer Verantwortung unterstehend, je nach ihrer <strong>in</strong>haltlichen<br />
Beschaffenheit und ihren Prämissen das Böse oder das Gute <strong>in</strong> der menschlichen<br />
Natur förderten und deshalb danach zu werten oder bei Widerspruch zu<br />
humanen Postulaten verändert werden müssten; auch als sittliches Gebot.<br />
Aber Veränderung nicht von oben her, beharrte Anders. Denn, wie wäre es z. B.<br />
verlaufen, wenn die Sowjetunion alle<strong>in</strong> über Atomwaffen verfügt und ihre<br />
Anwendbarkeit wie die USA demonstriert hätte? fragte er. Wäre die sowjetische<br />
Führung, nicht nur unter Stal<strong>in</strong>, damit nicht <strong>in</strong> der Lage gewesen, das<br />
sowjetische Gesellschaftssystem, von dem Millionen glaubten, es verkörpere<br />
den Weg zu e<strong>in</strong>er neuen, dem Menschen dienlichen Gesellschaft, der westlichen<br />
wie auch der gesamten östlichen Welt, aufzuzw<strong>in</strong>gen? Und was für e<strong>in</strong>e Welt<br />
wäre das dann geworden?<br />
Gegen Mitternacht trat Anders ans Fenster, wies auf den im Mondlicht hellen<br />
Peters-Dom und sagte: Seht Freunde, auch beim Heiligen Stuhl brennt noch<br />
Licht.<br />
Wir verstanden: Es war e<strong>in</strong>e Anspielung auf e<strong>in</strong> Lobgedicht für Stal<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem es<br />
heißt: Im Kreml brennt noch Licht…<br />
Als wir <strong>in</strong> der Frühe uns vone<strong>in</strong>ander verabschiedeten, Morgenlicht dämmerte<br />
bereits von Nord-Osten her über den völlig leeren Petersplatz <strong>in</strong> dessen Mitte<br />
wir standen, hatten wir das Gefühl, e<strong>in</strong>e der heitersten, der gelöstesten, der<br />
beflügeltesten Nächte unseres Lebens verbracht zu haben.<br />
Aber war es nicht zuletzt unser geme<strong>in</strong>samer Widerstand gegen e<strong>in</strong>e die<br />
Menschheit bedrohende Rüstungs- und Gewaltpolitik und unsere Vision e<strong>in</strong>er<br />
freundlichen, der menschlichen Emanzipation dienlichen Welt, die e<strong>in</strong>e<br />
derartige Begegnung zustande gebracht hatte?
10<br />
Teilnehmer des Gesprächs bei Stefan Anders waren außer He<strong>in</strong>z Heydorn und He<strong>in</strong>er<br />
Halberstadt, He<strong>in</strong>rich Buchb<strong>in</strong>der (Zürich) und Claude Bourdet (Paris)<br />
Stefan Anders (1916 – 1970) wuchs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Familie zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en frommen Katholizismus<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. 2 Jahre verbrachte er später u. a. als Novize bei den Kapuz<strong>in</strong>ern. Er bemerkte dann aber, dass<br />
er als Priester nicht geeignet sei und studierte Kunstgeschichte und Philosophie. Schon früh begann er<br />
zu schreiben: Gedichte, Novellen, dann auch <strong>Rom</strong>ane<br />
(u. v. a. >>Bruder LuziferZwischen Freiheit und SchuldEl Greco malt den<br />
Groß<strong>in</strong>quisitor