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Die Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen - Iurratio

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ISSN 1867-660X<br />

<strong>Die</strong> <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>stud</strong>. <strong>iur</strong>. <strong>und</strong> <strong>junge</strong> <strong>Juristen</strong><br />

Titelthema<br />

Brennpunkte des öffentlichen Wirtschaftsrechts<br />

Rechtsanwältin Dr. Mona Schnaittacher<br />

Klimaschutzrecht – ein Rechtsgebiet im Entstehen<br />

James Kröger<br />

Lehre & Referendariat<br />

Aktuelles <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätzliches zum Betriebsübergang<br />

Gregor Thüsing <strong>und</strong> Jan Thieken<br />

Jugendstrafrecht <strong>für</strong> <strong>junge</strong> Rechtsbrecher<br />

Christoph Nix<br />

Praxis & Karriere<br />

Soft Skills im Rahmen der universitären Ausbildung<br />

Christian Steger<br />

Verdirbt die Praxis Wissenschaft?<br />

Lea Benning<br />

Wissenschaftlicher Beirat:<br />

Prof. Dr. Michael Kotulla<br />

Prof. Dr. Heribert Prantl<br />

Prof. Dr. Martin Schwab<br />

Ausgabe 2/2011 | www.IURRATIO.de<br />

Exklusiv-Partner dieser Ausgabe:<br />

Mit Karteikarten


<strong>Iurratio</strong> – Juristische Nachwuchsförderung e.V.<br />

Welche Ziele hat der Verein<br />

„<strong>Iurratio</strong> – juristische Nachwuchsförderung e.V.“?<br />

Ziel des Vereins „<strong>Iurratio</strong> – juristische Nachwuchsförderung e.V.“<br />

ist die Förderung des juristischen Nachwuchses, die Förderung der<br />

juristischen Ausbildung <strong>und</strong> der juris prudencia insgesamt. Außerdem<br />

soll die Kommunikation über Recht durch ideelle <strong>und</strong> materielle<br />

Unterstützung des b<strong>und</strong>esweiten juristischen Nachwuchsprojektes<br />

<strong>Iurratio</strong> sicher gestellt werden.<br />

Welche Vorteile bietet eine Mitgliedschaft?<br />

Mit einer Mitgliedschaft im Verein „<strong>Iurratio</strong> - Juristische Nachwuchsförderung<br />

e.V.“ unterstützt jedes Mitglied nachhaltig das Projekt<br />

<strong>Iurratio</strong> <strong>und</strong> den oben beschriebenen Vereinszweck. Darüber hinaus<br />

sorgt der Verein insbesondere durch die Übernahme der Druck- <strong>und</strong><br />

Versandkosten <strong>für</strong> die Verbreitung der Zeitung unter den Mitgliedern<br />

<strong>und</strong> den juristischen Bibliotheken in ganz Deutschland.<br />

Wie hoch ist der jährliche Mitgliedsbeitrag?<br />

Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt <strong>für</strong> Fördermitglieder als natürliche<br />

Person 25,- Euro <strong>und</strong> als juristische Person 200,- Euro. Studierende<br />

zahlen bei Vorlage eines entsprechenden Nachweises nur<br />

10,- Euro, wissenschaftliche Mitarbeiter 12,- Euro per annum. Sowohl<br />

Satzung als auch Beitragsordnung können beim Vorstand oder der<br />

Geschäftsstelle unter verein@<strong>iur</strong>ratio.de als PDF-Dokument angefordert<br />

werden.<br />

Titelthemen 2011<br />

<strong>Iurratio</strong> wird sich in den letzten beiden Ausgaben des Jahres mit<br />

einer interessanten Mischung aus hochaktuellen Themen <strong>und</strong> ebenso<br />

aktuellen „Dauerthemen“ des nationalen <strong>und</strong> internationalen Rechts<br />

auseinandersetzen.<br />

Geplant sind <strong>für</strong><br />

die Ausgabe 3/2011 das Thema<br />

„Medizinrecht“<br />

<strong>und</strong> <strong>für</strong> die Ausgabe 4/2011 das Thema<br />

„Internationales Recht“.<br />

Haben Sie zu diesen Themen eine interessante Beitragsidee oder haben<br />

Sie Interesse einen Beitrag zu diesen Themen zu leisten, melden<br />

Sie sich gern unter:<br />

chefredaktion@<strong>iur</strong>ratio.de.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

<strong>Iurratio</strong> Aktuell<br />

Wie kann ich Mitglied werden?<br />

Der Verein steht jedermann offen, breite Unterstützung erhoffen<br />

wir uns von Studierenden, Professoren, <strong>Juristen</strong> <strong>und</strong> weiteren Persönlichkeiten<br />

aus Wissenschaft, Politik <strong>und</strong> Wirtschaft. Auch juristische<br />

Personen, wie Kanzleien, können Mitglied werden. Das Anmeldeformular<br />

finden Sie unter www.<strong>iur</strong>ratio.de unter dem Menüpunkt<br />

„Projekt“ <strong>und</strong> hier in der Kategorie „Der Verein“.<br />

<strong>Iurratio</strong>-Karteikarten<br />

Seit der Ausgabe 1/2011 finden Sie pro Ausgabe mindestens acht Kar-<br />

teikarten zu sog. Rechtsprechungs-Klassikern <strong>und</strong> zu neuer Rechtspre-<br />

chung in unserem Heft. Unter www.<strong>iur</strong>ratio.de können Sie auch eine<br />

Langversion zu jeder Karteikarte mit noch mehr wertvollen Tipps <strong>und</strong><br />

Anmerkungen abrufen. Gemeinsam mit unserer Übersicht zu ausbil-<br />

dungsrelevanten Entscheidungen der Obergerichte sind Sie künftig<br />

stets auf der Höhe der Zeit in Sachen Rechtsprechung.<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

beginnend mit dieser Ausgabe werden Sie kün ig pro Ausgabe mindestens acht Karteikarten aus den drei Kerngebieten<br />

des Rechts nden.<br />

Dabei werden Sie zwei unterschiedliche Karteikartentypen vor nden: Mit den „Klassiker“-Karten wollen wir Ihnen<br />

Inhalte der typischen Klassiker, aber auch solcher Entscheidungen, die das Zeug zum „Klassiker“ haben, näher bringen.<br />

„Neue Rechtsprechung“ ist solche, die gängige Rechtsprechung ändert oder zu einem bislang noch nicht entschiedenen<br />

Problem Stellung nimmt.<br />

Alle Karteikarten sind so aufgebaut, dass Sie mit der Karte einen Einstieg in die ematik bekommen, sie aber auch dazu<br />

nutzen können, Rechtsprechungsinhalte zu wiederholen. Mit den neuen <strong>Iurratio</strong>-Karteikarten sind sie immer „up to date“<br />

– egal ob im Studium, zum ersten oder zweiten Staatsexamen. Zudem erhalten Sie wertvolle methodische Hinweise, die<br />

Ihnen die Einordnung in die Fallbearbeitung erleichtern soll.<br />

Ab 02.05.2010 werden Sie unter www.<strong>iur</strong>ratio.de auch Langversionen zu jeder Karteikarte nden. Darin werden wir die<br />

jeweilige Entscheidung ausführlicher <strong>für</strong> Sie au ereiten, interessante Literaturhinweise <strong>und</strong> noch genauere Hinweise zur<br />

methodischen Bedeutung der Entscheidung geben. Mit der oben rechts aufgedruckten Nummer können Sie über die<br />

Suchfunktion auf unserer Seite ganz leicht zur Langversion der Karteikarte nden.<br />

Viel Spaß beim Lernen mit den Karten,<br />

Alexander Otto<br />

Chefredakteur<br />

Gr<strong>und</strong>satz der Tarifeinheit<br />

Zivilrecht ArbR 2001<br />

Neue Rechtsprechung<br />

Zivilrecht SachenR 1002<br />

Reichweite des Eigentums an einem Gr<strong>und</strong>stück<br />

BGH, Urteil vom 17.12.2010, V ZR 44/10 (s. auch V ZR 45/10 <strong>und</strong> V ZR 46/10)<br />

Redaktion: Dr. Lena Rudkowski, Langversion unter www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Sachverhalt (verkürzt):<br />

K ist Eigentümerin von Schloss Sanssouci. B betreibt ein Internetportal, auf dem gewerbliche <strong>und</strong> freiberu iche Fotogra-<br />

fen Fotos zum entgeltlichen Herunterladen einstellen können. Auf der Internetplattform des B sind ca. 1000 Fotos von<br />

Sanssouci verö entlicht, die im Schloss selbst oder in dessen Park gefertigt worden sind. K verlangt, die gewerbliche<br />

Vermarktung der Fotos zu unterlassen, weil ein Eingri in ihr Eigentumsrecht vorläge; dieses beschränke sich nicht auf<br />

den Schutz der Sachsubstanz <strong>und</strong> deren Verwertung.<br />

Einstieg:<br />

<strong>Die</strong> Entscheidung führt die Rechtsprechung des BGH (Urt. v. 20.09.1974, I ZR 99/73, „Schloss Tegel“; Urt. v. 9.3.1989, I<br />

ZR 54/87, „Friesenhaus“) zur Reichweite des Gr<strong>und</strong>stückseigentums fort. <strong>Die</strong> Kernfrage ist, ob der Eigentümer hinnehmen<br />

muss, dass jemand Fotos der Anlagen seines Gr<strong>und</strong>stücks von diesem aus anfertigt <strong>und</strong> gewerblich verwertet.<br />

Rechtsprechung:<br />

Ein Anspruch der K gegen B auf Unterlassen der Foto-Bereitstellung kann sich aus § 1004 I BGB ergeben. § 1004 I BGB<br />

setzt eine Eigentumsbeeinträchtigung voraus, die hier vorliegt. Das Eigentum (§ 903 BGB) umfasst, dass der Eigentümer<br />

einer Sache mit dieser nach Belieben verfahren <strong>und</strong> andere von jeder Einwirkung ausschließen kann. Weil Eigentum sich<br />

auf eine körperliche Sache bezieht, setzt die Eigentumsbeeinträchtigung zumindest eine Auswirkung auf die tatsächliche<br />

Nutzungsmöglichkeit der Sache voraus. Da man mit der fotogra erten Sache immer noch „nach Belieben verfahren“<br />

kann, ist Fotogra eren grds. keine Eigentumsverletzung. Anders liegt dies, wenn die Gebäude/Anlagen eines Gr<strong>und</strong>-<br />

Zivilrecht SchuldR BT 1001<br />

Verschär e Ha ung Minderjähriger – Der Flugreisefall<br />

BAG, Urteil vom 07.07.2010, Az.: 4 AzR 549/08; Anfragebeschlüsse vom 27.1.2010, 4 AZR 537/08 (A)<br />

BGH, Urteil vom 07.01.1971, Az.: VII ZR 9/70 = BGHZ 55, 128 = NJW 1971, 609<br />

<strong>und</strong> 4 AZR 549/08 (A); Beschlüsse vom 23.6.2010, 10 AS 3/10 <strong>und</strong> 10 AS 3/10.<br />

Redaktion: Kathrin Böckmann, Langversion unter www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Redaktion: Dr. Lena Rudkowski, , Langversion unter www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Sachverhalt (verkürzt):<br />

Sachverhalt (verkürzt):<br />

Der 17-jährige Bekl. og von M nach H <strong>und</strong> von dort aus ohne Flugticket weiter nach NY. Dort wurde ihm die Einreise<br />

A, Arzt <strong>und</strong> Mitglied des Marburger B<strong>und</strong>es, verlangt von seiner Arbeitgeberin K Zahlung eines Urlaubsaufschlags nach verweigert. <strong>Die</strong> klagende Fluggesellscha ließ den Bekl. eine Zahlungsverp ichtung unterschreiben, stellte ihm ein Flug-<br />

BAT, weil sie über ihren Arbeitgeberverband im Verhältnis zum Marburger B<strong>und</strong> an den BAT geb<strong>und</strong>en ist.<br />

ticket aus <strong>und</strong> og ihn noch am selben Tag zurück nach M. <strong>Die</strong> Mutter des Bekl. verweigerte als gesetzliche Vertreterin<br />

K wendet ein, dass A sich auf den BAT nicht berufen könne, da sie, K, auch gegenüber der Gewerkscha Ver.di geb<strong>und</strong>en die Genehmigung des Rechtsgeschä s. <strong>Die</strong> Fluggesellscha verlangt von dem Bekl. die Zahlung des Flugpreises <strong>für</strong> die<br />

sei, <strong>und</strong> zwar an den auch <strong>für</strong> Ärzte geltenden TVöD. <strong>Die</strong>ser verdränge als speziellere Regelung den BAT.<br />

Strecke H - NY sowie die Zahlung des Flugpreises <strong>für</strong> die Strecke NY - M. Zu Recht?<br />

Rechtsprechungsänderung:<br />

Einstieg:<br />

<strong>Die</strong> Rechtsprechung ging bislang vom „Gr<strong>und</strong>satz der Tarifeinheit“ aus: Es könne in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag Zentrales Problem dieses Klassikers ist der Wegfall der Bereicherung nach § 818 III BGB. Daneben hatte der BGH die<br />

Anwendung nden (Motto: „Ein Betrieb, ein Tarifvertrag!“). Bestehende Tarifpluralitäten müssten nach dem „Gr<strong>und</strong>satz Leistungs- von der Eingri skondiktion abzugrenzen <strong>und</strong> zu entscheiden, ob der Beklagte überhaupt im Sinne von § 812<br />

der Spezialität aufgelöst werden. Es sei nur der Tarifvertrag anwendbar, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich Abs. 1 BGB „etwas erlangt“ hat. Zudem hatte sich der BGH mit den Rechtsfolgen der Bösgläubigkeit im Bereicherungs-<br />

<strong>und</strong> persönlich am nächsten steht, der den Eigenarten <strong>und</strong> Erfordernissen des Betriebs am besten Rechnung trägt. recht auseinanderzusetzen.<br />

Das BAG hat diesen Gr<strong>und</strong>satz nunmehr aufgegeben. Das hat nicht nur Bedeutung <strong>für</strong> die Frage nach dem auf den Methodische Bedeutung:<br />

Arbeitsvertrag anzuwendenden Tarifvertrag <strong>und</strong> damit <strong>für</strong> die Ansprüche des Arbeitnehmers, sondern auch <strong>für</strong> das <strong>Die</strong>ser Fall eignet sich zur Wiederholung der kompletten zivilrechtlichen Anspruchsreihenfolge: vor den bereicherungs-<br />

Arbeitskampfrecht (siehe Langversion).<br />

rechtlichen Ansprüchen sind zunächst vertragliche sowie deliktische Ansprüche anzuprüfen. Besonders gut lassen sich<br />

an diesem Fall aber auch Au au <strong>und</strong> Struktur des Bereicherungsrechts lernen <strong>und</strong> verstehen. Daneben werden die<br />

systematischen Zusammenhänge zwischen dem Allgemeinen Teil des BGB, dem Deliktsrecht <strong>und</strong> dem Bereicherungsrecht<br />

deutlich.<br />

Klassiker<br />

Öffentliches Recht VerfR 4001<br />

Öffentliches Recht VerwR 4002<br />

Neue Rechtsprechung<br />

Neue Rechtsprechung<br />

<strong>Die</strong> Sicherungsverwahrung<br />

Enttarnung durch Presseverö entlichung<br />

EGMR Urteile vom 13.01.2011, Az.: 6587/04 <strong>und</strong> 17.12.2009, Az.: 19359/04<br />

VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.08.2010, Az. 1 S 2266/09<br />

Redaktion: Vivien Eckho , Langversion unter www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Redaktion: Alexander Otto, Langversion unter www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Sachverhalt (verkürzt):<br />

Sachverhalt (verkürzt):<br />

In dieser Entscheidung vom 13.01.2011 ging es um die Frage, ob Deutschland in drei Fällen der Anordnung der nach- Krä e eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Polizei waren im Einsatz, um einen bereits in Untersuchungsha<br />

träglichen Sicherungsverwahrung nanzielle Entschädigung zu leisten hat. Bei den 1993, 1992 <strong>und</strong> 1985 zu längeren be ndlichen Tatverdächtigen zu einem Arzttermin in der Innenstadt der Stadt S-H zu verbringen. Dazu fuhren die<br />

Ha strafen verurteilten Stra ätern wurde die zusätzliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bis 2010 mehr- Beamten mit zivilen <strong>Die</strong>nstfahrzeugen in den unmittelbaren Nahbereich der Praxis <strong>und</strong> brachten den Inha ierten hinfach<br />

aufgr<strong>und</strong> von Sachverständigengutachten verlängert. Regel war es bis 1998, dass die Sicherungsverwahrung ein, während zwei Beamte vor dem Gebäude blieben. Einsatzleiter E postierte sich im Eingangsbereich. Alle Beamten<br />

10 Jahre nicht überschreiten darf. Aufgr<strong>und</strong> der Neuregelung in § 67 d III StGB ent el 1998 diese zeitliche Begrenzung. waren zivil gekleidet, aber bewa net, E sogar mit einer Maschinenpistole. <strong>Die</strong> Situation bemerkten zwei Journalisten, die<br />

Einstieg:<br />

um Auskun über die Geschehnisse ersuchten <strong>und</strong> diese auch erhielten. Einer der beiden versuchte dann Bilder von<br />

Zentrale Bedeutung haben diese Entscheidungen zum einen wegen der unterschiedlichen Rechtsprechungspraxis der Einsatz, <strong>Die</strong>nstfahrzeugen <strong>und</strong> Beamten aufzunehmen, wurde dann aber von E aufgefordert, das Fotogra eren zu unter-<br />

Gerichte. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Gr<strong>und</strong>rechte aus der EMRK, insb. die Art. 5 lassen. E begründete dies damit, dass die Beamten aus Gründen des Identitätsschutzes <strong>und</strong> um mögliche Sanktionen der<br />

<strong>und</strong> 7 herauszuarbeiten.<br />

Gegenseite aus dem Bereich der organisierten Kriminalität auszuschließen, nicht abgelichtet werden sollten. <strong>Die</strong> Journa-<br />

Rechtsprechung:<br />

listen bestanden auf ihrem Rechercherecht, worau in der Einsatzleiter eine Beschlagnahme von Kamera <strong>und</strong> Filmma-<br />

Der EGMR hat bereits 2009 in dem Verfahren der Individualbeschwerde M gegen Deutschland festgestellt: <strong>Die</strong> Entscheiterial androhte.<br />

dungen der deutschen Gerichte, die Stra äter auch über die Dauer von zehn Jahren hinaus in der Sicherungsverwahrung Einstieg:<br />

zu belassen, verstoßen gegen Art. 5 <strong>und</strong> 7 EMRK <strong>und</strong> sind damit menschenrechtswidrig. Zu Art.5 I EMRK (nachlesen!): <strong>Die</strong> Entscheidung ist geeignet, um sich mit der Polizeifestigkeit der Pressefreiheit, v.a. aber mit den Vorschri en des<br />

Voraussetzung einer Freiheitsentziehenden Maßnahme ist, dass <strong>für</strong> diese eine gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage vorliegt (zum Zeit- Kunsturhebergesetzes <strong>und</strong> der Frage auseinanderzusetzen, wann ein Mensch eine Person der Zeitgeschichte ist <strong>und</strong><br />

punkt der Verurteilung: § 67 d I StGB). Weiterhin muss ein Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Täters welche Auswirkungen dies hat.<br />

<strong>und</strong> der Fortdauer seiner Freiheitsentziehung vorhanden sein. Da er ohne die gesetzliche Änderung 1998 nach 10 Jahren<br />

klassiker<br />

Strafrecht StrR AT 6002<br />

Strafrecht StrR AT 6001<br />

Neue Rechtsprechung<br />

Neue Rechtsprechung<br />

Eissporthalle Bad Reichenhall<br />

Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch<br />

BGH, Urteil vom 12.01.2010, Az.: 1 StR 272/09<br />

BGH, Urteil vom 25.06.2010, Az.: 2 StR 454/09<br />

Redaktion: Christine Dutzmann, Langversion unter www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Redaktion: Alexander Otto, Langversion unter www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Sachverhalt (verkürzt):<br />

Sachverhalt (verkürzt):<br />

Durch den Dach-Einsturz der Eissporthalle von Bad Reichenhall starben 15 Besucher, 6 weitere wurden schwer verletzt. Nachdem ihr Mann eine Hirnblutung erlitt, erörterte P mit ihren Kindern, ob <strong>und</strong> wie sie sich in einem solchen Fall die<br />

Zum Einsturz kam es aufgr<strong>und</strong> gravierender Mängel in der Dachkonstruktion. Ingenieur I erhielt von der Stadt den Behandlung wünscht. Dabei äußerte sie klar, dass sie im Falle einer Bewusstlosigkeit <strong>und</strong> der verlorenen Fähigkeit, ihren<br />

Au rag, ein Gesamtgutachten über anstehende Sanierungsmaßnahmen zu erstellen. Von dem Au rag umfasst war auch Willen zu äußern, weder künstlich ernährt noch beatmet werden möchte. Kurz darauf erlitt P eine Hirnblutung <strong>und</strong> el<br />

die Dachkonstruktion der Eishalle. Ein Standsicherheitsgutachten war nicht in Au rag gegeben oder gewollt, wohl aber ins Wachkoma, wurde künstlich ernährt. Obwohl keine Streitigkeiten zwischen Familie <strong>und</strong> Ärzten über den Willen der<br />

eine „handnahe Überprüfung“ der Holzträger. I untersuchte einen Träger wegen au älliger Flecken näher, die restlichen P bestanden, wurde ein Behandlungsabbruch abgelehnt bzw. durch Wiederaufnahme der Behandlung verhindert. Auf<br />

Balken betrachtete er mit einem Teleobjektiv vom Boden aus. Bei handnaher Untersuchung hätte I o ene Fugen in der Anraten ihres Rechtsanwaltes schnitten die Kinder der P darau in den Schlauch der Ernährungssonde durch. P wurde<br />

Verleimung gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> ein Holzsachverständiger hätte darau in die brüchigen Leimverbindungen aufgedeckt. I kam in eine Klinik eingeliefert <strong>und</strong> eine neue Ernährungssonde gelegt. Kurz darauf starb P eines natürlichen Todes.<br />

zu dem Schluss: „<strong>Die</strong> Tragkonstruktionen der gesamten Eissporthalle be nden sich in einem allgemein als gut zu Einstieg:<br />

bezeichnenden Zustand.“ I hatte bereits bei einer Untersuchung der Schwimmhalle im Jahr 2001 starke Beschädigungen ema des Urteils ist die Stra arkeit des Behandlungsabbruchs durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer<br />

im Dach der Schwimmhalle reklamiert <strong>und</strong> diese im Jahr 2003 wiederholt. <strong>Die</strong> Stadt reagierte hierauf zunächst jedoch bereits begonnenen medizinischen Behandlung. Im Mittelpunkt der Entscheidung stehen die neuen Regelungen zur sog.<br />

nicht.<br />

Patientenverfügung. <strong>Die</strong> Entscheidung eignet sich zur Wiederholung der Rechtfertigungsgründe. In diesem Zusam-<br />

Einstieg:<br />

menhang sollten auch die Gr<strong>und</strong>sätze der „Hilfe zum Sterben“ <strong>und</strong> „Hilfe im Sterben“ wiederholt werden.<br />

<strong>Die</strong> Entscheidung eignet sich zur Wiederholung der Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts. Ob seiner Rechtsprechungsänderung:<br />

Aktualität <strong>und</strong> der großen Medienresonanz ist fast sicher davon auszugehen, dass dieses BGH-Urteil schon bald Gegen- Wurde bislang das aktive Tun bei der „zulässigen“ Sterbehilfe ausgeschlossen <strong>und</strong> auf einem wenig nachvollziehbaren<br />

stand einiger Examensklausuren sein wird.<br />

Weg dem Unterlassen gleichgestellt, stellt der BGH nun klar, dass auch das aktive Tun bei der Sterbehilfe einer Einwilligung<br />

zugänglich ist, sofern es sich im Rahmen eines Behandlungsabbruchs bewegt.<br />

67


S. 70<br />

Inhalt / Impressum<br />

Titelthema: Energie im Fokus der<br />

Rechtswissenschaft<br />

Impressum Ausgabe 2/2011<br />

Herausgeber: Jens-Peter Thiemann (V.i.S.d.P.)<br />

herausgeber@<strong>iur</strong>ratio.de<br />

S. 123<br />

Interview: Christoph Harras-Wolff<br />

Tipp zur Frauen-Fußball-WM<br />

Chefredaktion: Alexander Otto, Vivien Eckhoff (Stellvertreterin),<br />

Hanna Furlkröger (2. Stellvertreterin)<br />

chefredaktion@<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Redaktion:<br />

Ressort Zivilrecht (zivilrecht@<strong>iur</strong>ratio.de) Christine Dutzmann, Ahmad Sayed<br />

Ressort Strafrecht (strafrecht@<strong>iur</strong>ratio.de)<br />

Kiyomi von Frankenberg (Ltg., Standortleiterin Uni Freiburg),<br />

Konstantina Papathanasiou (Standortleiterin Universität Heidelberg)<br />

Ressort Öffentliches Recht (oerecht@<strong>iur</strong>ratio.de) Georg <strong>Die</strong>tlein (Standortleiter Köln),<br />

Malte Hakemann<br />

Ressort Fallbearbeitungen (fallbearbeitung@<strong>iur</strong>ratio.de) Hanna Furlkröger (Ltg.),<br />

Tamina Preuß, Larissa Bechthold<br />

Ressort LawLifeSytle (lawlifestyle@<strong>iur</strong>ratio.de) Sandra Beuke (Ltg.)<br />

Ressort Praxis & Karriere (praxis@<strong>iur</strong>ratio.de) Jan-Christoph Stephan (Ltg., Standortleiter<br />

Universität Konstanz), Dirk Veldhoff, Lars Stegemann, Felix Wrocklage<br />

Ressort Rechtsprechung (rechtsprechung@<strong>iur</strong>ratio.de) Christine Dutzmann (Ltg.),<br />

Dirk Veldhoff (Ltg.), Alexander Otto (stv. Ltg.), Kathrin Böckmann, Maike Brinkert,<br />

Vivien Eckhoff, Prof. Dr. Lena Rudkowski<br />

Unsere Ansprechpartner an den Standorten erreichen Sie unter unistadtname@<strong>iur</strong>ratio.de,<br />

also z.B. die Standortleiterin in Bremen unter unibremen@<strong>iur</strong>ratio.de.<br />

Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Michael Kotulla (Universität Bielefeld),<br />

Prof. Dr. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung/Universität Bielefeld),<br />

Prof. Dr. Martin Schwab (Freie Universität Berlin)<br />

Beilagen: <strong>Die</strong>ser Ausgabe sind zwei Bögen à 4 Karteikarten beigeheftet. Sollten diese<br />

Karten fehlen, können Sie diese nach Erscheinen unter www.<strong>iur</strong>ratio.de abrufen.<br />

Ausschluss: Namentlich gekennzeichnete Beiträge repräsentieren nicht unbedingt die<br />

Meinung der Redaktion.<br />

Lektorat: Annica Klemme, Susanne Bettendorf<br />

Layout & Satz: Susanne Günther, Düsseldorf<br />

info@susanneguenther.de<br />

<strong>Iurratio</strong>-Logo: Tobias Kunkel<br />

Geschäftsführer: Eckart Pradel, gf@<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Anzeigenabteilung: Sabrina Mokulys, Niels Grotjohann, Eva Mast, Kim-Aniko Naujok,<br />

Merissa Gabor, Valentina Leis, Björn Wittenstein, Lea Benning, Jenny Ryszka,<br />

Marlene Alker, Daniel Frey<br />

anzeigen@<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Auslandskorrespondenz: Inga Thiemann (Englisch, Niederländisch),<br />

Marlene Alker (Französisch)<br />

Vertrieb: Niels Grotjohann, Xinia Bitterlich, Vanessa Faber, Lars Buchtmann<br />

vertrieb@<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Postanschrift: <strong>Iurratio</strong>, Röckumstraße 63, 53121 Bonn<br />

Redaktionsanschrift: Postfach 1540, 26645 Westerstede<br />

S. 115<br />

Druck: Gutverlag, 48477 Hörstel, www.gutverlag.com<br />

Urheber- <strong>und</strong> Verlagsrechte: Alle in dieser <strong>Zeitschrift</strong> veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich<br />

geschützt. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken <strong>und</strong> ähnlichen<br />

Einrichtungen. Kein Teil dieser <strong>Zeitschrift</strong> darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />

ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert werden.<br />

Autorenhinweise: Ausführliche Autorenhinweise finden Sie auf unserer Homepage<br />

www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

Titelthema<br />

„Energie im Fokus der Rechtswissenschaft“<br />

SCHNAITTACHER Aktuelle Brennpunkte des öffentlichen Wirtschaftsrechts 70<br />

KRöGER Klimaschutzrecht – Ein Rechtsgebiet im Entstehen 75<br />

THIEMANN Kommentar: Schneller Energiewandel - aber wie? 80<br />

Lehre & Referendariat<br />

Ausbildung<br />

THüSING / THIEKEN Aktuelles <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätzliches zum Betriebsübergang 82<br />

NIx Jugendstrafrecht <strong>für</strong> <strong>junge</strong> Rechtsbrecher 87<br />

Schwerpunkte<br />

KoEHLER Probleme bei der Vernehmung von Kindern, 92<br />

die Opfer sexueller Gewalt geworden sind<br />

SELKER Das steuerstrafrechtliche Institut der Selbstanzeige im Wandel 97<br />

Fallbearbeitung<br />

ERNST Anfänger im Öffentlichen Recht: „Puma im Wohngebiet“ – 101<br />

Zur Abgrenzung der polizeilichen Gefahrbegriffe<br />

SCHEINFELD Fortgeschrittene im Strafrecht (Schwerpunkt): 104<br />

„Leben <strong>und</strong> sterben lassen“<br />

MAJER Examenskandidaten im Zivilrecht: „Bruno, der Problembär“ 109<br />

Lawlife Style 114 / 115<br />

- „Arbeitnehmer dürfen nicht getreten werden“<br />

Lustiges <strong>und</strong> Kurioses aus der Rechtsprechung<br />

- Jura vom „Hören-Sagen“<br />

Praxis & Karriere<br />

STEGER Soft Skills im Rahmen der Universitären Ausbildung 116<br />

ADoMAVICIUTE Juristischer Werdegang im Vergleich:<br />

Deutschland vs. Litauen oder schwieriger vs. schneller Start<br />

119<br />

BENNING Verdirbt die Praxis Wissenschaft? 120<br />

JEREMIAS Modernes Compliance – Herausforderung oder Bestrafung 122<br />

THIEMANN Ein gutes Compliance-Programm ist ein Baustein<br />

<strong>für</strong> ein erfolgreiches <strong>und</strong> langfristiges Agieren eines Unternehmens –<br />

Ein Interview mit Christoph Harras-Wolff<br />

123<br />

Stellenmarkt 124<br />

Rechtsprechung 126


Dr. <strong>Die</strong>tmar Helms<br />

Praxisgruppenleiter, Banking & Finance<br />

R<strong>und</strong>enbestzeit: 55,32 Sek<strong>und</strong>en<br />

Dr. Oliver Socher<br />

Partner, Syndicated Lending<br />

R<strong>und</strong>enbestzeit: 56,83 Sek<strong>und</strong>en<br />

Sandra Wittinghofer<br />

Senior Associate, Bankaufsichtsrecht<br />

R<strong>und</strong>enbestzeit: 57,48 Sek<strong>und</strong>en<br />

Einfach Karriere<br />

machen.<br />

Auf Pole Position am<br />

8. Juli 2011 in Frankfurt.<br />

Unser Banking & Finance Workshop feiert sein<br />

zehnjähriges Jubiläum. Diskutieren Sie (m/w) mit<br />

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Dann bewerben Sie sich bis zum 15. Juni 2011.<br />

Baker & McKenzie - Partnerschaftsgesellschaft<br />

Sandra Schmidt, Bethmannstraße 50-54, 60311 Frankfurt am Main, Telefon +49 (0) 69 2 99 08 384,<br />

E-Mail: sandra.schmidt@bakermckenzie.com, www.bakermckenzie.com<br />

<strong>Die</strong> Baker & McKenzie - Partnerschaft von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern <strong>und</strong> Solicitors ist eine im Partnerschaftsregister des Amtsgerichts Frankfurt/Main<br />

unter PR-Nr. 1602 eingetragene Partnerschaftsgesellschaft nach deutschem Recht mit Sitz in Frankfurt/Main. Sie ist assoziiert mit Baker & McKenzie International, einem Verein<br />

nach Schweizer Recht.


70<br />

Titelthema<br />

A. EINLEITUNG<br />

Aktuelle Brennpunkte des öffentlichen wirtschaftsrechts<br />

von Rechtsanwältin Dr. Mona Schnaittacher (Köln)<br />

Rechtsanwältin Dr. Mona Schnaittacher ist Senior Associate<br />

am Kölner Standort der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft.<br />

Ihre Beratungsschwerpunkte liegen in der gesellschafts<strong>und</strong><br />

steuerrechtlichen Beratung der öffentlichen Hand<br />

sowie in der haushaltsrechtlichen <strong>und</strong> preisrechtlichen Gestaltung<br />

bei Privatisierungsprojekten im öffentlichen Sektor.<br />

<strong>Die</strong> Ansichten über ein optimales Verhältnis von Wirtschaft <strong>und</strong> Staat un-<br />

terliegen dem ständigen Wandel. Mit verschiedensten Instrumenten ver-<br />

suchen staatliche <strong>und</strong> überstaatliche Normgeber mehr oder weniger intensiv<br />

auf wirtschaftliche Verläufe Einfluss zu nehmen. Nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong><br />

des wachsenden Einflusses des Gemeinschaftsrechts <strong>und</strong> des internationalen<br />

Wirtschaftsrechts handelt es sich bei dem so entstehenden öffentlichen Wirtschaftsrecht<br />

um ein sich ständig in Bewegung befindliches Rechtsgebiet.<br />

Dabei lassen sich verschiedene Trends beobachten. Führte die Öffnung des<br />

Marktes in vielen Bereichen zunächst zu einer umfänglichen Privatisierung,<br />

sind in jüngerer Zeit wieder vermehrt Rekommunalisierungstendenzen<br />

auszumachen.<br />

Entsprechend dieser teilweise gegenläufigen Dynamik steigt die Bedeutung<br />

des öffentlichen Wirtschaftsrechts in der Praxis. Deshalb sollen im Folgenden<br />

zwei aktuelle Entwicklungen beleuchtet werden, die in der anwaltlichen Praxis<br />

derzeit zu vielfältigen <strong>und</strong> hochaktuellen Problemkonstellationen führen.<br />

B. DIE NEUFASSUNG DES § 9 B STRoMSTG – GESETZESäNDERUNG<br />

IN BEZUG AUF DIE EINSCHRäNKUNG DER öKoSTEUERBEFREI-<br />

UNG NACH § 9 ABS. 3 STRoMSTG FüR CoNTRACTING- LöSUNGEN<br />

Zum 01.01.2011 trat mit dem Haushaltsbegleitgesetz 20111 eine Änderung<br />

des Stromsteuergesetzes in Kraft, welche zukünftig eine Steuerentlastung „<strong>für</strong><br />

die Entnahme von Strom zur Erzeugung von Licht, Wärme, Kälte, Druckluft<br />

<strong>und</strong> mechanischer Energie nur gewährt, soweit die vorgenannten Erzeugnisse<br />

nachweislich durch ein Unternehmen des produzierenden Gewerbes<br />

oder ein Unternehmen der Land- <strong>und</strong> Forstwirtschaft genutzt worden sind“,<br />

§ 9 b Abs. 1 S. 2 Stromsteuergesetz. In der Folge entfällt damit die Steuervergünstigung<br />

<strong>für</strong> sog. Contracting-Lösungen in weiten Bereichen vollständig.<br />

I. BEGRIFF DES CoNTRACTING<br />

Unter Contracting versteht man verschiedene <strong>Die</strong>nstleistungen im Bereich<br />

des Energiesektors, bei denen (im Hauptanwendungsfall des sog. Energie-<br />

1 HBeglG v. 09.12.2011, BGBl. I 2010, 1885.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

liefer-Contracting) der Contractor eine bestehende Energieerzeugungsanlage<br />

übernimmt oder eine neue plant, finanziert <strong>und</strong> errichtet; der Contractingnehmer<br />

bezieht dann sog. Sek<strong>und</strong>är- oder Nutzenergie wie Licht, Wärme,<br />

Kälte, Druckluft <strong>und</strong> mechanischer Energie vom Contractor2 statt diese (weiterhin)<br />

selbst zu erzeugen.<br />

Eine Legaldefinition des Contracting existiert bislang nicht. Eine Orientierung<br />

kann aber an europäisch geprägten Begriffen erfolgen. <strong>Die</strong> europäische<br />

Richtlinie 2006/32/EG3 (EDL-Richtlinie) definiert den Begriff der Energiedienstleistung<br />

in Art. 3 e) als den „physikalische(n) Nutzeffekt, den Nutzwert<br />

oder die Vorteile als Ergebnis der Kombination von Energie mit energieeffizienter<br />

Technologie <strong>und</strong>/oder mit Maßnahmen, die die erforderlichen Betriebs-,<br />

Instandhaltungs- <strong>und</strong> Kontrollaktivitäten zur Erbringung der <strong>Die</strong>nstleistung<br />

beinhalten können; sie wird auf der Gr<strong>und</strong>lage eines Vertrags erbracht<br />

<strong>und</strong> führt unter normalen Umständen erwiesenermaßen zu überprüfbaren<br />

<strong>und</strong> mess- oder schätzbaren Energieeffizienzverbesserungen <strong>und</strong>/ oder<br />

Primärenergieeinsparungen.“<br />

Darüber hinaus kann das Contracting auch als Finanzinstrument im Sinne<br />

dieser Richtlinie angesehen werden. Nach Art. 3 m (EDL-Richtlinien) sind<br />

Finanzinstrumente <strong>für</strong> Energieeinsparungen „alle Finanzierungsinstrumente<br />

wie Fonds, Subventionen, Steuernachlässe, Darlehen, Drittfinanzierungen,<br />

Energieleistungsverträge, Verträge über garantierte Energieeinsparungen,<br />

Energie-Outsourcing <strong>und</strong> andere ähnliche Verträge, die von öffentlichen<br />

oder privaten Stellen zur teilweisen bzw. vollen Deckung der anfänglichen<br />

Projektkosten <strong>für</strong> die Durchführung von Energieeffizienzmaßnahmen<br />

auf dem Markt bereitgestellt werden”.<br />

II. ANDERE ARTEN DES CoNTRACTING<br />

Neben dem Energieliefer-Contracting existieren noch andere Arten des Contracting,<br />

namentlich das Energiespar-Contracting, Betriebsführungs-Contracting<br />

<strong>und</strong> Finanzierungs-Contracting. Mengenmäßig spielen diese Formen<br />

des Contracting aber eine untergeordnete Rolle; auch fehlt hier häufig<br />

die typische Konstruktion, die zu der genannten steuerrechtlichen Konstellation<br />

führt.<br />

III. EURoPARECHTLICH ERWüNSCHT UND GESCHüTZT<br />

Contracting ist im Rahmen europäischer Gesetze geschützt <strong>und</strong> soll gefördert<br />

werden. Mit der Einordnung als Finanzinstrument geht gemäß Art. 9 Abs. 1<br />

EDL-Richtlinie eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten einher, „nicht eindeutig<br />

dem Steuerrecht zuzuordnende nationale Rechtsvorschriften“ aufzuheben<br />

oder zu ändern, „wenn diese die Nutzung von Finanzinstrumenten auf dem<br />

2 Vgl. Lippert, in: Danner/ Theobald, Energierecht, 66. EL, Kap. VIII a<br />

Rn. 10.<br />

3 Richtlinie 2006/32/EG des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des Rates vom<br />

5. April 2006 über Endenergieeffizienz <strong>und</strong> Energiedienstleistungen <strong>und</strong><br />

zur Aufhebung der Richtlinie 93/76/EWG des Rates.


Markt <strong>für</strong> Energiedienstleistungen <strong>und</strong> andere Energieeffizienzmaßnahmen<br />

unnötigerweise oder unverhältnismäßig behindern oder beschränken.”<br />

<strong>Die</strong> fehlende Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers auf dem Gebiet des<br />

Steuerrechts hat in diesem Fall aber zur Konsequenz, dass der nationale Ge-<br />

setzgeber das Contracting zwar formell gestatten, aber wirtschaftlich derart<br />

unattraktiv gestalten kann, dass die eigentlich begrüßten Energieeinsparef-<br />

fekte nicht realisiert werden können. Genau dies ist in Deutschland gesche-<br />

hen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> gab es vor Inkrafttreten der Änderungen des Strom-<br />

steuergesetzes in Deutschland heftige Diskussionen bezüglich des Wertes ei-<br />

ner solchen Neuregelung.<br />

IV. ZIELSETZUNG DER äNDERUNG: BESEITIGUNG VoN SCHEIN-<br />

CoNTRACTING<br />

Unternehmen des produzierenden Gewerbes werden vornehmlich steuerlich<br />

begünstigt, um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Bislang<br />

umfasste diese Regelung auch alle diejenigen, die aus Strom sek<strong>und</strong>äre Ener-<br />

gieformen (Licht, Wärme, Druckluft <strong>und</strong> mechanische Energie) produzierten,<br />

diese aber an Dritte weitergaben.<br />

Mit der Änderung in § 9 b Abs. 1 S. 2 Stromsteuergesetz wird diese Vergün-<br />

stigung nur noch gewährt, „soweit die vorgenannten Erzeugnisse nachweis-<br />

lich durch ein Unternehmen des produzierenden Gewerbes oder ein Unter-<br />

nehmen der Land- <strong>und</strong> Forstwirtschaft genutzt worden sind.“<br />

<strong>Die</strong> Einschränkung des alten § 9 Abs. 3 Stromsteuergesetz sollte vor allem<br />

unerwünschte Mitnahmeeffekte vermeiden <strong>und</strong> das sog. Schein-Contrac-<br />

ting beseitigen. <strong>Die</strong> Effekte der Gesetzesänderung entsprechen aber in weiten<br />

Teilen nicht der ursprünglichen Zielsetzung bzw. schießen weit über sie<br />

hinaus. Beim Schein-Contracting handelt es sich um Konstellationen, in denen<br />

eine Auslagerung der Energieversorgung nur auf dem Papier stattfindet.<br />

Neben den klassischen Energieversorgern beliefern dann aus rein steuerlichen<br />

Gründen auch „Marktfremde, wie z. B. Steuer- <strong>und</strong> Unternehmensberater,<br />

Rechtsanwälte <strong>und</strong> Ingenieure“ 4 den Abnehmer mit Nutzenergie. Rein<br />

tatsächlich betreibt dieser die Anlage aber weiterhin selbst. <strong>Die</strong> ungerechtfertigterweise<br />

entstehenden Steuervorteile summierten sich nach Angaben des<br />

B<strong>und</strong>esrechnungshofes zuletzt auf r<strong>und</strong> 500 Mio. € pro Jahr. 5<br />

Im Ergebnis führt diese Einschränkung aber dazu, dass die Vergünstigung<br />

auch entfällt, sobald z. B. ein Krankenhaus, eine Schule oder Verwaltungseinrichtungen<br />

die Energie nutzen. Der öffentliche Sektor, der typischerweise gerade<br />

keine produzierenden Unternehmen betreibt, ist damit in besonderem<br />

Umfang von der Änderung betroffen.<br />

4 B<strong>und</strong>esrechnungshof, Chancen zur Entlastung <strong>und</strong> Modernisierung des<br />

B<strong>und</strong>eshaushalts. Vorschläge des B<strong>und</strong>esbeauftragten <strong>für</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

in der Verwaltung (BWV), Bonn 2009, S. 58. Abrufbar unter http://<br />

b<strong>und</strong>esrechnungshof.de.<br />

5 B<strong>und</strong>esrechnungshof, Chancen zur Entlastung <strong>und</strong> Modernisierung des<br />

B<strong>und</strong>eshaushalts. Vorschläge des B<strong>und</strong>esbeauftragten <strong>für</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

in der Verwaltung (BWV), Bonn 2009, S. 58. Abrufbar unter http://<br />

b<strong>und</strong>esrechnungshof.de.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

C. WEGENUTZUNGSVERTRäGE<br />

Titelthema<br />

Ein völlig anderes, aber nicht weniger aktuelles Problemfeld im öffentlichen<br />

Wirtschaftsrecht bilden die Wegenutzungsverträge - auch Konzessionsverträge<br />

genannt - <strong>für</strong> die Verlegung von Energieversorgungsleitungen. Zurzeit<br />

gibt es b<strong>und</strong>esweit geschätzte 20.000 Konzessionsverträge. 6 In den kommenden<br />

Jahren läuft eine große Zahl der stets befristeten Gr<strong>und</strong>versorgungsverträge<br />

ab. Damit stellt sich verstärkt die Problematik der Neuvergabe solcher<br />

Erlaubnisse. Der Diskussionsbedarf ist entsprechend hoch, denn abschließende<br />

gesetzliche oder richterliche Vorgaben fehlen.<br />

I. WAS SIND WEGENUTZUNGSVERTRäGE?<br />

Gemeinden sind gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG)<br />

verpflichtet, “ihre öffentlichen Verkehrswege <strong>für</strong> die Verlegung <strong>und</strong> den<br />

Betrieb von Leitungen […] zur unmittelbaren Versorgung von Letztverbrauchern<br />

im Gemeindegebiet diskriminierungsfrei durch Vertrag zur Verfügung<br />

zu stellen.“ Der auf Gr<strong>und</strong>lage dieser Regelung abgeschlossene Wegenutzungsvertrag<br />

gibt dem Unternehmen das Recht zur Betreibung des<br />

Leitungsnetzes.<br />

Durch die Entflechtung der vergangenen Jahre sind dabei Netzbetreiber <strong>und</strong><br />

Energieversorger funktional voneinander getrennt. Nur den Betreiber eines<br />

allgemeinen Versorgungsnetzes trifft gemäß § 18 EnWG eine allgemeine Anschlusspflicht.<br />

Folglich trifft auch nicht automatisch jeden Energieversorger,<br />

sondern nur den Anbieter, der in einem Gebiet die meisten K<strong>und</strong>en versorgt,<br />

eine Versorgungspflicht, § 36 EnWG. Durch Vergabe der entsprechenden<br />

Rechte an die Energieversorgungsunternehmen kommen die Kommunen ihrer<br />

Verpflichtung aus Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG zur Gr<strong>und</strong>versorgung mit Energie<br />

im Rahmen der Daseinsvorsorge nach.<br />

<strong>Die</strong> Kommunen können den Abschluss eines einfachen Wegenutzungsvertrages<br />

gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 EnWG nur ablehnen, „solange das Energieversorgungsunternehmen<br />

die Zahlung von Konzessions abgaben in Höhe<br />

der Höchstsätze […] verweigert <strong>und</strong> eine Einigung über die Höhe der<br />

Konzessions abgaben noch nicht erzielt ist.“ <strong>Die</strong> Höhe der Abgabe bestimmt<br />

sich dabei nach der Konzessionsabgabenverordnung. <strong>Die</strong> Kommunen erhal-<br />

ten so eine angemessene Vergütung <strong>für</strong> die Benutzung der gemeindlichen<br />

Flächen.<br />

<strong>Die</strong> „qualifizierten“ Wegenutzungsverträge, die der allgemeinen Versorgung<br />

dienen <strong>und</strong> nicht lediglich <strong>für</strong> die Versorgung einzelner (Groß-)Abnehmer<br />

abgeschlossen wurden, haben eine Laufzeit von max. 20 Jahren, § 46 Abs. 2<br />

S. 1 EnWG. Spätestens nach Ablauf dieser Zeit muss das Wegenutzungsrecht<br />

dann neu vergeben werden.<br />

Der Wandel in der Energiewirtschaft hat dabei zu einem vermehrten Wettbe-<br />

werb nicht nur „in Netzen“, sondern auch „um Netze“ geführt. Dabei ergeben<br />

sich im Detail aber einige Schwierigkeiten.<br />

6 Gemeinsamer Leitfaden von B<strong>und</strong>eskartellamt <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esnetzagentur<br />

zur Vergabe von Strom- <strong>und</strong> Gaskonzessionen <strong>und</strong> zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />

15. Dezember 2010, Rn. A 1.<br />

71


72<br />

Titelthema<br />

II. AUSGANGSLAGE BEI DER NEUVERGABE<br />

Auch in der Energieversorgung zeichnet sich ein Trend zur Rekommunalisie-<br />

rung 7 ab. Es erfolgt eine gehäufte Vergabe von Konzessionen an kommunale<br />

Unternehmen. Problematisch ist daran, dass die Gemeinde auf der Angebots-<br />

seite eine Monopolstellung innehat, die sie nicht missbrauchen darf. Sie muss<br />

also ein entsprechendes wettbewerbliches Vergabeverfahren durchführen.<br />

<strong>Die</strong> Vergabe von öffentlichen Aufträgen richtet sich im Allgemeinen nach<br />

den stark formalisierten Verfahren der §§ 97 ff. Gesetz gegen Wettbewerbs-<br />

beschränkungen (GWB). <strong>Die</strong>ses ist hier aber nicht anwendbar, da es sich bei<br />

der Konzessionsvergabe nicht um öffentliche Aufträge über Liefer-, Bau- oder<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen im Sinne des § 99 der GWB handelt. 8<br />

Vielmehr hat eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung als transparentes Bie-<br />

terverfahren stattzufinden. <strong>Die</strong>s stellt die Kommunen in der Praxis häufig vor<br />

erhebliche Probleme sowohl vor/während als auch nach Abschluss des Bie-<br />

terverfahrens, von denen zwei im Folgenden näher beleuchtet werden sollen.<br />

III. STREITIGKEITEN BEI DER DURCHFüHRUNG EINES BIETER-<br />

VERFAHRENS<br />

1. AUSGANGSLAGE<br />

Das EnWG macht <strong>für</strong> das Verfahren zur Vergabe von Wegenutzungsrechten<br />

kaum Vorschriften. Lediglich einige Bekanntmachungspflichten sind in §<br />

46 Abs. 3 EnWG enthalten. Anhaltspunkte kann eine Mitteilung der euro-<br />

päischen Kommission 9 (Mitteilung) bieten, die <strong>für</strong> die Vergabe öffentlicher<br />

Aufträge gilt, die nicht unter die Vergaberichtlinien fallen. Auch dort gelten<br />

z. B. die Gr<strong>und</strong>freiheiten, etwa die <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit, Art. 56 des Ver-<br />

trages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) <strong>und</strong> die üb-<br />

rigen wettbewerbsrechtlichen Vorschriften des europäischen Primärrechts.<br />

<strong>Die</strong> Kommissionsmitteilung nennt folglich unter anderem die Verpflichtung<br />

zur Durchführung eines unparteiischen Verfahrens.<br />

Dazu muss die Absicht, Wegerechte neu zu vergeben, zunächst in einer dem<br />

zu erwartenden Interesse an der Ausschreibung Rechnung tragenden Form<br />

bekannt gemacht werden. <strong>Die</strong> Gemeinde muss den Vertragsablauf durch Ver-<br />

öffentlichung im B<strong>und</strong>esanzeiger oder im elektronischen B<strong>und</strong>esanzeiger be-<br />

kannt machen, § 46 Abs. 3 EnWG. Es hat ein transparentes <strong>und</strong> diskriminie-<br />

rungsfreies Verfahren zu erfolgen, zu dem auch die vorherige Definition <strong>und</strong><br />

spätere Berück sichtigung objektiver Zuschlagskriterien gehört. <strong>Die</strong>se kön-<br />

nen etwa die Wirtschaftlichkeit des Angebots, aber auch die Versorgungs-<br />

sicherheit berücksichtigen. 10<br />

7 Gemeinsamer Leitfaden von B<strong>und</strong>eskartellamt <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esnetzagentur<br />

zur Vergabe von Strom- <strong>und</strong> Gaskonzessionen <strong>und</strong> zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />

15. Dezember 2010, Rn. A 3.<br />

8 Str., vgl. EuGH - WAZV Gotha, Urteil v. 10.09.09, Rs. C 206/08.<br />

9 „Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht,<br />

das <strong>für</strong> die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht<br />

oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen“, 2006/C 179/02.<br />

10 Vgl. Theobald, in: Danner/ Theobald, Energierecht, EnWG § 46 Wegenutzungsverträge,<br />

66. EL, Rn. 22 f.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

<strong>Die</strong> Ausschreibung muss insgesamt derart erfolgen, dass im Nachhinein überprüft<br />

werden kann, ob ein faires Verfahren stattgef<strong>und</strong>en hat. 11 <strong>Die</strong>s muss<br />

auch die Möglichkeit <strong>für</strong> die Teilnehmer enthalten, effektiven Rechtsschutz<br />

zu erlangen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> ist auch eine Veröffentlichung der Neuabschlüsse<br />

<strong>und</strong> der wesentlichen Gründe <strong>für</strong> die Entscheidungen zur Vergabe<br />

erforderlich.<br />

2. STREIT UM DIE HERAUSGABE VoN NETZDATEN AN DIE<br />

GEMEINDE<br />

Um ein Angebot überhaupt abgeben oder bewerten zu können, benötigen die<br />

Gemeinde wie auch der Bewerber Informationen hinsichtlich des Netzes, die<br />

öffentlich nicht zugänglich sind. Hier muss ein Ausgleich gef<strong>und</strong>en werden<br />

<strong>für</strong> die durch den Informationsvorsprung entstehenden Vorteile des bisherigen<br />

Betreibers, ohne unzulässig in dessen Geschäftsgeheimnisse einzugreifen.<br />

Ein solcher Auskunftsanspruch steht zunächst nur der Gemeinde zu. <strong>Die</strong><br />

Pflicht zur Informationsherausgabe ergibt sich in der Regel als ungeschriebene<br />

Nebenpflicht aus dem auslaufenden Konzessionsvertrag zumindest unter<br />

Berücksichtigung des Gr<strong>und</strong>satzes von Treu <strong>und</strong> Glauben, § 242 Bürgerliches<br />

Gesetzbuch. 12<br />

Eine Informationspflicht besteht insbesondere über Art, Länge, Besonderheiten<br />

<strong>und</strong> Altersstruktur der erfassten Netze, die Jahresarbeit (in kWh) <strong>und</strong><br />

die versorgte Fläche. Nicht erhoben werden dürfen von der Gemeinde dagegen<br />

wirtschaftlich sensible Daten wie z. B. K<strong>und</strong>endaten im Sinne des § 9<br />

Abs. 1 EnWG.<br />

<strong>Die</strong> Gemeinde selbst ist kartellrechtlich maßgeblicher Anbieter des Verteilernetzes.<br />

Sie ist deshalb verpflichtet, die netzrelevanten Daten potentiellen Bietern<br />

diskriminierungsfrei zur Verfügung zu stellen. <strong>Die</strong>s umfasst alle Daten,<br />

die potentielle Bieter benötigen, um effektiv an der Vergabe der Konzession<br />

teilzunehmen. Eine mangelhafte Information käme einer praktischen Verhinderung<br />

der Neuvergabe gleich. Entsprechend fordert auch die Kommission in<br />

ihrer Mitteilung, dass „keiner der Bieter mehr Zugang zu Informationen als<br />

andere hat“ <strong>und</strong> dass „jegliche ungerechtfertigte Bevorteilung einzelner Bieter<br />

ausgeschlossen“ ist.<br />

<strong>Die</strong> Bieter können jedoch zur Geheimhaltung der so erlangten Daten verpflichtet<br />

werden.<br />

IV. STREITIGKEITEN BEI DER ABWICKLUNG DER KoNZESSIoNSVERTRäGE<br />

ZWISCHEN ALT- UND NEUKoNZESSIoNäR<br />

Doch auch wenn ein ordnungsgemäßes Verfahren schließlich zur Auswahl<br />

eines neuen Netzbetreibers geführt hat, ergeben sich bei der Abwicklung häufig<br />

noch weitere Schwierigkeiten.<br />

11 EuGH - Telaustria, in: EuR 2001, 266, Rn. 62.<br />

12 Gemeinsamer Leitfaden von B<strong>und</strong>eskartellamt <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esnetzagentur<br />

zur Vergabe von Strom- <strong>und</strong> Gaskonzessionen <strong>und</strong> zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />

15. Dezember 2010, Rn. C 27.


1. STREIT UM DIE HERAUSGABE VoN NETZDATEN AN DEN<br />

NEUKoNZESSIoNäR<br />

Nachdem ein Bieter den Zuschlag als Neukonzessionär erhalten hat, hat auch<br />

er selbst Anspruch auf Erhalt bestimmter Informationen vom Altkonzessio-<br />

när. <strong>Die</strong>s ergibt sich aus einer selbstständigen Nebenpflicht zum gesetzlichen<br />

Schuldverhältnis des § 46 Abs. 2 EnWG 13 <strong>und</strong> umfasst insbesondere solche<br />

Faktoren, die eng mit der notwendig gewordenen Bestimmung bzw. Über-<br />

prüfung der Berechnungsgr<strong>und</strong>lagen einer angemessenen Vergütung <strong>für</strong> die<br />

Netzüberlassung zusammenhängen. Alle zur Ermittlung dieses Preises not-<br />

wendigen Faktoren müssen offengelegt werden.<br />

Umfasst werden nun z. B. auch detailliertere Angaben über den Anlagenbe-<br />

stand, Wartungszustand, Anschaffungskosten <strong>und</strong> -jahr, Restwerte bzw. kal-<br />

kulatorische Nutzungsdauer, Absatzmengen, Bilanzwerte etc. 14<br />

2. STREIT UM DEN PREIS FüR DIE üBERLASSUNG DER VERSoR-<br />

GUNGSANLAGEN<br />

Doch auch wenn alle diese Faktoren vollständig offengelegt sind, besteht wei-<br />

terhin Klärungsbedarf. § 46 Abs. 2 S. 2 EnWG regelt, dass der bisher Nut-<br />

zungsberechtigte verpflichtet ist, „seine <strong>für</strong> den Betrieb der Netze […] not-<br />

wendigen Verteilungsanlagen dem neuen Energieversorgungsunternehmen<br />

gegen Zahlung einer wirtschaftlich angemessenen Vergütung zu überlas-<br />

sen.“ <strong>Die</strong> Ermittlung dieser Vergütung bereitet in der Praxis jedoch regelmä-<br />

ßig Probleme <strong>und</strong> ist Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen sowie<br />

zahlreicher Beschwerden <strong>und</strong> Anfragen bei B<strong>und</strong>esnetzagentur <strong>und</strong> B<strong>und</strong>es-<br />

kartellamt.<br />

a) Berechnungsmethoden<br />

Als Anhaltspunkt <strong>für</strong> eine angemessene Vergütung kann im Allgemeinen der<br />

Verkehrs- bzw. Marktwert angesehen werden. Dabei kann gr<strong>und</strong>sätzlich frei<br />

gewählt werden, ob bei der Ermittlung das Ertrags- oder Sachwertverfahren<br />

Anwendung findet. <strong>Die</strong>s gilt nach der Rechtsprechung des B<strong>und</strong>esgerichts-<br />

hofs auch <strong>für</strong> das Netzüberlassungsentgelt.<br />

aa) Sachzeitwert<br />

Unter dem Sachzeitwert ist der auf der Gr<strong>und</strong>lage des Tagesneuwertes unter<br />

Berücksichtigung des Alters <strong>und</strong> Zustandes ermittelte Restwert eines Wirt-<br />

schaftsgutes im Sinne des Bruttorekonstruktionswertes zu verstehen. 15<br />

<strong>Die</strong> Sachzeitwertbestimmung kommt jedenfalls dann zur Anwendung, wenn<br />

dies ausdrücklich mit dem bisherigen Konzessionsnehmer vereinbart wur-<br />

de. 16 Der BGH hat die Vereinbarung des Sachzeitwert <strong>für</strong> grds. zulässig er-<br />

klärt. <strong>Die</strong>s gilt aber nur dann, wenn der Ansatz des Sachzeitwertes nicht pro-<br />

hibitiv wirkt, also nicht dazu führt, dass die Gemeinde faktisch an den alten<br />

Konzessionär geb<strong>und</strong>en bleibt.<br />

13 Gemeinsamer Leitfaden von B<strong>und</strong>eskartellamt <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esnetzagentur<br />

zur Vergabe von Strom- <strong>und</strong> Gaskonzessionen <strong>und</strong> zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />

15. Dezember 2010, Rn. C 56.<br />

14 Gemeinsamer Leitfaden von B<strong>und</strong>eskartellamt <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esnetzagentur<br />

zur Vergabe von Strom- <strong>und</strong> Gaskonzessionen <strong>und</strong> zum Wechsel des Konzessionsnehmers,<br />

15. Dezember 2010, Rn. C 49.<br />

15 BGH, NVwZ-RR 2006, 808 (809), m.w.N.<br />

16 Vgl. BGH, Urteil v. 07.02.2006, Az. KZR 24/04.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Titelthema<br />

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bb) Ertragswert<br />

Damit deckelt der BGH die Höhe der Vergütung praktisch durch den Ertragswert.<br />

<strong>Die</strong>sen hat er in einem eher untechnischen Sinne definiert als den „äußersten<br />

Betrag, der aus der Sicht des Käufers unter Berücksichtigung der sonstigen<br />

Kosten der Stromversorgung einerseits <strong>und</strong> der zu erwartenden Erlöse<br />

aus dem Stromverkauf andererseits <strong>für</strong> den Erwerb des Netzes kaufmännisch<br />

<strong>und</strong> betriebswirtschaftlich vertretbar erscheint.“ 17<br />

<strong>Die</strong> Ertragswertbestimmung im technischen Sinne erfolgt durch eine Ermittlung<br />

der zukünftig zu erwartenden Nettoerlöse, die über die zu erwartende<br />

Lebensdauer des Betriebes abgezinst werden. Dabei werden im vorliegenden<br />

Fall die erzielbaren (Maximal-) Erlöse unter Berücksichtigung der Netzentgeltverordnungen<br />

ermittelt. <strong>Die</strong>se machen abschließende Vorgaben <strong>für</strong> die<br />

Ermittlung der Netzentgelte. Der auf diese Weise erzielte Wert der Netze kann<br />

sowohl höher als auch niedriger als der Sachzeitwert ausfallen.<br />

Es empfiehlt sich daher, möglichst umfangreiche vertragliche Regelungen zur<br />

Berechnung des Netzüberlassungswertes zu treffen.<br />

D. FAZIT<br />

<strong>Die</strong> genannten Problematiken haben gezeigt, in welchen Spannungsfeldern<br />

sich das öffentliche Wirtschaftsrecht derzeit bewegt. Dabei soll die Aufzählung<br />

der vorstehenden „Brennpunkte“ keinesfalls abschließend sein, sondern<br />

lediglich einen Einblick in die vielfältigen Facetten des öffentlichen Wirtschaftsrechts<br />

bieten. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, der gr<strong>und</strong>sätzliche Fragen<br />

klären <strong>und</strong> Fehlentwicklungen korrigieren muss. Aber auch die Rechtsprechungs-<br />

<strong>und</strong> Beratungspraxis kann ihren Teil zur Klärung dringlicher<br />

Fragen beitragen.<br />

17 BGH, BGHZ 143, 128 (142 ) = BGH NJW 2000, 577.<br />

73


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A. EINLEITUNG<br />

Klimaschutzrecht – ein Rechtsgebiet im entstehen<br />

von Wiss. Mit. James Kröger, LL.M. (Universität Bremen)<br />

Der Klimawandel wird allgemein als eine der größten Herausforderungen <strong>für</strong><br />

die Menschheit angesehen. <strong>Die</strong> Gesellschaften der Erde sind gefordert, Lö-<br />

sungen zu entwickeln den Klimawandel zu stoppen oder zu begrenzen <strong>und</strong><br />

dessen Folgen in einer gerechten sowie wirtschaftlich, sozial <strong>und</strong> ökologisch<br />

vertretbaren Weise zu bewältigen. Bei der Entwicklung dieser Lösungsansätze<br />

müssen andere gesellschaftliche Zielsetzungen berücksichtigt werden: Ener-<br />

gieversorgungssicherheit, ökologische Nachhaltigkeit <strong>und</strong> Wirtschaftlichkeit.<br />

Das Recht als gesellschaftliches Steuerungsinstrument ist dabei ein zentraler<br />

Ort <strong>für</strong> die Entwicklung dieser Lösungsansätze <strong>und</strong> der Ausgestaltung eines<br />

Interessenausgleichs. <strong>Juristen</strong> sind angehalten, die politischen Entscheidungs-<br />

träger zu begleiten, um ihnen rechtliche Gestaltungsräume <strong>für</strong> Klimaschutz-<br />

maßnahmen aufzuzeigen <strong>und</strong> zugleich auf die Einhaltung rechtsstaatlicher<br />

Gr<strong>und</strong>sätze bei der Ausgestaltung von Klimaschutzmaßnahmen hinzuweisen.<br />

Junge <strong>Juristen</strong> dieser <strong>und</strong> nachfolgender Generationen haben die einzigar-<br />

tige Möglichkeit, diesen Entwicklungsprozess nicht nur zu verfolgen, sondern<br />

einen konstruktiven Beitrag zu leisten <strong>und</strong> fortzuführen. Das Entstehen eines<br />

neuen Rechtsgebiets „Klimaschutzrecht“ ist ein seltener Vorgang. Hinzu<br />

kommt die Einzigartigkeit dieses Entwicklungsprozesses: <strong>Die</strong> naturwissen-<br />

schaftliche Erkenntnis des Vorliegens eines anthropogenen Einflusses auf das<br />

Klima hat zu einer Mobilisierung von Politik <strong>und</strong> Recht auf internationaler<br />

Ebene geführt. Eine Regionalisierung des Klimaschutzrechts findet aktuell<br />

auf europäischer Ebene statt. Auf nationaler Ebene ist schließlich ein Klima-<br />

schutzrecht im Entstehen zu konstatieren. Der vorliegende Beitrag soll diesen<br />

Entwicklungsprozess nachvollziehend aufzeigen <strong>und</strong> hinterfragen, ob <strong>und</strong><br />

inwiefern von einem neuen Rechtsgebiet gesprochen werden kann <strong>und</strong> wel-<br />

che Charakteristika ein solches unter Umständen aufweist. <strong>Die</strong>se Einführung<br />

in das Klimaschutzrecht soll <strong>junge</strong> <strong>Juristen</strong> ermutigen, sich <strong>für</strong> dieses Rechts-<br />

gebiet zu interessieren, denn kommende Interessen- <strong>und</strong> Zielkonflikte erfor-<br />

dern neue Lösungsansätze, zu denen das Recht aufgr<strong>und</strong> seiner Steuerungs-<br />

<strong>und</strong> Ausgleichsfunktion einen wichtigen Beitrag leisten kann.<br />

B. DER KLIMAWANDEL ALS NATURWISSENSCHAFTLICHE GEWISS-<br />

HEIT UND GESELLSCHAFTLICHE HERAUSFoRDERUNG<br />

Das mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Referenzgremium IPCC<br />

(International Panel on Climate Change) beschreibt den Klimawan-<br />

del als „unequivocal“, 1 was dahin gehend verstanden werden muss, dass es aus<br />

wissenschaftlicher Sicht keine Zweifel am Vorliegen einer Veränderung des<br />

globalen Klimasystems gibt. <strong>Die</strong> Zeichen sind vielfältig: Das vergangene Jahr-<br />

zehnt war das wärmste seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen. 2 <strong>Die</strong><br />

globale Durchschnittstemperatur ist im Vergleich zu 1880 - dem Beginn der<br />

Industrialisierung - um 0,8°C gestiegen. 3 Verantwortlich <strong>für</strong> diese Erwär-<br />

mung ist die Zuführung von Treibhausgasen in die Atmosphäre wie Kohlenstoff-<br />

1 IPCC, Climate Change 2007, Synthesis Report, 2007, S. 30.<br />

2 WMO, Press Release No. 869, 2000-2009, The Warmest Decade (www.<br />

wmo.int/pages/mediacentre/press_releases/pr_869_en.html; 22.02.2011).<br />

3 WBGU, Kassensturz <strong>für</strong> den Weltklimavertrag – Der Budgetansatz, 2009, S. 9.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

James Kröger, LL.M. (London), Juriste Européen, Jahrgang<br />

1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungs-<br />

stelle <strong>für</strong> Europäisches Umweltrecht der Universität Bremen<br />

<strong>und</strong> promoviert auf dem Gebiet des Klimaschutzrechts. Er hat<br />

im Rahmen des Studienganges „Europäischer Jurist“ an der<br />

Humboldt-Universität zu Berlin, der Université Paris II Pan-<br />

théon-Assas <strong>und</strong> dem King‘s College London <strong>stud</strong>iert. 2009<br />

absolvierte er in Berlin sein erstes Staatsexamen.<br />

Titelthema<br />

dioxid (CO 2 ), Methan oder Lachgas. Deren Konzentration in der Atmosphäre hat<br />

seit der vorindustriellen Zeit um bis zu 80 % zugenommen <strong>und</strong> im Fall von Koh-<br />

lenstoffdioxid zu einer Konzentration von 388 ppm im Jahr 2010 im Vergleich zu<br />

280 ppm im Jahr 1880 geführt. 4 Kohlenstoffdioxid wird insbesondere bei der Ver-<br />

brennung fossiler Brennstoffe freigesetzt. Zusätzlich tragen veränderte Land-<br />

nutzungen, Entwaldungen <strong>und</strong> Veränderungen in der Meeresumwelt zu einer<br />

Umwandlung von Kohlenstoffsenken in sog. Kohlenstoffquellen bei.<br />

<strong>Die</strong> Auswirkungen auf Natur <strong>und</strong> Gesellschaft sind so vielfältig wie bedroh-<br />

lich zugleich: 5 Der Meeresspiegel wird sich aufgr<strong>und</strong> einer wärmebedingten<br />

Ausdehnung von Wasser erhöhen. Zugleich stellt eine zunehmende CO 2 -be-<br />

dingte Versauerung der Meere eine Bedrohung <strong>für</strong> die Meeresumwelt dar. Ex-<br />

treme Wetterereignisse werden regelmäßiger auftreten. Eine Schwächung der<br />

Ökosysteme wird sich negativ auf die biologische Vielfalt auswirken. Nah-<br />

rungsmittel <strong>und</strong> Wasser werden in vielen Regionen ein immer knapperes Gut.<br />

Menschen werden vor dem Klimawandel fliehen <strong>und</strong> eine zunehmende Mi-<br />

gration auslösen. Das genaue Ausmaß dieser Folgen hängt entscheidend von<br />

der weiteren Entwicklung des Klimawandels ab. <strong>Die</strong> Szenarien <strong>für</strong> den weite-<br />

ren Temperaturanstieg liegen je nach zu Gr<strong>und</strong>e gelegter Emissionsintensität<br />

zwischen 1,1°C bis 6,4°C bis 2100. 6 <strong>Die</strong> wissenschaftliche Gemeinschaft hat<br />

sich aber darauf geeinigt, dass eine gefährliche anthropogene Störung des Kli-<br />

mawandels nur zu vermeiden ist, wenn die globale Klimaerwärmung auf 2°C<br />

im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter begrenzt wird. 7 <strong>Die</strong>s setzt eine<br />

ambitionierte, aber mögliche Reduktion der Kohlenstoffdioxidemissionen<br />

um 85% bis 2050 voraus. 8 Das naturwissenschaftlich begründete 2°C-Ziel<br />

wurde im Rahmen der Post-Kyoto-Verhandlungen in Kopenhagen <strong>und</strong> Can-<br />

cùn von der internationalen Staatengemeinschaft als politische Absichtserklä-<br />

rung angenommen. <strong>Die</strong> Überführung in geltendes Recht bleibt zu begleiten.<br />

In der Folge gilt es darzustellen, wie diese naturwissenschaftliche Gewissheit<br />

über den durch den Menschen verursachten Klimawandel auf den verschie-<br />

denen Rechtsebenen Eingang gef<strong>und</strong>en hat <strong>und</strong> dabei ein neues Rechtsgebiet<br />

entstehen lassen hat.<br />

4 CDIAC, Recent Greenhouse Gas Emissions (http://cdiac.ornl.gov/pns/<br />

current_ghg.html; 22.02.2011).<br />

5 Vgl. im Folgenden: WBGU (Fn. 3), S. 11 ff.<br />

6 IPCC, Climate Change 2007, The Physical Science Basis, 2007, S. 13.<br />

7 WBGU (Fn. 3) S. 13 f.; WBGU, Factsheet, Warum 2°C?, 2009.<br />

8 Oschmann/Rostankowski, Das Internationale Klimaschutzrecht nach<br />

Kopenhagen, ZUR 2010, S. 59 (60).<br />

75


76<br />

Titelthema<br />

C. INTERNATIoNALES KLIMASCHUTZRECHT<br />

Das internationale Klimaschutzrecht hat sich mit der 1992 auf dem Weltgip-<br />

fel von Rio angenommenen Klimarahmenkonvention der Vereinten Natio-<br />

nen (KRK) entwickelt. In der Folge haben das Kyoto-Protokoll zur KRK so-<br />

wie die Verhandlungen über ein weiteres Folgeabkommen das Klimaschutz-<br />

recht auf völkerrechtlicher Ebene konkretisiert.<br />

Mit 194 Vertragsstaaten stellt die KRK ein nahezu universell geltendes Über-<br />

einkommen dar, wobei eine gr<strong>und</strong>sätzliche Unterscheidung zwischen Indus-<br />

triestaaten (Annex I-Staaten) <strong>und</strong> anderen Staaten vorgenommen wird. Er-<br />

stere werden in Art. 4 Abs. 2 verpflichtet Maßnahmen zur Abschwächung der<br />

Klimaänderungen zu ergreifen, „indem sie ihre anthropogenen Emissionen<br />

von Treibhausgasen begrenz[en] <strong>und</strong> ihre Treibhausgassenken <strong>und</strong> -speicher<br />

schütz[en] <strong>und</strong> erweiter[n]“. Insgesamt wird <strong>für</strong> die Annex I-Staaten das Ziel<br />

formuliert, „einzeln oder gemeinsam die anthropogenen Emissionen von<br />

Kohlendioxid <strong>und</strong> […] anderen Treibhausgasen auf das Niveau vor 1990 zu-<br />

rückzuführen“. Im Sinne einer globalen Gerechtigkeit soll der Klimaschutz<br />

gemäß Art. 3 Nr. 1 KRK den Gr<strong>und</strong>satz der „gemeinsamen, aber unterschied-<br />

lichen Verantwortlichkeiten“ <strong>und</strong> gemäß Nr. 2 die besonderen Bedürfnisse<br />

<strong>und</strong> Gegebenheit von Entwicklungsländern berücksichtigen. Weitere in der<br />

KRK verfolgte Gr<strong>und</strong>sätze des internationalen Klimaschutzrechts sind zum<br />

einen das - im europäischen Umweltrecht gut verankerte - Vorsorgeprin-<br />

zip, demzufolge das Fehlen wissenschaftlicher Gewissheit kein Gr<strong>und</strong> <strong>für</strong> das<br />

Nichthandeln darstellen soll. Ein weiterer Gr<strong>und</strong>satz besteht darin, dass na-<br />

tionale Klimaschutzmaßnahmen nicht in einen versteckten Protektionismus<br />

übergehen <strong>und</strong> den internationalen Handel beschränken sollen (Nr. 5).<br />

<strong>Die</strong>se generell gehaltenen Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Verpflichtungen haben in dem im<br />

Jahr 2005 in Kraft getretenen Kyoto-Protokoll (KP) eine entscheidende Kon-<br />

kretisierung dahin gehend erfahren, dass zum einen verbindliche Redukti-<br />

onsverpflichtungen <strong>für</strong> den Zeitraum 2008-2012 formuliert wurden <strong>und</strong> zu-<br />

gleich verschiedene flexible Mechanismen als Instrumente <strong>für</strong> eine effektive<br />

Emissionsreduzierung aufgezeigt werden. Art. 3 Abs. 1 KP verpflichtet die<br />

Annex I-Staaten, ihre gesamten anthropogenen Emissionen bis 2012 um 5 %<br />

unter das Niveau von 1990 zu senken. Dabei ergeben sich die einzelnen Re-<br />

duktionsziele der jeweiligen Staaten aus Anlage B, welche <strong>für</strong> die Europäische<br />

Union ein Reduktionsziel von 8 % formuliert. 9 Wie bereits in der KRK ange-<br />

legt, stellt auch das KP keine Reduktionsziele <strong>für</strong> Entwicklungsländer auf, wo-<br />

rin ein Ausdruck des Nachhaltigkeitsgebots gesehen wird, deren sozioökono-<br />

mische Entwicklung nicht zu behindern. 10<br />

Das Kyoto-Protokoll eröffnet auch die Möglichkeit flexible Reduktionsme-<br />

chanismen aufzugreifen: Mit Hinblick auf die Kooperation mit Entwick-<br />

lungsländern ist insbesondere der Mechanismus <strong>für</strong> umweltverträgliche Ent-<br />

wicklung (Clean Development Mechanism) im Sinne von Art. 12 KP von Be-<br />

deutung. <strong>Die</strong>ser ermöglicht Annex I-Staaten Projekte zur Unterstützung von<br />

9 <strong>Die</strong> Europäische Union hat die Möglichkeit des Art. 4 KP wahrgenommen<br />

als sog. „bubble“ gemeinsam die Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten<br />

zu erfüllen.<br />

10 Gärditz, Schwerpunktbereich – Einführung in das Klimaschutzrecht,<br />

JuS 2008, S. 324 (325).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Nicht-Annex-I-Staaten <strong>für</strong> eine nachhaltige Entwicklung durchzuführen <strong>und</strong><br />

die sich daraus ergebenden – zertifizierten – Emissionsreduktionen auf die ei-<br />

gene Emissionsreduktionsverpflichtungen anrechnen zu lassen. <strong>Die</strong> in Art. 6 KP<br />

vorgesehene sog. Joint Implementation ermöglicht Annex-I-Staaten unterei-<br />

nander aus bestimmten im jeweiligen anderen Annex I-Land durchgeführten<br />

Projekten gewonnene Emissionsreduktionseinheiten zu übertragen. Auch er-<br />

öffnet das KP in Art. 17 die nationale Reduktionsmaßnahmen ergänzende<br />

Möglichkeit <strong>für</strong> Annex-I-Staaten mit Emissionen untereinander zu handeln.<br />

<strong>Die</strong>se kurze Übersicht über die Kernelemente des internationalen Klima-<br />

schutzrechts verdeutlicht bereits die Kreativität, mit der das Umweltvölker-<br />

recht auf ein neuartiges, globales Problem wie den Klimawandel reagieren<br />

kann. Das System einer Rahmenkonvention mit konkretisierenden Protokol-<br />

len erscheint gr<strong>und</strong>sätzlich als ein geeignetes Instrument, mit der Zeit Reduk-<br />

tionsverpflichtungen an den Entwicklungsstand von Gesellschaften <strong>und</strong> wis-<br />

senschaftlichen Erkenntnissen über den Klimawandel anzupassen. <strong>Die</strong> zähen<br />

Verhandlungen um ein rechtsverbindliches Folgeabkommen <strong>für</strong> die Zeit nach<br />

2012 in Kopenhagen <strong>und</strong> Cancùn zeigen aber zugleich auf, dass die Fortent-<br />

wicklung des internationalen Klimaschutzrechts stark abhängig ist von diplo-<br />

matischen Erwägungen <strong>und</strong> daher dessen Fortbestand unsicher macht. Als<br />

positiver Lichtblick kann in diesem Zusammenhang jedoch angeführt wer-<br />

den, dass in Cancùn das 2°C-Ziel als „internationaler Grenzwert“ verbind-<br />

lich anerkannt wurde.<br />

D. EURoPäISCHES KLIMASCHUTZRECHT<br />

Das europäische Klimaschutzrecht ist vordergründig Teil des europäischen<br />

Umweltrechts. Der europäische Umweltschutz zielt auch auf das Rechtsgut<br />

Klima ab. 11 Entsprechend listet Art. 191 AEUV die Bekämpfung des Klima-<br />

wandels als ein umweltpolitisches Ziel der Europäischen Union auf. Mit dem<br />

Vertrag von Lissabon ist das europäische Primärrecht um einen neuen Kom-<br />

petenztitel „Energie“ ergänzt worden. <strong>Die</strong>ser formuliert Ziele, die <strong>für</strong> den Kli-<br />

maschutz ebenso relevant sind: Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit<br />

der Erhaltung <strong>und</strong> Verbesserung der Umwelt sollen Energieeffizienz, Ener-<br />

gieeinsparungen, die Entwicklung erneuerbarer Energien <strong>und</strong> die Interkonnektion<br />

der Energienetze gefördert werden. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist es<br />

richtig anzunehmen, dass der im Umweltschutz verankerte Klimaschutz<br />

durch diesen neuen Kompetenztitel flankiert wird. 12<br />

<strong>Die</strong> Europäische Union hat sich im Rahmen ihres Klima- <strong>und</strong> Energiepakets<br />

im Vorfeld der Verhandlungen in Kopenhagen verpflichtet, bis 2020 die<br />

Emission von Treibhausgasen um 20 % im Vergleich zu 1990 zu senken, die<br />

Energieeffizienz um 20 % zu steigern <strong>und</strong> 20 % der Energieversorgung durch<br />

erneuerbare Energien zu gewährleisten. Zugleich hat sie in Aussicht gestellt,<br />

die Emissionen um 30 % zu senken, sollten sich andere Staaten in einem<br />

internationalen Klimaabkommen entsprechend verpflichten. 13 Das Klima-<br />

11 Kahl, Energie <strong>und</strong> Klimaschutz – Kompetenzen <strong>und</strong> Handlungsfelder<br />

der EU, in: Schulze-Fielitz, Europäisches Klimaschutzrecht, S. 54; Gärditz<br />

(Fn. 10), S. 326.<br />

12 Erbguth/Schlacke, Umweltrecht, § 16 Klimaschutzrecht, 2010, Rn. 9;<br />

Schlacke, Klimaschutzrecht – ein Rechtsgebiet?, <strong>Die</strong> Verwaltung, Beiheft<br />

11, 2010, S.121 (133).<br />

13 Entscheidung Nr. 406/2009/EG des Europäischen Parlaments <strong>und</strong> des<br />

Rates v. 23.4.2009, ABlEG L 140/136.


<strong>und</strong> Energiepaket ist ein Bündel an Einzelrechtsakten. 14 Dabei lassen sich ins-<br />

besondere das Recht des Emissionshandels, das Recht der Förderung erneu-<br />

erbarer Energien, das Recht der Energieeffizienz sowie die rechtliche Hand-<br />

habung der Abscheidung <strong>und</strong> Speicherung von CO 2 als Schwerpunkte des<br />

europäischen Klimaschutzrechts identifizieren.<br />

Das Emissionshandelssystem der Europäischen Union hat seinen Ursprung<br />

in Richtlinie 2003/87/EG, welche ein sog. cap-and-trade-System des Handels<br />

mit Treibhausgasen errichtete. Dabei wird eine Obergrenze <strong>für</strong> die Emission<br />

der Treibhausgase als „cap“ festgelegt <strong>und</strong> zugleich Emissionseinheiten als<br />

Emissionsrechte handelbar gemacht („trade“). Ein Unternehmen, welches am<br />

Emissionshandelsystem teilnimmt 15 , muss entsprechende Emissionsrechte<br />

inne haben, um Treibhausgase emittieren zu dürfen. Sinn <strong>und</strong> Zweck die-<br />

ses System ist aus wirtschaftlicher Sicht eine Internalisierung der externen<br />

Kosten der Treibhausgasemissionen. Langfristig sollen damit die Unterneh-<br />

men gestärkt werden, welche auf kostengünstige Weise eine Reduktion ih-<br />

rer Treibhausgase erwirken können. 16 Während die Emissionsrechte in den<br />

ersten beiden Zuteilungsperioden (2005-2007 <strong>und</strong> 2008-2012) hauptsäch-<br />

lich kostenlos vergeben wurden, führt die neue Richtlinie 2009/29/EG <strong>für</strong><br />

die dritte Zuteilungsperiode (2013-2020) als Gr<strong>und</strong>satz die Auktionierung<br />

von Emissionsrechten ein. 17 Auch werden in Zukunft nationale Allokations-<br />

pläne, in denen bisher auf nationaler Ebene die Emissionsrechte konkret ver-<br />

teilt wurden, aufgegeben. Vielmehr wird die Kommission in Zukunft zentral<br />

die Zuteilung der Emissionsrechte wahrnehmen.<br />

<strong>Die</strong> neue Erneuerbare-Energien-Richtlinie 2009/28/EG vereinigt verschie-<br />

dene Vorgängerrichtlinien <strong>und</strong> regelt nunmehr in einem Rechtsakt die För-<br />

derung erneuerbarer Energien in den Bereichen Strom <strong>und</strong> Biokraftstoffe so-<br />

wie im Wärme-/Kälte-Bereich. Sie setzt als Ziel einen Anteil von 20 % erneu-<br />

erbarer Energien an der Stromversorgung sowie im Wärme-/Kältebereich bis<br />

2020, wobei den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Zielwerte gesetzt<br />

werden. Der Anteil an Biokraftstoffen soll in den Mitgliedstaaten auf 10 % er-<br />

höht werden, wobei die Richtlinie diesbezüglich Nachhaltigkeitskriterien auf-<br />

stellt, um auf diese Weise eventuellen negativen ökologischen Auswirkungen<br />

vorzubeugen. 18 Darüber hinaus wird die <strong>für</strong> eine effektive Förderung erneu-<br />

erbarer Energien entscheidende Frage des Netzausbaus behandelt. Geleitet ist<br />

dieser Bereich des Klimaschutzrechts vom Prinzip des Vorrangs erneuerbarer<br />

Energien beim Netzzugang. 19<br />

Des Weiteren strebt die EU eine Steigerung der Energieeffizienz um 20 % bis<br />

2020 an. Zentraler Rechtsakt ist die Energieeffizienzrichtlinie 2006/32/EG,<br />

welche den Mitgliedstaaten auferlegt, im Rahmen von nationalen Energieef-<br />

fizienz-Aktionsplänen eine Energieeinsparung von 9 % zu erreichen. Ergän-<br />

zend regelt z.B. Richtlinie 2009/125/EG die umweltgerechte Gestaltung ener-<br />

14 Für eine genaue Auflistung vgl. Fn. 51 bei Erbguth/Schlacke (Fn. 12).<br />

15 Im Jahr 2010 nahmen in Deutschland 1665 Anlagen am Emissionshandel<br />

teil, insbesondere aus dem Bereich der energieintensiven Industrie; ab<br />

2012 wird auch der Flugverkehr in das Emissionshandelssystem integriert.<br />

16 Schlacke (Fn. 12), S. 133 f.<br />

17 Für die beihilferechtlichen Aspekte der Zuteilung von Emissionsrechten<br />

vgl. Pfromm, Emissionshandel <strong>und</strong> Beihilfenrecht, 2010.<br />

18 Vgl. Gärditz, Ökologische Binnenkonflikte im Klimaschutzrecht, DVBl.<br />

2010, S. 214 ff.; Franken, Nachhaltigkeitsstandards <strong>und</strong> ihre Vereinbarkeit<br />

mit WTO-Recht, ZUR, 2010, S. 66 ff.<br />

19 Vgl. Art. 16 Abs. 2 b) RL 2009/28/EG sowie Möstl, Der Vorrang erneuerbarer<br />

Energien, RdE 2003, S. 90 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Titelthema<br />

gieintensiver Produkte mit Hinblick auf die Energieeffizienz <strong>und</strong> Richtlinie<br />

2009/33/EG zielt auf eine Förderung der Energieeffizienz im Straßenverkehr,<br />

indem z.B. im Rahmen eines öffentlichen Vergabeverfahrens beim Kauf von<br />

Straßenverkehrsfahrzeugen deren Energieverbrauch sowie deren CO 2 - <strong>und</strong><br />

Schadstoffausstoß zu berücksichtigen sind.<br />

Richtlinie 2009/31/EG etabliert die Abscheidung <strong>und</strong> geologische Speiche-<br />

rung von CO 2 als ein weiteres Instrument europäischer Klimaschutzpolitik.<br />

<strong>Die</strong>se sog. CCS-Richtlinie (Carbon Capture and Storage) soll einen rechtli-<br />

chen Rahmen <strong>für</strong> diese umstrittene Technologie der Speicherung von CO 2<br />

im Boden sowie im Meeresgr<strong>und</strong> im Bereich des Festlandsockels sowie der<br />

Ausschließlichen Wirtschaftszone darstellen. 20 Dabei trifft sie Regelungen zur<br />

Genehmigungspflichtigkeit, Überwachungspflichten sowie über die Beherr-<br />

schung von Risiken im Zusammenhang mit dem Austreten von CO 2 (sog. Le-<br />

ckagen) <strong>und</strong> Haftungsfragen. Den Mitgliedstaaten obliegt die Auswahl geeig-<br />

neter Speicherstätten. Auch ist es ihnen möglich, im Wege eines opting-outs<br />

von der CO 2 -Speicherung abzusehen. 21 Erste Versuche der Umsetzung der<br />

CCS-Richtlinie in deutsches Recht sind bislang nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> starker<br />

lokaler Proteste in den von der Speicherung betroffenen B<strong>und</strong>esländern ge-<br />

gen diese Technologie gescheitert. 22<br />

Insgesamt aber präsentiert sich das europäisches Klimaschutzrecht als ein<br />

komplexes Regelungssystem, welches ein umfangreiches Instrumentarium<br />

zur Bekämpfung des Klimawandels <strong>und</strong> dessen Folgen hervorgebracht hat 23<br />

<strong>und</strong> welches aufgr<strong>und</strong> der Verbindlichkeit der europäischen Vorgaben ent-<br />

scheidend die Fortentwicklung nationaler Klimaschutzregeln <strong>und</strong> damit ein-<br />

hergehend energierechtlicher Gr<strong>und</strong>entscheidungen in den Mitgliedstaaten<br />

beeinflusst hat. <strong>Die</strong> Einführung des neuen Kompetenztitels „Energie“ birgt<br />

Potential, diesen Prozess auch in Zukunft voran zu treiben, doch macht dies<br />

zugleich eine klare Einordnung künftiger Klimaschutzmaßnahmen der EU<br />

als umwelt- oder energiepolitische Maßnahme notwendig. <strong>Die</strong> Entscheidung<br />

über die Einordnung einer Klimaschutzmaßnahme unter die umweltpoli-<br />

tische Kompetenz nach Art. 192 AEUV oder unter die Energie-Politik nach<br />

Art. 194 AEUV muss sich am verfolgten Zweck der Maßnahme orientieren. 24<br />

Insbesondere Fragen des europäischen Netzausbaus sowie des Energiemixes<br />

scheinen bislang von keiner der Kompetenzvorschriften erfasst zu sein. 25<br />

E. KLIMASCHUTZRECHT IN DEUTSCHLAND<br />

<strong>Die</strong> B<strong>und</strong>esregierung hat bereits 2007 ein ehrgeiziges „Integriertes Energie-<br />

<strong>und</strong> Klimaprogramm“ 26 auf den Weg gebracht, welches vergleichbar mit dem<br />

20 Vgl. Much, <strong>Die</strong> Rechtsfragen der Ablagerung von CO2 in unterirdischen<br />

geologischen Formationen, 2009; Schlacke/Much, Rechtsprobleme<br />

der CO2-Sequestrierung, SZIER 2010, S. 287 ff.; Stoll/Lehmann, <strong>Die</strong> Speicherung<br />

im Meeresuntergr<strong>und</strong> – die völkerrechtliche Sicht, ZUR 2008,<br />

S. 281 ff.<br />

21 Schlacke (Fn. 12), S. 137.<br />

22 Vgl. hierzu Skrylnikow, CCS: Carbon Capture and Storage - Technologische<br />

Risiken <strong>und</strong> regulatorische Herausforderungen; NuR 2010, S. 543 ff.<br />

23 Kramer, Klimaschutzrecht der Europäischen Union, SZIER 2010, S. 311 (331).<br />

24 Frenz/Kane, <strong>Die</strong> neue europäische Energiepolitik, NuR 2010, S. 464<br />

(470).<br />

25 Vgl. WBGU, Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag <strong>für</strong> eine Große<br />

Transformation, Zusammenfassung, S. 12.<br />

26 Vgl. hierzu Bosecke, Das Integrierte Energie- <strong>und</strong> Klimaprogramm der<br />

B<strong>und</strong>esregierung, EurUP 2008, S. 122 ff.<br />

77


78<br />

Titelthema<br />

Energie- <strong>und</strong> Klimapaket der Europäischen Union eine Vielzahl einzelner<br />

Rechtsakte zum Zwecke des Klimaschutzes beinhaltet. Auch hier lassen sich<br />

als Schwerpunkte das Recht des Emissionshandels, das Recht der Förderung<br />

erneuerbarer Energien sowie das Recht der Energieeffizienz identifizieren.<br />

Das Recht des Emissionshandels findet seine gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage im Treib-<br />

hausgas-Emissionshandelsgesetz (TEHG) 27 , was letztlich der Umsetzung der<br />

EU-Richtlinie 2003/87/EG dient. Entsprechend etabliert das TEHG das be-<br />

schriebene cap and trade-System auch <strong>für</strong> Deutschland. Ziel des Gesetzes ist<br />

es, dem Recht, CO 2 zu emittieren, einen Marktpreis zuzuordnen <strong>und</strong> Emis-<br />

sionsreduzierungen damit im Schwerpunkt auf jene Unternehmen zu lenken,<br />

wo dies am kostengünstigsten <strong>und</strong> wirtschaftlichsten verwirklicht werden<br />

kann. 28 Damit ist der Emissionshandel letztlich ein Mechanismus der Anreiz-<br />

regulierung. Ergänzt wird das TEHG durch das Zuteilungsgesetz 2012 (ZuG<br />

2012) 29 , welches die konkrete Zuteilung der Emissionsrechte <strong>für</strong> die aktuelle<br />

zweite Emissionshandelsperiode regelt. Des Weiteren stellt das Projekt-Me-<br />

chanismen-Gesetz 30 einen Bezug zum internationalen Klimaschutzrecht her,<br />

indem es die flexiblen Mechanismen des Kyoto-Protokolls in das deutsche<br />

Klimaschutzrecht integriert.<br />

Auf dem Gebiet des Rechts der Förderung erneuerbarer Energien differen-<br />

ziert das deutsche Klimaschutzrecht zwischen dem Einsatz erneuerbarer En-<br />

ergiequellen <strong>für</strong> die Stromerzeugung, <strong>für</strong> die Wärmeerzeugung sowie im Be-<br />

reich der Kraftstoffe. Das zentrale rechtliche Instrument <strong>für</strong> die Förderung<br />

des Einsatzes erneuerbarer Energien im Strombereich ist das Erneuerbare-<br />

Energien-Gesetz (EEG) 31 . Es begründet eine Abnahmepflicht zu einem ge-<br />

setzlich festgelegten Mindestpreis, welcher über dem Preis herkömmlich er-<br />

zeugten Stroms liegt, sowie eine Verteilungspflicht des aus erneuerbaren En-<br />

ergiequellen erzeugten Stroms <strong>für</strong> Netzbetreiber. <strong>Die</strong>ser Mechanismus gilt<br />

- nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> des Erfolgs des EEG - international als vorbildlich.<br />

Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG) 32 zielt gemäß dessen<br />

§ 1 Abs. 2 auf eine Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien an der Wär-<br />

meerzeugung in Gebäuden auf 14 % bis 2020. 33 Um dieses Ziel zu erreichen,<br />

verpflichtet das EEWärmeG alle Eigentümer von Neubauten ihre Wärmeversorgung<br />

durch erneuerbare Energien sicherzustellen. Alternativ können<br />

klimaschützende Ersatzmaßnahmen, wie z.B. der Einsatz von Wärme aus<br />

Kraft-Wärme-Kopplung, ergriffen werden. Ein mit 500 Mio. Euro pro Jahr<br />

ausgestattetes Marktanreizprogramm soll ergänzend durch finanzielle Anreize,<br />

die Nutzung von Wärme aus erneuerbaren Energien insbesondere mit<br />

Hinblick auf Altbauten fördern. Schließlich bezweckt das EEWärmeG den<br />

Ausbau der Wärmenetze <strong>und</strong> sieht beispielsweise die Möglichkeit <strong>für</strong> Gemeinden<br />

einen Anschluss- <strong>und</strong> Benutzungszwang an ein Wärmenetz auch<br />

27 TEHG v. 8.7.2004, BGBl. I S. 1578, zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz<br />

v. 16.7.2009, BGBl. I S. 1954.<br />

28 Schlacke (Fn. 12), S. 140.<br />

29 ZuG v. 7.8.2007 <strong>für</strong> die Zuteilungsperiode 2008 bis 2012, BGBl. I S. 1788.<br />

30 ProMechG v.22.9.2005, BGBl. I S. 2826, zuletzt geändert durch Art. 2<br />

des Gesetzes v. 25.10.2008, BGBl. I S. 2074.<br />

31 EEG v. 25.10.2008 BGBl. I S. 2074, zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes<br />

v. 29.7.2009, BGBl. I S. 2542.<br />

32 EEWärmeG v. 7.8.2008, BGBl. I S. 1658, zuletzt geändert durch Art. 3<br />

des Gesetzes vom 15.7.2009, BGBl. I S. 1804.<br />

33 Ausführlich zum EEWärmeG Wustlich, Das Erneuerbare-Energien-<br />

Wärmegesetz, NVwZ 2010, S. 1041 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

zum Zwecke des Klimaschutzes zu begründen (§ 16).<br />

Im Hinblick auf den Einsatz erneuerbarer Energien im Kraftstoffbereich arbeitet<br />

das deutsche Klimaschutzrecht im Schwerpunkt mit Quoten ergänzt<br />

durch steuerliche Entlastungen. Entsprechend werden auf Gr<strong>und</strong>lage des Biokraftstoffquotengesetzes34<br />

die Anteile erneuerbarer Energien am Kraftstoffverbrauch<br />

festgesetzt. <strong>Die</strong> gesetzliche Quote <strong>für</strong> den aktuellen Zeitraum von 2010<br />

bis 2014 beträgt 6,25 %. 35 Ab 2015 wird der Netto-Beitrag zur Treibhausgasverminderung<br />

als Gr<strong>und</strong>lage dienen <strong>und</strong> damit die Quotenregelung ablösen. 36<br />

Der dritte Schwerpunkt des deutschen Klimaschutzrechts liegt in der Förderung<br />

der Energieeffizienz. Das Recht der Energieeffizienz in Deutschland<br />

stellt sich als Querschnittsmaterie dar. 37 Eine Vielzahl an gesetzlichen Regelungen<br />

bezwecken eine Steigerung der Energieeffizienz: Zweck des Kraft-<br />

Wärme-Kopplungsgesetzes38 ist es gemäß § 1, „einen Beitrag zur Erhöhung<br />

der Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland auf 25 Prozent durch den befristeten Schutz, die Förderung<br />

der Modernisierung <strong>und</strong> des Neubaus von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen<br />

(KWK-Anlagen), die Unterstützung der Markteinführung der Brennstoffzelle<br />

sowie die Förderung des Neu- <strong>und</strong> Ausbaus von Wärmenetzen, in die Wärme<br />

aus KWK-Anlagen eingespeist wird, […] zu leisten.“ Auch das KWKG arbeitet<br />

mit einer Abnahme- <strong>und</strong> Vergütungspflicht von in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen<br />

erzeugten Stroms <strong>für</strong> Netzbetreiber. Des Weiteren bezwecken<br />

das Energieeinsparungsgesetz39 <strong>und</strong> die Energieeinsparungsverordnung40 eine erhöhte Energieeffizienz in Gebäuden, z.B. durch die Schaffung von Anreizen<br />

durch erhöhte Transparenz über die energetische Situation eines Gebäudes<br />

beim Kauf (vgl. „Energiepass“ in § 16 EnEV). Gesteigerte Energieeffizienz<br />

durch verstärkte Transparenz <strong>und</strong> Information sind auch Regelungszwecke<br />

des Energieverbrauchskennzeichnungsgesetzes41 .<br />

F. CHARAKTERISTIKA EINES NEUEN RECHTSGEBIETS<br />

<strong>Die</strong> Frage, wann ein neues Rechtsgebiet entsteht oder entstanden ist, kann nur<br />

unbefriedigend abschließend beantwortet werden. Ein Antwortversuch kann<br />

darin bestehen, ein neues Rechtsgebiet dann anzunehmen, „wenn ein gemeinsames<br />

Ziel der Problemlösung durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Gesetze<br />

<strong>und</strong> Instrumente angestrebt wird, die ihrerseits in ihrer Reichweite aufeinander<br />

abgestimmt werden müssen, damit sie sich nicht konterkarieren.“ 42<br />

Bereits die hier vorgenommene Einführung offenbart die Vielfalt <strong>und</strong> Interdependenzen<br />

rechtlicher Instrumente zur Erreichung des einen gemeinsamen<br />

Ziels, der Bekämpfung des Klimawandels <strong>und</strong> dessen Folgen. In diesem<br />

Sinne muss hier jedenfalls von einem Rechtsgebiet statu nascendi, ein<br />

34 BioKraftQuG v. 18.12.2006, BGBl. I S. 3180.<br />

35 Vgl. Art. 1 Nr. 3 d) cc) BioKraftFÄndG v.15.7.2009, BGBl. I S. 1804; §<br />

37a Abs. 3 S. 3 BImSchG.<br />

36 Schlacke (Fn. 12), S. 145.<br />

37 Schlacke (Fn. 12), S. 146.<br />

38 KWKG v. 19.3.2002, BGBl. I S. 1092; zuletzt geändert durch Art- 1 Gesetz<br />

v. 25.10.2008, BGBl. I S. 2101.<br />

39 EnEG v. 1.9.2005, BGBl. I S. 2684; zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes<br />

v. 28.3.2009, BGBl. I S. 643.<br />

40 EnEV v. 24.7.2007, BGBl. I S. 1519; zuletzt geändert durch Art. 1 der<br />

Verordnung vom 29.4.2009, BGBl. I S. 954.<br />

41 EnVKG v. 30.1.2002, BGBl. I S. 570.<br />

42 Müller/Schulze-Fielitz, Auf dem Wege zu einem Klimaschutzrecht, in:<br />

Schulze-Fielitz/Müller (Hrsg.), Europäisches Klimaschutzrecht, 2009.


Rechtsgebiet im Entstehen begriffen, ausgegangen werden. 43 Dabei ist das<br />

Klimaschutzrecht Teilgebiet des Umweltrechts <strong>und</strong> kann definiert werden als<br />

„die Summe derjenigen Rechtsnormen, die das Klima vor anthropogenen Ein-<br />

wirkungen schützen sollen.“ 44 In diesem Verständnis erfasst das Klimaschutz-<br />

recht jedoch nicht die Anpassung an die Folgen des Klimawandels. 45 <strong>Die</strong> um-<br />

weltrechtliche Ausgestaltung von Anpassungsstrategien an den Klimawandel<br />

ist noch rudimentär <strong>und</strong> bedarf weiterer Forschung. 46 Als Schutzgüter des<br />

Klimaschutzrechts werden zum einen die Atmosphäre sowie zum anderen ein<br />

stabiles Klima als Gr<strong>und</strong>voraussetzung <strong>für</strong> Leben auf der Erde angesehen. 47<br />

<strong>Die</strong> bisherigen Ausführungen zum Klimaschutzrecht verdeutlichen bereits<br />

ein Charakteristikum dieses „Rechtsgebiets im Entstehen“: Das Klimaschutz-<br />

recht ist ein Rechtsgebiet, dass durch seine Stellung in einem Mehrebenen-<br />

system geprägt ist. 48 <strong>Die</strong> Entwicklungen auf völkerrechtlicher, europäischer<br />

<strong>und</strong> nationaler Ebene beeinflussen sich gegenseitig <strong>und</strong> machen das Klima-<br />

schutzrecht zu „einem kooperativ vernetzten Rechtsregime“. 49 Gleiches gilt<br />

<strong>für</strong> die Abhängigkeit der Fortentwicklung dieses Rechtssystems von natur-<br />

wissenschaftlichen Erkenntnissen. <strong>Juristen</strong> sind keine Naturwissenschaftler<br />

<strong>und</strong> sind daher darauf angewiesen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

zu einem gewissen Maße Glauben zu schenken <strong>und</strong> diese unter Berücksichti-<br />

gung des Vorsorgeprinzips in das Recht zu integrieren. 50<br />

Trotz seines Rechtsgebietscharakters <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Eigenstän-<br />

digkeit, ist das Klimaschutzrecht nicht zuletzt auch ein Querschnittsrechts-<br />

43 So auch Schlacke (Fn. 12), S. 152.<br />

44 Gärditz (Fn. 10), S. 324.<br />

45 Erbguth/Schlacke (Fn. 12), Rn. 2.<br />

46 Vgl. Köck, Klimawandel <strong>und</strong> Recht, ZUR 2007, S: 393; Reese, Deutsche<br />

Anpassungsstrategie an den Klimawandel, ZUR 2009, S. 133 f.<br />

47 Erbguth/Schlacke (Fn. 12), Rn 2.<br />

48 Vgl. hierzu auch Winter, <strong>Die</strong> institutionelle <strong>und</strong> instrumentelle Entstaatlichung<br />

im Klimaschutzregime: Gestalt, Problemlösungskapazität <strong>und</strong><br />

Rechtsstaatlichkeit, in: Giegerich/Proelß, Bewahrung des ökologischen<br />

Gleichgewichts durch Völker- <strong>und</strong> Europarecht, 2010, S. 49 ff.<br />

49 Gärditz (Fn. 10), S. 325.<br />

50 Vgl. hierzu auch Schwarze, Driften Klimawissenschaft <strong>und</strong> Klimapolitik<br />

auseinander?, ZUR 2010, S. 57 ff.<br />

Titelthema<br />

gebiet, welches auch außerhalb des Umweltrechts in anderen Rechtsgebieten<br />

Ausdruck gef<strong>und</strong>en hat. 51 So enthalten beispielsweise sowohl das Bauleit- so-<br />

wie das Raumordnungsrecht zahlreiche Bezüge zum Klimaschutz. 52<br />

G. AUSBLICK<br />

Postgradualer europarechtlicher Studiengang (LL.M.)<br />

mit zwei Spezialisierungsrichtungen:<br />

•<br />

•<br />

WWW.ANDRASSYUNI.EU<br />

Offene Fragen, ungelöste Probleme <strong>und</strong> künftige Entwicklungen müssen wei-<br />

terhin rechtlich begleitet werden: Der bislang noch fragmentarische Cha-<br />

rakter des Klimaschutzrechts zwingt die Rechtswissenschaft nach einem<br />

„systemprägenden Kerngesetz“ 53 zu fragen <strong>und</strong> dessen Vorteile, Notwendig-<br />

keit <strong>und</strong> mögliche Ausgestaltung zu bewerten. Mögliche Zielkonflikte von<br />

Klimaschutz einerseits <strong>und</strong> anderen umweltrechtlichen Zielen, wie dem Na-<br />

turschutz sind zu lösen. 54 Der Beitrag der Landwirtschaft zum Klimaschutz<br />

ist nahezu nicht rechtlich erfasst <strong>und</strong> bedarf einer klimaschutzrechtlichen In-<br />

strumentierung. 55 Klimaschutzmaßnahmen können auch aus gr<strong>und</strong>recht-<br />

licher Sicht kritisch hinterfragt werden. 56 Auch das Verhältnis von möglicher-<br />

weise den globalen Handel beeinträchtigen Klimaschutzmaßnahmen <strong>und</strong><br />

dem Recht der Welthandelsorganisation ist auf dem Prüfstand. <strong>Die</strong> Risiken,<br />

die mit Ingenieurmaßnahmen am Klima (sog. Climate Engineering, z.B. Meeresdüngung)<br />

verb<strong>und</strong>en sind, müssen rechtlich erfasst <strong>und</strong> gesteuert werden.<br />

Angesichts dieser <strong>und</strong> einer Vielzahl weiterer offener Fragen liefert das Klimaschutzrecht<br />

als Rechtsgebiet im Entstehen <strong>junge</strong>n <strong>Juristen</strong> viel Raum, diesen<br />

Entstehungsprozess in Zukunft gestaltend zu begleiten. Der Forschungsbedarf<br />

bleibt beachtlich.<br />

51 Gärditz (Fn. 10), S. 325.<br />

52 Vgl. u.a. § 1 Abs. 5 S. 2 BauGB oder § 2 Abs. 2 Nr. 6 S. 5 ROG.<br />

53 Schlacke (Fn. 12), S. 156.<br />

54 Vgl. Gärditz (Fn. 18), S. 214 ff.<br />

55 Vgl. Köck, Eine umweltgerechte Reform der europäischen Agrarpolitik<br />

ist dringend erforderlich!, ZUR 2011, S.1 (2).<br />

56 Vgl. z.B. zum Gleichheitssatz <strong>und</strong> Emissionshandel EuGH, Rs. C-127/07,<br />

Slg. 2007 C 117 – Arcelor sowie Frenz, Emissionshandel <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

nach drei Entscheidungen des BVerfG, UPR, 2008, 8 ff.<br />

FAKULTÄT FÜR VERGLEICHENDE<br />

STAATS- UND RECHTSWISSENSCHAFTEN<br />

Internationales Unternehmensrecht: Schwerpunkt Ostmitteleuropa<br />

Internationale <strong>und</strong> Europäische Verwaltung<br />

Master<strong>stud</strong>iengang<br />

Europäische <strong>und</strong> Internationale Verwaltung<br />

FIT FÜR<br />

EUROPA!


80<br />

Titelthema<br />

Kommentar: Schneller energiewandel - aber wie?<br />

von Jens-Peter Thiemann (Bielefeld)<br />

Nach dem verheerenden Unglück von Fukushima war der Aufschrei groß.<br />

Der Atomausstieg sollte nach Möglichkeit von heute auf morgen erfolgen.<br />

B<strong>und</strong>esweit fand sich eine deutliche Mehrheit <strong>für</strong> einen schnellen Atomaus-<br />

stieg, so verw<strong>und</strong>ert es wenig, dass die B<strong>und</strong>esregierung mit der B<strong>und</strong>eskanz-<br />

lerin als Speerspitze eine 180°-Drehung von der Laufzeitverlängerung der<br />

Atomkraftwerke zum endgültigen Atomausstieg vollzog. Das von der aktu-<br />

ellen B<strong>und</strong>esregierung erstmals erstellte deutsche Energiekonzept 1 ist damit<br />

Makulatur geworden. Soweit so gut - aus Sicht der Atomgegner ist die Per-<br />

spektive äußerst positiv. Aber welche Folgen hat diese Kehrtwende <strong>und</strong> ist<br />

Deutschland trotz der mehrheitlichen Forderung nach einem raschen Atom-<br />

ausstieg überhaupt bereit die Folgen der Energiewende zu tragen, diese mög-<br />

licherweise als langfristigen Standortvorteil 2 im internationalen Wettbewerb<br />

zu nutzen?<br />

Wie wird der Balanceakt gelingen, der ethischen Verantwortung gerecht<br />

zu werden, den Atomausstieg effizient <strong>und</strong> schnell zu erreichen <strong>und</strong> dabei<br />

gleichzeitig dem Klimawandel <strong>und</strong> etwaigen sozialen Nachteilen entgegen zu<br />

wirken <strong>und</strong> dennoch die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten?<br />

Nach dem Bericht der Ethikkommission zur Atomenergie 3 , macht die Atom-<br />

energie zwar 20 Gigawatt der gesamten Energieproduktion von 70 Gigawatt<br />

in Deutschland aus, allerdings ist die Atomenergie theoretisch bis spätestens<br />

2022 durch andere Energieträger ersetzbar. Es bleibt aber zu bezweifeln, dass<br />

es gelingen wird, die <strong>für</strong> die Errichtung <strong>und</strong> den Betrieb erforderlichen Ge-<br />

nehmigungen zeitnah bzw. überhaupt zu erreichen.<br />

Neben den rechtlichen Problemen in Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit des<br />

Referendums, den geplanten Änderungen bei der Laufzeit der Atomkraft-<br />

werke bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Brennelementesteuer <strong>und</strong> den<br />

zu erwartenden Klagen basierend auf Art. 14 GG 4 , gibt es eine Vielzahl von<br />

Problemen, die auf die B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> deren Bürger zukommen.<br />

Es ist eine Illusion, dass die Energiewende ohne landschaftliche <strong>und</strong> finan-<br />

zielle Einschnitte möglich sein wird. Daher wird es interessant sein, zu be-<br />

obachten, ob <strong>und</strong> wie das Vorhaben 5 umgesetzt wird im Bauplanungsrecht<br />

Vorgaben <strong>für</strong> den Klimaschutz festzulegen, um die Ausweisung von Flächen<br />

<strong>für</strong> den Bau von Windkraftanlagen, dezentralen Kraftwerken oder Stromspei-<br />

chern zu erleichtern. Der Bau effizienter fossiler Energieträger sowie neuer re-<br />

generativer Energieträger ist unumgänglich 6 . Der Auf- <strong>und</strong> Ausbau regene-<br />

rativer Versorgungsstrukturen <strong>und</strong> effizienter fossiler Energieträger wird da-<br />

her von den Bürgern möglicherweise nicht nur höhere Strompreiszahlungen<br />

verlangen, sondern vielmehr auch die Bereitschaft Infrastrukturmaßnahmen<br />

1 http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/pdf/energiekonzept_b<strong>und</strong>esregierung.pdf.<br />

2 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/atomausstieg-in-deutschland-<br />

die-notwendige-wende-1.1103393.<br />

3 Vgl Abschlussbereicht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“.<br />

4 http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,765880,00.html<br />

5 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der klimagerechten Stadtentwicklung<br />

in den Gemeinden S. 3 ff.<br />

6 Vgl. Abschlussbereicht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

wie den Ausbau von Netzen <strong>und</strong> von Speicherkraftwerken sowie den Bau von<br />

effizienten fossil betriebenen Kraftwerken mitzutragen.<br />

Es wird nicht zuletzt darauf ankommen, neben der gesetzlich festgeschrie-<br />

benen Öffentlichkeitsbeteiligung, die Bürger frühzeitig auf diese Folgen vor-<br />

zubereiten <strong>und</strong> in die Planungen einzubeziehen. Das Beispiel Stuttgart 21 hat<br />

mehr als deutlich gezeigt, dass infrastrukturelle Maßnahmen im 21. Jahr-<br />

h<strong>und</strong>ert - trotz der in der Verfassung verankerten demokratischen Legitima-<br />

tion der politischen Entscheidungsträger - nicht mehr „von oben“ verordnet<br />

werden können. Vielmehr ist die Einbindung der Öffentlichkeit in konstruk-<br />

tiven <strong>und</strong> innovativen Formen, wie z.B. die Öffentlichkeitsbeteiligung bei der<br />

Suche <strong>und</strong> Wahl der Standorte atomarer Endlager in der Schweiz 7 , geboten.<br />

Andernfalls steht zu be<strong>für</strong>chten, dass frustrierte Anwohner <strong>und</strong> Umweltver-<br />

bände entsprechende Vorhaben durch langwierige Prozesse blockieren wer-<br />

den. Nicht zuletzt die Entscheidung des EuGH 8 könnte hier zu einem großen<br />

Problem werden. Hier könnten auch Ausgleichsmechanismen <strong>für</strong> betroffene<br />

Bürger eine höhere Akzeptanz hervorrufen.<br />

Ebenso würden die notwendigen Fortschritte beim Netzausbau - sowohl bei<br />

den Übertragungs- als auch bei den Verteilnetzen müssen zahlreiche zusätz-<br />

liche Leitungen gebaut werden 9 - wohl kaum realisierbar sein.<br />

Es bleibt auch die Kooperationsbereitschaft von Gemeinden abzuwarten,<br />

durch deren Gebiet die notwendigen Netzleitungen verlaufen sollen, wenn<br />

bestehende Gebiets- <strong>und</strong> Nutzungsplanungen überlagert werden. Offen bleibt<br />

zudem die Frage, ob die im Entwurf zum Netzausbaubeschleunigungsgesetz<br />

(NABEG) 10 vorgesehenen Ausgleichsregelungen hier die gewünschte Abhilfe<br />

schaffen können, hier wird es wohl auf die tatsächliche Ausgestaltung ankommen.<br />

Allein mit der im Netzausbaubeschleunigungsgesetz geplanten „Informtions-<br />

Offensive“ der B<strong>und</strong>esregierung gemeinsam mit Netzbetreibern <strong>und</strong> Um-<br />

weltverbänden, zur Förderung der Kommunikation <strong>und</strong> Transparenz des<br />

Netzausbaus wird die Energiewende aufgr<strong>und</strong> der bereits angedeuteten ver-<br />

schiedenen subjektiven Interessen der Bürger <strong>und</strong> Gemeinden nur schwer<br />

zu realisieren sein. Einige aktuellere Entscheidungen - in denen Bewohner<br />

eine optische Beeinträchtigung durch Windkraftanlagen eingeklagt haben 11 -<br />

zeigen, dass auch die Akzeptanz von Windkraftanlagen gestärkt werden muss,<br />

denn der weitere Ausbau der Windkraft ist nicht nur erforderlich, sondern<br />

sollte besondere Aufmerksamkeit erfahren. 12<br />

Diskutieren Sie mit anderen <strong>und</strong> uns über dieses Thema! Besuchen Sie uns<br />

dazu einfach unter www.facebook.de/<strong>iur</strong>ratio!<br />

7 http://www.sueddeutsche.de/politik/debatte-um-das-endlager-gesuchtgruft-fuer-strahlende-altlasten-1.1104005.<br />

8 EuGH Urteil v. 12.05.2011, Rechtssache C-115/09.<br />

9 Abschlussbericht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ S. 36 ff.<br />

10 Eckpunktepapier <strong>für</strong> ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz (“NABEG”)<br />

11 OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. vom 10.03.2011 – 8 A 11215/10, OVG<br />

Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 24.06.2010 – 8 A 2764/09.<br />

12 Abschlussbericht der Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ S. 31 f.


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82<br />

Ausbildung<br />

Aktuelles <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>sätzliches zum Betriebsübergang<br />

von Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard) <strong>und</strong> Wiss. Mit. Jan Thieken (beide Universität Bonn)<br />

Gregor Thüsing (li.), Jahrgang 1971, hat Rechtswissenschaften an der Universität Köln <strong>und</strong> der Harvard Law School <strong>stud</strong>iert.<br />

Er war Inhaber des Lehrstuhls <strong>für</strong> Bürgerliches Recht, Arbeits- <strong>und</strong> Sozialrecht an der Bucerius Law School, seit 2004 ist er<br />

Direktor des Instituts <strong>für</strong> Arbeitsrecht <strong>und</strong> Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn. Er ist Autor zahlreicher Publikationen<br />

<strong>und</strong> u.a. Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen <strong>Juristen</strong>tages.<br />

Jan Thieken (re.), Jahrgang 1984, <strong>stud</strong>ierte Rechtswissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn<br />

mit dem Schwerpunkt Arbeits- <strong>und</strong> Sozialrecht. Derzeit ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Thüsing<br />

tätig <strong>und</strong> promoviert zum Europa- <strong>und</strong> Arbeitsrecht.<br />

A. ZIELE UND ENTWICKLUNG<br />

Den Regelungen zum Betriebsübergang liegt der gleiche Gedanke wie dem<br />

§ 566 BGB im deutschen Mietrecht zugr<strong>und</strong>e: <strong>Die</strong> bloße Änderung des Be-<br />

triebsinhabers soll <strong>für</strong> den Arbeitnehmer keine Konsequenzen haben. Ohne<br />

entsprechende Regelungen würde der Kündigungsschutz massiv einge-<br />

schränkt. Denn der Veräußerer, der dann keinen Betrieb hat <strong>und</strong> keine Ar-<br />

beitnehmer mehr beschäftigt, könnte betriebsbedingt kündigen, vom Erwer-<br />

ber, zu dem der Arbeitnehmer keine vertraglichen Beziehungen hat, könnte<br />

keine Einstellung verlangt werden. 1 Auf kollektiver Ebene werden durch die<br />

gesetzlichen Regelungen darüber hinaus die Kontinuität des Betriebsrats <strong>und</strong><br />

die Aufrechterhaltung der kollektivrechtlichen Arbeitsbedingungen gewähr-<br />

leistet. Daneben sollen die Haftungsrisiken zwischen dem bisherigen Arbeit-<br />

geber <strong>und</strong> dem neuen Arbeitgeber angemessen verteilt werden. 2 Der Richtli-<br />

nie 2001/23/EG geht es damit ausweislich des 3. Erwägungsgr<strong>und</strong>es vorwiegend<br />

um den Arbeitnehmerschutz, was auch daran deutlich wird, dass aus Arbeit-<br />

nehmersicht günstigere Regelungen nach Art. 8 beibehalten werden dürfen.<br />

<strong>Die</strong> deutsche Regelung zum Betriebsübergang in § 613 a BGB wurde nicht<br />

erst aufgr<strong>und</strong> europäischer Vorgaben geschaffen, sondern ging auf eine nationale<br />

Debatte über die Rechtsfolgen eines Betriebsinhaberwechsels zurück.<br />

Parallel zu den deutschen Diskussionen war auf europäischer Ebene eine Zunahme<br />

von Fusionen <strong>und</strong> Zusammenschlüssen beobachtet worden. Um den<br />

daraus entstehenden Risiken <strong>für</strong> Arbeitnehmer zu begegnen wurde die Richtlinie<br />

77/187/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten<br />

über die Wahrung von Ansprüchen beim Übergang von Unternehmen,<br />

Betrieben <strong>und</strong> Betriebsteilen am 14. 12. 1977 verabschiedet. Revidiert wurde<br />

die Richtlinie durch die Richtlinie 98/50/EG zur Änderung der Betriebsübergangsrichtlinie<br />

vom 29. 6. 1998. <strong>Die</strong> ursprüngliche Richtlinie 77/187/EWG<br />

<strong>und</strong> die Änderungsrichtlinie 98/50/EG wurden mit kleineren Änderungen<br />

als Richtlinie 2001/23/EG am 12. 3. 2001 neu verkündet. Nach wie vor wird<br />

die Entwicklung des Betriebsübergangsrechts maßgeblich durch den EuGH<br />

betrieben, der noch genauso wie in den ersten Jahren über wichtige Auslegungsfragen<br />

entscheidet. 3<br />

1 ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 3; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613 a BGB Rn. 8.<br />

2 ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 2; MünchKomm/Müller-Glöge, § 613 a BGB Rn. 6 f.<br />

3 Siehe zuletzt EuGH C-466/07, Slg. 2009, I-803 - Klarenberg; EuGH<br />

C-151/09, NZA 2010, 1014 - UGT-FSP; EuGH C-242/09, NJW 2011, 439 -<br />

Albron Catering; EuGH C-463/09, NZA 2011, 148 – CLECE.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

B. VoRLIEGEN EINES BETRIEBSüBERGANGS<br />

Einzige Voraussetzung der Richtlinie <strong>und</strong> des § 613 a BGB ist das Vorliegen<br />

eines Betriebsübergangs. In Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/23/EG wird er<br />

definiert als der rechtsgeschäftliche, identitätswahrende Übergang eines<br />

Betriebs oder Betriebsteils, Unternehmens oder Unternehmensteils. <strong>Die</strong>se<br />

Definition bedarf der Erläuterung. In der Praxis bildet es oftmals einen Streit-<br />

punkt. 4<br />

I. BETRIEBS- UND UNTERNEHMENSBEGRIFF<br />

Während in der ursprünglichen Richtlinie 77/187/EWG der Anwendungsbereich<br />

auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen beschränkt<br />

war, wurde er durch die Änderungsrichtlinie 98/50/EG auf Unternehmensteile<br />

erweitert. Der EuGH trennt zwischen diesen Begriffen jedoch<br />

nicht, sondern fasst sie alle in der Definition zusammen, nach der es sich um<br />

eine wirtschaftliche Einheit im Sinne einer organisierten Zusammenfassung<br />

von Ressourcen zur Verfolgung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit<br />

handelt. 5<br />

<strong>Die</strong> Definition des EuGH geht über den Betriebsbegriff im Betriebsverfassungsrecht<br />

hinaus, nach dem es sich um eine Organisationseinheit handelt,<br />

innerhalb der ein Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern unter Einsatz von<br />

sächlichen <strong>und</strong> immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke<br />

verfolgt. Denn neben sächlichen <strong>und</strong> immateriellen Mitteln werden vom<br />

EuGH auch die personellen Betriebsmittel berücksichtigt, die bei betriebsmittelarmen<br />

Tätigkeiten entscheidend sind. 6<br />

Es muss sich um eine organisatorisch selbstständige Einheit handeln, die innerhalb<br />

des betrieblichen Gesamtzwecks zumindest einen Teilzweck erfüllt.<br />

Der Zweck muss sich nicht vom Zweck des Gesamtbetriebs unterscheiden,<br />

allerdings ist eine eigene Teilidentität erforderlich. Eine untergeordnete Hilfsfunktion<br />

ist nach der Rechtsprechung des EuGH in Watson Rask ausreichend.<br />

<strong>Die</strong> wirtschaftliche Tätigkeit muss nach dem EuGH in Rygaard auf Dauer<br />

angelegt sein <strong>und</strong> nicht auf die Ausführung eines bestimmten Vorhabens beschränkt<br />

sein. Wirtschaftlich ist die Einheit nach Art. 1 Abs. 1 lit. c) nicht nur<br />

4 S. zuletzt BAG NZA 2011, 197.<br />

5 St. Rspr. seit EuGH Rs. 24/85, Slg. 1986, 1119 – Spijkers.<br />

6 Vgl. EuGH C-463/09, NZA 2011, 148 – CLECE.


dann, wenn sie auf Gewinnerzielung ausgerichtet ist. 7 <strong>Die</strong> Wirtschaftlichkeit<br />

ist nur ausgeschlossen, wenn es sich um ausschließlich hoheitliche Befugnisse<br />

handelt.<br />

II. IDENTITäTSWAHRUNG<br />

Zentral ist die Frage der Identitätswahrung. Bei der Beurteilung müssen nach<br />

dem EuGH sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen<br />

berücksichtigt werden. Namentlich nennt der EuGH sieben Kriterien,<br />

nämlich:<br />

- die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebs,<br />

- den Übergang materieller Aktiva,<br />

- den Übergang immaterieller Aktiva,<br />

- die Übernahme der Hauptbelegschaft,<br />

- den Übergang der K<strong>und</strong>schaft,<br />

- den Grad der Ähnlichkeit der Tätigkeit <strong>und</strong><br />

- die Dauer einer Unterbrechung der Tätigkeit.<br />

<strong>Die</strong>se Kriterien dürfen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind nur<br />

Teilaspekte einer Gesamtbewertung. 8 Bei der Identitätswahrung handelt es<br />

sich somit um einen typologischen Begriff: Keines dieser Kriterien ist ein not-<br />

wendiges, <strong>und</strong> keines ein hinreichendes Merkmal eines Betriebsübergangs.<br />

Entscheidend ist, ob ein funktionsfähiger Organisationszusammenhang<br />


84<br />

Ausbildung<br />

Teile der Belegschaft übernommen werden. So könne bei der Bewachung von<br />

Atomanlagen bereits die Übernahme von 22 der 36 Arbeitnehmer, unter ih-<br />

nen die vier Schichtführer <strong>und</strong> das weitere Führungspersonal, ausreichend<br />

sein, da sie bei dieser qualifizierten Tätigkeit das wesentliche know-how re-<br />

präsentierten. 20<br />

So einleuchtend es erscheinen mag, dass auch bei betriebsmittelarmen Tätig-<br />

keiten ein gewisser Schutz gewährleistet sein muss <strong>und</strong> die Übernahme von<br />

Personal daher zur Identitätswahrung beiträgt, birgt diese Rechtsprechung<br />

doch auch ein rechtspolitisches Problem. Will ein Arbeitgeber, der eine<br />

Tätigkeit fortführt, die Folgen eines Betriebsübergangs vermeiden, wird er<br />

sich darum bemühen, einen nur geringen Teil der bisherigen Belegschaft zu<br />

übernehmen. Im Ergebnis kann sich der Schutz durch den weiten Betriebsübergangsbegriff<br />

daher gegen das Personal des bisherigen Auftragnehmers<br />

wenden. 21<br />

Eng verb<strong>und</strong>en mit dem Übergang der Belegschaft ist die Frage, wie sich der<br />

Übergang bzw. Austausch der Führungskräfte auf das Vorliegen eines Betriebsübergangs<br />

auswirkt. Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rs.<br />

UGT-FSP behält eine wirtschaftliche Einheit ihre Selbständigkeit auch dann,<br />

wenn die Befugnisse der Personen, die das Direktionsrecht des Arbeitgebers<br />

ausüben, nach dem Übergang über vergleichbare Befugnisse verfügen. Unterliegt<br />

die wirtschaftliche Einheit fortan hingegen dem Direktionsrecht übergeordneter<br />

Hierarchiestufen, verliert sie ihre Selbständigkeit <strong>und</strong> es fehlt an<br />

einem Betriebsübergang. 22 Nicht geklärt ist, ob ein Austausch der Führungskräfte<br />

den Betriebsübergang verhindert, wenn die neuen Stelleninhaber über<br />

dieselben Befugnisse verfügen.<br />

5. üBERGANG DER KUNDSCHAFT<br />

Der Übergang der K<strong>und</strong>schaft trägt ebenfalls zur Identitätswahrung bei. Klassisch<br />

geht die K<strong>und</strong>schaft über, wenn die K<strong>und</strong>enkartei oder eine Vertriebsberechtigung23<br />

übernommen wird.<br />

6. GRAD DER äHNLICHKEIT DER TäTIGKEIT<br />

<strong>Die</strong> Ähnlichkeit der Tätigkeit allein reicht <strong>für</strong> die Identitätswahrung nicht aus.<br />

Sonst stellte jede Funktionsnachfolge einen Betriebsübergang dar. In der Regel<br />

besteht ein Gleichlauf zwischen dem Übergang der K<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> der<br />

Ähnlichkeit der Tätigkeit, da bei gleichem Betriebszweck meist auch die<br />

K<strong>und</strong>schaft erhalten bleibt. Ausreichend ist nach dem EuGH in Redmond<br />

Stichting bereits, wenn nur ein Teil der Tätigkeiten auf einen anderen Betrieb<br />

übertragen wird. Dort war eine Einrichtung <strong>für</strong> Süchtige mit Hilfeleistungs-,<br />

Begegnungs- <strong>und</strong> Erholungsfunktionen geschlossen <strong>und</strong> von einer neu gegründeten<br />

Stiftung als Einrichtung nur zur Hilfeleistung fortgeführt worden.<br />

<strong>Die</strong> Richtlinie regele auch den Übergang von Betrieben <strong>und</strong> Betriebsteilen,<br />

die bei abgeschlossenen Tätigkeiten besonderer Art vorlägen. 24 Einen geänderten<br />

Betriebszweck nahm das BAG dagegen in einem Fall an, in dem ein<br />

20 BAG NZA 1999, 483.<br />

21 S. auch Thüsing, BB 2002, 464.<br />

22 EuGH C-151/09, NZA 2010, 1014 - UGT-FSP.<br />

23 Siehe EuGH verb. Rs. C-171/94 <strong>und</strong> C-172/94, Slg. 1996 I, 1253 – Merckx.<br />

24 EuGH Rs. C-29/91, Slg. 1992 I, 3189 – Redmond Stichting.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Frauenhaus zur bloßen Unterbringung in eine Einrichtung <strong>für</strong> Frauen mit<br />

einem umfassenden Präventions- <strong>und</strong> Weiterbildungskonzept umgewandelt<br />

wurde. 25<br />

7. DAUER EINER UNTERBRECHUNG DER TäTIGKEIT<br />

Letztes Kriterium ist nach dem EuGH schließlich die Dauer einer Tätigkeitsunterbrechung.<br />

Dadurch wird die Betriebsfortführung von der Betriebsstilllegung,<br />

also dem endgültigen Beschluss, den Betrieb auf unbestimmte, nicht<br />

unerhebliche Zeit einzustellen, abgegrenzt. Eine pauschale Dauer kann dabei<br />

nicht festgelegt werden, weil es auf die jeweilige Tätigkeit ankommt, ob der<br />

neue Betriebsinhaber von dem bisherigen Betrieb noch profitiert oder ob dieser<br />

bereits zerschlagen ist. Nach dem EuGH führt bei Saisonbetrieben die reguläre<br />

Schließung <strong>und</strong> Fortführung zur nächsten Saison <strong>für</strong> sich allein noch<br />

nicht zum Identitätsverlust der wirtschaftlichen Einheit. 26 Bei Einzelhandelsgeschäften<br />

ist entscheidend, ob die K<strong>und</strong>enbindung trotz der Unterbrechung<br />

erhalten bleibt. <strong>Die</strong>s scheidet nach der Rechtsprechung des BAG bei einem <strong>für</strong><br />

neun Monate geschlossenen Modefachgeschäft27 oder einem <strong>für</strong> sechs<br />

Monate nicht bewirteten Restaurantbetrieb in einer Großstadt aus. 28 In beiden<br />

Fällen ist demnach zu erwarten, dass die K<strong>und</strong>en sich wegen ihres zwischenzeitlichen<br />

Bedarfs <strong>und</strong> der bestehenden Ausweichmöglichkeiten<br />

anderweitig versorgen.<br />

III. üBERGANG AUF NEUEN BETRIEBSINHABER<br />

Der Übergang auf einen neuen Betriebsinhaber setzt einen Wechsel des<br />

Rechtsträgers voraus. Der Betriebsinhaber ist jeweils diejenige Person, die<br />

nunmehr <strong>für</strong> den Betrieb als Inhaber „verantwortlich“ ist. 29 Verantwortlich ist<br />

die Person, die den Betrieb im eigenen Namen führt. Auf die Eigentumssituation<br />

kommt es nicht an, auch bei einer Neuverpachtung kann ein Betriebsübergang<br />

vorliegen. 30 Dabei ist es nicht erforderlich, dass der neue Inhaber den<br />

Betrieb auf eigene Rechnung führt. Es ist unschädlich, wenn der Gewinn an<br />

einen anderen abgeführt wird31 oder wenn nach außen gegenüber den Arbeitnehmern<br />

<strong>und</strong> K<strong>und</strong>en weiterhin der bisherige Betriebsinhaber auftritt. 32 Eine<br />

Sicherungsübereignung allein bewirkt noch keinen Betriebsübergang, denn<br />

sie ändert in der Regel nichts an der Nutzungsberechtigung des bisherigen<br />

Eigentümers. 33 Bei einer Gesellschaft reicht es nicht aus, wenn nur die Gesellschafter<br />

oder die Rechtsform gewechselt werden. 34 Einem Betriebsübergang<br />

steht schließlich nicht entgegen, dass der Erwerber eine juristische<br />

Person des öffentlichen Rechts ist (z.B. Gemeinde), sofern der Veräußerer ein<br />

Privatunternehmen ist. 35<br />

25 BAG NZA 2006, 1096.<br />

26 EuGH Rs. 287/86, Slg. 1987, 5467 – Ny Mølle Kro.<br />

27 BAG NZA 1997, 1050.<br />

28 BAG NZA 1998, 31.<br />

29 EuGH verb. Rs. C-173/96 <strong>und</strong> C-247/96, Slg. 1998 I, 8237 Rn. 23 – Hidalgo u. a.<br />

30 EuGH Rs. 287/86, Slg. 1987, 5467 – Ny Mølle Kro.<br />

31 BAG NZA 1985, 393.<br />

32 BAG NZA 1999, 310.<br />

33 BAG NZA 2003, 1338.<br />

34 BAG NZA 2003, 1338.<br />

35 Vgl. EuGH C-151/09, NZA 2010, 1014 - UGT-FSP; EuGH C-463/09,<br />

NZA 2011, 148 – CLECE.


IV. RECHTSGESCHäFT<br />

Der EuGH legt den Begriff des Rechtsgeschäfts sehr weit aus. Ausgenommen<br />

wird allein die Übertragung durch Gesamtrechtsnachfolge, also durch Erb-<br />

rechtsnachfolge oder durch gesellschaftsrechtliche Umwandlungen. Unmit-<br />

telbare rechtsgeschäftliche Beziehungen sind nicht erforderlich. So wurde ein<br />

Betriebsübergang bei der Neuverpachtung einer Diskothek angenommen,<br />

obwohl zwischen altem <strong>und</strong> neuem Pächter keine vertraglichen Beziehungen<br />

bestanden. 36 Gleiches galt <strong>für</strong> die Kündigung eines Mietvertrags über ein Bu-<br />

chenfurnierwerk, das der Eigentümer zunächst wieder in Besitz nahm, kurz<br />

danach aber wieder verkaufte 37 <strong>und</strong> die Neubeauftragung eines Unterneh-<br />

mens durch eine Einrichtung des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes mit dem Betrieb des<br />

öffentlichen Verkehrs, der zuvor von einem anderen Unternehmen betrieben<br />

worden war. 38<br />

Der EuGH bejahte einen rechtsgeschäftlichen Übergang auch, wenn sie auf<br />

einer einseitigen staatlichen Entscheidung beruht. So stellte es in der Ent-<br />

scheidung Redmond Stichting einen Betriebsübergang dar, wenn Subventi-<br />

onen an eine Stiftung eingestellt <strong>und</strong> da<strong>für</strong> an eine andere Stiftung gleicher<br />

Zielsetzung gewährt würden. 39 In Collino bewertete der EuGH die staatliche<br />

Entscheidung, einer privatrechtlichen Gesellschaft eine Verwaltungskonzessi-<br />

on <strong>für</strong> Tätigkeiten zu erteilen, die bisher eine in die Verwaltung eingeglie-<br />

derte Einrichtung wahrgenommen hatte. 40 Zweifelhaft erscheint zunächst,<br />

inwiefern diese Auslegung noch mit dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 lit. a) der<br />

Richtlinie in Übereinstimmung zu bringen ist, der eine „vertragliche“ Über-<br />

tragung voraussetzt. Der Wortlaut ist allerdings kein starkes Argument. Denn<br />

etwa in der englischen Fassung ist von einem „legal transfer“ die Rede, der<br />

auch außervertragliche Fälle erfassen würde. 41 Der EuGH geht deshalb vom<br />

Schutzzweck der Richtlinie aus. Aus Sicht der zu schützenden Arbeitnehmer<br />

macht es keinen Unterschied, aus welchem Gr<strong>und</strong> der Betriebsinhaber wech-<br />

selt. Damit befindet sich die weite Auslegung des EuGH in Übereinstimmung<br />

mit der Richtlinie. 42<br />

Eine andere Auslegung legt allerdings das BAG zugr<strong>und</strong>e. So entschied es in<br />

einem Urteil vom 28. 9. 2006, dass Übergänge kraft Gesetzes ausgenommen<br />

sind. Dort ging es um die drei Berliner Opernhäuser, die durch das Gesetz<br />

über die „Stiftung Oper in Berlin“ mit sämtlichen Betriebsmitteln auf die Stif-<br />

tung übertragen worden sind. Der Übergang der Arbeitsverhältnisse war in<br />

dem Gesetz ebenfalls gesondert geregelt. 43<br />

C. RECHTSFoLGEN EINES BETRIEBSüBERGANGS<br />

Ein Betriebsübergang zeitigt Rechtsfolgen auf mehreren Ebenen. Für den Ar-<br />

beitnehmerschutz am wichtigsten sind die individualrechtlichen Auswir-<br />

kungen. In der Richtlinie sind aber auch Folgen <strong>für</strong> die Arbeitnehmervertre-<br />

36 EuGH Rs. 324/86, Slg. 1988, 739 – Daddy’s Dance Hall.<br />

37 EuGH Rs. 101/87, Slg. 1988, 3057 – Bork International.<br />

38 EuGH Rs. C-172/99, Slg. 2001 I, 745 – Liikenne.<br />

39 EuGH Rs. C-29/91, Slg. 1992 I, 3189 – Redmond Stichting.<br />

40 EuGH Rs. C-343/98, Slg. 2000 I, 6659 – Collino.<br />

41 EuGH Rs. 135/83, Slg. 1985, 469 – Abels.<br />

42 H/S/W/Wank, § 18 Rn. 83; Fuchs/Marhold, S. 251 ff.; kritisch Schmidt,<br />

Kap. III Rn. 248; vgl. § 5 Rn. 1.<br />

43 BAG AP Nr. 26 zu § 419 BGB Funktionsnachfolge.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Ausbildung<br />

tung festgelegt. Daneben sind die Änderungen <strong>für</strong> Betriebsvereinbarungen<br />

<strong>und</strong> Tarifverträge darzustellen. Schließlich gibt es Sonderbestimmungen <strong>für</strong><br />

die Haftung zwischen Veräußerer <strong>und</strong> Erwerber sowie <strong>für</strong> den Fall der Insol-<br />

venz oder des Konkurses des Veräußerers. <strong>Die</strong> Rechtsprechung des EuGH ist<br />

hier so zahlreich nicht, da<strong>für</strong> umso zahlreicher die Judikatur des BAG.<br />

I. INDIVIDUALRECHTLICHE EBENE<br />

1. EINTRITT IN DIE RECHTE UND PFLICHTEN<br />

Nach Art. 3 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie bzw. § 613 a Abs. 1 S. 1 BGB gehen die<br />

Rechte <strong>und</strong> Pflichten aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis auf den Er-<br />

werber über. Dem Begriff des Arbeitsverhältnisses wird nach der ausdrück-<br />

lichen Bestimmung des Art. 2 Abs. 1 lit. d) der Richtlinie der nationale Ar-<br />

beitnehmerbegriff zugr<strong>und</strong>e gelegt. Ziel der Richtlinie ist keine vollständige<br />

Angleichung, sondern nur eine teilweise Harmonisierung. Einer Umgehung<br />

der Richtlinie durch eine enge Definition des Arbeitnehmers wird durch<br />

Art. 2 Abs. 2 vorgebeugt. Demnach dürfen Teilzeitarbeitnehmer, befristet be-<br />

schäftigte Arbeitnehmer <strong>und</strong> Leiharbeitnehmer nicht ausgenommen werden.<br />

Im deutschen Recht führt die Maßgeblichkeit des deutschen Arbeitnehmer-<br />

begriffs insbesondere dazu, dass Organmitglieder <strong>und</strong> freie Mitarbeiter durch<br />

§ 613 a BGB nicht geschützt werden.<br />

2. KüNDIGUNGSVERBoT<br />

<strong>Die</strong> Kündigung wegen des Betriebsübergangs ist sowohl dem Veräußerer als<br />

auch dem Erwerber 44 nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie bzw. § 613 a Abs. 4 BGB<br />

verboten. Zulässig bleibt es dagegen, den Arbeitnehmer aus wirtschaftlichen,<br />

technischen oder organisatorischen Gründen zu kündigen, auch wenn diese<br />

durch den Betriebsübergang bedingt sind. Es wird nach objektiven Umständen<br />

beurteilt, ob der Betriebsübergang die überwiegende Ursache <strong>für</strong> die<br />

Kündigung war. Ein Verstoß liegt in der Regel vor, wenn die Kündigung ungefähr<br />

zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs wirksam wird <strong>und</strong> die Arbeitnehmer<br />

vom Erwerber wieder eingestellt werden. 45 Eine Sanierung vor der<br />

Veräußerung wird dadurch aber nach der Rechtsprechung des BAG nicht<br />

ausgeschlossen. 46 Der EuGH hat dies insoweit bestätigt, als er es <strong>für</strong> “offensichtlich”<br />

i.S.d. Art. 104 § 3 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung (dieser ermöglicht<br />

eine Entscheidung im Beschlussverfahren) hielt, dass ein bereits ausgeschiedener<br />

Arbeitnehmer nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/23/<br />

EG unterfällt. 47 Ein dreiseitiger Aufhebungsvertrag ist nicht wegen einer Umgehung<br />

des § 613 a Abs. 4 BGB nach § 134 BGB nichtig, wenn er auf ein endgültiges<br />

Ausscheiden aus dem Betrieb gerichtet ist, da der Arbeitnehmer dies<br />

sowieso durch einen Widerspruch nach § 613 a Abs. 6 BGB herbeiführen<br />

kann. 48 Soll der Arbeitnehmer dagegen zum Abschluss eines neuen Arbeitsvertrags<br />

mit dem Erwerber veranlasst werden, liegt eine Umgehung des<br />

§ 613 a Abs. 4 BGB vor. 49<br />

44 EuGH Rs. C-319/94, Slg. 1998 I, 1061 Rn. 34 – Dassy.<br />

45 EuGH Rs. 101/87, Slg. 1988, 3057 Rn. 18 – Bork International;<br />

Rs. C-319/94, Slg. 1998 I, 1061 Rn. 39 – Dassy.<br />

46 BAG NZA 2003, 1027; ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 167 ff.<br />

47 EuGH C-386/09, juris – Briot.<br />

48 BAG NZA 1996, 207.<br />

49 BAG NZA 1988, 198.<br />

85


86<br />

Ausbildung<br />

3. WIDERSPRUCHSRECHT UND UNTERRICHTUNG DES ARBEIT-<br />

NEHMERS<br />

Das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers ist im deutschen Recht seit dem<br />

1. 4. 2002 in § 613 a Abs. 6 BGB normiert. Bereits 1974 hatte das BAG aber<br />

anerkannt, dass der Arbeitnehmer dem Übergang des Arbeitsverhältnisses<br />

widersprechen kann <strong>und</strong> dadurch rückwirkend beim bisherigen Arbeitgeber<br />

verbleibt. 50 In der Richtlinie findet sich keine entsprechende Vorgabe, Art. 3<br />

Abs. 1 der Richtlinie sieht einen Übergang vor, ohne dass es auf die Zustim-<br />

mung des Arbeitnehmers ankäme. Das BAG hatte sich bei der Entwicklung<br />

des Widerspruchsrechts auf die in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit<br />

des Arbeitnehmers gestützt <strong>und</strong> aus der Höchstpersönlichkeit der Arbeitsleistung<br />

gemäß § 613 BGB auf einen insgesamt höchstpersönlichen Charakter<br />

des Arbeitsverhältnisses geschlossen.<br />

Der Widerspruch ist <strong>für</strong> den Arbeitnehmer mit Risiken verb<strong>und</strong>en. Er verbleibt<br />

dadurch beim Veräußerer, der ihm aber betriebsbedingt kündigen<br />

kann, wenn er ihn nicht weiterbeschäftigen kann. Im Ergebnis ist ein Widerspruch<br />

aus Sicht des Arbeitnehmers daher in der Regel nur sinnvoll, wenn<br />

lediglich ein Teilbetrieb übertragen wurde <strong>und</strong> im Restbetrieb eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit<br />

besteht. Als Gestaltungsrecht kann der einmal erklärte<br />

Widerspruch nicht mehr einseitig widerrufen oder zurückgenommen<br />

werden. Lediglich eine dreiseitige Aufhebungsvereinbarung zwischen Arbeitnehmer,<br />

neuem <strong>und</strong> bisherigem Inhaber kann dann noch abgeschlossen<br />

werden. 51<br />

Nach deutschem Recht kann der Arbeitnehmer den Widerspruch innerhalb<br />

eines Monats ab der Unterrichtung nach § 613 a Abs. 5 BGB erklären. <strong>Die</strong><br />

Unterrichtung ist als echte Rechtspflicht <strong>und</strong> nicht nur als bloße Obliegenheit<br />

ausgestaltet. 52 Sie ist nämlich im erst 2001 eingefügten Art. 7 Abs. 6 der Richtlinie<br />

<strong>für</strong> bestimmte Fälle vorgesehen <strong>und</strong> muss daher nach Art. 9 der Richtlinie<br />

als Rechtspflicht umgesetzt werden. Freilich ist der deutsche Gesetzgeber<br />

über die Vorgaben der Richtlinie hinausgegangen. Art. 7 Abs. 6 sieht die Unterrichtung<br />

der Arbeitnehmer nur <strong>für</strong> den Fall vor, dass es im Betrieb keine<br />

Arbeitnehmervertreter gibt. <strong>Die</strong> weitergehende deutsche Vorschrift ist aber<br />

wegen des Günstigkeitsprinzips des Art. 8 der Richtlinie zulässig.<br />

Ziel der Unterrichtungspflicht ist es, dem Arbeitnehmer eine Entscheidungsgr<strong>und</strong>lage<br />

<strong>für</strong> ein frühzeitiges Erwägen von anderen Optionen, im deutschen<br />

Recht vor allem <strong>für</strong> die Ausübung des Widerspruchsrechts, zu bieten. 53 Daher<br />

ist er über den Zeitpunkt des Übergangs, den Gr<strong>und</strong> des Übergangs, seine<br />

rechtlichen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Folgen <strong>und</strong> die hinsichtlich der<br />

Arbeitnehmer in Aussicht genommenen Maßnahmen zu informieren. Widerspricht<br />

der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses nach<br />

einer nicht genügenden Unterrichtung, hat er einen Schadensersatzanspruch,<br />

der allerdings nicht auf Naturalrestitution in Form von Weiterbeschäftigung<br />

beim Erwerber gerichtet ist, sondern auf einen Geldbetrag in Anlehnung an<br />

§ 10 KSchG. Könnte der Arbeitnehmer seine Weiterbeschäftigung erzwingen,<br />

50 BAG NJW 1975, 1378; NZA 1994, 360.<br />

51 BAG NZA 2004, 481.<br />

52 ErfK/Preis, § 613 a BGB Rn. 90; anders noch vor der Aufnahme des<br />

§ 613 a Abs. 5 BGB, siehe BAG NZA 1994, 360.<br />

53 BT-Drs. 14/7760, S. 19.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

stellte dies einen Kontrahierungszwang dar, der nicht einmal im Antidiskriminierungsrecht<br />

vorgesehen ist. 54 Bei arglistiger Täuschung kann der Arbeitnehmer<br />

aber seinen Widerspruch nach § 123 Abs. 1 BGB anfechten. 55 Wird<br />

der Arbeitnehmer über den Betriebsübergang nicht informiert, beginnt die<br />

Widerspruchsfrist des § 613 a Abs. 6 S. 1 BGB nicht zu laufen. Der Vorschlag,<br />

eine Höchstfrist festzusetzen, wurde im Gesetzgebungsverfahren abgelehnt. 56<br />

Eine analoge Anwendung anderer Höchstfristen (§ 5 Abs. 3 S. 2 KSchG, § 355<br />

Abs. 3 BGB) scheidet daher aus, einzige Grenze ist die Verwirkung, die die<br />

Kenntnis des Betriebsübergangs <strong>und</strong> des Widerspruchsrechts voraussetzt. 57<br />

II. KoLLEKTIVRECHTLICHE EBENE<br />

Bei der Weitergeltung von Betriebsvereinbarungen <strong>und</strong> Tarifverträgen versuchen<br />

die Richtlinie <strong>und</strong> § 613 a BGB einen Ausgleich zwischen dem<br />

Bestandsinteresse des Arbeitnehmers <strong>und</strong> dem Ablöseinteresse des neuen Arbeitgebers<br />

zu treffen. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor, dass der Erwerber<br />

die kollektivrechtlich vereinbarten Arbeitsbedingungen mindestens ein Jahr<br />

aufrechterhalten muss. Geschützt sind nach dem EuGH ebenso wie in Art. 3<br />

Abs. 1 nur die zur Zeit des Übergangs beschäftigten Arbeitnehmer. Der Arbeitgeber<br />

muss die kollektivrechtlich vereinbarten Arbeitsbedingungen daher<br />

nicht auf nach dem Übergang eingestellte Arbeitnehmer erstrecken. 58<br />

Im deutschen Recht gibt es zwei Mechanismen, die zu einer Weitergeltung<br />

führen. Vorrangig ist eine fortbestehende normative Wirkung, die sich aus<br />

allgemeinen Regeln ergibt. Subsidiär werden kollektivrechtliche Regelungen<br />

nach § 613 a Abs. 1 S. 2 bis 4 BGB in den Arbeitsvertrag transformiert, gelten<br />

also nicht mehr normativ weiter.<br />

Europarechtlich nicht zwingend geboten, in Art. 3 Abs. 1 S. 2 der Richtlinie<br />

aber ausdrücklich erlaubt, ist die in § 613 a Abs. 2 <strong>und</strong> 3 BGB vorgesehene<br />

gesamtschuldnerische Weiterhaftung des Veräußerers <strong>für</strong> auf den Erwerber<br />

übergegangene Verpflichtungen, soweit diese vor dem Übergang entstanden<br />

sind <strong>und</strong> innerhalb eines Jahres fällig werden. <strong>Die</strong>ser Haftung liegt der<br />

Gedanke zugr<strong>und</strong>e, dass der Veräußerer einen Erlös <strong>für</strong> den Betrieb erhalten<br />

hat, der auch durch die Belegschaft erwirtschaftet wurde. Der Arbeitnehmer<br />

erhält dadurch einen zusätzlichen Schuldner.<br />

54 Vgl. § 15 Abs. 6 AGG.<br />

55 APS/Steffan, § 613 a BGB Rn. 217.<br />

56 BR-Drs. 831/1/01, S. 2 (drei Monate); BT-Drs. 14/8128, S. 4 (sechs Monate).<br />

57 HWK/Willemsen, § 613 a BGB Rn. 357.<br />

58 EuGH Rs. 287/86, Slg. 1987, 5467 Rn. 26 – Ny Mølle Kro; EuGH<br />

Rs. 101/87, Slg. 1988, 3057 Rn. 17 – Bork International.


Jugendstrafrecht <strong>für</strong> <strong>junge</strong> Rechtsbrecher<br />

von Intendant Prof. Dr. jur. Christoph Nix (Konstanz/Universität Bremen)<br />

„...tatsächlich hat mich in meinem Leben nur wenig mit größerer Leiden-<br />

schaft erfüllt, wie die strafrechtliche Seite unserer Welt. Wenn wir diese<br />

strafrechtliche Seite unserer Welt <strong>und</strong> das heißt unserer Gesellschaft verfolgen,<br />

erleben wir, wie gesagt wird, jeden Tag unsere W<strong>und</strong>er.“<br />

(Thomas Bernhard, Der Untergeher)<br />

A. EINLEITUNG 1<br />

Wie die meisten von uns, habe ich als Jugendlicher Straftaten begangen. Ich<br />

erinnere mich noch sehr genau an meinen Wunsch, unbedingt Moped fahren<br />

zu wollen. In Freist<strong>und</strong>en oder wenn ich den Unterricht schwänzte boten<br />

sich die besten Gelegenheiten. Ich war 15 Jahre alt <strong>und</strong> ging auf ein kleinstädtisches<br />

Gymnasium. Ich hatte einen Schulfre<strong>und</strong>, der fuhr eine „Kreidler<br />

Florett“ <strong>und</strong> die borgte er mir aus. Manchmal fragte ich ihn vorher, ein anderes<br />

Mal auch nicht.<br />

An einem sonnigen Vormittag fuhr ich mit einem Klassenkameraden Kurt die<br />

Landstraße entlang. Plötzlich überholte uns ein Polizeifahrzeug. Kurz darauf<br />

hielt es an <strong>und</strong> zwei Beamte winkten mit einer Kelle. Ich bremste <strong>und</strong> die beiden<br />

wollten meinen Führerschein sehen. Ich behauptete, ihn zu Hause liegen<br />

gelassen zu haben. Aber allzu lange hielt ich meine Notlüge nicht durch. Ich<br />

beichtete, ich legte ein Geständnis ab. Erleichterung auf allen Seiten. Nichts<br />

wünscht sich die Strafverfolgungsbehörde mehr, als geständige Beschuldigte,<br />

Angeschuldigte, Angeklagte Sie gelten als reumütig <strong>und</strong> resozialisierbar. 2<br />

B. GELTUNGSBEREICH DES JGG oDER WIE WIRD MAN KRIMI-<br />

NELL?<br />

Mittlerweile gehört es zum Standardwissen, dass Jugendstrafrecht an den<br />

Hochschulen spannend, Kriminalität in <strong>junge</strong>n Jahren durchaus normal <strong>und</strong><br />

ubiquitär sein soll.<br />

Rössner beschreibt diesen Prozess etwas sachlicher:<br />

„In einem komplexen Entwicklungsprozess des Normlernens, der zweiten<br />

sozialen Geburt wird gemeinschaftsbezogenes Wissen <strong>und</strong> Handlungskompetenz<br />

erst erworben. Das Jugendstrafrecht ist ein Meilenstein dieser<br />

Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahrzehnten. Mit dem Eintritt<br />

ins 14. Lebensjahr (§ 1 JGG; § 19 StGB) gelten <strong>für</strong> den öffentlichen Raum<br />

die Strafvorschriften der Erwachsenen mit den entsprechenden Verboten<br />

uneingeschränkt.“ 3<br />

Es ist eine normative Entscheidung, dass man bei uns mit dem 14. Lebensjahr<br />

strafmündig wird. Das JGG von 1923 (§ 1JGG 1923) hatte die Strafbarkeit<br />

vom 12. auf das 14. Lebensjahr angehoben, im Nationalsozialismus war<br />

1 Ausführlicher Christoph Nix/Winfried Möller Einführung in das Jugendstrafrecht,<br />

München 2011.<br />

2 Vgl. Walter, Jugendkriminalität, Rn. 206. Häufig kommt es zu falschen<br />

Geständnissen, damit man die unangenehme Situation der Erstvernehmung<br />

los wird. Zur weiteren Lektüre: Nix, Verbotene Vernehmungsmethoden<br />

bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen, MSchrKrim 1993, S. 181.<br />

3 Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, S.2.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Ausbildung<br />

Christoph Nix <strong>stud</strong>ierte Jura an der Universität Gießen. Das Re-<br />

ferendariat machte er in Frankfurt am Main. 1988 wurde er an<br />

der Universität Bremen zum Dr. jur. promoviert, 1990 zum Pro-<br />

fessor ernannt, in Hannover berufen. Er war Strafverteidiger in<br />

Gießen, ab 1988 lehrte er in Hannover Strafrecht. Lehre an der<br />

HU Berlin, an der Universität der Künste <strong>und</strong> in Kassel. Im<br />

Januar 2011 wurde Christoph Nix an der Universität Bremen<br />

zum Professor <strong>für</strong> Jugendstrafrecht <strong>und</strong> Bühnenrecht ernannt.<br />

sie wieder gesenkt worden (RJGG 1943) <strong>und</strong> in Ost <strong>und</strong> West haben wir zum<br />

einen mit dem JGG 1953 <strong>und</strong> in der DDR bereits seit 1951 eine Strafmündigkeit<br />

ab 14 Jahren gehabt.<br />

Mit unserer Erfindung von Kindheit <strong>und</strong> Jugend, die ja erst eine Idee der Neuzeit<br />

zur bürgerlichen Gesellschaft hin beschrieb, haben wir ein Stufenmodell<br />

anerkannt. 4<br />

Das Kind hatte 14 Jahre Zeit um sich gesellschaftliche Regeln, soziales Wissen<br />

<strong>und</strong> Handeln anzueignen. Das Jugendstrafrecht räumt den Jugendlichen<br />

(14-17 Jahre) <strong>und</strong> den Heranwachsenden (18-20 Jahre) eine Übergangsfrist<br />

(§ 1 Abs. 2 JGG) bei dieser Entwicklung ein.<br />

Vor über dreißig Jahren schrieb der Kriminologe Stephan Quensel in der <strong>Zeitschrift</strong><br />

„Kritische Justiz“ einen Aufsatz mit der Überschrift „Wie wird man<br />

kriminell“ 5 .<br />

<strong>Die</strong>se Frage, die in den meisten Lehrbüchern zum Jugendstrafrecht ausgeklammert<br />

wird, beschäftigt uns alle, gesellschaftspolitisch führt sie zu unterschiedlichen<br />

Ergebnissen: wer so denkt, dass der <strong>junge</strong> Mensch über alle oder<br />

viele Möglichkeiten der Selbstentscheidung auch in irrationalen Situationen<br />

<strong>und</strong> erbärmlichen Verhältnissen verfügt, der reagiert, wenn der andere sie<br />

übertritt mit stärkerer Repression.<br />

Quensel aber verbindet mit seinem Aufsatz verschiedene Erkenntnismethoden<br />

<strong>und</strong> Theorien <strong>und</strong> führt sie in einem Zeit- <strong>und</strong> Eskalationsmodell<br />

zueinander.<br />

Man spürt bei ihm den Einfluss, aber auch die alte Liebe zur Psychoanalyse<br />

Sigm<strong>und</strong> Freuds. So beschreibt er den scheinbar unaufhaltsamen Prozess der<br />

Kriminalisierung eines Jugendlichen sowohl aus der Perspektive der Individualpsychologie<br />

(z.B. deviantes Verhalten als Problemlösungsmuster) vermittelt<br />

uns eine Übersicht über verschiedene Erklärungsansätze von Jugendkriminalität<br />

<strong>und</strong> macht zugleich deutlich, dass Gesellschaft in ihrer jeweiligen<br />

Verfassung Produzent von Kriminalität ist. 6<br />

Unter Jugendkriminalität wird das jenige Verhalten von Jugendlichen <strong>und</strong><br />

Heranwachsenden verstanden, das nach den allgemeinen Vorschriften mit<br />

4 Vgl. Aries, Geschichte, S.92 ff.<br />

5 KJ 1970, S. 377.<br />

6 Vgl. Christie, Kriminalität, S. 79 ff.<br />

87


88<br />

Ausbildung<br />

Strafe bedroht ist (vgl. § 1 Abs. 1 JGG, d.h. das als eine tatbestandsmäßige<br />

<strong>und</strong> rechtswidrige, nicht notwendig auch schuldhafte Straftat anzusehen ist).<br />

Meier setzt dem Begriff der Jugendkriminalität mit dem der Jugenddelin-<br />

quenz gleich 7 , während andere Autoren wie P.-A. Albrecht die Delinquenz<br />

bewusst vom Begriff der Kriminalität abgrenzen, <strong>und</strong> darunter dasjenige Ver-<br />

halten bezeichnen, das von den Strafverfolgungsbehörden gerade nicht re-<br />

gistriert wird.<br />

Wie dem auch sei, es lohnt sich, auch wenn das Studium fortgeschritten ist, ab<br />

<strong>und</strong> zu in die Niederungen abzutauchen, den alten Fragen nachzugehen, wie<br />

wir wurden, was wir sind.<br />

C. HELLFELD – DUNKELFELD<br />

Jugendstrafrecht ist auch ein wenig Empirie. Recherchieren <strong>und</strong> schnüffeln in<br />

der Polizeilichen Kriminalstatistik zum Beispiel <strong>und</strong> schon befinden wir uns<br />

im Hellfeld, der registrierten Kriminalität.<br />

Für das Berichtsjahr 2010 wird noch einmal deutlich wie gering letztlich der<br />

Anteil der Kriminalität von Kindern, Jugendlichen <strong>und</strong> Heranwachsenden an<br />

der Gesamtzahl der Tatverdächtigen ist.<br />

Heranwachsende<br />

b.u. 21J<br />

10,4%<br />

Jungerwachsene<br />

b.u. 25J<br />

11,9%<br />

Jugendliche<br />

b.u. 18J<br />

11,4%<br />

Polizeilich registrierte Tatverdächtige.<br />

PKS 2009<br />

Vollerwachsene<br />

25J u.ä.<br />

61,9%<br />

Betrachtet man die Basiswerte der Kinderkriminalität <strong>und</strong> ihre absoluten<br />

Zahlen, so wird deutlich, dass selbst unerhebliche quantitative Steigerungen<br />

sich sofort in prozentualen Erhöhungen niederschlagen. Zugleich zeigt sich<br />

noch einmal, dass der Anteil der sogenannten Jungerwachsenen relativ hoch<br />

ist, dann aber alsbald ab dem 26. Lebensjahr abfällt. Man könnte das auch als<br />

ein Indiz da<strong>für</strong> werten, dass der Prozess der Erwachsenenwerdens in einer<br />

älter werdenden Gesellschaft Verzögerungen erlebt, nach außen aber durch<br />

scheinbare Selbstständigkeit kompensiert werden.<br />

Spannender ist das Dunkelfeld, also das Reich der wirklichen Kriminalität,<br />

dieses können wir natürlich nie ganz erforschen, allenfalls mit Befragungen<br />

stellen wir fest, dass im Dunklen mehr Sexualdelikte ruhen, die nie angezeigt<br />

wurden <strong>und</strong> viel mehr Wirtschaftskriminalität, die nie ruchbar wurde.<br />

7 Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, S. 48.<br />

Kinder<br />

b.u. 14J<br />

4,4%<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

D. JUGENDSTRAFRECHT- ERZIEHUNGSSTRAFRECHT?<br />

Wer Zeitungsberichte über Strafverhandlungen gegen Jugendliche bzw. He-<br />

ranwachsende liest oder gar selbst an solchen Verhandlungen – soweit öffent-<br />

lich – teilnimmt, stößt immer wieder auf einen Begriff: Erziehung. Aus Grün-<br />

den der Erziehung werde von der „eigentlich“ angezeigten Jugendstrafe noch<br />

einmal Abstand genommen, es wird eine Woche Jugendarrest verhängt, weil<br />

unter dem Gesichtspunkt der Erziehung ein „Schuss vor den Bug“ vonnö-<br />

ten sei, aus erzieherischen Gründen wird die Verhängung von Jugendstrafe<br />

gefordert, deren Vollstreckung allerdings zur Bewährung ausgesetzt werden<br />

könne. <strong>Die</strong> Beispiele ließen sich fortsetzen. „Erziehung“ erscheint danach als<br />

Füllhorn, aus dem sich nach Bedarf im Einzelfall ebenso Strafschärfendes wie<br />

Strafmilderndes ausschütten lässt.<br />

Ob Jugendstrafrecht denn Erziehungsstrafrecht ist oder sein soll, gehört zu<br />

den Gr<strong>und</strong>fragen dieses Rechtsgebiets. Sie ist umstritten 8 <strong>und</strong> wird es blei-<br />

ben 9 , auch nachdem der Gesetzgeber mit dem berühmten Federstrich zwar<br />

nicht ganze Bibliotheken zu diesem Thema hat überflüssig werden lassen,<br />

aber doch durch Einfügung eines neuen Absatzes 1 in § 2 JGG 10 „zum er-<br />

sten Mal in der Geschichte des Jugendgerichtsgesetzes“ 11 ein Ziel des Jugend-<br />

strafrechts formuliert: „<strong>Die</strong> Anwendung des Jugendstrafrechts“, heißt es dort,<br />

„soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsen-<br />

den entgegenwirken“.<br />

Damit ist zunächst einmal klar gestellt, dass die Legalbewährung, wenn auch<br />

nicht einziges („vor allem“), so doch zumindest vorrangiges Ziel der Anwen-<br />

dung von Jugendstrafrecht ist. <strong>Die</strong> Formulierung lässt es zu, daneben auch andere<br />

Sanktionszwecke, insbesondere Belange des Schuldausgleichs etwa bei<br />

der Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld, zu berücksichtigen.<br />

Um dieses Ziel zu erreichen, heißt es weiter in Satz 2:<br />

„sind die Rechtsfolgen <strong>und</strong> unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts<br />

auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.“<br />

E. DIE HERANWACHSENDEN IM JUGENDSTRAFRECHT - § 105<br />

JGG EINE SPANNENDE RECHTSNoRM<br />

Ob, wie es in der Praxis üblicherweise heißt, Jugend- oder Erwachsenen(straf)<br />

recht anzuwenden ist, richtet sich nach § 105 JGG.<br />

§ 105 Abs. 1 JGG enthält zwei gleichrangige Alternativen. Da nur eine der<br />

in den Nummern 1 <strong>und</strong> 2 genannten Voraussetzungen gegeben sein muss<br />

(„oder“), ist bei der praktischen Anwendung der Vorschrift entgegen der gesetzlichen<br />

Reihenfolge mit der Prüfung von Nr. 2 zu beginnen. Ob eine Jugendverfehlung<br />

vorliegt, ist unter Einbeziehung der dazu ergangenen Rechtsprechung<br />

leichter zu prüfen <strong>und</strong> zu entscheiden als das Vorliegen der Voraussetzungen<br />

der Nr. 1, deren Feststellung regelmäßig eine umfassendere<br />

<strong>und</strong> eingriffsintensivere Prüfung erfordert. 12<br />

8 Vgl. etwa P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 65 ff. : „Das fragwürdige<br />

Leitprinzip ‚Erziehung’“; <strong>für</strong> eine Abschaffung des Erziehungsziels als<br />

Gr<strong>und</strong>lage des Jugendstrafrechts H.-J. Albrecht, Gutachten, S. D 97 ff.).<br />

9 Vgl. dazu Ostendorf, Jugendstrafrecht, Rdnr. 50 f.<br />

10 Durch das 2. JGG-Änderungsgesetz vom 13.12.2007, BGBl. I, S. 2894, in<br />

Kraft getreten am 1. 1. 2008.<br />

11 BT-Drs. 16/6293, S. 9.<br />

12 Ebenso: Ostendorf, Jugendstrafrecht, Rdnr. 293.


I. DIE GESAMTWüRDIGUNG DER PERSöNLICHKEIT – § 105 ABS.<br />

1 NR. 1 JGG<br />

Nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG sind die Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts dann<br />

anzuwenden, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei<br />

Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er nach seiner<br />

sittlichen <strong>und</strong> geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.<br />

Zerlegt man die verschachtelte Formulierung, so ergibt sich<br />

- dass eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters vorzunehmen ist,<br />

- dabei auch die Umweltbedingungen zu berücksichtigen sind,<br />

- die Würdigung ergeben muss, dass der Betroffene zum Zeitpunkt der Tat<br />

nach seiner geistigen <strong>und</strong> sittlichen Entwicklung noch einem Jugendlichen<br />

gleichstehen muss.<br />

Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut hat die vorzunehmende Prüfung auf<br />

den Zeitpunkt der Tat (§ 2 Abs. 2 JGG i. V. m. § 8 StGB) abzustellen. <strong>Die</strong>s ist<br />

auch dann zwingend, wenn zwischen Tat <strong>und</strong> Aburteilung ein längerer Zeitraum<br />

liegt, mag aber Probleme aufwerfen, da mit zunehmendem Abstand zur<br />

Tatzeit die ohnehin nicht einfache Beurteilung des Reifezustands mit größer<br />

werdenden Unsicherheiten belastet ist. In jedem Fall sind die der Würdigung<br />

zugr<strong>und</strong>e zu legenden Tatsachen sorgfältig zu ermitteln. Da es sich um täterpersönlichkeitsbezogene<br />

Tatsachen handelt, ist dies primär Aufgabe der Jugendgerichtshilfe<br />

(§ 107 i. V. m. § 38 Abs. 2 S. 2 JGG). Soweit es zur Beurteilung<br />

der Täterpersönlichkeit erforderlich ist, hat sie gegenüber dem Gericht,<br />

welches abschließend über die Frage des anzuwendenden Rechts zu entscheiden<br />

hat, die Einholung eines jugendpsychologischen Sachverständigengutachtens<br />

anzuregen. Zu Recht weist allerdings Ostendorf darauf hin, dass<br />

auch bei der Einschaltung eines Sachverständigen der Verhältnismäßigkeitsgr<strong>und</strong>satz<br />

zu beachten ist: Angesichts der mit einer Begutachtung verb<strong>und</strong>enen<br />

belastenden <strong>und</strong> stigmatisierenden Wirkungen ist stets darauf zu achten,<br />

dass die Erforschung der Persönlichkeit nicht außer Verhältnis zum erhobenen<br />

Tatvorwurf steht, <strong>und</strong> deshalb bei Bagatell- <strong>und</strong> mittelschwerer Kriminalität<br />

auf eine Begutachtung zu verzichten. 13Bleiben nach Ausschöpfung<br />

aller unter Berücksichtigung des Vorstehenden gebotenen <strong>und</strong> zulässigen Ermittlungsmöglichkeiten<br />

Zweifel, findet nach überwiegender Auffassung Jugendstrafrecht<br />

Anwendung. 14 Das wird entweder auf den Gr<strong>und</strong>satz „in dubio<br />

pro reo“ oder den Erziehungsgedanken gestützt. Gegen letztere Begründung<br />

wie gegen den Vorrang des Jugendstrafrechts ist Kritik erhoben worden.<br />

15 : <strong>Die</strong> Anwendung von Jugendrecht kann <strong>für</strong> den Heranwachsenden belastender<br />

sein als die des Erwachsenenrechts, die so verstandene Anwendung<br />

des in dubio-Satzes sich also als Pyrrhus-Sieg erweisen. Deshalb ist mit Eisenberg<br />

zu fordern, dass dieser Gr<strong>und</strong>satz mit der Maßgabe anzuwenden ist, die<br />

jeweils weniger einschneidende Rechtsfolge anzuordnen. 16<br />

In der Sache wirft § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG ähnliche Interpretations- <strong>und</strong> Anwendungsprobleme<br />

auf wie § 3 JGG.<br />

13 Ostendorf, Jugendstrafrecht, Rn. 293.<br />

14 BGH St 12, 116, 118 f.; Böhm/Feuerhelm, Jugendstrafrecht, S. 65 f.; weitere<br />

Nachweise bei Eisenberg, § 105 Rn.36.<br />

15 Im Gr<strong>und</strong>satz kritisch P.-A. Albrecht, Jugendstrafrecht, S. 110.<br />

16 Eisenberg § 105 Rn. 36.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Ausbildung<br />

II. DIE JUGENDVERFEHLUNG – § 105 ABS. 1 NR. 2 JGG<br />

In der Literatur werden delinquente Handlungen dann als jugendtypisch bezeichnet,<br />

wenn sie in den Modalitäten <strong>und</strong> Motivationen relativ häufig zu<br />

verzeichnen sind, so z.B. Kraftfahrzeugkriminalität, Körperverletzungen bei<br />

Raufereien, Gebrauch leichter Drogen. Der BGH stellt in seiner Rechtsprechung<br />

auf die äußeren Tatumstände <strong>und</strong> die Beweggründe des Täters ab. Sie<br />

müssen die „Jugendverfehlung als oberflächlich“ <strong>und</strong> den „Antriebskräften<br />

der Entwicklung entspringende Entgleisungen“ erkennen lassen17 ; auch wird<br />

vom „Mangel an Ausgeglichenheit, Besonnenheit <strong>und</strong> Hemmungsvermögen“<br />

gesprochen. 18 . Jede Straftat kann damit – unabhängig von der Schwere – unter<br />

den Begriff der Jugendverfehlung fallen, sie muss (lediglich) jugendtypischen<br />

Charakter aufweisen. 19<br />

Liegen eine der vorgenannten Voraussetzungen vor, so wendet der Richter<br />

die <strong>für</strong> Jugendliche geltenden, im Wesentlichen die Rechtsfolgen der Verfehlungen<br />

Jugendlicher regelnden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11<br />

<strong>und</strong> 13 bis 32 JGG entsprechend an. Es finden also keineswegs alle Vorschriften<br />

des JGG entsprechende Anwendung. § 3 JGG etwa ist auf Heranwachsende<br />

in keinem Fall anwendbar. Andererseits enthalten § 105 Abs. 2 <strong>und</strong> 3<br />

sowie die §§ 106 bis 112 JGG eine Reihe von weiteren Vorschriften über die<br />

Anwendung materiellrechtlicher oder verfahrensrechtlicher Bestimmungen<br />

auf Heranwachsende. <strong>Die</strong> §§ 106 bis 109 JGG enthalten Milderungen des Erwachsenenstrafrechts<br />

<strong>für</strong> den Fall der Anwendung auf Heranwachsende sowie<br />

Verfahrensvorschriften.<br />

F. RECHTSFoLGEN DER JUGENDSTRAFTAT<br />

Während das JGG hinsichtlich der Sanktionen im engeren Sinne ein vom Erwachsenenrecht<br />

(nahezu) losgelöstes Rechtsfolgensystem enthält, nimmt es<br />

hinsichtlich der Maßnahmen <strong>und</strong> Nebenfolgen mannigfache Anleihen aus<br />

dem allgemeinen Strafrecht.<br />

§ 5 JGG gibt einen Überblick über die Sanktionen des Jugendstrafrechts. <strong>Die</strong><br />

Vorschrift nimmt eine Dreiteilung vor. Erziehungsmaßregel (§ 9), Zuchtmittel<br />

(§13) <strong>und</strong> Jugendstrafe (§§ 17,27) treten in Verfahren gegen Jugendliche <strong>und</strong><br />

Heranwachsende an die Stelle der Straftatenfolgen des Erwachsenenrechts<br />

(Einzelheiten sogleich unter C.). <strong>Die</strong>s geschieht unabhängig davon, ob ein Jugendgericht<br />

oder ein <strong>für</strong> allgemeine Strafsachen zuständiges Gericht mit der<br />

Angelegenheit befasst ist (§ 104 Abs.1 Nr.1; §§ 112 S1 <strong>und</strong> 2, 105 Abs.1 i.V.m.<br />

§ 104 Abs.1 Nr.1).<br />

§ 7 JGG regelt, welche Maßregeln der Besserung <strong>und</strong> Sicherung gegenüber Jugendlichen<br />

<strong>und</strong> Heranwachsenden angeordnet werden können.<br />

§ 6 JGG normiert, welche Nebenfolgen nach dem Jugendstrafrecht angeordnet<br />

werden dürfen (Einzelheiten unter E.).<br />

Schließlich enthält § 8 JGG umfängliche Regelungen über die mögliche Verbindung<br />

der vielfältigen Rechtsfolgen nach dem JGG.<br />

Schauen wir uns zunächst einmal den Katalog der möglichen Rechtsfolgen<br />

der Jugendverfehlung an. Welche Rechtsfolgen das JGG bereit hält, ist in den<br />

§§ 5 bis 8 geregelt.<br />

17 BGH St 8, 91; StV 1987, S. 307.<br />

18 OLG Zweibrücken, StV 1989, S. 314.<br />

19 BGH StV 1983, 377.<br />

89


90<br />

Ausbildung<br />

Sanktionen<br />

- Erziehungsmaßregeln, § 9 JGG<br />

• Weisungen nach § 10 JGG<br />

• „unbenannte“ Weisungen<br />

• Erziehungsbeistandschaft § 12 JGG<br />

• Heimerziehung § 12 JGG<br />

- Zuchtmittel § 13 JGG<br />

• Verwarnung § 14 JGG<br />

• Auflagen § 15 JGG<br />

- Wiedergutmachung<br />

- Entschuldigung<br />

- Arbeitsleistung<br />

- Geldbetrag<br />

• Jugendarrest § 16 JGG<br />

- Freizeitarrest<br />

- Kurzarrest<br />

- Dauerarrest<br />

- Jugendstrafe § 17 JGG<br />

• (unbedingte) Verhängung der Jugendstrafe § 17 JGG wegen<br />

- Schädlicher Neigungen<br />

- Schwere der Schuld<br />

• Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung<br />

- Vorbewährung" § 57 JGG<br />

- "Urteils"bewährung § 21 JGG<br />

• Aussetzung der Verhängung § 27 JGG bei Jugendstrafe wegen<br />

schädlicher Neigungen<br />

Maßnahmen (§ 11 I Nr. 8 StGB)<br />

- Maßregeln der Besserung <strong>und</strong> Sicherung §§ 7 JGG, 61 ff StGB<br />

• Freiheitsentziehende Maßregeln:<br />

- Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus § 63 StGB<br />

- Unterbringung in einer Entziehungsanstalt § 64 StGB<br />

- Nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung<br />

gem. § 7 Abs. 2 JGG<br />

• Maßregeln ohne Freiheitsentzug:<br />

- Führungsaufsicht §§ 68-68g<br />

- Entziehung der Fahrerlaubnis §§ 69-69b<br />

- Andere Maßnahmen<br />

• Verfall §§ 6 JGG, 73-73e StGB<br />

• Einziehung §§ 6 JGG, 74, 75 StGB<br />

• Unbrauchbarmachung §§ 6 JGG, 74d StGB<br />

Nebenfolgen<br />

- Fahrverbot § 44 StGB<br />

G. DIE JUGENDSTRAFE<br />

I. ALLGEMEINES<br />

<strong>Die</strong> Jugendstrafe ist die einzige echte Kriminalstrafe des Jugendstrafrechts.<br />

<strong>Die</strong>ser „Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt“ (§ 17 Abs. 1 JGG) kann<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

zum einen verhängt werden, „wenn wegen der schädlichen Neigungen des<br />

Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder<br />

Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen“, zum anderen, „wenn wegen der<br />

Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist“ (§ 17 Abs. 2 JGG). Obwohl es sich<br />

um eine Kriminalstrafe handelt, soll der Erziehungsgedanke bei der Verhängung<br />

eine wesentliche (§ 18 Abs. 2 JGG) <strong>und</strong> beim Vollzug gar eine dominierende<br />

Rolle spielen (§ 91 JGG).<br />

<strong>Die</strong> Dauer der Jugendstrafe beträgt mindestens 6 Monate <strong>und</strong> (bei Jugendlichen)<br />

höchstens 5 Jahre; das Höchstmass beträgt jedoch 10 Jahre, wenn nach<br />

allgemeinem Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als 10 Jahren Freiheitsstrafe<br />

angedroht ist (§ 18 Abs. 1). Bei Heranwachsenden beträgt das Höchstmass<br />

in jedem Fall 10 Jahre (§ 105 Abs. 3 JGG).<br />

Soweit erst einmal ein kursorischer Überblick. Beschäftigen wir uns zunächst<br />

einmal mit den<br />

II. VoRAUSSETZUNGEN DER JUGENDSTRAFE<br />

1. SCHäDLICHE NEIGUNGEN<br />

<strong>Die</strong> gängige Definition, die uns die Rechtsprechung anbietet lautet:<br />

„Schädliche Neigungen zeigt ein Jugendlicher oder Heranwachsender, bei dem<br />

erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel die Gefahr begründen, dass er ohne<br />

längere Gesamterziehung (§§ 91, 92 JGG) durch weitere Straftaten die Gemeinschaftsordnung<br />

stören wird“ 20Wie verstehen wir aber, wenn wir uns an<br />

den Wortlaut der Norm halten wollen den Begriff der Neigungen? Schöch21 scheint relativ unkritisch damit umzugehen. Einerseits weist er daraufhin,<br />

dass hier nicht nur Konflikt- oder Gelegenheitstaten gemeint sein dürften,<br />

andrerseits will er auch dem verfassungsrechtlichen Gr<strong>und</strong>satz der Verhältnismäßigkeit<br />

genüge tun <strong>und</strong> verlangt wie das LG Gera, dass beim Täter eine<br />

Rückfallgefahr <strong>für</strong> erhebliche Straftaten vorliegen muss . 22<br />

Aufhellung bringt <strong>und</strong> aber ein Blick in den Kommentar von Eisenberg, der<br />

auf die Historie des Begriffes der schädlichen Neigung eingeht.<br />

Bei der Frage der Bemessung der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer war<br />

bereits in § 12 Abs.1 S 1 des österreichischen Gesetzes über die Behandlung<br />

<strong>junge</strong>r Rechtsbrecher v. 18.7.1927 die schädliche Neigung ein wesentliches<br />

Tatbestandmerkmal. Durch VO des Reichsjustizministers über die unbestimmt<br />

Verurteilten vom 10.9.194123 wurden die „schädlichen Neigungen“ in<br />

das deutsche Jugendstrafrecht eingeführt <strong>und</strong> im RJGG 43 beibehalten <strong>und</strong><br />

als selbstständige Voraussetzung zur Verhängung von Jugendstrafe in das<br />

JGG (§ 4) eingefügt. 24<br />

Das Tatbestandsmerkmal begegnet daher unserer Skepsis („der Schädling“), es<br />

ist disponibel <strong>und</strong> mit den Kategorien einer modernen Sozialwissenschaft nicht<br />

in Einklang zu bringen. Im Jugendstrafprozess werden sie, vielleicht auf die Geschichte<br />

hinweisen können, aber sie müssen mit der Norm arbeiten, wenn der<br />

20 Vgl. BGH St 11,170; 16, 261; BGH St 1992,431; NStZ-RR 2002, 20.<br />

21 In: Meier/Rössner/Schöch, S. 216 ff.<br />

22 LG Gera, DVJJ-Journal 1998, S. 282.<br />

23 RGBL I 567.<br />

24 Vgl. Eisenberg § 17 Rn. 19 vgl. Eisenberg § 17 Rn. 19.


Jugendrichter <strong>und</strong> das Jugendamt sie nicht auf Dauer ausschließen soll.<br />

Nach h. M kommt es beim Vorliegen von schädlichen Neigungen nicht auf<br />

die Entstehungszusammenhänge an. 25 <strong>Die</strong>s ist aber rechtsstaatlich höchst<br />

zweifelhaft, denn die Jugendstrafe ist auch immanent betrachtet eine repres-<br />

sive Maßnahme, <strong>für</strong> deren Begründung es auf die Entstehungszusammen-<br />

hänge ankommen muss <strong>und</strong> § 46 StGB nicht suspendiert werden kann. Inte-<br />

ressant ist es bei Eisenberg nachzulesen, der ausführlich darstellt, dass die Ju-<br />

gendstrafe wegen schädlicher Neigungen eigentlich, sachlich einer Maßregel<br />

der Besserung <strong>und</strong> Sicherung gleich kommt.<br />

Tatsächlich wird Jugendstrafe derzeit aber überwiegend wegen „schädlicher<br />

Neigungen“ verhängt. 26<br />

<strong>Die</strong> Rspr. verlangt die Feststellung von Persönlichkeitsmängeln, die schon vor<br />

der Tat bestanden haben müssen. 27 Bei der Entscheidung müssen sie noch<br />

vorliegen, können sich aber aufgelöst haben, wenn – wie Schöch hervorhebt-<br />

z.B. sich der Täter von der Gruppe gelöst hat, in der die Straftaten begangen<br />

worden sind oder der Täter „geläutert erscheint“ 28 , sich z.B. mit Hilfe der Ju-<br />

gendgerichtshilfe einer systemischen oder psychoanalytischen Therapie un-<br />

terzieht <strong>und</strong> aufdeckt woher seine Wut <strong>und</strong> seine Aggressionen in der Kind-<br />

heit kommen.<br />

In der Regel sollen sich schädliche Neigungen nur bejahen lassen, wenn be-<br />

reits früherer Straftaten gegen den Jugendlichen eingeleitet worden sind.<br />

Eisenberg führt uns in der sozialen Arbeit auf das Problem der Definition, der<br />

Abgrenzung, der inhaltlichen Findung von anderen Kategorien bzw. Tatbe-<br />

standsmerkmalen oder „Einweisungsindikationen“. Schädliche Neigung soll<br />

enger sein, als Verwahrlosung oder die Erziehungsindikation <strong>für</strong> Maßnah-<br />

men nach §§ 12 JGG, 34 KJHG.<br />

In der Tat müssen die schädlichen Neigungen hervorgetreten sein, die Tat<br />

muss Ausfluss der schädlichen Neigung sein, dies soll nach BGH <strong>für</strong> jede ein-<br />

zelne Tat geprüft werden. <strong>Die</strong> Feststellung z.B. „kriminelle Abenteuerlust“ <strong>für</strong><br />

einen Tatkomplex reicht nicht. 29<br />

2. SCHWERE DER SCHULD<br />

<strong>Die</strong> Voraussetzungen der „Schwere der Schuld“ sollen sich unter Einbezie-<br />

hung der Tatmotivation, in erster Line nach der jeweiligen Form der (Einzel-<br />

tat-) Schuld <strong>und</strong> dem Grad der Schuldfähigkeit bestimmen.<br />

Rspr. <strong>und</strong> Lit. akzeptieren hier, dass der sonst vorherrschende Gr<strong>und</strong>gedanke<br />

der Erziehung in den Hintergr<strong>und</strong> tritt.<br />

Andrerseits will der BGH dies dadurch einschränken, dass er die Verhängung<br />

von Jugendstrafe allein wegen „Schwere der Schuld“ in der Regel nur dann<br />

zulassen will, wenn dies aus erzieherischen Gründen erforderlich ist. 30<br />

25 BGH St 11, 169, 170.<br />

26 Vgl. Meier S. 73 f: Lange S. 113: 69,3%, Matzke S. 183: 71,5%, Meier allerdings<br />

S. 73 f: 38,7%.<br />

27 BGH St 16, 26 f., BGH NStZ 1984, 413.<br />

28 BGH NStZ 1997, 481.<br />

29 Eisenberg § 17 Rn. 6 ff.<br />

30 BGH St 15, 224; 16, 261; BGH bei Holtz MDR 1982, 625.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Ausbildung<br />

<strong>Die</strong> Begründung <strong>für</strong> die Schwere der Schuld divergiert erheblich.<br />

Entgegen Schaffstein/Beulke (vgl. § 23, 3) ist sich die Literatur weitgehend ei-<br />

nig, dass generalspräventive Gründe, der Gesichtspunkt der Abschreckung<br />

anderer oder die Stärkung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung, weder<br />

bei der Verhängung, noch bei der Bemessung der Jugendstrafe eine Rolle<br />

spielen.<br />

Der 18 jährige Sven, seit Jahren in einer Skinheadgruppe, wird wegen gefähr-<br />

licher Körperverletzung nach einer Demo zu einer Jugendstrafe von 2 Jah-<br />

ren verurteilt. Zwar sei Sven seither strafrechtlich nicht Erscheinung getre-<br />

ten, aber die Stärkung des Rechtsbewusstseins, die besondere Verantwortung<br />

Deutschlands in Bezug auf rechtsradikale Strömungen <strong>und</strong> die Abschreckung<br />

potenzieller Täter, gebiete diese Strafe.<br />

Eine so begründete Entscheidung wäre unter dem Gesichtspunkt der §§ 17<br />

Abs. 2, 18 Abs. 2, 21 Abs. 1 JGG in der Revision aufzuheben.<br />

<strong>Die</strong> jüngerer Rspr. des BGH 31 stellt wieder verstärkt auf den Erziehungsge-<br />

danken ab, <strong>und</strong> will dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat keine selbstständige<br />

Bedeutung zumessen.<br />

Dennoch finden in die Begründungen immer wieder <strong>und</strong> auch durchaus von<br />

der Lit. verteidigte Aspekte einer positiven Generalprävention Einfluss in die<br />

Entscheidungen, sei es dass vom „allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl“ (Schaff-<br />

stein) oder vom „Vergeltungsbedürfnis der Allgemeinheit“ (Böhm) die Rede<br />

ist. Letztlich ist das Tatbestandsmerkmal oder der Strafgr<strong>und</strong> generalpräven-<br />

tiv besetzt. 32<br />

H. SCHLUSSBETRACHTUNG<br />

<strong>Die</strong> B<strong>und</strong>esregierung hat mit dem 2. JGGÄndG vom Dezember 2007 den<br />

Erziehungsgedanken zu einer zentralen, programmatischen Vorschrift in § 2<br />

Abs.1 erhoben. <strong>Die</strong>ses in der Vergangenheit vieldiskutierte Prinzip, welches<br />

das gesamte JGG durchzieht 33 , bedarf einer kritischen Revision.<br />

Der Gedanke der Erziehung findet seinen Platz in der Jugendhilfe, hier sollen<br />

Defizite <strong>und</strong> Mangellagen ausgeglichen, kompensiert <strong>und</strong> gemildert werden –<br />

mehr nicht. Mehr geht nicht.<br />

Im Strafrecht hat er nichts zu suchen. Das Strafrecht verfolgt den Zweck Wert<br />

<strong>und</strong> Normen der Gesellschaft zu bestätigen, Rechtsfrieden herzustellen oder<br />

zu erhalten – zu mehr ist es nicht in der Lage. Es erzieht nicht, schon gar nicht<br />

im Strafvollzug, es ist auch keine Prävention, es wirkt am besten, wenn es<br />

die soziologischen Determiniertheiten durchbricht, zu denen wir scheinbar<br />

gezwungen sind, wenn der Geprügelte nicht mehr prügeln muss, wenn die<br />

Missbrauchte nicht mehr missbrauchen muss, wenn der, dem was fehlt an innerer<br />

Liebe oder materiell nicht mehr stehlen muss.<br />

31 BGH StV 2009, 93 ff.<br />

32 Vgl. auch KG Berlin StV 2009, 91.<br />

33 Vgl. die §§ 9, 10 Abs.1, 12, 17 Abs.2, 18 Abs.2, 21 Abs.1, 24 Abs.1, 24<br />

Abs.1 <strong>und</strong> 3, 31 Abs.3; 35 Abs.2, 37, 38 abs.2, 45 Abs.2, 46, 47, 48 Abs.3; 51<br />

Abs.1, 52 a, 54 Abs.2, 69 Abs.2, 71 Abs. 1, 90 abs.1, 93 Abs.2 JGG.<br />

91


92<br />

Schwerpunkte<br />

A. EINLEITUNG<br />

Probleme bei der Vernehmung von Kindern,<br />

die Opfer sexueller Gewalt geworden sind<br />

von Thorge Koehler (Universität Bremen)<br />

Thorge Koehler, Jahrgang 1987, <strong>stud</strong>iert Rechtswissenschaft<br />

an der Universität Bremen <strong>und</strong> belegte den Schwerpunkt<br />

Strafrecht <strong>und</strong> Kriminalpolitik in Europa. Nebenbei besuchte<br />

er über mehrere Semester Veranstaltungen der Rechts- <strong>und</strong><br />

Polizeipsychologie <strong>und</strong> hospitiert derzeit im Rahmen eines<br />

einjährigen Mentoringprogramms bei der Bremer Polizei.<br />

„Wie ähnlich war der Unfall?“ – so lautet der Titel eines Aufsatzes, der sich<br />

mit der Gr<strong>und</strong>problematik von Zeugenaussagen beschäftigt. 1 Der Verfasser<br />

stellt hier ein Experiment mit Zeugen 2 vor, die einen Unfall beobachten <strong>und</strong><br />

diesen später auf einem Video nicht einmal wiedererkennen. An diesem Bei-<br />

spiel wird bereits eines der generellen Probleme von Zeugenaussagen deut-<br />

lich: Obwohl sie in Strafprozessen einen hohen Bedeutungswert haben kön-<br />

nen ist ihre Zuverlässigkeit eher zweifelhaft.<br />

Berücksichtigt man diese nahezu unbestrittene Erkenntnis, so bedarf es kei-<br />

ner großen Vorstellungskraft um zu erkennen, dass dieses gr<strong>und</strong>sätzliche Pro-<br />

blem insbesondere beim kindlichen Zeugen eine massive Verstärkung erfah-<br />

ren kann. Zum Umgang mit ihnen <strong>und</strong> ihrer Aussage gibt es unter Psycholo-<br />

gen <strong>und</strong> <strong>Juristen</strong> einen breitgefächerten <strong>und</strong> bisweilen kontroversen Diskurs.<br />

<strong>Die</strong>ser Aufsatz stellt unter Berücksichtigung des Diskursstandes einige Pra-<br />

xisansätze <strong>und</strong> -probleme dar, die im Rahmen von Interviews mit zwei Kri-<br />

minalbeamtinnen besprochen wurden <strong>und</strong> diesem Aufsatz zugr<strong>und</strong>e liegen.<br />

Letztlich erfolgt nach der umfassenden Betrachtung des Themenkomplexes<br />

der Vernehmung von Kindern eine kritische Auseinandersetzung mit den<br />

derzeit propagierten <strong>und</strong> praktizierten Lösungsansätzen.<br />

<strong>Die</strong> besondere Problemrelevanz ergibt sich hierbei aus der Tragweite der<br />

kindlichen Aussage <strong>für</strong> den Beschuldigten <strong>und</strong> die daraus möglicherweise resultierende<br />

Verurteilung <strong>und</strong> gesellschaftliche Ausgrenzung.<br />

B. BESoNDERHEITEN DES KINDLICHEN ZEUGEN<br />

Wie das einleitende Beispiel zeigt, können Zeugenaussagen gr<strong>und</strong>sätzlich als<br />

fehleranfällig bezeichnet werden. Allerdings kommen bei Kindern altersspezifische<br />

Besonderheiten hinzu, die ihre Aussagefähigkeit beeinflussen.<br />

Im Folgenden wird versucht, die Schwierigkeiten bei der Vernehmung von<br />

Kindern in ein grobes, dreistufiges Raster zu gliedern, dass sich an verschiedenen<br />

Alters- <strong>und</strong> Reifestufen orientiert, wobei die jeweiligen Altersgrenzen<br />

nach individuellem Hintergr<strong>und</strong> fließend verlaufen. 3<br />

1 Wendler, in: ZFS 2003, 529 (529).<br />

2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die geschlechtsspezifische<br />

Schreibweise verzichtet.<br />

3 <strong>Die</strong> Darstellung orientiert sich stark an Arntzen/Michaelis, Psychologie<br />

der Kindervernehmung, S. 39 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Es wird davon ausgegangen, dass die Aussagetüchtigkeit4 bei unter vierjährigen<br />

Kindern definitiv nicht gegeben ist5 , was entwicklungspsychologisch u.a.<br />

mit dem sehr geringen Erinnerungsvermögen begründet wird. 6<br />

I. AUSSAGETüCHTIGKEIT VoN VIER- BIS SECHSJäHRIGEN<br />

Insbesondere bei vier- bis sechsjährigen Zeugen gelten zahlreiche Besonderheiten.<br />

Gerade an der unteren Altersgrenze sind die Aussagen der Kinder<br />

nur selten brauchbar. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen, in denen sehr<br />

<strong>junge</strong> Kinder unter besonderen Umständen Aussagen machen, die sie sogar<br />

als Hauptzeugen <strong>und</strong> nicht lediglich als „Stützzeugen“ qualifizieren können. 7<br />

In dieser Gruppe ist von Vorteil, dass die Kinder sich noch nicht verstellen<br />

können <strong>und</strong> unmittelbar <strong>und</strong> vorbehaltlos das schildern, was sie erlebt haben.<br />

Hierbei können auch ihre Mimik <strong>und</strong> Gestik als klares Indiz gewertet werden,<br />

da sie diese noch nicht bewusst steuern können8 <strong>und</strong> es <strong>für</strong> Kleinkinder daher<br />

sehr schwer ist, unbemerkt falsche Angaben zu machen9 .<br />

Häufige Probleme ergeben sich bei der Aussage von Vier- bis Sechsjährigen in<br />

Bezug auf ihre Ausdrucksfähigkeit <strong>und</strong> die Möglichkeit, Geschehnisse detailliert<br />

zu verbalisieren. Hierbei liegt es nahe, dass Kindern das entsprechende<br />

Vokabular fehlt. 10 <strong>Die</strong> Deutung <strong>und</strong> Interpretation des von ihnen Beschriebenen<br />

muss aber mit Bedacht erfolgen, da sie häufig, wenn auch mit wenigen<br />

Worten, genau das aussagen, was sie meinen. 11<br />

Auch kann die unter Umständen sehr geringe Ausdrucksfähigkeit dazu führen,<br />

dass der Vernehmende zwar eine Vorstellung von dem Gemeinten bekommt,<br />

diese „Vermutung“ <strong>für</strong> das weitere Verfahren aber nicht ausreichend<br />

ist. So mag man bei den Worten „Papa, Kerze, Popo, aua...“ eine bestimmte<br />

Assoziation haben, reicht die Ausdrucksfähigkeit des betroffenen Kindes allerdings<br />

nicht über diesen Level hinaus <strong>und</strong> finden sich auch keine weiteren<br />

Beweise, wird hieraus <strong>für</strong> die Strafverfolgung kein hinreichender Beweiswert<br />

erwachsen.<br />

Durch die begrenzte Ausdrucksfähigkeit versuchen jüngere Kinder das Erlebte<br />

oft durch eine nonverbale Demonstration zu verdeutlichen, sodass eine<br />

genaue Protokollierung nicht nur des Gesprochenen, sondern auch der gemachten<br />

Gesten erforderlich wird. 12<br />

Der noch zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts häufig erhobene Einwand, gerade<br />

Kleinkinder könnten häufig das Erlebte nicht von ihrer Fantasie trennen,<br />

4 Vgl. Regber, Glaubhaftigkeit <strong>und</strong> Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen,<br />

S. 21 f.<br />

5 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39.<br />

6 Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 9. Auflage, S. 204 ff.<br />

7 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39.<br />

8 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 40.<br />

9 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen, Kindesmisshandlung <strong>und</strong> sexueller<br />

Missbrauch, S. 99.<br />

10 Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />

Psychologie, S. 70.<br />

11 Vgl. Köhnken/Lempp/Schütze, Forensische Psychiatrie <strong>und</strong> Psychologie<br />

des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, 2. Auflage, S. 383 f.<br />

12 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen , Kindesmisshandlung <strong>und</strong> sexueller<br />

Missbrauch, S. 100.


scheint heute weitestgehend entkräftet. 13 Vielmehr stellte sich heraus, dass ge-<br />

rade jüngere Kinder aufgr<strong>und</strong> ihres mangelnden Verständnisses <strong>für</strong> sexuel-<br />

les Verhalten eher dazu neigen, ungezwungen das wiederzugeben, was sie tat-<br />

sächlich erlebt haben. 14<br />

Letztlich tritt gerade bei Kleinkindern noch ein relativ schneller Erinnerungs-<br />

verlust ein, so dass sich ihre Aussagetüchtigkeit unter Umständen wöchent-<br />

lich verschlechtern kann <strong>und</strong> eine zeitnahe Vernehmung erforderlich ist. 15<br />

Abschließend ist anzumerken, dass laut einer Studie die Aussagezuverlässig-<br />

keit von Kleinkindern im Alter von vier Jahren bei 35 %, im Alter von Fünf<br />

bei 42 % <strong>und</strong> im Alter von Sechs bei 48 % liegt, sodass auch Kleinkinder ver-<br />

wertbare Aussagen machen können. 16<br />

II. AUSSAGETüCHTIGKEIT VoN SIEBEN- BIS ZEHNJäHRIGEN<br />

KINDERN<br />

Im Gegensatz zu der Altersgruppe der Kleinkinder nehmen Kinder im Al-<br />

ter zwischen sieben <strong>und</strong> zehn Jahren Sachverhalte differenzierter <strong>und</strong> zusam-<br />

menhängender wahr <strong>und</strong> können diese umfangreicher wiedergeben. 17 Sie<br />

entwickeln zunehmend ein selbstkritisches Element ihrer Persönlichkeit, so-<br />

dass sie den Grad ihrer Erinnerungssicherheit besser einschätzen können. 18<br />

Auch Gr<strong>und</strong>schulkinder lassen noch spontane <strong>und</strong> unverstellte Reaktionen in<br />

ihre Erzählungen einfließen, wenn etwa ihr Vokabular nicht ausreicht. <strong>Die</strong>se<br />

Merkmale können es erleichtern, einen authentischen Bericht zu identifizie-<br />

ren. 19<br />

Eindeutige Vorteile zeigen sich bei Gr<strong>und</strong>schulkindern in Bezug auf ihre Ge-<br />

dächtnisleistung <strong>und</strong> die Gesprächsführungsfähigkeit. 20<br />

Negativ könnte sich in der hier betrachteten Altersgruppe auswirken, dass die<br />

Kinder unter Umständen aus anderen Sphären (z.B. Fernsehprogramme, äl-<br />

tere Kinder, etc.) bereits erste Informationen über Sexualdelikte erlangt ha-<br />

ben können. 21<br />

Hinzu kommt, dass Gr<strong>und</strong>schulkinder teilweise in der Lage sind, gewisse<br />

Sachverhalte zu verschweigen, wobei eine bewusste Falschaussage aufgr<strong>und</strong><br />

des leicht zu durchschauenden Auftretens der Kinder eher zu entlarven ist. 22<br />

Zusammengefasst stellt die Gruppe der Sieben- bis Zehnjährigen jedoch die<br />

zum Zeugnis am besten geeignete Altersgruppe dar, da Kinder diesen Alters<br />

einerseits eine relativ gut ausgeprägte Sprachfähigkeit, eine realistische Ge-<br />

samteinstellung 23 sowie eine ausgeprägte Unvoreingenommenheit aufweisen<br />

<strong>und</strong> andererseits die negativen Einflüsse begrenzt sind <strong>und</strong> sich leicht iden-<br />

tifizieren lassen. 24<br />

13 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />

Psychologie, S. 69 f.<br />

14 Regber, Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 28.<br />

15 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 58.<br />

16 Vgl. Arntzen/Kardas/Michaelis-Arntzen, in: Psychologie der Zeugenaussage,<br />

System der Glaubhaftigkeitsmerkmale, 4. Auflage, S. 206.<br />

17 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 50.<br />

18 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 51.<br />

19 Regber, Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 30.<br />

20 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 52.<br />

21 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 53.<br />

22 Wegener, Einführung in die forensische Psychologie, S. 51.<br />

23 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />

Psychologie, S. 71.<br />

24 So auch Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 54.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Schwerpunkte<br />

III. AUSSAGETüCHTIGKEIT VoN ELF- BIS DREIZEHJäHRIGEN<br />

KINDERN<br />

Bei der Aussagetüchtigkeit von Kindern im sogenannten vorpubertären Alter<br />

muss erstmals eine geschlechtsspezifische Unterteilung vorgenommen wer-<br />

den. Im Gegensatz zu den männlichen Zeugen ab elf Jahren, deren Verhal-<br />

ten <strong>und</strong> Eignung kaum Unterschiede zu denen der vorherigen Altersstufe<br />

aufweist, tritt bei den weiblichen Zeuginnen eine vergleichsweise große Ab-<br />

weichung auf. 25 Demgemäß bezieht sich ein Großteil der folgenden Ausfüh-<br />

rungen in erster Linie auf Mädchen dieser Altersstufe.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich besteht bei Kindern dieses Alters die Gefahr, dass sie entweder<br />

bereits eigene sexuelle Erfahrungen gemacht oder entsprechende Informati-<br />

onen aus den Medien oder ihrem persönlichen Umfeld aufgenommen haben.<br />

Problematisch hieran ist, dass eine Tat mit relativ authentischen Bildern be-<br />

schrieben werden kann, die so nicht stattgef<strong>und</strong>en hat. 26<br />

Zudem haben Kinder dieses Alters aufgr<strong>und</strong> des zunehmenden Wissens be-<br />

züglich ihrer Sexualität eher ein entsprechendes Verständnis, aus dem ein<br />

Schamempfinden <strong>und</strong> somit auch eine Hemmung zur Aussage erwachsen<br />

kann. 27<br />

Zeuginnen dieser Altersstufe lassen sich eher durch ihre Umwelt beeinflussen<br />

<strong>und</strong> können so Fakten zurückhalten oder falsche Tatsachen behaupten, wo-<br />

bei die Motive hier<strong>für</strong> vielschichtig sind. In Betracht käme z.B. der beabsich-<br />

tige Schutz der eigenen Familie oder die Beschönigung der eigenen Rolle in<br />

einem Delikt. 28<br />

Positiv kann sich auf die vorpubertären Zeugen auswirken, dass sie ein grö-<br />

ßeres Verständnis <strong>für</strong> Zusammenhänge entwickelt haben sowie Gescheh-<br />

nisse bewusster wahrnehmen <strong>und</strong> größtenteils bereits ein gewisses Verant-<br />

wortungsbewusstsein entwickelt haben, dass die Gefahr einer absichtlichen<br />

Falschaussage wieder verringert. 29<br />

Abschließend kann festgehalten werden, dass zwar entwicklungspsycholo-<br />

gisch die besten Voraussetzungen <strong>für</strong> eine taugliche Aussage vorliegen, ande-<br />

rerseits aber durch diese weite Entwicklung auch eher Verfälschungen zu be-<br />

<strong>für</strong>chten sind. 30<br />

IV. ZWISCHENFAZIT<br />

<strong>Die</strong> vorangehende Darstellung ist zwar relativ grob erfolgt, sollte aber in hin-<br />

reichender Weise deutlich gemacht haben, dass Kinder, egal welchen Alters,<br />

als Zeugen weder gr<strong>und</strong>sätzlich geeignet noch ungeeignet sind. Vielmehr ist<br />

ein differenzierter Umgang mit dem jeweiligen Kind <strong>und</strong> seinem individuellen<br />

Hintergr<strong>und</strong> dringend erforderlich.<br />

25 Regber, Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Suggestibilität kindlicher Zeugenaussagen, S. 32.<br />

26 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 57.<br />

27 Schnitker, in: Kruse/Oehmichen , Kindesmisshandlung <strong>und</strong> sexueller<br />

Missbrauch, S. 101.<br />

28 Differenzierter Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 58 f.<br />

29 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 62.<br />

30 Im Ergebnis so auch Regber, Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Suggestibilität kindlicher<br />

Zeugenaussagen, S. 33 f.<br />

93


94<br />

Schwerpunkte<br />

C. DIE EIGENTLICHE VERNEHMUNG<br />

Bei der Vernehmung eines Kindes müssen zahlreiche Faktoren berücksichtigt<br />

werden, damit eine wahrheitsgemäße, verwertbare Aussage gewonnen wer-<br />

den kann.<br />

Zum einen spielt das Vernehmungsumfeld eine wichtige Rolle, zum anderen<br />

muss gerade bei Kindern ein besonderes Augenmerk auf die Art <strong>und</strong> Weise<br />

der Vernehmung gelegt werden.<br />

I. VERNEHMUNGSUMFELD<br />

Bezüglich des räumlichen Vernehmungsumfeldes herrscht Einigkeit darüber,<br />

dass es möglichst „kindgerecht“ eingerichtet sein sollte. 31 Gr<strong>und</strong>sätzlich kön-<br />

nen daher etwa große Räume, die u.U. bedrohlich wirken, die Aussagebereit-<br />

schaft eines Kindes hemmen. 32 Zu denken sei hier beispielsweise an große<br />

Gerichtssäle.<br />

Tatsächlich werden bei der polizeilichen Vernehmung spezielle Räume be-<br />

nutzt, die durch ungewöhnlich fre<strong>und</strong>liche, farbenfrohe <strong>und</strong> spielzimmerar-<br />

tige Einrichtung eine weit „kindgerechtere“ Raumatmosphäre schaffen als in<br />

Behörden sonst üblich. Eine solch vertraut wirkende Atmosphäre kann das<br />

Kind beruhigen <strong>und</strong> sich somit positiv auf die Aussagebereitschaft auswir-<br />

ken. 33<br />

Neben diesen räumlichen spielen aber auch personenbezogene Faktoren eine<br />

Rolle. So ergab eine Untersuchung, dass 90% der Kinder in ihrer Aussagebe-<br />

reitschaft gehemmt sind, wenn ihre Eltern anwesend sind. 34 Daher wird in der<br />

Praxis versucht, Kinder immer in Abwesenheit ihrer Eltern zu vernehmen.<br />

Eine Ausnahme gilt bei besonders stark gehemmten Kleinkindern, wo es er-<br />

forderlich sein kann, die Eltern hinzuzuziehen, um ein gewisses Vertrauen<br />

<strong>und</strong> eine damit einhergehende Aussagebereitschaft zu schaffen. 35<br />

Ebenfalls vermieden werden sollte die Anwesenheit von weiteren Kindern<br />

gleicher Altersklasse bzw. gr<strong>und</strong>sätzlich weiterer Personen im Vernehmungs-<br />

umfeld, da hierdurch eine starke Hemmung hervorgerufen werden kann. 36<br />

Letztlich zeigt sich in Bezug auf ein förderliches Vernehmungsumfeld, dass<br />

sich bereits vermeintliche Kleinigkeiten negativ auf das Aussageverhalten<br />

eines Kindes auswirken. Festzustellen ist, dass die geforderten Vorausset-<br />

zungen bei einer polizeilichen Vernehmung, im Gegensatz zu einer Gerichts-<br />

verhandlung, problemlos zu schaffen sind. 37 Demnach kann insbesondere bei<br />

Gerichtsverhandlungen die Gefahr bestehen, dass die Aussagebereitschaft<br />

eines Kindes umfeldbedingt stark eingeschränkt ist.<br />

II. DURCHFüHRUNG DER VERNEHMUNG<br />

In diesem Abschnitt sollen Besonderheiten bei der Durchführung der Ver-<br />

nehmung aufgezeigt werden. Hierbei wird ein Blick auf spezifische Merkmale<br />

31 So etwa Köhnken/Lempp/Schütze, Forensische Psychiatrie <strong>und</strong> Psychologie<br />

des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, 2. Auflage, S. 356 f.<br />

32 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 47 f.<br />

33 So auch Ell, in: ZfJ 1992, 142 (189).<br />

34 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 50.<br />

35 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 12 f.<br />

36 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 51.<br />

37 Vgl. Ell, in: ZfJ 1992, 142 (189).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

der Belehrung geworfen sowie die konkrete Art <strong>und</strong> Weise der Vernehmung<br />

beleuchtet.<br />

1. DIE BELEHRUNG<br />

Auch Kinder müssen vor Beginn ihrer Vernehmung gem. §§ 52 III, 55 II StPO<br />

über ihr Zeugnis- <strong>und</strong> Auskunftsverweigerungsrecht belehrt werden. <strong>Die</strong><br />

Aufnahmefähigkeit bzgl. der Belehrung kann gem. § 52 II StPO angenom-<br />

men werden, wenn der Minderjährige über die notwendige „Verstandesreife“<br />

verfügt.<br />

<strong>Die</strong>s soll der Fall sein, wenn das Kind erkennen kann, dass der Beschuldigte<br />

etwas Unrechtes getan hat, <strong>für</strong> das ihm Strafe droht <strong>und</strong> seine Aussage zu<br />

dieser Bestrafung beitragen kann. 38 Gerade bei Taten im engeren familiären<br />

Umfeld ist jedoch zu be<strong>für</strong>chten, dass die betroffenen Kinder den Zusam-<br />

menhang zwischen ihrer eigenen Aussage <strong>und</strong> den möglichen Konsequenzen<br />

noch nicht sehen <strong>und</strong> keine Abwägung durchführen können. 39 In besonde-<br />

ren Fällen kann daher gem. §§ 52 II StPO, 1629, 1909 BGB ein Ergänzungs-<br />

pfleger bestellt werden. 40<br />

Prinzipiell ist darauf zu achten, dass Kinder altersentsprechend verständlich<br />

belehrt werden 41 , wobei aber die Gefahr der Einschüchterung des Kindes be-<br />

dacht <strong>und</strong> durch geeignete sprachliche Konstrukte umgangen werden muss 42 .<br />

<strong>Die</strong> Belehrung stellt auch bei kindlichen Zeugen ein wesentliches Element <strong>für</strong><br />

die spätere strafprozessuale Verwertbarkeit dar, sodass sie zwar „kindgerecht“,<br />

aber auch fehlerfrei <strong>und</strong> vollständig erfolgen muss.<br />

2. ART UND WEISE DER VERNEHMUNG<br />

Bei der Vernehmung müssen allerdings weitere kindspezifische Besonder-<br />

heiten beachtet werden. Auch hier gilt die gr<strong>und</strong>sätzliche Aufteilung einer<br />

Vernehmung in den freien Bericht <strong>und</strong> die daran anschließenden Fragen. 43<br />

Befragungen von Kindern sollten angemessen eingeleitet werden <strong>und</strong> diese<br />

sollten das Gefühl bekommen, dass die Vernehmungsperson aufrichtig <strong>und</strong><br />

ehrlich mit ihnen umgeht. 44 Selbstverständlich sollte hierbei eine einfache<br />

<strong>und</strong> verständliche Sprache gewählt werden. 45<br />

Ein besonderes Augenmerk muss allerdings auf die Suggestibilität kindlicher<br />

Zeugen gelegt werden.<br />

Sie sind aufgr<strong>und</strong> ihrer teils eingeschränkten Gedächtnisentwicklung <strong>und</strong> der<br />

mitunter nur gering ausgebildeten Skepsis <strong>und</strong> Standhaftigkeit besonders anfällig<br />

<strong>für</strong> suggestive Einflüsse46 , wobei dies <strong>für</strong> jüngere Kinder stärker gilt als<br />

<strong>für</strong> ältere. 47<br />

38 BGH NJW 1960, 1396 (1397); Senge, in: Karlsruher Kommentar zur<br />

StPO, § 52, Rn. 23.<br />

39 Allerdings kommen gerade Taten im familiären Umfeld (insb. Dunkelfeld)<br />

regelmäßig vor; vgl. Berliner/Elliott, in: The APSAC handbook on<br />

child maltreatment, S. 54; Kley, in: Kriminalistik 2007, 455 (457).<br />

40 Peschel-Gutzeit, in: Staudinger, BGB, § 1629, Rn. 89.<br />

41 Vgl. Deckers, in: NJW 1999, 1365 (1367).<br />

42 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 48.<br />

43 Hierzu Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren, S. 25 f.<br />

44 Vgl. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 14.<br />

45 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 48 f.<br />

46 Stern, Psychologie der frühen Kindheit, 9. Auflage, S. 414; Regber, Glaubhaftigkeit<br />

<strong>und</strong> Suggestibilität, S. 47.<br />

47 Vgl. Undeutsch, Handbuch der Psychologie in 12 Bänden, Bd. 11, Forensische<br />

Psychologie, S. 70.


Gerade durch den öffentlichen <strong>und</strong> medialen Diskurs über den sexuellen<br />

Missbrauch von Kindern fand innerhalb der Bevölkerung eine Sensibilisie-<br />

rung statt, die mitunter unangenehme Nebeneffekte haben kann. So sieht sich<br />

ein Kind, sobald der Verdacht einer Straftat aufkommt, zahlreichen äußeren<br />

- wenn auch innerfamiliären - Einflüssen ausgesetzt, da Personen im Nah-<br />

bereich gezielt versuchen, bestimmte Informationen über den möglichen se-<br />

xuellen Missbrauch zu erhalten. Hieraus resultierend kann es zu unsachge-<br />

mäßen Belastungsaussagen kommen. 48<br />

Suggestive Einflüsse spielen jedoch auch bei der eigentlichen Befragung<br />

durch die Ermittlungsperson eine wichtige Rolle.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich sollten Vernehmungen von Kindern bis dreizehn Jahren kei-<br />

nesfalls länger als 30 Minuten, bei jüngeren Kindern als 20 Minuten andau-<br />

ern 49 , da nach dieser Zeit die Empfänglichkeit <strong>für</strong> suggestive Einflüsse auch<br />

durch eigentlich nicht-suggestive Fragen stark zunimmt. 50<br />

Ein Mensch kann jedoch bereits durch sein äußeres Auftreten suggestiv auf<br />

Kinder wirken. Gerade ängstliche <strong>und</strong> unsichere Kinder können durch be-<br />

sonders autoritär wirkende Personen – wie z.B. Uniformierte oder Roben-<br />

träger – beeindruckt <strong>und</strong> <strong>für</strong> suggestive Einflüsse geöffnet werden, ohne das<br />

überhaupt irgendetwas gesagt wird. 51 Demnach sollte gerade hier versucht<br />

werden, durch ein angepasstes Auftreten diese erste, nonverbale Suggestibi-<br />

litätsanfälligkeit zu senken.<br />

Bei der eigentlichen Befragung gibt es Frageformen, die eine besonders sug-<br />

gestive Wirkung haben <strong>und</strong> die von Endres, Scholz <strong>und</strong> Summa übersichtlich<br />

dargestellt werden. 52<br />

Neben diesen offensichtlich beeinflussenden Fragetechniken gibt es aber auch<br />

weitere, teilweise unabsichtlich erfolgende Suggestionen. Als kleiner Einstieg<br />

sei hier auf das Modell Schulz von Thuns verwiesen, der von den vier Sei-<br />

ten einer Nachricht spricht. Demnach gibt es neben der Sachebene noch drei<br />

weitere Ebenen, auf denen beim gesprochenen Wort eine Botschaft übermit-<br />

telt wird. 53 Hierbei ist insbesondere der mutmaßlich vermittelte Appell in ei-<br />

ner Nachricht von Bedeutung. Kinder, die sich in einer Vernehmungssitua-<br />

tion befinden, fühlen sich häufig unwohl <strong>und</strong> versuchen, möglichst das aus-<br />

zusagen, was ihrer Meinung nach erwartet wird. 54 Eine solche Aussage kann<br />

z.B. durch zu viel Lob <strong>und</strong> Ermunterung seitens des Vernehmenden bewirkt<br />

werden, da das Kind glaubt, es mache alles richtig, wenn es nur immer wei-<br />

ter erzähle. 55<br />

Nahezu suggestionsfrei sind offene Fragen, bei denen das Kind zu einem be-<br />

stimmten Teil des Sachverhalts Ergänzungen vornehmen kann („W“-Fragen<br />

oder „Leerfragen“). 56 Sollte es hierbei Verständnisprobleme geben, sind al-<br />

lerdings auch gezielte Nachfragen eher unbedenklich, solange keine unter-<br />

schwelligen Erwartungen oder Vorgaben durchscheinen. 57<br />

48 Endres/Scholz/Summa, in: Fabian/Greuel/Stadler, Psychologie der Zeugenaussage,<br />

S. 189.<br />

49 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 53.<br />

50 Arntzen/Michaelis, in: Psychologie der Kindervernehmung, S. 22.<br />

51 Arntzen/Michaelis, in: Psychologie der Kindervernehmung, S. 16.<br />

52 Endres/Scholz/Summa, in: in: Fabian/Greuel/Stadler, Psychologie der<br />

Zeugenaussage, S. 195.<br />

53 Vgl. Schulz von Thun/Ruppel/Stratmann, Miteinander Reden, 7. Auflage,<br />

S. 33 ff.<br />

54 Arntzen, Vernehmungspsychologie, Psychologie der Zeugenvernehmung,<br />

3. Auflage, S. 49.<br />

55 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 22.<br />

56 Vgl. Deckers, in: NJW 1999, 1365 (1367 f.).<br />

57 Kluck, FPR 1995, 90 (92).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Schwerpunkte<br />

Wenn es auf Details ankommt, die ein Kind in freien Erzählungsformen nicht<br />

erwähnt, ist es möglich, mit Mehrfachwahlfragen zu arbeiten, bei deren Be-<br />

antwortung dem Kind eine Vielzahl an Alternativen geboten werden <strong>und</strong> es<br />

nicht lediglich A <strong>und</strong> B als Antwortmöglichkeit geben darf. 58<br />

III. ZWISCHENFAZIT<br />

Insgesamt sollte deutlich geworden sein, dass es bewusste <strong>und</strong> unbewusste<br />

Formen der Suggestion gibt <strong>und</strong> diese gerade bei Kindern neben dem Ver-<br />

nehmungsumfeld eine große Rolle spielen. Ein sensibler <strong>und</strong> vor allem ge-<br />

schulter Umgang scheint demnach im Bereich der Aussagegewinnung unver-<br />

zichtbar zu sein.<br />

D. SEKUNDäRVIKTIMISIERUNG UND PRAxISANSäTZE<br />

Nach wie vor umstritten ist, inwieweit die Vernehmung eines (kindlichen)<br />

Opferzeugens im Rahmen des Strafverfahrens zu einer Sek<strong>und</strong>ärviktimisie-<br />

rung führt. <strong>Die</strong> StPO hält einige Maßnahmen vor, um den kindlichen Zeu-<br />

gen potentiell zu entlasten.<br />

I. PRoBLEM DER SEKUNDäRVIKTIMISIERUNG<br />

Unter Sek<strong>und</strong>ärviktimisierung versteht man ein erneutes „Opferwerden“ <strong>und</strong><br />

ein erneutes Aufkommen der tatbedingten, negativen Gefühle durch die Kon-<br />

frontation mit Tat <strong>und</strong>/oder Täter im Strafverfahren. 59<br />

Allerdings ist hierzu eine sehr differenzierte Betrachtungsweise erforder-<br />

lich, da sich ein Verfahren keinesfalls nur negativ auswirken muss. Einigkeit<br />

herrscht lediglich darüber, dass die erneute Begegnung mit dem Täter <strong>für</strong> das<br />

Kind häufig eine Belastung darstellt. 60<br />

<strong>Die</strong> Auseinandersetzung mit dem möglicherweise traumatisierenden Tatge-<br />

schehen, so sie denn in einer angemessenen Atmosphäre stattfindet, wird teil-<br />

weise sogar als förderlich <strong>für</strong> die Verarbeitung des Erlebten betrachtet. 61<br />

Letztlich ist die Gefahr der Sek<strong>und</strong>ärviktimisierung durch eine zeitnahe Ver-<br />

nehmung im Gegensatz zu der früher vertretenen Auffassung 62 als eher ge-<br />

ring einzustufen.<br />

II. PRAxISANSäTZE ZUM SCHUTZ DES KINDES<br />

An diese Erkenntnisse anschließend gibt es einige Regelungen in der StPO,<br />

die <strong>für</strong> den Zeugen entlastend wirken sollen. So bietet § 247 S. 2 StPO z.B.<br />

die Möglichkeit, den Angeklagten <strong>für</strong> die Zeit der Vernehmung eines unter<br />

18-jährigen Zeugen von der Verhandlung auszuschließen, wenn ein erheblicher<br />

Nachteil <strong>für</strong> das Wohl des Betroffenen bei Anwesenheit des Angeklagten<br />

droht. <strong>Die</strong>ser Nachteil kann sich gerade bei jüngeren Zeugen, die Opfer<br />

sexueller Gewalt geworden sind <strong>und</strong> in bestimmten Abhängigkeiten zum Täter<br />

stehen, durch die Konfrontation realisieren. 63<br />

58 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 16.<br />

59 Kropp, in: JuS 2005, S. 686 (688); Schneider, Einführung in die Kriminologie,<br />

3. Auflage, S. 315 f.<br />

60 Vgl. Kipper, Schutz kindlicher Opferzeugen im Strafverfahren, S. 76.<br />

61 Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 87.<br />

62 So etwa Hussels, in: ZRP 1995, S. 242 (243).<br />

63 Schaaber, in: STREIT 1993, 143 (150); Meyer-Goßner, StPO, § 247, Rn. 11.<br />

95


96<br />

Schwerpunkte<br />

Darüber hinaus besteht unter besonderen Voraussetzungen die Möglichkeit<br />

der audio-visuellen Vernehmung eines Kindes nach § 58a StPO, um den Mit-<br />

schnitt hiervon gem. § 255a StPO in die Hauptverhandlung einzuführen. <strong>Die</strong>s<br />

wird aber in der Praxis auf Gr<strong>und</strong> der hohen Anforderungen <strong>und</strong> der organi-<br />

satorischen Probleme kaum genutzt, da trotz audio-visueller Vernehmung die<br />

erneute Befragung in der Hauptverhandlung regelmäßig eingefordert wird,<br />

sodass der „Schutzzweck“ zumeist entfällt.<br />

E. FAZIT<br />

Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei der Vernehmung<br />

von Kindern um ein hoch sensibles Thema handelt – zum einen spielt der<br />

Schutz des Kindes, dass u.U. Opfer einer grausamen Tat geworden ist, eine<br />

große Rolle, zum anderen stehen <strong>für</strong> den Beschuldigten eine erhebliche Haft-<br />

strafe als schärfster Eingriff staatlicher Gewalt sowie in jedem Falle eine gesellschaftliche<br />

Verunglimpfung in Rede.<br />

In diesem Spannungsfeld scheint es im Interesse beider Parteien dringend<br />

notwendig zu sein, einen Ausgleich dahingehend zu schaffen, dass durch eine<br />

geschulte <strong>und</strong> angemessene Gewinnung einer möglichst glaubhaften Aussage<br />

des Kindes die wahrheitsnahe Betrachtung des Sachverhalts ermöglicht wird,<br />

auch wenn „die absolut wahre Aussage“ nie gewonnen werden kann.<br />

Gerade im ersten Teil wurde versucht zu zeigen, dass das Dogma des aussageuntüchtigen<br />

Kindes veraltet ist. Nach den oben gemachten Ausführungen<br />

drängt sich gar der Verdacht auf, Kinder könnten aufgr<strong>und</strong> ihrer leichten<br />

Durchschaubarkeit <strong>und</strong> der häufig noch fehlenden inneren Motivation zur<br />

Lüge mitunter die „besseren“ Zeugen sein.<br />

Allerdings wurde auch auf die große Suggestibilität vor allem <strong>junge</strong>r Kinder<br />

hingewiesen. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> wird erneut klar, wie wichtig es ist,<br />

eine unmittelbare, unverfälschte <strong>und</strong> möglichst tatnahe Aussage zu gewinnen<br />

<strong>und</strong> festzuhalten.<br />

Aus den Gesprächen mit den Kriminalbeamtinnen ergab sich, dass es im Bereich<br />

der Polizei in den letzten Jahren – vermutlich auch aufgr<strong>und</strong> des öffentlichen<br />

Diskurses - Fortschritte bei der Ausbildung gegeben hat. 64 Problematischer<br />

scheint der Fortbildungsstand in Bezug auf die geeignete Gewinnung<br />

einer Kindesaussage viel mehr bei den zuständigen Richtern zu sein. 65<br />

Betrachtet man die aktuell angewendeten Maßnahmen zur Entlastung des<br />

kindlichen Opfers im Ermittlungs- bzw. Hauptverfahren, so bleibt festzuhalten,<br />

dass die audio-visuelle Vernehmung in der derzeit durchgeführten Art<br />

<strong>und</strong> Weise ihren Zweck größtenteils verfehlt. Vielmehr scheint – wie so oft<br />

– als Reaktion auf die öffentliche Debatte eine teils wenig durchdachte Gesetzesänderung<br />

vorgenommen worden zu sein, die ihr Ziel praktisch nur in<br />

den seltensten Fällen erreicht.<br />

Eine unverzügliche Vernehmung ist insbesondere bei jüngeren Kindern<br />

erforderlich, um einem Erinnerungsverlust entgegenzuwirken <strong>und</strong> die suggestiven<br />

Einflüsse zu minimieren. <strong>Die</strong>s scheint unter Berücksichtigung der<br />

derzeitigen Verfahrenslängen66 kaum ohne eine vorgeschaltete Vernehmung<br />

realisierbar zu sein.<br />

64 So auch Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen, S. 130 ff.<br />

65 Vgl. Einschätzung Scheumer, Videovernehmung kindlicher Zeugen, S.<br />

134.<br />

66 Vgl. hierzu etwa Anm. von Bohnert, in: JZ, 2003, 1001 (1001 f.) zu:<br />

BVerfG JZ 2003, 999 (999 ff.).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Das oben erwähnte Spannungsfeld könnte demnach nur dahingehend aufgelöst<br />

werden, dass unter Anerkennung der besonderen Belastung kindlicher<br />

Zeugen, der Gefahr ihrer Suggestibilität sowie eines Erinnerungsverlustes,<br />

eine spezielle Ausbildung auch der Richter im Bereich der Vernehmungspsychologie<br />

erfolgt.<br />

Zudem müssten die Verwaltungsabläufe gerade im Vorverfahren effizienter<br />

gestaltet werden, um eine frühe richterliche, ggf. audio-visuelle Vernehmung<br />

zu ermöglichen.<br />

<strong>Die</strong> Verwertung der so gewonnenen Aussage sollte dann auch im eigentlichen<br />

Hauptverfahren die Regel sein, um einen bestmöglichen Ausgleich zwischen<br />

den widerstreitenden Interessen zu gewährleisten.<br />

Der Ausschluss des Angeklagten im Hauptverfahren wäre entgegen dieser Variante<br />

weniger geeignet, da hier die bereits große Zeitspanne seit der ersten<br />

Vernehmung eine Rolle spielt <strong>und</strong> die Beschuldigtenrechte erst recht nicht effektiv<br />

wahrgenommen werden können.<br />

Somit scheint es <strong>für</strong> einen geeigneten Schutz des Kindeswohls einerseits <strong>und</strong><br />

der bestmöglichen Gewährleistung der Beschuldigtenrechte andererseits keiner<br />

weiteren Gesetzesänderung zu bedürfen, sondern vielmehr einer konsequenten<br />

<strong>und</strong> vorbehaltlosen Ausbildung des beteiligten Personals, gerade auf<br />

tatrichterlicher Ebene.<br />

Letztlich könnte so dem Interesse des Kindes auf ein möglichst wenig belastendes<br />

Verfahren bereits Genüge getan werden. Andererseits würde eine Entlarvung<br />

einer Falschaussage durch den Richter im Vorverfahren dazu führen,<br />

dass durch die Nichteröffnung des Hauptverfahrens auch die gesellschaftliche<br />

Stigmatisierung des Beschuldigten weitestgehend unterbleibt. Schlussendlich<br />

ist festzuhalten, dass es zwar keine Auflösung des Spannungsverhältnisses dahingehend<br />

gibt, dass sich die widerstreitenden Interessen plötzlich ergänzen<br />

<strong>und</strong> in einer wechselseitigen „Symbiose“ voll <strong>und</strong> ganz voneinander profitieren.<br />

Es scheint aber auch die oftmalige Behauptung, Beschuldigtenrechte <strong>und</strong><br />

Opferschutzbelange würden sich unversöhnlich gegenüberstehen, so nicht<br />

haltbar zu sein.<br />

Demzufolge bleibt zu hoffen, dass im Interesse aller Beteiligten in allen Bereichen<br />

der Praxis Bemühungen angestellt werden, die Vernehmung von Kindern<br />

so professionell <strong>und</strong> damit fehlerresistent wie möglich zu gestalten.<br />

Wir suchen Studierende, Referendare/-innen <strong>und</strong> wissenschaftliche<br />

Mitarbeiter/-innen, die Zeit <strong>und</strong> Lust haben sich im <strong>Iurratio</strong>-Projekt<br />

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<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Schwerpunkte<br />

das steuerstrafrechtliche Institut der Selbstanzeige im wandel<br />

von Rechtsreferendar Marc Selker (Oldenburg/Osnabrück)<br />

A. EINLEITUNG<br />

<strong>Die</strong> Selbstanzeige nach § 371 Abgabenordnung (AO) war schon immer Ge-<br />

genstand kritischer Diskussionen <strong>und</strong> ist es bis heute 1 . Erst im Mai letzten<br />

Jahres hat der B<strong>und</strong>esgerichtshof mit einer Aufsehen erregenden Entschei-<br />

dung 2 den Tatbestand der Selbstanzeige stark modifiziert, indem er seinen<br />

Anwendungsbereich mittels einer restriktiven Auslegung stark eingeschränkt<br />

hat. <strong>Die</strong>s ist vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer erheblich steigenden Anzahl von<br />

Selbstanzeigen zu sehen, welche -angefacht durch den Ankauf von Daten-<br />

CDs durch den Fiskus- zu einem erheblichen Diskurs in Politik <strong>und</strong> Öffent-<br />

lichkeit geführt haben. Seinen vorläufigen Höhepunkt erlebte diese Diskus-<br />

sion mit dem Fall „Zumwinkel“, bei dem der Öffentlichkeit vor Augen geführt<br />

wurde, dass der Staat gewillt ist mittels des Ankaufs von illegal beschafften<br />

Daten die Enttarnung von Steuersündern <strong>für</strong> die Strafverfolgung nutzbar zu<br />

machen. 3 <strong>Die</strong>ses rechtlich höchst zweifelhafte Vorgehen wird noch weiter ver-<br />

schärft durch die Tatsache, dass der Fiskus aufgr<strong>und</strong> einer hohen Staatsver-<br />

schuldung auf höhere Steuereinnahmen angewiesen ist. Um diese zu generie-<br />

ren, erscheint es rechtspolitisch „en vogue“ die Steuerstraftatbestände durch<br />

Rechtsprechung <strong>und</strong> Gesetzgebung - auch unter Verletzung rechtsstaatlicher<br />

Gr<strong>und</strong>sätze- erheblich zu verschärfen. Zumindest nominell kann sich das Er-<br />

gebnis sehen lassen. So darf sich der Fiskus Schätzungen zur Folge auf Nach-<br />

zahlungen in Höhe von r<strong>und</strong> 1,6 Milliarden Euro freuen. 4<br />

Darüber hinaus stellt § 371 AO <strong>für</strong> den strafrechtlich interessierten Leser eine<br />

dogmatische Besonderheit dar, da die Selbstanzeige auch noch nach Vollendung<br />

der Tat zu einer Strafbefreiung führt. Es reicht sogar aus nach Beendigung<br />

der Tat die steuerrechtlich relevanten Angaben strafbefreiend nachzuholen.<br />

Dabei kennt das Strafrecht als äußerste zeitliche Grenze <strong>für</strong> eine Strafbefreiung<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nur den Zeitraum vor der Vollendung einer Straftat.<br />

<strong>Die</strong>s wird mittels des Rücktritts vom Versuch gemäß § 24 StGB <strong>und</strong> der tätigen<br />

Reue5 gewährleistet. Somit stellt das Institut der Selbstanzeige eine dogmatische<br />

Ausnahme dar, die ihresgleichen im deutschen Strafrecht sucht.<br />

Zunächst wird im weiteren Verlauf der Darstellung auf die Gr<strong>und</strong>lagen der<br />

Selbstanzeige eingegangen. Danach werden aktuelle Probleme <strong>und</strong> Entwicklungen<br />

der Thematik „Selbstanzeige“ aufgezeigt, wobei vor allem auf das<br />

BGH-Urteil vom 20.05.2010 <strong>und</strong> das jüngst erlassene Schwarzgeldbekämpfungsgesetz<br />

eingegangen wird.<br />

B. GRUNDLAGEN DER SELBSTANZEIGE NACH § 371 Ao<br />

I. SINN UND ZWECK VoN § 371 Ao<br />

Sinn <strong>und</strong> Zweck der Selbstanzeige ist es, dem Fiskus bisher verheimlichte<br />

1 FAZ vom 13.04.2011, S. 21.<br />

2 BGH- Urteil vom 20.05.2010, Az. 1. StR 577/09, wistra 2010, 304(304),<br />

DStR 2010, 1133(1133).<br />

3 Vgl. Bornheim, in: StbG <strong>Die</strong> Steuerberatung, 2011, 68(70); Römer, in:<br />

StraFO 2009,124(124).<br />

4 Der Spiegel vom 20.12.2010, S.72.<br />

5 Vgl. §§ 83a III, 87 III, 129 VI, 163 II S.1 StGB.<br />

Marc Selker, Jahrgang 1984, ist Rechtsreferendar im OLG –<br />

Bezirk Oldenburg <strong>und</strong> absolviert nebenberuflich den<br />

Master<strong>stud</strong>iengang „Wirtschaftsrecht & Restrukturierung“ an<br />

der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster. Er <strong>stud</strong>ierte<br />

Rechtswissenschaften an den Universitäten Hamburg <strong>und</strong><br />

Osnabrück mit Studienaufenthalt an der London School of<br />

Economics. Dabei lag sein Studienschwerpunkt auf den Gebieten<br />

des Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrechts.<br />

Steuerquellen zugänglich zu machen <strong>und</strong> somit dessen Fiskalvermögen zu<br />

mehren. 6 Ob daneben auch der Aspekt umfasst wird, dem „Steuersünder“ die<br />

Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zu ermöglichen ist umstritten. 7 Der Streit ist<br />

zwar vorrangig dogmatischer Natur, wird aber als einer der Gründe <strong>für</strong> die<br />

Abschaffung der Teilselbstanzeige angeführt. 8<br />

II. VoRAUSSETZUNGEN DES § 371 I Ao<br />

1. ANWENDUNGSBEREICH<br />

<strong>Die</strong> Voraussetzungen von § 371 AO sind primär akzessorisch zu § 370 AO<br />

-dem Tatbestand der Steuerhinterziehung- zu verstehen. <strong>Die</strong>s bedeutet, dass<br />

§ 371 AO die Folgen der Steuerhinterziehung nach § 370 AO wieder egalisiert.<br />

Oder anders: Was der Täter durch die Verwirklichung von § 370 AO<br />

einmal in die Welt gesetzt hat, soll durch § 371 AO wieder aufgehoben werden,<br />

so als ob die Handlung der Steuerhinterziehung nie stattgef<strong>und</strong>en habe.<br />

Daneben sind auch die Hinterziehung von Einfuhr- <strong>und</strong> Ausfuhrabgaben(§<br />

370 VI AO), der schwere Fall der Steuerhinterziehung (§ 370 III AO), die versuchte<br />

Steuerhinterziehung <strong>und</strong> die Teilnahme an diesen Straftaten „selbstanzeigefähige<br />

Taten“ i.S. v. § 371 I AO. 9 Von diesen selbstanzeigefähigen Tatbeständen<br />

streng zu unterscheiden sind die anderen Arten der Selbstanzeige.<br />

Nach § 371 IV AO besteht einerseits die Möglichkeit der sog. „Fremdanzeige“:<br />

Danach wird ein Dritter -<strong>und</strong> nicht der Steuerstraftäter- unter den in § 371<br />

IV AO bezeichneten Voraussetzungen strafrechtlich nicht verfolgt, obwohl er<br />

die ihm nach § 153 AO obliegende Pflicht verletzt hat. Eine weitere Möglichkeit<br />

Selbstanzeige zu erstatten gibt § 378 III AO <strong>für</strong> den Fall der leichtfertigen<br />

Steuerverkürzung i.S.v. §§ 378 I, 370 I, IV-VII AO. 10<br />

2. AUFHEBUNGSHANDLUNGEN DES § 371 I, III Ao<br />

Um in den Genuss des persönlichen Strafaufhebungsgr<strong>und</strong>es der Selbstanzeige<br />

zu gelangen, muss der Täter kumulativ zwei (Aufhebungs-)Handlungen<br />

6 BGHSt 37,340, wistra 1991,223(223); Rolletschke, Steuerstrafrecht,<br />

3. Auflage, S.197, Rn.547; a. A. Tipke/ Lang, Steuerrecht, 20. Auflage § 23,<br />

Rn. 55.<br />

7 Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Auflage, § 23, Rn.55.<br />

8 Vgl. BGH 1 StR 599/09 Rn.9;Wulf, in wistra 2010, 286(289).<br />

9 Vgl. Rolletschke, Steuerstrafrecht, 3. Auflage, S.197, Rn.548.<br />

10 Vertiefend dazu: Rolletschke, Steuerstrafrecht, 3.Auflage, S.229, Rn.644ff.;<br />

S..231,649ff..<br />

97


98<br />

Schwerpunkte<br />

vornehmen: Zunächst muss er die unrichtigen oder unvollständigen Angaben<br />

berichtigen oder ergänzen bzw. die unterlassenen Angaben nachholen <strong>und</strong><br />

sodann die hinterzogenen Steuern innerhalb einer vom Fiskus gesetzten Frist<br />

nachzahlen. 11 Dabei sind die Berichtigungserklärungen so zu gestalten, dass<br />

das betreffende Finanzamt ohne eigene größere Nachforschungen die ver-<br />

wirklichte Besteuerungsgr<strong>und</strong>lage aufklären kann (sog. „Materiallieferung“) 12<br />

3. DER ANZEIGEERSTATTER UND SEIN ADRESSAT<br />

Nicht jede beliebige Person kann ohne weiteres rechtswirksam eine Selbst-<br />

anzeige i. S. v. § 371 AO erstatten. Vielmehr bedarf der Anzeigeerstatter, der<br />

nicht schon Täter oder Teilnehmer der selbstanzeigefähigen Straftaten ist, ei-<br />

ner Bevollmächtigung durch die vorgenannten Personen. 13 Der Adressat der<br />

Selbstanzeige ist laut § 371 I AO „die Finanzbehörde“ i. S. v. § 6 II AO. Wäh-<br />

rend früher umstritten war, ob nur die zuständige Finanzbehörde 14 richtiger<br />

Adressat der Selbstanzeige sein kann, ist mittlerweile durch den B<strong>und</strong>esfi-<br />

nanzhof entschieden, dass auch eine Anzeigeerstattung gegenüber einer un-<br />

zuständigen Finanzbehörde den Anforderungen des § 371 AO gerecht wird. 15<br />

Für diese Ansicht kann vor allem der oben erwähnte Gedanke der Selbst-<br />

anzeige -bisher dem Fiskus verheimlichten Steuerquellen offenzulegen- an-<br />

geführt werden. 16 Denn ob der Anzeigeerstatter gegenüber der zuständigen<br />

oder einer unzuständigen Finanzbehörde relevante Angaben macht ändert<br />

nichts an der faktischen Offenlegung der Steuerquelle gegenüber dem Fiskus.<br />

Bei der Vornahme der Selbstanzeige ist darüber hinaus auf das -in der Pra-<br />

xis nicht selten auftretende- Problem des (rechtzeitigen) Zugangs der Anzei-<br />

geerstattung zu achten. Hierbei gilt der Gr<strong>und</strong>satz des § 130 BGB, wonach<br />

der Erklärende glaubhaft darlegen muss, dass die Anzeige derart rechtzeitig<br />

in den Machtbereich der Finanzbehörde gelangt ist, dass diese unter norma-<br />

len Umständen die Möglichkeit zur Kenntnisnahme von der Anzeigeerklä-<br />

rung hat. Für die Praxis gilt daher, dass der Einwurf in den Briefkasten der Fi-<br />

nanzbehörde der sicherste Weg ist, den (rechtzeitigen) Zugang zu gewährlei-<br />

sten. Aus der Anwendung von § 130 BGB darf allerdings nicht geschlossen<br />

werden, dass es sich bei der Selbstanzeigeerklärung um eine Willenserklärung<br />

handelt. Vielmehr stellt sie eine Wissenserklärung dar, was den Nachteil mit<br />

sich bringt, dass eine Anfechtung der Anzeigeerklärung nach §§ 119ff. BGB<br />

nicht möglich ist, aber andererseits den Vorteil hat, dass die Selbstanzeigeer-<br />

klärung nicht formbedürftig ist. So ist auch eine mündliche bzw. fernmünd-<br />

liche Erklärung zulässig, sollte aber zu Beweiszwecken protokolliert werden. 17<br />

C. AUSWIRKUNGEN DES BGH URTEILS V. 20.05.2010, 1 STR 577/09 18<br />

Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat mit seinem Urteil vom 20.05.2010 gr<strong>und</strong>legend<br />

11 Tipke/ Lang, Steuerrecht, 20. Auflage, § 23, Rn.57ff.; Joecks, in: Franzen/<br />

Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Auflage, § 371, Rn.96ff..<br />

12 BGH, NJW 1974, 2293; LG Stuttgart, wistra 1990, 72(72).<br />

13 BGH, wistra 1985, 74(74); Rolletschke, Steuerstrafrecht, 20. Auflage,<br />

S. 198, Rn.551.<br />

14 OLG Frankfurt, DStZ 1954,58; a. A. Joecks, in: Franzen/Gast/ Joecks,<br />

7. Auflage, § 371,Rn.93<br />

15 BFH, wistra 2008,316(316).<br />

16 BGHSt 37,340; Hüls/ Reichling, in: PStr 2008,142; Rolletschke, Steuerstrafrecht,<br />

20. Auflage, S.199, Rn.555.<br />

17 Joecks, in: Franzen/ Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Auflage, § 371,<br />

Rn.65.<br />

18 Vgl. BGH, 1. StR 599/09, BB 2010, 2027(2027), wistra 2010,304(304).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

den Tatbestand der Selbstanzeige verschärft. Wegen § 132 II GVG sind die In-<br />

stanzgerichte zwar nicht an die Entscheidung geb<strong>und</strong>en, nichtsdestotrotz darf<br />

dieses Urteil durchaus als Vorhut des Schwarzgeldbekämpfungsgesetzes ver-<br />

standen werden, welches am 17.03.2011 die zweite <strong>und</strong> dritte Beratung des<br />

B<strong>und</strong>estages passiert hat. 19<br />

I. ABSCHAFFUNG DER TEILSELBSTANZEIGE<br />

Ursprünglich verstand der 5. Strafsenat des BGH die Formulierung „insoweit“<br />

in § 371 I AO so, dass schon bei unvollständigen Angaben eine Straffreiheit<br />

eintreten könne. 20 In solchen Fällen trat eine Straffreiheit aber nur entspre-<br />

chend der gemachten Teilangaben ein. Also bestimmte der Umfang der An-<br />

gaben auch den Umfang der Straffreiheit. Dabei wurde sogar angenommen,<br />

dass schon bei Angaben, welche bis zu 6% hinter den zutreffenden Beiträ-<br />

gen zurück blieben, Straffreiheit in vollem Umgang eintreten könne. 21 Folg-<br />

lich war schon durch eine sog. „Teilselbstanzeige“, also der unvollständigen<br />

Angabe von steuerlich relevanten Tatsachen, eine strafbefreiende Wirkung bis<br />

hin zur vollständigen Straffreiheit möglich.<br />

Seit dem 20.05. 2010 ist diese Möglichkeit -zumindest laut dem 1.Strafsenat-<br />

<strong>für</strong> den Steuerstraftäter nicht mehr gegeben. Der <strong>für</strong> Steuerstrafsachen zu-<br />

ständige Senat hat mit seiner Entscheidung eine Abkehr von der ursprüng-<br />

lichen Rechtsprechung vollzogen <strong>und</strong> hält die Teilselbstanzeige <strong>für</strong> nicht<br />

mehr ausreichend um Straffreiheit zu erlangen. 22 <strong>Die</strong> „Rückkehr zur Steuer-<br />

ehrlichkeit“ sei nicht vollzogen, wenn der Steuerstraftäter nur teilweise seine<br />

Angaben berichtige. 23 <strong>Die</strong>s werde auch schon durch die Nennung aller denk-<br />

baren Handlungsmodalitäten (berichtigen, ergänzen, nachholen) in § 371 I<br />

AO deutlich, wonach die vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit vom Ge-<br />

setzgeber gewollt sei. 24 Der Steuerstraftäter muss nunmehr „reinen Tisch“ ma-<br />

chen, wie es der Strafsenat selbst kaum plastischer formulieren konnte. 25<br />

Weiter meint der 1. Strafsenat, dass die Formulierung „insoweit“ in § 371 I<br />

AO entgegen der Auslegung des 5. Strafsenats 26 bedeute, dass der Steuerstraf-<br />

täter durch seine Nacherklärung keine Strafbefreiung <strong>für</strong> Nicht- Steuerstraftaten<br />

erlangen könne. 27 Demnach beziehe sich das „insoweit“ in § 371 I AO<br />

nicht auf den Umfang der gemachten Angaben, sondern allein auf den Umfang<br />

der Strafbefreiung. 28<br />

II. MoDIFIKATIoN DER SoG. „GESTUFTEN SELBSTANZEIGE“<br />

Oftmals erfolgt die Entscheidung eine Selbstanzeige zu erstatten unter dem<br />

Druck einer drohenden Tatentdeckung, welche einen Sperrgr<strong>und</strong> nach § 371<br />

II Nr.2 AO darstellt. Daraus folgt nicht selten, dass der Anzeigeerstatter im<br />

Zeitpunkt der Erklärung der Selbstanzeige nicht alle nachzuholenden Angaben<br />

machen kann, da die dazu notwendigen Unterlagen nicht vorhanden sind<br />

19 Vgl. BT- Drs. 17/5067.<br />

20 Vgl. BGH, 5 StR 392, 98 vom 13.10.1998, wistra 1999, 27(28).<br />

21 Vgl. OLG Frankfurt, NJW 1962, 974(974).<br />

22 Vgl. BGH, BB 2010, 2027(2027); wistra 2010, 304(304).<br />

23 Wulf, in: wistra 2010,286(289).<br />

24 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.9,11.<br />

25 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.8.<br />

26 Vgl. BGH 5 StR 392/98, wistra 1999,27(28).<br />

27 Vgl. BGH, wistra 1999,27(28).<br />

28 Vgl. BGH, wistra 1999,27(28).


zw. diese erst noch ermittelt werden müssen. <strong>Die</strong>ses Problem aus der Praxis<br />

hat dazu geführt, dass man eine Selbstanzeige „dem Gr<strong>und</strong>e“ <strong>und</strong> „der Höhe“<br />

nach <strong>für</strong> zulässig gehalten hat. 29 Dabei wird auf einer ersten Stufe zunächst<br />

nur die Selbstanzeigeerklärung vorgenommen, um auf einer zweiten Stufe die<br />

noch nicht erklärten Besteuerungsgr<strong>und</strong>lagen nachzuholen. 30 Auch diesem<br />

Vorgehen, welches auf der ersten Stufe noch keine steuerlich relevanten Angaben<br />

beinhalten musste, hat der 1. Strafsenat eine Absage erteilt. Nunmehr<br />

muss der Steuerstraftäter bereits auf der ersten Stufe alle relevanten Angaben<br />

machen - notfalls durch Schätzungen. 31 Wie schon zur Teilselbstanzeige ausgeführt<br />

verlangt der 1. Strafsenat auch bei der „gestuften Selbstanzeige“, dass<br />

der Steuerstraftäter seine Angaben derart präzise gestaltet, dass die betreffende<br />

Finanzbehörde ohne langwierige Nachforschungen die Steuer richtig<br />

festsetzen kann. 32<br />

III. EINSCHRäNKUNG DER SPERRTATBESTäNDE DES § 371 II Ao<br />

<strong>Die</strong> Konzeption des Tatbestandes der Selbstanzeige sieht neben der Straffreiheit<br />

in Absatz 1 auch Fälle vor, bei denen die persönliche Strafaufhebung nach<br />

dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr möglich sein soll. <strong>Die</strong>se sogenannten<br />

Sperrtatbestände, welche die Selbstanzeige nach Absatz 1 vollends ausschließen,<br />

sind als negativ Voraussetzungen von § 371 I AO in § 371 II AO<br />

geregelt. 33<br />

1. AUSLEGUNG DES MERKMALS „ZUR ERMITTLUNG“ I. S. V. § 371<br />

II NR. 1 A 2. ALT. Ao<br />

Der 1. Strafsenat hat mit seiner Entscheidung vom 20. Mai 2010 die Reichweite<br />

des Sperrgr<strong>und</strong>es in § 371 II Nr.1 a 2. Alt. AO erheblich ausgedehnt,<br />

indem er das Tatbestandsmerkmal „zur Ermittlung“ weit gefasst hat. Der 1.<br />

Strafsenat sagt deutlich, dass „zur Ermittlung“ nicht nur Taten erfasst welche<br />

vom Ermittlungswillen des erschienenen Amtsträgers umfasst sind. Vielmehr<br />

reiche es schon aus, wenn die Tat mit dem bisherigen Ermittlungsgegenstand<br />

„in sachlichem Zusammenhang“ steht. 34 Argumentativ stützt der 1.<br />

Strafsenat seine Auslegung auf einen Vergleich mit dem Sperrtatbestand in §<br />

371 II Nr.1 b AO: Dort wird von „der Tat“ als Gegenstand des Ermittlungsverfahrens<br />

gesprochen, wohingegen § 371 II Nr.1 a 2. Alt. AO von „einer Steuerstraftat“<br />

spricht. Daraus ergebe sich, dass der Sperrgr<strong>und</strong> des § 371 II Nr.1 a<br />

2. Alt. AO gerade auch Taten umfasse, die nicht bereits Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens<br />

seien. 35 Man kann diese Auslegung als juristisch kreativ<br />

ansehen, aber sie scheint eher als Kunstgriff denn als formaljuristisch korrekt.<br />

Man könnte die Formulierung „einer Steuerstraftat“ auch dahingehend verstehen,<br />

dass eine ganz bestimmte Steuerstraftat gemeint ist, die bereits Gegenstand<br />

eines Strafverfahrens ist. Das würde zu einer restriktiven Auslegung der<br />

Formulierung mit der Folge eines weiten Verständnisses des Sperrgr<strong>und</strong>es in<br />

29 Vgl. FG Niedersachsen, EFG 2004,468; Kohlmann, Steuerstrafrecht, 1.<br />

Auflage, § 371, Rn.54; Rolletschke, Steuerstrafrecht, 20. Auflage, S.206,<br />

Rn.573f..<br />

30 Rolletschke, Steuerstrafrecht, 20. Auflage, S.206, Rn.573f..<br />

31 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn. 35.<br />

32 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.35.<br />

33 vertiefend dazu: Joecks, Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 7. Auflage,<br />

§ 371, Rn.129ff..<br />

34 BGH 1 StR 577/09, Rn.15.<br />

35 BGH 1 StR 577/09, Rn.16.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Schwerpunkte<br />

§ 371 II Nr.1 a 2. Alt. AO führen. <strong>Die</strong>s war aber offensichtlich von Karlsruhe36 nicht gewollt. Das Kriterium des „sachlichen Zusammenhangs“ wird in der<br />

Literatur jedoch als zu unbestimmt <strong>und</strong> unter Verstoß gegen den in Art. 103<br />

GG verbürgten Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satz verstanden. 37 Denn welche Anforderungen<br />

der 1. Strafsenat an die Formulierung „sachlicher Zusammenhang“<br />

stellt, ist <strong>für</strong> den Rechtsanwender kaum vorhersehbar. Dass der Senat, als Argumentation<br />

<strong>für</strong> die Ausdehnung des Sperrtatbestandes, die gebotene restriktive<br />

Auslegung von § 371 I AO als Ausprägung des Umstandes anführt, dass<br />

die Selbstanzeige nun mal eine „Ausnahmevorschrift“ sei, 38 ersetzt nicht die<br />

Bestimmtheit der Begrifflichkeit.<br />

2. AUSLEGUNG DES MERKMALS „TATENTDECKUNG“ I. S. V. § 371<br />

II NR. 2 Ao<br />

Darüber hinaus vollführt der <strong>für</strong> Steuerstraftaten zuständige Senat eine weitere<br />

Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung. Unter deutlicher Absage an<br />

die alte Auffassung39 - die als Anknüpfungspunkt <strong>für</strong> eine „Tatentdeckung“<br />

den hinreichenden Tatverdacht i. S. v. §§ 170 I, 203 StPO vorsah- meint der<br />

1.Strafsenat nun, dass dem Begriff der „Tatentdeckung“ in § 371 II Nr.2 AO<br />

ein von den Verdachtsgraden der Strafprozessordnung unabhängiger Bedeutungsgehalt<br />

zukomme. 40 Begründet wird dies damit, dass ein hinreichender<br />

Tatverdacht gemäß §§ 170 I, 203 StPO auf einem ausermittelten Sachverhalt<br />

beruhe. Demgegenüber könne eine „Tatentdeckung“ i. S. v. § 371 II Nr.2 AO<br />

erst den Anfangspunkt von daran anschließenden Ermittlungen darstellen. 41<br />

Unabhängig von dem veränderten Anknüpfungspunkt hält der 1. Strafsenat<br />

aber weiterhin an der Definition der „Tatentdeckung“ fest. Danach muss zunächst<br />

auf Gr<strong>und</strong>lage der vorliegenden Informationen die vorläufige Verdachtslage<br />

geprüft werden, um sodann - darauf aufbauend - zu prüfen, inwiefern<br />

der Sachverhalt rechtlich geeignet ist eine Verurteilung zu rechtfertigen. 42<br />

Dabei ist eine Steuerstraftat bzw. -ordnungswidrigkeit „entdeckt“, wenn der<br />

Abgleich mit der abgegebenen Steuererklärung ergibt, dass eine Steuerquelle<br />

nicht oder nicht vollständig angegeben worden ist. 43<br />

D. NEUERE ENTWICKLUNGEN – STARKE EINSCHRäNKUNGEN<br />

DURCH DAS SCHWARZGELDBEKäMPFUNGSGESETZ<br />

<strong>Die</strong>, nach dem mehrfachen Ankauf gestohlener Bankdaten, durch den Fiskus<br />

ausgelöste Welle an Selbstanzeigen <strong>und</strong> die zuvor besprochene Entscheidung<br />

des BGH vom 20.05.2010 haben in der politischen Landschaft Deutschlands<br />

zu einem Umdenken geführt. <strong>Die</strong> Vorschläge reichten von punktuellen<br />

Verschärfungen44 bis hin zur vollständigen Abschaffung der Selbstanzeige <strong>für</strong><br />

vorsätzliche begangene Steuerstraftaten45 . <strong>Die</strong>se Überlegungen hat der B<strong>und</strong>esrat<br />

aufgegriffen <strong>und</strong> erhebliche Verschärfungen der §§ 371, 378 AO vorgeschlagen,<br />

die jedoch nicht umgesetzt wurden. 46 Stattdessen hat der Gesetz-<br />

36 Vgl. § 123 GVG.<br />

37 Wulf, in wistra 2010, 286(287f.).<br />

38 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.17.<br />

39 Vgl. BGH , wistra 2000, 219(225); wistra 1988,308(308).<br />

40 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.23.<br />

41 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.25.<br />

42 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.25; wistra 2000,219(225).<br />

43 Vgl. BGH 1 StR 577/09, Rn.28.<br />

44 Vgl. BT- Drs. 17/1755.<br />

45 Vgl. BT- Drs. 17/1411.<br />

46 Vgl. BR- Drs. 318/10, 75ff.; im Überblick: Geuenich, in: BB 2010,2148ff..<br />

99


Titelthema<br />

Schwerpunkte<br />

geber mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz die vom 1. Strafsenat getrof-<br />

fenen Verschärfungen noch übertroffen. 47 Dabei orientiert sich der Gesetz-<br />

geber hinsichtlich der Vollständigkeit einer Selbstanzeige nicht nur an den<br />

steuerstrafrechtlich relevanten Taten, sondern an jede Steuerart („Gebot der<br />

Vollständigkeit“). 48 Straffreiheit tritt demnach nur dann ein, wenn sämtliche,<br />

steuerstrafrechtlich noch verfolgbaren Sachverhalte offenbart werden. 49<br />

Zudem kommt es zur Einführung von zwei neuen Sperrgründen: Zum einen<br />

sieht § 371 II Nr.1 a AO-E als neuen Sperrgr<strong>und</strong> die Bekanntgabe einer Prü-<br />

fungsanordnung vor <strong>und</strong> zum anderen will § 371 II Nr.3 AO-E bei einer Steu-<br />

erverkürzung um mehr als 50.000 € eine Selbstanzeige verbieten. Dennoch<br />

soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine Hintertür <strong>für</strong> den Steuersünder<br />

offen gehalten werden. Denn bei einem Hinterziehungsbetrag von mehr als<br />

50.000 € kann die Zahlung eines „freiwilligen Zuschlages“ i. H. v. 5 % des<br />

verkürzten Steuerbetrages dennoch zur erhofften Straffreiheit führen. 50 Ne-<br />

ben diesen erheblichen Verschärfungen sieht der Gesetzesentwurf mit Art. 97<br />

§ 24 S.1, 2 EGAO zumindest eine Vertrauensschutzregelung <strong>für</strong> Teilselbstan-<br />

zeigen vor, sodass solche Anzeigen, die vor dem Datum des Änderungsge-<br />

setzes bei der Finanzbehörde angezeigt werden, weiter wirksam zur Strafauf-<br />

hebung führen. 51 Nach diesem Datum erstattete Selbstanzeigen fallen unter<br />

47 BT-Drs. 17/5067; siehe auch: Geuenich, in: NWB 2011, 1050(1051ff.).<br />

48 BT- Drs. 17/5067, S.24.<br />

49 Vogel, in: DATEV Magazin 2011, 47(48).<br />

50 BT-Drs. 17/5067, S.25.<br />

51 Geuenich, in: NWB 2011,1050(1057).<br />

das Vollständigkeitsgebot, sodass eine Teilselbstanzeige dann faktisch nicht<br />

mehr möglich ist. <strong>Die</strong>se Regelung ist gerecht aber überflüssig, da schon das<br />

Rückwirkungsverbot in Art. 103 II Gr<strong>und</strong>gesetz garantiert, dass der Bürger<br />

vorhersehen können muss, welches Verhalten verboten ist <strong>und</strong> welche Strafe<br />

ihm droht. 52<br />

<strong>Die</strong> übrigen Speertatbestände in § 371 II Nr.1b, 2 AO werden beibehalten.<br />

Bezüglich der Auslegung der Reichweite dieser Sperrtatbestände ist das zu-<br />

vor besprochene BGH-Urteil maßgeblich. <strong>Die</strong> Sperrtatbestände der leichtfer-<br />

tigen Steuerverkürzung in § 378 III AO bleiben demnach auch unverändert.<br />

E. FAZIT<br />

Was haben wir gesehen? Es kann zusammenfassend gesagt werden, dass es<br />

die Möglichkeit der Selbstanzeige in der jetzigen Form so nicht mehr geben<br />

wird. Der Gesetzgeber ist -auch aufgr<strong>und</strong> einer wachsenden Staatsverschul-<br />

dung- gezwungen <strong>für</strong> steigende Steuereinnahmen zu sorgen. Da<strong>für</strong> muss er<br />

den Bürger zu mehr Steuerehrlichkeit bewegen, um höhere Einnahmen zu<br />

generieren.<br />

Einen ersten Schritt hat er mit dem Schwarzgeldbekämpfungsgesetz getan,<br />

welches am 17.03.2011 die zweite <strong>und</strong> dritte Lesung des B<strong>und</strong>estages passiert<br />

hat. <strong>Die</strong>ses Änderungsgesetz engt den Spielraum <strong>für</strong> die Vornahme einer<br />

Selbstanzeige erheblich ein <strong>und</strong> will offensichtlich den Druck auf den Steuerschuldner<br />

vergrößern, eine umfassende Steuererklärung abzugeben.<br />

Dass er dabei rechtsstaatliche Bedenken einfach übergeht, verw<strong>und</strong>ert. Gerade<br />

die Unbestimmtheit einzelner Tatbestandsmerkmale <strong>und</strong> die widersprüchliche<br />

Auslegung derselben durch die Senate des B<strong>und</strong>esgerichtshofes,<br />

zeigen spürbar die Unsicherheit der Rechtsprechung im Umgang mit<br />

der Thematik Selbstanzeige. <strong>Die</strong>s mag vor allem daran liegen, dass gerade<br />

das Steuerrecht <strong>und</strong> mit ihm die Selbstanzeige wie kein anderes Gebiet polarisiert<br />

<strong>und</strong> sich einem großen politischen Druck ausgesetzt sieht. Dabei stellen<br />

die verfassungsrechtlichen Bedenken bezüglich der Selbstanzeige keine<br />

Seltenheit dar, wie der <strong>für</strong> das Wirtschaftsstrafrecht maßgebliche Tatbestand<br />

der Untreue (§ 266 StGB) zeigt. Auch dort hat das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht(<br />

BVerfG ) aufgr<strong>und</strong> einer drohenden Unbestimmtheit i. S. v. Art. 103 Abs. 2<br />

GG eine restriktive Auslegung des § 266 StGB angemahnt <strong>und</strong> sich dabei insbesondere<br />

mit der Reichweite des Tatbestandsmerkmals des Vermögensnachteils<br />

auseinandergesetzt. 53 Hieran wird deutlich, wie schwer es dem Gesetzgeber<br />

fällt, (wirtschaftlich) ungewollte Verhaltensweisen durch hinreichend bestimmte<br />

Tatbestände strafrechtlich zu erfassen. Vermehrt wird deswegen das<br />

BVerfG als Korrektiv tätig.<br />

So wird auch in Zukunft das spannende Gebiet des Steuerstrafrechts <strong>für</strong><br />

großen Diskussions- <strong>und</strong> Beratungsbedarf sorgen <strong>und</strong> es bleibt zu hoffen,<br />

dass sich dieses auch in der universitären Schwerpunktausbildung niederschlägt.<br />

Gerade die Verzahnung von Wirtschaftsrecht <strong>und</strong> Strafrecht, welche<br />

das Wirtschafts- <strong>und</strong> Steuerstrafrecht prägt, stellt den Rechtsanwender dabei<br />

vor interessante Fragestellungen.<br />

52 Vogel, in: DATEV Magazin 2011, 47(48).<br />

53 Vgl. BVerfG, NStZ 2010, 626(626);NJW 2009,2370(2371).


SACHVERHALT 1<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Fallbearbeitung<br />

Anfänger im Öffentlichen Recht: „Puma im wohngebiet“ –<br />

Zur Abgrenzung der polizeilichen Gefahrbegriffe<br />

von Lukas Ernst, LL.M. (MERNI), Köln 1<br />

Rentner R sieht aus dem Fenster <strong>und</strong> erblickt auf dem Gehweg vor seinem<br />

Haus einen Puma. Der eilig angerufene Polizist P rückt mit dem SEK an <strong>und</strong><br />

stellt fest, dass es sich bei dem Puma um ein lebensgroßes <strong>und</strong> täuschend echt<br />

aussehendes Stoffexemplar handelt.<br />

Das SEK rückt wieder ab, der R wird <strong>für</strong> die Einsatzkosten in Anspruch genommen.<br />

<strong>Die</strong>se zahlt der R, stellt sich jedoch bereits am nächsten Tag die<br />

Frage, ob die Inanspruchnahme nicht rechtswidrig war <strong>und</strong> möchte wissen,<br />

ob, <strong>und</strong> wenn ja auf welcher Gr<strong>und</strong>lage, er sein Geld zurückbekommen kann.<br />

ABWANDLUNG 1<br />

Der vermeintliche Puma sitzt im verschlossenen Innenhof des Hauses des R.<br />

Wieder ruft dieser den P an, der ihn aber nicht ernst nimmt <strong>und</strong> meint, die<br />

Angelegenheiten des R auf dessen Gr<strong>und</strong>stück gingen ihn nichts an. Besteht<br />

seitens des R ein Anspruch auf Einschreiten gegen die Polizei?<br />

ABWANDLUNG 2 (WIE ABWANDLUNG 1)<br />

R bewohnt ein Mietshaus. <strong>Die</strong> Polizei bricht während des Einsatzes das verschlossene<br />

Tor zum Innenhof auf. Der Innenhof wäre aber, wie dem P zuvor<br />

mitgeteilt worden war, auch problemlos <strong>und</strong> ohne weiteres durch den unverschlossenen<br />

Keller zu erreichen gewesen. Dem P ist schon vor dem Einsatz<br />

bewusst, dass sich der, wie dieser selbst angegeben hatte, altersbedingt kurzsichtige<br />

R bei seiner Beobachtung geirrt haben könnte.<br />

Hat Vermieter V einen Anspruch auf Ersatz der Kosten <strong>für</strong> die Reparatur des<br />

Hoftores? Ansprüche aus § 839 Abs. 1 BGB <strong>und</strong> Art. 34 GG sind nicht zu prüfen.<br />

LöSUNG<br />

A. AUSGANGSFALL<br />

Eine Kostentragungspflicht des R könnte nach §§ 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 1, 13<br />

Abs. 1 Nr. 1 des Gebührengesetzes NRW2 (GebG NRW) i.V.m. § 1 Abs. 1 Allgemeine<br />

Verwaltungsgebührenordnung NRW (AVerwGebO NRW) bestehen,<br />

wenn dieser <strong>für</strong> die Verwaltungshandlung Anlass gegeben hat.<br />

I. Eine gebührenpflichtige Amtshandlung in diesem Sinne stellt gemäß<br />

Nr. 18.6 des allgemeinen Gebührentarifs zur AVerwGebO NRW insbeson-<br />

1 Der Autor schuldet Frau <strong>stud</strong>. <strong>iur</strong>. Beate Förtsch <strong>und</strong> Herrn <strong>stud</strong>. <strong>iur</strong>.<br />

Benjamin Schmitz Dank <strong>für</strong> wertvolle Korrekturanmerkungen.<br />

2 Vgl. Vorschriften anderer B<strong>und</strong>esländer: §§ 1, 2, 5 I LGebG BW; §§ 1 I, 2,<br />

12 I GebGBbg; §§ 2 I, 3 I, 9 I HmbGebG; Art. 1 I, Art. 2 KostG BY; §§ 1, 4 I,<br />

13 I BremGebBeitrG; §§ 1 I, 11 I HVwKostG; §§ 1 I, 2, 13 I VwKostG M-V;<br />

§§ 1 I, 3, 5 I NVwKostG; §§ 1 I, 12 I SaarlGebG; §§ 1, 2 I SächsVwKG; §§ 1<br />

I, 5 I VwKostG LSA; §§ 1 I, 13 I VwKostG SH; §§ 1 I, VI, 6 I ThürVwKostG;<br />

§§ 1 I, 13 I Rh-PflLGebG.<br />

Lukas Ernst, Jahrgang 1982, <strong>stud</strong>ierte an der Universität<br />

Bonn <strong>und</strong> ist seit 2008 ebendort wissenschaftlicher Mitar-<br />

beiter bei Prof. Dr. Christian Koenig LLM. am Zentrum <strong>für</strong><br />

Europäische Integrationsforschung sowie seit 2010 Rechts-<br />

referendar am LG Köln. Tätigkeitsschwerpunkt sind das EU<br />

Wettbewerbsrecht sowie das Recht der Regulierung der<br />

Netzwirtschaften. Derzeit schließt er seine Promotion zu<br />

einem energiewirtschaftlichen Thema ab.<br />

dere das Tätigwerden der Polizei nach einer missbräuchlichen Alarmierung<br />

oder aufgr<strong>und</strong> einer vorgetäuschten Gefahrenlage dar. <strong>Die</strong>se Gebührenpflicht<br />

entsteht also dann nicht, wenn der Anruf des R durch das Vorliegen einer Gefahr<br />

gerechtfertigt gewesen wäre.<br />

1. Der Anruf des R wäre gerechtfertigt gewesen, wenn eine Gefahr <strong>für</strong> die öffentliche<br />

Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung vorgelegen hätte (§ 14 Abs. 1 OBG NRW).<br />

Eine Gefahr besteht dann, wenn bei Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens<br />

in absehbarer Zeit die Schädigung eines polizeilich geschützten<br />

Rechtsguts hinreichend wahrscheinlich ist. 3 <strong>Die</strong> öffentliche Sicherheit <strong>und</strong><br />

Ordnung umfasst unter anderem wichtige Individualrechtsgüter. 4<br />

a) Durch einen herumlaufenden Puma in einem Wohngebiet besteht ein<br />

nicht unerhebliches Schädigungspotential <strong>für</strong> Leib <strong>und</strong> Leben der Anwohner.<br />

Leib <strong>und</strong> Leben sind als wichtige Individualrechtsgüter Bestandteil der öffentlichen<br />

Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung. 5 Damit würde in einem solchen Fall eine Gefahr<br />

<strong>für</strong> die öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung bestehen.<br />

b) Allerdings war der vermeintliche Puma objektiv ungefährlich, da eine<br />

Schädigung von polizeilich geschützten Rechtsgütern durch ein Stofftier nicht<br />

drohte. Eine Gefahr bestand damit tatsächlich nicht. Fraglich ist, wie die bestehende<br />

Lage zu beurteilen ist.<br />

aa) In Betracht kommen könnte das Vorliegen eines Gefahrenverdachts. <strong>Die</strong>ser<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass nach der Sachlage Anhaltspunkte <strong>für</strong> das<br />

Vorliegen einer Gefahr bestehen, der handelnden Person dabei aber bewusst<br />

ist, dass noch weitere Gefahrerforschungsmaßnahmen zur Ermittlung des<br />

Sachverhalts erforderlich sind. 6 Das Vorliegen einer tatsächlichen Gefahr ist<br />

dabei gerade ungewiss <strong>und</strong> Gegenstand der weiteren Sachverhaltsaufklärung.<br />

Dem R war hier schon keine Unsicherheit hinsichtlich des Vorliegens einer<br />

Gefahr bewusst. Vielmehr ging er davon aus, einen echten Puma gesehen zu<br />

haben. Insofern bestand kein Gefahrenverdacht.<br />

3 BVerwGE 45, 51 (57).<br />

4 VG Arnsberg, Beschl. v. 16.04.2009, Az. 3 L 192/09; VG Gelsenkirchen,<br />

Beschl. v. 12.08.2009, Az. 14 L 746/09.<br />

5 VG Minden, NJW 2006, 1450 (1451).<br />

6 VG Düsseldorf, NVwZ-RR 1999, 743 (744).<br />

101


102<br />

Fallbearbeitung<br />

bb) In diesem Fall könnte es sich um eine Putativgefahr gehandelt haben.<br />

<strong>Die</strong>se liegt dann vor, wenn die Ermittlungsperson eine Gefahr <strong>für</strong> gegeben<br />

hält, die tatsächlich nicht besteht <strong>und</strong> dabei pflichtwidrig nicht alle zur Verfü-<br />

gung stehenden Erkenntnisquellen ausschöpft. 7 Allerdings gilt der Begriff der<br />

Putativgefahr ausschließlich <strong>für</strong> die handelnden Behörden. Dem R als An-<br />

wohner wird in diesem Fall die weitere Erforschung des Sachverhalts nicht<br />

abverlangt werden können. Vielmehr durfte der R vernünftigerweise das wei-<br />

tere Vorgehen der Polizei überlassen. Insoweit kann aber auch nicht der Vor-<br />

wurf erhoben werden, der R habe pflichtwidrig nicht alle Erkenntnisquellen<br />

ausgeschöpft <strong>und</strong> damit vorwerfbar das Vorliegen einer Gefahr angenommen.<br />

Folglich bestand auch keine Putativgefahr.<br />

cc) Allerdings könnte es sich um eine Anscheinsgefahr gehandelt haben. Um<br />

eine solche handelt es sich dann, wenn objektiv keine Gefahr besteht, das Ge-<br />

schehen aber aus der Betrachtung ex-ante den vernünftigen Schluss zulässt,<br />

eine solche läge vor. 8 <strong>Die</strong> Unechtheit des Pumas konnte R bei seiner Beobach-<br />

tung aus dem Fenster nicht erkennen. Ihm stellte sich folglich eine Situation<br />

dar, die objektiv den Anschein einer Gefahr ergab. Damit ist das Vorliegen ei-<br />

ner Anscheinsgefahr zu bejahen. Fraglich ist, ob diese wie eine echte Gefahr<br />

zu behandeln ist. Dagegen spricht zunächst, dass objektiv keine Gefahr vorlag,<br />

was dazu führt, dass eine Gefahrenabwehrmaßnahme vorgenommen würde,<br />

obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen der Eingriffsnorm nicht vorlie-<br />

gen. Für eine Gleichstellung von Anscheinsgefahr <strong>und</strong> echter Gefahr spricht<br />

allerdings die Effektivität der Gefahrenabwehr. Eine Gefahrensituation zeich-<br />

net sich gerade dadurch aus, dass in Ansehung des drohenden Schadens zügig<br />

gehandelt werden muss. Oftmals würde eine detaillierte <strong>und</strong> somit zeitaufwendige<br />

Erforschung des Sachverhalts den Schutz der gefährdeten Rechtsgüter<br />

vereiteln. Nur unter diesem Gesichtspunkt macht auch die Eilzuständigkeit<br />

der Polizei gemäß § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW Sinn. <strong>Die</strong>se wäre überflüssig,<br />

wenn die Gefahrenabwehr nicht im Einzelfall ein schnelles Einschreiten<br />

erfordern würde. Den Ordnungsbehörden stehen aber unter Umständen exante<br />

begrenzte Erkenntnisquellen zur Verfügung. Stellt sich nach Ausschöpfung<br />

aller zur Verfügung stehender Erkenntnisquellen eine Situation als gefährlich<br />

dar, so überzeugt es nicht, die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer<br />

Maßnahme von den Erkenntnismöglichkeiten ex post abhängig zu machen.<br />

Überzeugender ist es daher, die Anscheinsgefahr wie eine echte Gefahr zu behandeln,<br />

denn aus der ex-ante Position des Betrachters lag vernünftigerweise<br />

der Schluss nahe, von einer tatsächlichen Gefahr auszugehen. 9<br />

c) Damit lag eine Gefahr im Rechtssinne vor.<br />

d) <strong>Die</strong>sen Anschein einer Gefahr hat der R auch nicht pflichtwidrig verurs-<br />

acht, was dazu hätte führen können, dass er gleichwohl kostenpflichtig heran-<br />

gezogen werden kann. 10 Vielmehr hat er lediglich als unbeteiligter Dritter seine<br />

Wahrnehmung einer vermeintlichen Gefahrenquelle der Polizei weitergegeben.<br />

7 VG Würzburg, Urt. v. 15.07.2010, Az. W 5 K 10.233, Rn. 17; VG Münster,<br />

Urt. v. 11.12.2009, Az. 1 K 2338/08, Rn. 46; di Fabio, Risikoentscheidungen<br />

im Rechtsstaat, 1994, 75.<br />

8 OVG Münster, NJW 1980, 138 (139); Götz, Allgemeines Polizei- <strong>und</strong><br />

Ordnungsrecht, 13. Auflage 2001, Rn. 161; Schenke, Polizei- <strong>und</strong> Ordnungsrecht,<br />

6. Auflage 2009, Rn. 80.<br />

9 H.M., instruktiv BGH, NJW 1952, 586; Schenke, Polizei- <strong>und</strong> Ordnungsrecht,<br />

6. Auflage 2009, Rn. 80; Schoch, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes<br />

Verwaltungsrecht, 13. Auflage 2005, Rn. 92.<br />

10 BGH, NVwZ 1992, 1119; OVG Hamburg, NVwZ 1986, 766.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

2. Folglich handelte es sich bei dem Anruf des R weder um eine missbräuch-<br />

liche Alarmierung noch um die Vortäuschung einer Gefahrenlage. Somit er-<br />

folgte die Inanspruchnahme des R zu Unrecht. Der R ist nicht nach §§ 1 Abs. 1<br />

Nr. 1, 2 Abs. 1, 13 Abs. 1 Nr. 1 GebG NRW i.V.m. § 1 Abs. 1 AVerwGebO<br />

NRW zur Kostentragung verpflichtet gewesen. Seine Zahlung erfolgte demnach<br />

ohne Rechtsgr<strong>und</strong>.<br />

II. Ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht gezahlten Einsatzkosten steht<br />

dem R gemäß § 21 Abs. 1 GebG NRW zu. Allerdings ist dieser geltend zu machen,<br />

solange die Kostenentscheidung noch nicht unanfechtbar geworden ist.<br />

B. ABWANDLUNG 1<br />

Ein Anspruch auf Einschreiten der Polizei könnte dem R aus § 14 Abs. 1 OBG<br />

NRW i.V.m. § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW11 zustehen.<br />

I. Dazu müsste zunächst eine Gefahr i.S.d. § 14 Abs. 1 OBG NRW bestehen.<br />

Der Puma war zwar objektiv ungefährlich, allerdings ist vom Vorliegen einer<br />

Anscheinsgefahr auszugehen, die der echten Gefahr gleichgestellt ist (s.o.).<br />

II. <strong>Die</strong> Zuständigkeit der Polizei ergibt sich aus § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW, da<br />

vom Vorliegen eines Eilfalles ausgegangen werden kann.<br />

III. Fraglich ist allerdings, ob diese Normen Anspruchsgr<strong>und</strong>lage sein können.<br />

1. Aus der Wortlautfassung des § 14 Abs. 1 OBG NRW („<strong>Die</strong> Ordnungsbehörden<br />

können“) ergibt sich, dass zu Gunsten der Ordnungsbehörden Ermessen<br />

besteht. 12 <strong>Die</strong> Vornahme einer Handlung der Behörde unterliegt damit<br />

der Opportunität; ein Anspruch auf Einschreiten besteht gr<strong>und</strong>sätzlich nicht.<br />

2. Ein Anspruch auf Einschreiten würde aber dann bestehen, wenn eine Ermessensreduktion<br />

auf Null hinsichtlich des Entschließungsermessens vorliegen<br />

würde. 13 Sofern dies der Fall ist, wäre nur die Entscheidung zugunsten des<br />

Einschreitens ermessensfehlerfrei.<br />

a) Zunächst könnte sich hier eine Ermessensreduzierung auf Null aus dem<br />

Fehlen gewichtiger Gegengründe ergeben. Solche sind hier nicht ersichtlich.<br />

Demnach könnte sich bereits daraus ein Anspruch des R auf Einschreiten<br />

ergeben.<br />

b) Daneben könnte sich eine Ermessensreduzierung auf Null aus der drohenden<br />

Gefahr <strong>für</strong> überragend wichtige Rechtsgüter wie Leib <strong>und</strong> Leben ergeben.<br />

14 Zwar war der Puma ungefährlich, sodass eine Gefahr <strong>für</strong> Leib oder<br />

Leben nicht bestand. Allerdings erweckte die Situation den Eindruck, eine<br />

solche Gefahr würde tatsächlich bestehen. Stellt man auf Eingriffsebene die<br />

Anscheinsgefahr der echten Gefahr gleich, so ist es nur konsequent auch hier<br />

11 Vgl. hinsichtlich Generalklauseln anderer B<strong>und</strong>esländer: § 14 BPolG; §<br />

17 I ASOG; I 1 i.V.m. § 3 PolBW; Art. 11 BayPAG; § 13 I OBG i.V.m. § 10<br />

PolGBbG; § 3 HmbSOG; § 10 BremPolG; § 11 HSOG; § 13 SOG M-V; § 11<br />

NSOG; § 9 I 1 Rh-PflPOG; § 8 I SaarlPolG; § 3 I SächsPolG; § 13 i.V.m. § 1<br />

I SOG LSA; § 174 SHLVwG; § 5 I OBG i.V.m. 12 I ThürPAG; § 14 BGSG.<br />

12 OVG Münster, NJW 1997, 1180 (1181); OVG Münster, NVwZ-RR 2004, 689.<br />

13 OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2003, 484.<br />

14 OVG Lüneburg, Urt. v. 29.10.1993, Az. 6 L 3295/91, Rn. 31.


vom Vorliegen einer Gefahr auszugehen. Daneben erscheint es dem Bürger<br />

nicht zumutbar, auf einen Gefahrenverdacht hin eigene Gefahrerforschungs-<br />

maßnahmen zu ergreifen, wenn die zu erforschende Gefahr im Falle ihres tat-<br />

sächlichen Vorliegens von erheblichem Gewicht ist. <strong>Die</strong>s ist aber dann anzu-<br />

nehmen, wenn die Aufklärung der Echtheit des Pumas in Rede steht.<br />

c) Somit war das Entschließungsermessen des P auf Null reduziert.<br />

3. Folglich besteht hier ein Anspruch des R auf Einschreiten gegen die Polizei<br />

aus § 14 Abs. 1 OBG NRW i.V.m. § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW.<br />

C. ABWANDLUNG 2<br />

I. Der V könnte einen Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten aus § 67 PolG<br />

NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW 15 haben.<br />

1. Dazu müsste er gemäß § 19 Abs. 1 OBG NRW 16 als Nichtstörer in An-<br />

spruch genommen worden sein. Das würde zunächst voraussetzen, dass eine<br />

erhebliche gegenwärtige Gefahr abzuwehren war (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 OBG<br />

NRW). Objektiv war der Puma ungefährlich, sodass eine tatsächliche Ge-<br />

fahr nicht vorgelegen hat. Allerdings könnte eine der tatsächlichen Gefahr<br />

gleichstehende Anscheinsgefahr vorgelegen haben. Hier war dem P aber be-<br />

wusst, dass der R sich getäuscht haben könnte, zumal dieser ihn auf seine<br />

Kurzsichtigkeit hingewiesen hatte. Insofern könnte davon ausgegangen wer-<br />

den, dass der P pflichtwidrig nicht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft<br />

hat <strong>und</strong>, obwohl die ihm bekannten Tatsachen diese Annahme nicht ausrei-<br />

chend stützten, von einer Gefahrenlage ausgegangen ist, woraufhin er das Tor<br />

aufbrach. Sieht man den Schwerpunkt der Maßnahme also in dem Aufbre-<br />

chen des Tores zur Gefahrenabwehr, dann läge mithin eine Putativgefahr vor.<br />

<strong>Die</strong> Voraussetzungen der Ermächtigungsgr<strong>und</strong>lagen waren allerdings nicht<br />

erfüllt, da eine Putativgefahr der Gefahr nicht gleichsteht <strong>und</strong> folglich keine<br />

Gefahrenlage bestand. <strong>Die</strong> Maßnahme des P war mithin rechtswidrig. Somit<br />

lag kein polizeilicher Notstand vor, sodass der V nicht als Nichtstörer in An-<br />

spruch genommen worden ist.<br />

2. Ein Ersatzanspruch ergibt sich somit nicht aus § 67 PolG NRW i.V.m. § 39<br />

Abs. 1 lit. a OBG NRW.<br />

II. Der V könnte einen Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten aus § 67<br />

PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW analog haben.<br />

1. Eine analoge Anwendung des § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW würde erfor-<br />

dern, dass die Voraussetzungen der Analogie vorliegen. Es müsste demnach<br />

zunächst eine planwidrige Regelungslücke vorliegen.<br />

a) Eine planwidrige Regelungslücke könnte deswegen bestehen, weil die Ent-<br />

15 Vgl. hinsichtlich Entschädigungsansprüche anderer B<strong>und</strong>esländer: § 55<br />

I PolG BW; Art. 70 I BayPAG; § 38 OBG i.V.m. § 70 PolGBbg; § 56 I Brem-<br />

PolG; § 10 HmbSOG; § 64 I HSOG; § 59 I ASOG; § 72 I SOG M-V; § 80 I<br />

NSOG; § 68 I Rh-PflPOG; § 68 I SaarlPolG; § 52 I SächsPolG; § 69 I SOG<br />

LSA; § 221 I SHLVwG; § 52 OBG i.V.m. § 68 I ThürPAG.<br />

16 Vgl. hinsichtlich Vorschriften anderer B<strong>und</strong>esländer: § 16 ASOG; § 9<br />

PolG BW; Art. 10 BayPAG; § 18 OBG i.V.m. § 7 PolGBbg; § 7 BremPolG; §<br />

10 HmbSOG; § 9 HSOG; § 71 I SOG M-V; § 8 NSOG; § 7 Rh-PflPOG; § 6<br />

SaarlPolG; § 7 SächsPolG; § 10 SOG LSA; § 220 SHLVwG; § 13 OBG i.V.m.<br />

§ 10 ThürPAG.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Fallbearbeitung<br />

schädigung <strong>für</strong> die Erbringung eines Sonderopfers <strong>für</strong> den Fall geregelt ist,<br />

dass der Nichtstörer im Rahmen der Gefahrenabwehr herangezogen wird<br />

(§ 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW direkt). Allerdings sind auch Eingriffe zur Ge-<br />

fahrerforschung bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts zulässig. 17 Wird zu<br />

Lasten des Verdachtsstörers ein rechtmäßiger Gefahrerforschungseingriff<br />

vorgenommen, erfolgt nach den Worten des Gesetzes keine Entschädigung.<br />

<strong>Die</strong> Entschädigung des Verdachtsstörers nach einem rechtmäßigen Gefahrer-<br />

forschungseingriff ist nicht geregelt. Der V wäre hier als Verdachts-Nichtstö-<br />

rer anzusehen, da er zur Erforschung eines Sachverhalts in Anspruch genom-<br />

men wird, bei dessen Vorliegen er als Nichtstörer anzusehen wäre <strong>und</strong> he-<br />

rangezogen werden könnte. Ergibt die Gefahrerforschung, dass keine Gefahr<br />

vorlag, wäre eine Entschädigung nicht möglich. Dadurch würde es der Risiko-<br />

sphäre des Bürgers überantwortet, ob eine Gefahr vorliegt oder nicht, <strong>für</strong> die<br />

er jedenfalls nicht handlungs- oder zustandsverantwortlich wäre. <strong>Die</strong>s über-<br />

zeugt aber nicht, da die ratio der Entschädigung aus der Erbringung eines Son-<br />

deropfers folgt. Ob dieses <strong>für</strong> eine Gefahrenabwehr- oder eine Gefahrerfor-<br />

schungsmaßnahme erbracht wird, ist aus der Sichtweise des Gesetzeszwecks<br />

nicht von Belang. Damit könnte eine planwidrige Regelungslücke vorliegen.<br />

b) <strong>Die</strong>se Regelungslücke besteht aber nur dann, wenn es sich um einen recht-<br />

mäßigen Gefahrerforschungseingriff gehandelt hat. Für rechtswidrige Maß-<br />

nahmen ist eine Entschädigung in § 39 Abs. 1 lit. b OBG NRW geregelt. Da-<br />

mit ist entscheidend, ob es sich bei der Maßnahme des P um einen rechtmä-<br />

ßigen Gefahrerforschungseingriff gehandelt hat. Nimmt man an, der P habe<br />

zwar die Unsicherheit hinsichtlich des Sachverhalts gekannt, das Tor aber nur<br />

aufgebrochen, um diesem Gefahrenverdacht weiter nachzugehen, könnte ein<br />

Gefahrenverdacht vorgelegen haben.<br />

c) Fraglich ist also, ob die Maßnahme des P als Gefahrerforschungseingriff<br />

auf den Gefahrenverdacht hin rechtmäßig gewesen wäre. Das wäre schon<br />

dann zu verneinen, wenn die Inanspruchnahme des V durch das Aufbrechen<br />

des Hoftores jedenfalls unverhältnismäßig gewesen wäre. <strong>Die</strong> Verhältnismäßigkeit<br />

der Maßnahme würde ihre Eignung, Erforderlichkeit <strong>und</strong> Angemessenheit<br />

voraussetzen.<br />

aa) Unzweifelhaft war das Aufbrechen des Tores geeignet, um den Innenhof<br />

zum Zwecke der Erforschung der vermeintlichen Gefahr zu betreten.<br />

bb) Allerdings hätte es auch erforderlich sein müssen, was voraussetzt, dass<br />

kein milderes ebenso geeignetes Mittel zur Verfügung stand. Dem P war allerdings<br />

ausdrücklich mitgeteilt worden, dass der Keller unverschlossen <strong>und</strong><br />

ein Betreten des Innenhofs über diesen Weg unproblematisch möglich sei.<br />

Insofern war ein milderes Mittel verfügbar; dass dieses Mittel zur effektiven<br />

Gefahrerforschung nicht ebenso geeignet gewesen wäre, ist nicht ersichtlich.<br />

<strong>Die</strong> Inanspruchnahme des V war demnach nicht erforderlich <strong>und</strong> daher unverhältnismäßig.<br />

d) Damit war die Maßnahme des P rechtswidrig, sodass hier keine planwidrige<br />

Regelungslücke besteht.<br />

17 Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Auflage<br />

2009, Rn. 478.<br />

103


104<br />

Fallbearbeitung<br />

2. Der Anspruch des V auf Ersatz der Reparaturkosten ergibt sich nicht aus<br />

§ 67 PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. a OBG NRW analog.<br />

III. Ein Anspruch des V auf Ersatz der Reparaturkosten könnte sich aus § 67<br />

PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. b OBG NRW ergeben.<br />

1. Bei der Handlung des P handelte es sich um eine rechtswidrige Maßnahme,<br />

da es <strong>für</strong> eine Maßnahme zur Gefahrenabwehr durch das Vorliegen einer Pu-<br />

tativgefahr an der Gefahr mangelte <strong>und</strong> ein etwaiger Gefahrerforschungsein-<br />

griff jedenfalls unverhältnismäßig war (s.o.).<br />

2. Dem V ist durch die Notwendigkeit, das Hoftor zu reparieren auch ein<br />

Schaden in Form eines unfreiwilligen Vermögensverlustes entstanden.<br />

3. Auf das Verschulden des P kommt es nicht an; bei § 39 Abs. 1 lit. b OBG<br />

NRW handelt es sich um eine verschuldensunabhängige Anspruchs-<br />

gr<strong>und</strong>lage. 18<br />

18 BGH, NVwZ-RR 2009, 363 (364).<br />

SACHVERHALT 1<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

4. Der Anspruch des V auf Ersatz der Reparaturkosten dürfte auch nicht sub-<br />

sidiär gemäß § 39 Abs. 2 lit. a <strong>und</strong> b OBG NRW sein. Hier hat der V jedoch<br />

keinen anderweitigen Ersatz seines Schadens erlangt. Ebenso ist nicht ersicht-<br />

lich, wie die Maßnahme des P die Person oder das Vermögen des V geschützt<br />

haben könnte.<br />

5. Der V hat demnach einen Anspruch auf Ersatz der Kosten <strong>für</strong> die Repara-<br />

tur des Hoftores gemäß § 67 PolG NRW i.V.m. § 39 Abs. 1 lit. b OBG NRW.<br />

IV. Daneben könnte auch ein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff be-<br />

stehen, der früher aus Art. 14 Abs. 3 GG hergeleitet wurde <strong>und</strong> mittlerweile<br />

dem verfassungsrechtlichen Gewohnheitsrecht, das in Form des allgemeinen<br />

Aufopferungsgedankens auf §§ 74, 75 EinlPrALR zurückgeht, 19 entnommen<br />

wird. <strong>Die</strong>s kann aber offenbleiben, da dieser Anspruch wegen seiner Funktion,<br />

etwaige Haftungslücken zu schließen, jedenfalls im Wege der Spezialität von<br />

den besonderen Entschädigungsansprüchen (s.o.) verdrängt würde.<br />

19 Axer, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Stand:<br />

01.04.2011, Art. 14, Rn. 134.<br />

Fortgeschrittene im Strafrecht (Schwerpunkt):<br />

„Leben <strong>und</strong> sterben lassen“<br />

von Dr. Jörg Scheinfeld (Ruhr-Universität Bochum)<br />

Jörg Scheinfeld absolvierte nach seinem Studium an der<br />

Universität Bochum seine Staatsexamina 2000 <strong>und</strong> 2004.<br />

Derzeit ist er ebendort Lehrkraft <strong>für</strong> besondere Aufgaben<br />

<strong>und</strong> habilitiert sich u.a. im Medizinstrafrecht. Er ist Autor<br />

des Buches „Der Kannibalen-Fall – verfassungsrechtliche<br />

Einwände gegen die Einstufung als Mord <strong>und</strong> gegen die<br />

Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe“ (2009) sowie Mit-<br />

autor des Kurzlehrbuchs „Strafprozessrecht“ (2011).<br />

C ist Chefarzt der Chirurgie <strong>und</strong> ein erfahrener Transplantationsmediziner.<br />

Er empfindet starkes Mitleid mit seinem Patienten P, der wegen sei-<br />

ner Niereninsuffizienz akut organbedürftig ist. Sollte P nicht in den näch-<br />

sten Wochen ein Spenderorgan erhalten, wird er sterben. <strong>Die</strong> Chancen<br />

<strong>für</strong> den Erhalt eines solchen Organs stehen <strong>für</strong> P wegen des allgemeinen<br />

Organmangels denkbar schlecht. Obwohl C den P erst seit einigen Monaten<br />

kennt <strong>und</strong> ihn auch erst in fünf intensiven Beratungsgesprächen näher ken-<br />

nen gelernt hat, entschließt er sich, ihm eine seiner Nieren zu spenden. Denn<br />

C findet P auf Anhieb sympathisch <strong>und</strong> beide gehen davon aus, dass sie nach<br />

der Organlebendspende befre<strong>und</strong>et „bleiben“ werden. So kommt es, dass<br />

Oberarzt O seinem Chef C die Niere zum Zwecke der Übertragung auf P ent-<br />

nimmt. Auf eine nähere Aufklärung über die Risiken des Lebendspenders<br />

1 <strong>Die</strong> Aufgabe wurde im WS 2010/2011 an der Ruhr-Universität Bochum<br />

– Vorlesung „Medizinstrafrecht“ im Schwerpunktbereich Strafrecht – als<br />

zweistündige Probeklausur gestellt.<br />

hatte C verzichtet. Weil O einen Scherz des C fehlinterpretiert hatte, ging<br />

er bei der Nierenentnahme irrig davon aus, dass der Multimillionär P eine<br />

Million Euro <strong>für</strong> die Niere an C bezahlt hat. In Wahrheit hatten sich P <strong>und</strong><br />

C, wie gegenüber der Ethikkommission offen gelegt, lediglich darauf verstän-<br />

digt, dass P den operationsbedingten Verdienstausfall erstattet <strong>und</strong> dass er die<br />

Kosten <strong>für</strong> eine Berufsunfähigkeits- <strong>und</strong> eine Risikolebensversicherung des C<br />

trägt. Beide Versicherungsverträge sollen nicht nur spendebedingte, sondern<br />

jedwede Versicherungsfälle abdecken. Allen Beteiligten verheimlicht hatten<br />

C <strong>und</strong> P allerdings, dass C sich nach Drängen des P damit einverstanden er-<br />

klärt hatte, auf dessen Kosten einen vierwöchigen <strong>und</strong> 20.000-Euro-werten<br />

Erholungsurlaub auf Kuba zu verbringen.<br />

Von Kuba zurück geht es C blendend, <strong>und</strong> er nimmt seine Tätigkeit als<br />

Transplantationschirurg wieder auf. Sein erster Fall ist der des herzkranken,<br />

vier Monate alten Säuglings S, der ihn gleich in ein Dilemma stürzt. Sollte<br />

S nicht in den nächsten Tagen ein Spenderherz erhalten, wird er nach ärzt-<br />

lichem Ermessen recht sicher versterben. Für die Gruppe organbedürftiger<br />

Säuglinge ist der Organmangel besonders groß, weil naturgemäß nur sehr we-<br />

nige kindliche <strong>und</strong> damit passende Leichenspendeorgane zur Verfügung ste-<br />

hen. Deshalb ist nicht mehr damit zu rechnen, dass S noch rechtzeitig ein<br />

Leichenherz erhält. All das erfahren M <strong>und</strong> V, die <strong>für</strong> die nächste Woche<br />

die Geburt ihres anenzephalen Sohnes A erwarten. <strong>Die</strong> beiden wollen dem<br />

Schicksal ihres Sohnes einen Sinn geben, <strong>und</strong> sie wünschen, dass man A spä-<br />

ter das Herz entnehme, um es auf S zu übertragen. Nach der Entbindung des<br />

A bestätigt sich die pränatale Diagnose: A atmet zwar spontan, er ist aber ohne<br />

Groß- <strong>und</strong> Mittelhirn zur Welt gekommen. Weil er keinerlei Bewusstsein <strong>und</strong><br />

Empfinden hat, würde er eigentlich – wie in diesen Fällen weltweit prakti-


ziert – unbehandelt sterben gelassen werden. C folgt dem Wunsch von M <strong>und</strong><br />

V <strong>und</strong> entnimmt A das Herz, das ein anderes Chirurgenteam auf S überträgt<br />

<strong>und</strong> ihn damit rettet. Infolge der Entnahme tritt bei A – wie von C als sichere<br />

Folge vorhergesehen – kurz darauf der Ganzhirntod ein. C glaubt sich ange-<br />

sichts der Not des S zu seiner Tat berechtigt.<br />

Prüfen Sie gutachterlich die Strafbarkeit von C <strong>und</strong> O nach TPG <strong>und</strong> StGB!<br />

Etwa erforderliche Strafanträge sind gestellt. Bearbeitervermerk: Falls das<br />

<strong>für</strong> Ihre Lösung relevant werden sollte, gehen Sie davon aus, dass P keinen<br />

Organhandel treibt. – Mit Blick auf die Entnahme von A’s Herz ist nur § 212<br />

StGB zu prüfen.<br />

LöSUNG 2<br />

A. 1. HANDLUNGSABSCHNITT: DIE ENTNAHME VoN C’S NIERE<br />

I. STRAFBARKEIT DES C<br />

1. oRGANHANDEL DURCH DIE VEREINBARUNG DER LEISTUN-<br />

GEN DES P (§§ 18 I, 17 I TPG)<br />

a) Tatbestand<br />

C hat mit seiner Niere Handel getrieben, wenn er in Vorteilserwartung<br />

(eigennützig) auf die Übertragung der Niere hingewirkt hat. 3<br />

aa) Keinen Vorteil stellt der Nachteilsausgleich dar, also der Ausgleich der-<br />

jenigen finanziellen Einbußen, die der Lebendspender anlässlich der Spende<br />

hinnehmen muss. Folglich liegt im Ausgleich des Verdienstausfalles kein<br />

Vorteil.<br />

bb) Was die beiden Versicherungsverträge angeht, so liegt in der Absicherung<br />

von Risiken, die mit der Lebendspende nichts zu tun haben, streng genom-<br />

men ein geldwerter Vorteil. Indes wollte der Gesetzgeber ausdrücklich eine<br />

Berufsunfähigkeitsversicherung zulassen. 4 Theoretisch ließen sich solche<br />

Versicherungen zwar begrenzen auf die spendebedingten Risiken, doch wäre<br />

damit kein echter Nachteilsausgleich geschaffen. Im Versicherungsfall kann<br />

es unklar <strong>und</strong> nicht nachweisbar sein, dass der Schaden auf die Lebendspende<br />

zurückgeht. Zum Zeitpunkt der Lebendspende bliebe es daher bei strenger<br />

Begrenzung der Versicherungsverträge ungewiss, ob eine spendebedingte<br />

Berufsunfähigkeit vom Versicherer aufgefangen werden würde. Deshalb<br />

bleibt nichts anderes übrig, als die Gewährung eines Vorteils zu tolerieren<br />

<strong>und</strong> also „Eigennutz“ zu verneinen, wenn dieser Vorteil – wie bei den beiden<br />

Versicherungsverträgen – in einem untrennbaren Zusammenhang<br />

mit dem akzeptierten Nachteilsausgleich steht. Mit dem Vereinbaren der<br />

Versicherungsverträge hat C also nicht eigennützig gehandelt <strong>und</strong> keinen<br />

Handel getrieben.<br />

2 Zur Klausurmethode im Strafrecht allgemein: Klaas/Scheinfeld,<br />

Jura 2010, 542 ff.<br />

3 Rixen, in: Höfling, TPG, 2003, § 17 Rn. 17 ff.; König, in: Schroth/König/<br />

Gutmann/Oduncu, TPG, 2005, §§ 17, 18 Rn. 19, 24; Tag, in: Münchener<br />

Kommentar, StGB, Band 5, § 18 Rn. 16, 18.<br />

4 Gesetzentwurf, BT-Drucksache 13/4355, S. 20 rechte Spalte unten.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Fallbearbeitung<br />

cc) Nicht mehr als Nachteilsausgleich angesehen werden kann der Erholungsurlaub.<br />

Das gilt auch vor dem Hintergr<strong>und</strong>, dass die „Erholung“ erst durch<br />

die Lebendspende nötig wurde. Denn C hätte sich auch zuhause erholen können.<br />

Der geldwerte Aufenthalt auf Kuba ist daher gr<strong>und</strong>sätzlich ein Vorteil im<br />

Sinne der Eigennutzdefinition. 5<br />

Eine teleologische Betrachtung könnte indes zur Verneinung des Merkmals<br />

führen. Der Gesetzgeber wollte mit dem Organhandelsverbot in erster Linie<br />

den Spender <strong>und</strong> den Empfänger schützen, jenen vor Ausbeutung finanzieller<br />

Not, diesen vor Ausbeutung seiner ges<strong>und</strong>heitlichen Not. 6 Da C als Chefarzt<br />

aber nicht in finanzieller Not steckt <strong>und</strong> umgekehrt der vermögende P wegen<br />

der freiwilligen (<strong>und</strong> dem C aufgedrängten) Bezahlung des Erholungsurlaubs<br />

nicht als „ausgebeutet“ gelten darf, sind diese Schutzgüter nicht beeinträchtigt.<br />

Auch dürfte C nicht korrumpiert worden sein von der Aussicht auf<br />

den teuren Erholungsurlaub; die 20.000 Euro hätte er weitaus angenehmer<br />

als durch die Lebendspende verdienen können. – Vom Handelsverbot geschützt<br />

wird aber auch die Seriosität des Transplantationswesens. 7 Sie könnte<br />

Schaden nehmen, wenn die Bezahlung eines derartigen Erholungsurlaubs bekannt<br />

werden würde. Es könnte der Eindruck entstehen, dass sich begüterte<br />

Organempfänger eher einen Lebendspender geneigt machen können, weil sie<br />

immerhin attraktive Erholungsziele „als Gegenleistung“ zu bieten haben. Weil<br />

demnach der Schutzzweck der Seriosität des Transplantationswesens tangiert<br />

ist, muss die Vereinbarung in Sachen „Erholungsurlaub“ als Handeltreiben<br />

des C eingestuft werden. 8<br />

dd) C wusste, dass er eine Gegenleistung vereinbart, er handelte damit vorsätzlich<br />

im Sinn des § 15 StGB, der wie der gesamte Allgemeine Teil des<br />

Strafgesetzbuches über Art. 1 I EGStGB auch im Nebenstrafrecht gilt.<br />

b) Rechtswidrigkeit<br />

Eine Rechtfertigung des C nach § 34 StGB scheitert jedenfalls daran, dass er<br />

die <strong>für</strong> P bestehende Gefahr anders hätte abwenden können, nämlich durch<br />

unentgeltliche Organspende.<br />

c) Schuld<br />

Bei C als Transplantationsmediziner ist davon auszugehen, dass er das Unrecht<br />

seiner Tat erkannt hat (vgl. § 17 S. 1 StGB), zumal er die Vereinbarung des Erholungsurlaubs<br />

den an der OP Beteiligten verheimlicht hatte. – Da § 35 StGB<br />

(wie schon § 34 StGB) zumindest an der Möglichkeit unentgeltlicher Abwendung<br />

der <strong>für</strong> P bestehenden Gefahr scheitert, handelte C insgesamt schuldhaft.<br />

5 Der Gesetzgeber hat mit dem Begriff des Handeltreibens anknüpfen wollen<br />

an das Merkmal im Betäubungsmittelrecht. Und dort ist ein Umsatzfördern<br />

zur Erlangung einer Flugreise als Handeltreiben eingestuft worden.<br />

6 Gesetzentwurf, BT-Drucksache 13/4355, S. 16, 29.<br />

7 König (Fn. 3), Vor §§ 17, 18 Rn. 20.<br />

8 Bearbeiterhinweis: <strong>Die</strong> im Text genannten Aspekte zum Willen des Gesetzgebers<br />

sind in der begleitenden Vorlesung ausführlich behandelt worden.<br />

Deshalb sollten die Kandidaten wissen, dass der Nachteilsausgleich<br />

gestattet ist (Versicherungsverträge). – <strong>Die</strong> Bearbeiter dürfen das Handeltreiben<br />

insgesamt verneinen: Den Erholungsurlaub können sie als eine unter<br />

den reichen Beteiligten noch angemessene Dankesgabe einstufen, die<br />

die Seriosität des Transplantationswesens nicht antastet. Sie dürfen auch<br />

mit dem B<strong>und</strong>essozialgericht das Anknüpfen des Gesetzgebers an das Betäubungsmittelstrafrecht<br />

<strong>für</strong> verfehlt erachten <strong>und</strong> eine eigenständige, allein<br />

dem TPG zu entnehmende <strong>und</strong> dann engere Auslegung des Handeltreibens<br />

bevorzugen (BSG, JZ 2004, 464, 465 f.).<br />

105


106<br />

Fallbearbeitung<br />

d) Strafzumessung<br />

Von Strafe kann abgesehen werden oder sie kann gemildert werden (§ 18 IV TPG).<br />

e) Ergebnis<br />

C hat schuldhaft einen Organhandel begangen (§ 18 I TPG).<br />

2. ANSTIFTUNG ZUM SICH-üBERTRAGEN-LASSEN DES GEHAN-<br />

DELTEN oRGANS (P) DURCH DAS VEREINBAREN DES ERHo-<br />

LUNGSURLAUBS (§ 18 I TPG)<br />

<strong>Die</strong>ses Delikt tritt gegebenenfalls hinter dem Handeltreiben zurück (mitbe-<br />

strafte Nachtat).<br />

3. ANSTIFTUNG DES o ZU DESSEN TATEN IM ZUSAMMENHANG<br />

MIT DER oRGANENTNAHME<br />

a) Eine Anstiftung zur Übertragung des gehandelten Organs (§ 18 I TPG)<br />

scheitert jedenfalls am Fehlen des Vorsatzes (§§ 26, 16 I 1 StGB). C wusste<br />

nicht, dass O von einem Organhandel ausging (die Vereinbarung des<br />

Erholungsurlaubs hatten sie verheimlicht), er stellte sich also keine vorsätz-<br />

liche Tat des O vor.<br />

b) Was O’s (möglichen) Verstoß gegen die Spenderkreisbegrenzung an-<br />

geht (§ 8 I 2 TPG), so ist C jedenfalls nach dem Gedanken der notwendigen<br />

Teilnahme straflos: Ein Verstoß gegen § 19 I Nr. 2 mit § 8 I 2 TPG setzt vo-<br />

raus, dass der Lebendspender mitwirkt. Da diese Mitwirkung nicht geson-<br />

dert unter Strafe gestellt ist, würde diese gewollte Privilegierung über die<br />

Anstifterstrafe umgangen.<br />

II. STRAFBARKEIT DES o<br />

1. oRGANENTNAHME UNTER VERLETZUNG DER AUFKLäRUNGS-<br />

PFLICHT DURCH DAS ENTFERNEN DER NIERE DES C (§ 19 I NR. 1<br />

MIT § 8 I 1 NR. 1B TPG)<br />

Da O die Niere des C entnommen hat, ohne dass dieser zuvor im Sinn des<br />

§ 8 II 1 u. 2 TPG aufgeklärt worden ist, handelte O nur dann tatbestands-<br />

los, wenn C wirksam auf eine Aufklärung verzichtet hat. Ein solch wirk-<br />

samer Verzicht ist zu bejahen: Zum einen bedurfte C als erfahrener<br />

Transplantationsmediziner der an sich erforderlichen Aufklärung nicht;<br />

er kannte bereits bestens alle Risiken. Zum andern ist trotz des scheinbar<br />

strikten Wortlauts des § 8 I (Organentnahme ist „nur zulässig, wenn... nach<br />

Absatz 2 Satz 1 <strong>und</strong> 2 aufgeklärt worden ist“) ein Aufklärungsverzicht gestat-<br />

tet. <strong>Die</strong>s erzwingt das Selbstbestimmungsrecht des Spenders; sonst würde<br />

man sich in Widersprüche verwickeln, da in der sonstigen Medizin ein<br />

Aufklärungsverzicht sogar bei viel schwerer wiegenden Eingriffen zulässig ist. 9<br />

– <strong>Die</strong>ses Delikt hat O daher nicht begangen.<br />

2. oRGANENTNAHME UNTER VERLETZUNG DER SPENDERKREIS-<br />

BEGRENZUNG DURCH DAS ENTFERNEN DER NIERE DES C<br />

(§ 19 I NR. 2 MIT § 8 I 2 TPG)<br />

9 Siehe BGH NJW 1973, 556, 558.<br />

a) Tatbestand<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

O hat die Niere des C entnommen. <strong>Die</strong>s tat er unter Verletzung der<br />

Spenderkreisbegrenzung, wenn C dem P nicht in besonderer persön-<br />

licher Verb<strong>und</strong>enheit offenk<strong>und</strong>ig nahe stand (§ 8 I 2 TPG). Das „beson-<br />

dere“ der persönlichen Verb<strong>und</strong>enheit sieht der Gesetzgeber in einer gewach-<br />

senen Beziehungsgeschichte, die aus häufigen engen <strong>und</strong> sehr persönlichen<br />

Kontakten besteht (etwa eheähnliches Lebensverhältnis, enge Fre<strong>und</strong>schaft). 10<br />

An einer solch „gewachsenen“ Beziehung fehlt es bei C <strong>und</strong> F. <strong>Die</strong> fünf<br />

Beratungsgespräche genügen da<strong>für</strong> nicht. Demnach wäre die qualifizierte<br />

Nähebeziehung zu verneinen.<br />

Das BSG hat allerdings in seiner Entscheidung zur Überkreuzlebendspende<br />

den Standpunkt vertreten, es genüge (jedenfalls in der besonderen Situation<br />

der Überkreuzspende), wenn die Beteiligten erwarten, dass ihre Beziehung in<br />

der Zukunft als eine enge fortbesteht. 11<br />

So liegt es bei C <strong>und</strong> F, die davon ausgehen, dass sie Fre<strong>und</strong>e „bleiben“. Indes<br />

ist der Ansatz abzulehnen. Mag er auch in der Sache <strong>und</strong> rechtspolitisch vorzugswürdig<br />

sein, so missachtet er doch den eindeutigen Gesetzgeberwillen.<br />

Und das steht dem Rechtsanwender nicht zu, weil sich die Gesetzbindung<br />

im Sinn der Art. 97 I u. 20 III GG auf den durch Auslegung ermittelbaren<br />

Gesetzesinhalt erstreckt. 12 Es fehlt folglich am nötigen Näheverhältnis zwischen<br />

C <strong>und</strong> P. – Weil O auch diesen Umstand kannte, handelte er vorsätzlich.<br />

b) Rechtswidrigkeit<br />

Zugunsten des O könnte § 34 StGB eingreifen.<br />

aa) Objektive Rechtfertigung<br />

(1) P befand sich in einer zugespitzten Gefahr <strong>für</strong> sein Leben, die zumindest<br />

als – dem § 34 StGB genügende – gegenwärtige Dauergefahr einzustufen ist.<br />

Weil kein anderes Organ zur Verfügung stand, konnte O die <strong>für</strong> P bestehende<br />

Gefahr auch nicht anders abwenden als durch die Übertragung von C’s Niere.<br />

(2) Das Überlebensinteresse des P müsste die Allgemeininteressen am<br />

Unterbleiben der Organübertragung wesentlich überwiegen. Für P fällt mit<br />

großem Gewicht sein Lebensgr<strong>und</strong>recht in die Waagschale. Dennoch würden<br />

einem wesentlichen Überwiegen seines Überlebensinteresses die gesetzlichen<br />

Wertungen des TPG entgegenstehen, wenn sie – so wird argumentiert<br />

– die zulässigen Organübertragungen abschließend regelten. Das ist aber<br />

nicht der Fall. Der Gesetzgeber selbst hat <strong>für</strong> den Organhandel <strong>und</strong> dort mit<br />

10 Schroth, MedR 1999, 67 f.<br />

11 BSGE 92, 19 ff. = BSG, JZ 2004, 464, 468 Anmerkung: Bei einer „Überkreuzlebendspende“<br />

spendet von zwei (meist verheirateten) Paaren jeweils<br />

der Ges<strong>und</strong>e dem Organbedürftigen des anderen Paares ein Organ. <strong>Die</strong><br />

Gründe da<strong>für</strong> sind medizinischer Art: <strong>Die</strong> Spender können ihrem jeweiligen<br />

(Ehe-)Partner nicht spenden, weil die Gewebe nicht kompatibel sind. –<br />

Nach Auffassung des BSG ist die im Zeitpunkt der Operation in § 8 I 2 TPG<br />

geforderte „besondere persönliche Verb<strong>und</strong>enheit“ weit auszulegen, es<br />

reiche aus, dass der im Vorfeld der Transplantation tätige Arzt eine hinreichend<br />

intensive, gefestigte <strong>und</strong> auf Dauer angelegte Beziehung eindeutig<br />

feststellen konnte.]<br />

12 Vgl. bei Gutmann, in: Schroth/König/Gutmann/Oduncu, TPG, 2005,<br />

§ 8 Rn. 36 ff. – Im Ergebnis halte ich aber eine teleologische Extension<br />

der Spenderkreisbestimmung <strong>für</strong> richtig. <strong>Die</strong>ses Ergebnis angemessen zu<br />

begründen, raubt in dieser Klausur zu viel Zeit <strong>für</strong> die übrigen Probleme.


Blick auf den Organempfänger ausdrücklich die Anwendung des § 34 StGB<br />

<strong>für</strong> möglich erklärt. 13 Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> wäre es widersprüchlich bei<br />

Überschreitung des zulässigen Spenderkreises eine Rechtfertigung des Arztes<br />

strikt auszuschließen: § 34 StGB stellt nicht ab auf die persönliche Zwangslage<br />

des Handelnden (vgl. § 35 StGB), er schließt vielmehr objektiv das Unrecht aus,<br />

er erlaubt die Tat <strong>und</strong> gilt daher (im Organhandelsfall wie sonst auch) nicht nur<br />

<strong>für</strong> den Organempfänger, sondern <strong>für</strong> jeden, der die Gefahr nicht anders ab-<br />

wenden kann. Allerdings genügt nicht schon jeder „kleine Notstand“ <strong>für</strong> die<br />

Anwendung des § 34 StGB, denn sonst würden – wegen des stets bestehenden<br />

Organmangels – die Wertungen des TPG tatsächlich leerlaufen; hinreichend ist<br />

aber jedenfalls die bei P vorliegende zugespitzte Todesgefahr.<br />

Ist demnach § 34 StGB gr<strong>und</strong>sätzlich anwendbar, fällt zugunsten des P weiter<br />

entscheidend ins Gewicht, dass die Spenderkreisbegrenzung ohnehin bedenk-<br />

lich weit in das Selbstbestimmungsrecht des Spendewilligen (Art. 2 I GG) <strong>und</strong> in<br />

die Rechte des Organempfängers eingreift (Art. 2 II 1GG): <strong>Die</strong> Norm verwehrt<br />

dem unschuldig in Not geratenen Organbedürftigen die Hilfe durch einen bereitstehenden<br />

Retter. – Da zudem an der Freiwilligkeit von C’s Spendeentschluss<br />

keinerlei Zweifel bestehen, ist auch ein wesentlicher Schutzzweck des § 8 I 2 TPG<br />

nicht berührt, also eines der Allgemeininteressen gar nicht „beeinträchtigt“.<br />

Soll die Tat des O rechtmäßig genannt werden können, muss auch die Verletzung<br />

des Organhandelsverbots in die Interessenabwägung eingestellt werden.<br />

Bei der hier geprüften objektiven Rechtfertigungslage interessiert nur<br />

die Vereinbarung des Erholungsurlaubs. Der Unwert dieser Vereinbarung ist<br />

denkbar gering. Deshalb bleibt es dabei, dass das Individualinteresse des P<br />

die Allgemeininteressen wesentlich überwiegt. Denn nach § 34 StGB zählt als<br />

Abwägungsgesichtspunkt insbesondere der Grad der den Rechtsgütern drohenden<br />

Gefahren. Insoweit ist der Gefahrengrad bei P’s Überlebensinteresse<br />

sehr hoch, wohingegen die Allgemeininteressen nur ganz abstrakt gefährdet<br />

werden – letztlich lässt sich eine Beeinträchtigung der Seriosität des<br />

Transplantationswesens nicht messen. In objektiver Hinsicht liegen daher die<br />

Voraussetzungen des § 34 S. 1 StGB vor.<br />

(3) Weil eine Verletzung der Würde eines Beteiligten fernliegt, scheitert die<br />

Rechtfertigung nicht an der Angemessenheitsklausel des § 34 S. 2 StGB. 14<br />

bb) Subjektive Rechtfertigung<br />

Fraglich ist, ob sich O’s Irrtum über die vereinbarte Leistung (eine Million<br />

Euro) so auswirkt, dass er sich subjektiv kein wesentliches Überwiegen von<br />

P’s Überlebensinteresse vorstellte. Doch dürfte sich an der Bewertung nichts<br />

ändern. Der vermögende P wäre auch bei dieser Sachlage noch nicht ausgebeutet<br />

worden (<strong>und</strong> ihn vor Ausbeutung zu schützen, würde bedeuten,<br />

ihn sogar zu Tode zu schützen); obwohl C bei dem Betrag von einer Million<br />

Euro sich vielleicht hätte korrumpieren lassen, bliebe seine Entscheidung<br />

doch nach rechtlichen Kriterien „frei“ <strong>und</strong> „eigenverantwortlich“. Allein<br />

die Seriosität des Transplantationswesens hätte mehr zu leiden, wenn O’s<br />

Annahme stimmte. Doch auch dieses (immer noch) abstrakte Interesse der<br />

Gesellschaft wird wesentlich überwogen vom Überlebensinteresse des P.<br />

Denn sonst ergäbe sich am Ende, dass P sein Leben opfern muss, um aus<br />

Gründen der Nutzenmaximierung der Seriosität des Transplantationswesens<br />

zu <strong>Die</strong>nsten zu sein. – § 34 S. 2 StGB steht wiederum nicht entgegen.<br />

13 Gesetzentwurf, BT-Drucksache 13/4355, S. 31 linke Spalte.<br />

14 Siehe zu dieser Deutung des § 34 S. 2 StGB bei Roxin, AT I, 2006, § 16<br />

Rn. 91 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Fallbearbeitung<br />

Bearbeiterhinweis: Für den Ausschluss des vollendeten Vorsatzdeliktes<br />

kommt es nur darauf an, ob die objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgr<strong>und</strong>es<br />

vorliegen. In objektiver Hinsicht hat O nämlich so oder<br />

so keinen Unwert geschaffen, sondern sich erlaubt verhalten (vereinbart war<br />

ja nur der Erholungsurlaub <strong>und</strong> insoweit überwiegt das Überlebensinteresse<br />

des P wesentlich). Fehlt somit das objektive Unrecht, bleibt allenfalls eine<br />

Versuchsstrafbarkeit (§ 19 Abs. 4 TPG), nicht aber das komplette Unrecht des<br />

Vorsatzdeliktes. 15<br />

c) Ergebnis<br />

Nach allem ist O nach § 34 StGB (objektiv) gerechtfertigt.<br />

Bearbeiterhinweis: Vertretbar ist auch die Verneinung des § 34 StGB.<br />

Bearbeiter, die dabei Aspekte der Menschenwürde betonen, müssen erkennen,<br />

dass nicht der subjektiv-rechtliche Gehalt des Gr<strong>und</strong>rechts betroffen ist, sondern<br />

nur der objektiv-rechtliche (das Menschenbild). – <strong>Die</strong> Bearbeiter dürfen<br />

§ 8 I 2 TPG <strong>für</strong> verfassungswidrig erklären <strong>und</strong> § 34 StGB dann im Wege verfassungskonformer<br />

Auslegung anwenden.<br />

3. oRGANüBERTRAGUNG TRoTZ ENTGELTLICHER LEBEND-<br />

SPENDE DURCH DAS ENTFERNEN DER NIERE DES C (§ 18 I MIT<br />

§ 17 II TPG)<br />

a) Tatbestand<br />

aa) O hat ein Organ von C auf P „übertragen“, <strong>und</strong> dieses Organ war Gegen-<br />

stand eines Organhandels (s.o. zum Erholungsurlaub).<br />

bb) Den entsprechenden Vorsatz hatte er nur, wenn er diesen Umstand bei<br />

der Organübertragung „kannte“ (e contrario aus § 16 I 1 StGB). Weil O sich<br />

irrig eine andere Vereinbarung zwischen C <strong>und</strong> P vorstellte (eine Million<br />

Euro statt Erholungsurlaub), ist hier fraglich, welcher Umstand zum gesetz-<br />

lichen Tatbestand gehört: der abstrakte, dass C überhaupt einen unerlaubten<br />

Vorteil erhalten sollte, oder der konkrete, dass er die Erholungsreise erhal-<br />

ten sollte. Vorzugswürdig ist die abstrakte Deutung. Für den Transplanteur<br />

macht es keinen Unterschied, ob er weiß, welches Entgelt vereinbart worden<br />

ist, solange er – wie O – von einem unerlaubten Entgelt ausgeht. Denn wenn<br />

die Schwelle der Unerlaubtheit überschritten ist, darf der Transplanteur das<br />

Organ (vorbehaltlich einer Notstandslage) nicht übertragen, einerlei wie weit<br />

die Grenze des Erlaubten überschritten worden ist. Folglich „kannte“ O den<br />

Umstand, dass das Organ des C gehandelt worden ist. 16<br />

b) Rechtswidrigkeit<br />

Auch <strong>für</strong> dieses Delikt greift die Rechtfertigung gemäß § 34 StGB.<br />

Bearbeiterhinweis: Wer die Rechtfertigung nur in objektiver Hinsicht an-<br />

nimmt <strong>und</strong> also bei Unterstellung der Millionenzahlung verneint, der muss<br />

das Versuchsunrecht bejahen (§ 18 I, III TPG). – Für O wegen seines Gehaltes<br />

Organhandel zu prüfen, ist entbehrlich (vgl. § 17 I Nr. 1 TPG).<br />

15 Herzberg, JA 1986, 191, 193 f.; Frisch, Lackner-FS 1987, S. 113, 138 ff.<br />

16 Allgemein zu diesen Vorsatzfragen Schlehofer, Vorsatz <strong>und</strong> Tatabweichung,<br />

1996.<br />

107


108<br />

Fallbearbeitung<br />

4. KöRPERVERLETZUNGSDELIKTE DURCH DAS ENTFERNEN<br />

DER NIERE<br />

Körperverletzungsdelikte des StGB scheiden aus, weil das TPG im Verhältnis<br />

zu ihnen eine abschließende Sonderregelung trifft. Der Gesetzgeber sah mit<br />

den Strafnormen des TPG diejenigen Handlungen erfasst, die auf dem Feld der<br />

Organtransplantation Strafe verdienen. <strong>Die</strong>se <strong>und</strong> andere Differenzierungen<br />

würden ausgehebelt, wendete man die allgemeinen Körperverletzungsdelikte an. 17<br />

B. 2. HANDLUNGSABSCHNITT: DIE ENTNAHME VoN A’S HERZ<br />

(§ 212 I STGB)<br />

I. TATBESTAND<br />

Bei A handelte es sich zum Zeitpunkt der Entnahme trotz der Anenzephalie<br />

um einen lebenden Menschen, denn der Hirnstamm funktionierte noch, so-<br />

dass nicht der Ganzhirntod eingetreten war. Mit der Entnahme des Herzens<br />

hat C zurechenbar <strong>und</strong> wissentlich A’s Tod verursacht.<br />

Hinweis: Bei Säuglingen mit Anenzephalie hat sich die Schädeldecke nicht ge-<br />

schlossen <strong>und</strong> es fehlen – in unterschiedlichem Umfang – Teile des Gehirns;<br />

Ganzhirntod ist nach der Definition der B<strong>und</strong>esärztekammer ein Zustand der<br />

irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns <strong>und</strong><br />

des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung noch aufrechterhal-<br />

tenen Herz- <strong>und</strong> Kreislauffunktion, beim Teilhirntod hingegen sind nur ein-<br />

zelne Teile des Gehirns erloschen – Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates<br />

der B<strong>und</strong>esärztekammer vom 24.07.2002; zu den normativen Fragen des gel-<br />

tenden Rechts lesenswert Merkel, Jura 1999, 113 ff.<br />

II. RECHTSWIDRIGKEIT<br />

1. EINWILLIGUNG DER SoRGEBERECHTIGTEN ELTERN<br />

Eine Rechtfertigung wegen der Zustimmung der Eltern scheidet aus, weil<br />

diese nicht (allein aus dem Sorgerecht) die Befugnis haben, ihr Kind zum<br />

Nutzen anderer töten zu lassen.<br />

2. NoTSTAND (§ 34 STGB)<br />

a) S befand sich in einer Gefahr <strong>für</strong> sein Leben, die wegen der Unwahr-<br />

scheinlichkeit einer noch rechtzeitigen Leichenspende nicht anders abwend-<br />

bar war.<br />

b) Für S streitet – als „geschütztes“ Interesse – mit großem Gewicht sein<br />

Überlebensinteresse. Fraglich ist, welche Interessen durch die Tat des C über-<br />

haupt „beeinträchtigt“ werden: A selbst ist gar nicht in der Lage, Interessen zu<br />

haben, ihm kann nichts angetan, er kann nicht verletzt werden. A’s Eltern waren<br />

einverstanden, ihre Pietätsinteressen sind nicht betroffen.<br />

Allein fruchtbar machen kann man als beeinträchtigtes Interesse einesder<br />

17 Niedermair, Körperverletzung mit Einwilligung <strong>und</strong> die Guten Sitten,<br />

1999, S. 222 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Allgemeinheit. <strong>Die</strong> Gesellschaft will nicht, dass aktiv-vorsätzliche Tötungshandlungen<br />

stattfinden. Es handelt sich um ein Interesse am Tabu, damit die<br />

Norm des Tötungsverbots möglichst ungeschmälert dasteht <strong>und</strong> eine starke<br />

(symbolische) Wirkung entfalten kann. 18 <strong>Die</strong>se Sicht ist aber mit einem Makel<br />

behaftet. Denn wenn das Tötungsverbot seinem eigentlichen Sinn nach nur<br />

die Tötung von erlebensfähigen Menschen verbietet, wie soll es dann durch<br />

die Tötung eines erlebensunfähigen Menschen in Frage gestellt werden? Es<br />

kommt hinzu, dass wäre A ganzhirntot, ihm zweifellos (mit Zustimmung der<br />

Eltern) das Herz hätte entnommen werden dürfen. Da es wie gesagt <strong>für</strong> A<br />

keinen Unterschied macht, ob sein Ganzhirntod schon eingetreten ist, müsste<br />

S bei Nichtzulassung der Herzentnahme letztlich deswegen sterben, weil die<br />

Gesellschaft einen „unbewohnten“ Organismus schützt. Und da dieser Schutz<br />

nur zur Mehrung gesellschaftlichen Nutzens gewährt wird (ungeschmälertes<br />

Verbot der aktiven Tötung), müsste S bei Nichtanwendung des § 34 StGB<br />

letztlich nur deswegen sterben, weil es anderen (der Gesellschaft) Vorteil<br />

bringt. Eine solche utilitaristische Opferung f<strong>und</strong>amentaler Interessen (hier<br />

des Lebensinteresses) zugunsten anderer ist aber selbst weitgehend tabu. Das<br />

findet etwa seinen Ausdruck in dem Lehrsatz: (erlebensfähiges) Leben gegen<br />

(erlebensfähiges) Leben sei nicht abwägbar. 19<br />

In dieser Situation entscheiden muss daher wiederum der Grad der den<br />

Interessen <strong>und</strong> Rechtsgütern drohenden Gefahren: Bei S ist die Gefahr im<br />

starken Maße zugespitzt, wohingegen die Gefahren des Tabubruchs, der<br />

vielleicht (!) zu einer Normerosion führt, denkbar abstrakt sind. In dieser<br />

Situation überwiegt daher das Lebensinteresse des S wesentlich. 20<br />

c) <strong>Die</strong> Tat des C müsste auch ein angemessenes Mittel der Gefahr-abwendung<br />

sein (§ 34 S. 2 StGB). Das wäre nur zu verneinen, wenn mit der Tat A’s<br />

Menschenwürde verletzt wird. Bei üblichem Verständnis der Menschenwürde,<br />

wonach niemand zum „bloßen Objekt“ gemacht <strong>und</strong> also nicht zu<br />

Zwecken anderer instrumentalisiert werden darf, liegt die Annahme einer<br />

Menschenwürdeverletzung zunächst nicht fern. Denn A wird ja zum Zwecke<br />

der Rettung des S getötet <strong>und</strong> im gängigen Sinn des Ausdrucks „instrumentalisiert“.<br />

Bei dieser Sicht wird aber übersehen, dass die gängige Definition<br />

auf den erlebensfähigen Menschen zugeschnitten ist, dessen Interessen man<br />

mit der Instrumentalisierung durchkreuzt. Da A aber keine Interessen hat,<br />

können auch keine Interessen durchkreuzt werden. A steht in dieser Hinsicht<br />

vielmehr dem Ganzhirntoten gleich. Und weil es bei ihm erlaubt ist, Organe<br />

zu entnehmen (§ 4 TPG), kann auch in der Entnahme des Herzens des A<br />

keine Menschenwürdeverletzung liegen. 21<br />

d) Subjektiv handelte C in Kenntnis der rechtfertigenden Umstände.<br />

e) C ist folglich nicht strafbar wegen Totschlags, sondern nach § 34 StGB<br />

gerechtfertigt.<br />

18 Merkel, Schroeder-FS 2006, S. 297, 308 f.<br />

19 Erb, in: Münchener Kommentar, StGB, Band 1, 2003, § 34 Rn. 114.<br />

20 Bearbeiterhinweis: In der Vorlesung wurde den Studierenden nahegelegt,<br />

§ 34 StGB in solchem Fall zu verneinen. <strong>Die</strong> Begründung lautete, dass über<br />

einen derartigen Tabubruch nicht der Rechts-anwender unter Anwendung<br />

des vagen § 34 StGB, sondern der Gesetzgeber unter Schaffung einer speziellen<br />

Norm entscheiden müsse (Merkel, Früh-euthanasie, 2001, S. 621 ff., 629).<br />

21 Streng genommen müsste man fragen, wer denn instrumentalisiert wird.<br />

In A’s Körper ist ja niemand anzutreffen, den man instrumentalisieren könnte.<br />

Wen könnten wir überhaupt als A auch nur ansprechen?


SACHVERHALT 1<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Fallbearbeitung<br />

examenskandidaten im Zivilrecht: „Bruno, der Problembär“<br />

von Rechtsanwalt Christian Friedrich Majer (Tübingen)<br />

In den italienischen Alpen in der Region Trentino befindet sich der Naturpark<br />

Adamello-Brenta. In diesem Park, welcher sich über eine Fläche von ca. 620<br />

km2 ausdehnt, leben die letzten in den Alpen vorkommenden Braunbären.<br />

<strong>Die</strong>se werden überwacht, bei Verhaltensauffälligkeit eingefangen <strong>und</strong> in ein<br />

Tiergehege gebracht. Der jeweilige Aufenthaltsort der Bären ist aber nicht bekannt.<br />

Im Rahmen eines EU-Projektes wurden in den slowenischen Alpen<br />

durch Mitarbeiter der dortigen Behörden gefangene Braunbären den italienischen<br />

Behörden übergeben, die die Bären im Naturpark angesiedelt haben,<br />

um die Population aufzustocken. Von den in Slowenien gefangenen Braunbären<br />

stammt auch der Braunbär JJ1, genannt „Bruno“ ab. <strong>Die</strong>ser brach im<br />

Mai 2006 aus dem Naturpark aus. Das Gebiet, auf dem sich der Naturpark befindet,<br />

steht im Eigentum der Italienischen Republik.<br />

Auf seiner Wanderung kam Bruno in die Nähe eines Dorfes bei Garmisch-<br />

Partenkirchen in Bayern. Dort sprang er plötzlich aus dem Wald auf die<br />

Straße, sodass der heranfahrende 24-jährige Autofahrer F auf die Gegenfahrbahn<br />

auswich <strong>und</strong> mit dem entgegenkommenden Radfahrer R kollidierte. R<br />

wurde schwer verletzt. Der Pkw wurde beschädigt, ebenso das darin befindliche<br />

Notebook, welches der Ehefrau des F (E) gehörte. Der Pkw stand im Eigentum<br />

des Vaters V von F, auf den der Pkw auch zugelassen war, während F<br />

den Pkw zu seiner ständigen Verfügung hatte <strong>und</strong> allein nutzte sowie <strong>für</strong> die<br />

Kosten <strong>für</strong> Benzin <strong>und</strong> Reparaturen aufkam. V bezahlte Versicherung <strong>und</strong><br />

Steuer.<br />

Nachdem Bruno in der Folgezeit einige Schafe getötet, in mehreren Hühnerställen<br />

<strong>und</strong> Bienenstöcken in Tirol (Österreich) <strong>und</strong> Bayern Schaden angerichtet<br />

hatte, in mehreren Ortschaften aufgetaucht war <strong>und</strong> alle Fangversuche<br />

umsonst waren, wurden von den zuständigen Behörden Abschussgenehmigungen<br />

erteilt. Am 26. Juni 2006 wurde Bruno schließlich in der Nähe der<br />

Rotwand in den bayerischen Alpen unter heftigem Protest der Öffentlichkeit<br />

vom Jäger (J) erschossen. Ein Schuss mit Betäubungsmunition wäre wegen<br />

der großen Distanz nicht Erfolg versprechend gewesen. Der Kadaver wurde<br />

von Mitarbeitern des Naturschutzministeriums des Freistaates Bayern mitgenommen<br />

<strong>und</strong> dem Präparator P übergeben, welcher den Bärenkadaver zum<br />

Zwecke der Ausstellung in einem Museum präparierte, indem er das Fell<br />

gerbte <strong>und</strong> den Körper weitgehend durch ein Modell aus Kunststoff ersetzte,<br />

über welches das Fell gezogen wurde.<br />

1 Referendarsexamensklausur aus dem Bürgerlichen Recht <strong>und</strong> Internationalen<br />

Privatrecht. Thematisiert wird leicht abgewandelt die Geschichte<br />

des Bären JJ1, besser bekannt als „Bruno“, welcher im Jahr 2006 von Italien<br />

nach Bayern eingewandert <strong>und</strong> letztendlich erschossen wurde. Miteinander<br />

verknüpft zu prüfen sind Vorschriften des Sachenrechts, des gesetzlichen<br />

Schuldrechts, des BGB AT sowie des Internationalen Privatrechts.<br />

<strong>Die</strong> Klausur wurde im Examensklausurenkurs der Universität Tübingen<br />

im Sommersemester 2008 zur Bearbeitung angeboten (Bearbeitungszeit: 5<br />

Std.); Durchschnittsnote; 4,89 Punkte, Durchfallquote: 33,4 %.<br />

Christian Friedrich Majer, Jahrgang 1978, <strong>stud</strong>ierte an der<br />

Universität Tübingen <strong>und</strong> der FU Berlin. Nach seinem zwei-<br />

ten Staatsexamen war er als wissenschaftlicher Angestellter<br />

am Lehrstuhl Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht,<br />

Internationales Privat- <strong>und</strong> Verfahrensrecht an der Universität<br />

Tübingen beschäftigt. Mittlerweile ist er Rechtsanwalt<br />

in der Kanzlei Majer Majer Yurdakul in Tübingen sowie Lehrbeauftragter<br />

an der Universität Konstanz.<br />

Aufgabe 1: Wer ist Eigentümer des ausgestopften Tieres?<br />

Aufgabe 2: Hat die Italienische Republik einen Anspruch auf Schadensersatz<br />

gegen J?<br />

Aufgabe 3: Haben R, E <strong>und</strong> F Ansprüche auf Schadensersatz?<br />

Bearbeitervermerk: Auf alle aufgeworfenen Fragen ist ggf. hilfsgutachterlich<br />

einzugehen. Jagdrechtliche Vorschriften <strong>und</strong> Vorschriften des öffentlichen<br />

Rechts sind nicht anzuwenden. Sofern keine abweichenden Angaben vorhanden<br />

sind, ist davon auszugehen, dass das italienische <strong>und</strong> das slowenische<br />

Recht dem deutschen entsprechen.<br />

LöSUNG<br />

AUFGABE 1<br />

A. EIGENTUM AM BäRENKADAVER<br />

Fraglich ist zunächst, wer Eigentümer des ausgestopften Tieres ist.<br />

I. ANWENDBARKEIT DEUTSCHEN RECHTS<br />

Gem. Art. 43 Abs.1 EGBGB ist der Lageort maßgeblich („lex rei sitae“). Der<br />

Bärenkadaver befindet sich in Deutschland. Möglicherweise bestimmen sich<br />

die Eigentumsverhältnisse bis zur „Einwanderung“ des Bruno jedoch nach<br />

slowenischem oder italienischem Recht. Abgeschlossene Eigentumserwerbstatbestände<br />

bestimmen sich nach der Rechtsordnung, in der die Sache zum<br />

Zeitpunkt des Abschlusses belegen war. 2 Danach gilt hier slowenisches bzw.<br />

italienisches Recht <strong>für</strong> die Eigentumserwerbstatbestände auf dem Gebiet Sloweniens<br />

bzw. Italiens <strong>und</strong> deutsches Recht <strong>für</strong> die Eigentumserwerbstatbestände<br />

auf deutschem Staatsgebiet. 3<br />

I. EIGENTUM<br />

Eigentumserwerb könnte gem. §§ 953, 90a S.3 BGB durch die Geburt von Bruno<br />

2 Wendehorst, in: MüKo-BGB 4. Aufl. (2006), Art. 43 EGBGB Rn. 134.<br />

3 Entsprechend dem Bearbeitervermerk erfolgt die weitere Falllösung<br />

nach deutschem Recht.<br />

109


110<br />

Fallbearbeitung<br />

eingetreten sein. Bei den Jungen eines Tieres handelt es sich um deren Erzeugnis. 4<br />

Bruno ist also Frucht nach § 99 Abs. 1 BGB, d.h. Erzeugnis seiner Mutter <strong>und</strong><br />

steht gem. §§ 953, 90a S.3 BGB im Eigentum ihres Eigentümers. Voraussetzung ist<br />

daher, dass die Eltern von Bruno im Eigentum der Italienischen Republik standen.<br />

a) Ursprünglich waren die Tiere herrenlos.<br />

b) Durch das Einfangen der Tiere hat Slowenien gem. §§ 958 Abs.1, 90a S.3<br />

BGB Eigentum an ihnen erworben.<br />

c) Es könnte jedoch Eigentumsverlust gem. §§ 929 S.1, 90a S. 3 BGB eingetre-<br />

ten sein. Vorausgesetzt sind Einigung <strong>und</strong> Übergabe durch Eigentümer <strong>und</strong><br />

Erwerber. Hier wurden die Tiere zum Zwecke der Ansiedlung an die italie-<br />

nischen Behörden übergeben, Slowenien hat also gem. §§ 929 S.1, 90a S. 3<br />

BGB durch Übereignung Eigentum an Italien verloren.<br />

d) Möglicherweise hat Italien gem. § 960 Abs.1 S. 1 BGB Eigentum an den<br />

Tieren verloren, wenn der Bär als wildes Tier dadurch herrenlos geworden ist,<br />

dass er sich in Freiheit befand.<br />

aa) Das setzt voraus, dass es sich bei einem Braunbären um ein wildes Tier<br />

handelt. <strong>Die</strong>se sind als Tiere zu definieren, welche einer Art angehören, die<br />

normalerweise frei von menschlicher Herrschaft lebt. 5 Bei einem Braunbär ist<br />

das unproblematisch zu bejahen.<br />

bb) Weiter ist erforderlich, dass die Braunbären sich in Freiheit befanden. Da-<br />

ran könnten hier deswegen Zweifel bestehen, da sie in einem bestimmten be-<br />

grenzten Gebiet lebten, nämlich im Naturpark Adamello-Brenta. Demgemäß<br />

bestimmt § 960 Abs. 1 S. 2 BGB, dass Tiere in Tiergärten nicht herrenlos sind;<br />

gemeint ist damit, dass sie sich nicht in Freiheit befinden. 6 Fraglich ist, ob<br />

der Naturpark als Tiergarten i. S. d. § 960 Abs. 1 S. 2 BGB bezeichnet werden<br />

kann. Wodurch ein Tiergarten sich auszeichnet ist umstritten. Nach überwie-<br />

gender Ansicht ist darauf abzustellen, ob es sich um ein eingehegtes Gelände<br />

handelt, welches nach Art <strong>und</strong> Größe einen gezielten Zugriff auf das Tier er-<br />

möglicht. 7 Danach ist der Naturpark wegen seiner Größe <strong>und</strong> mangels Ein-<br />

hegung kein Tiergarten i. S. d. § 960 Abs. 1 S. 2 BGB. <strong>Die</strong> Überwachung der<br />

Bären ändert daran nichts, da ein Zugriff auf das Tier nicht ohne Weiteres<br />

möglich ist.<br />

cc) <strong>Die</strong> Eltern des Bruno wurden also gem. § 960 Abs. 1 S. 1 BGB herren-<br />

los durch das Ansiedeln im Naturpark Adamello-Brenta. Daher hat die Italie-<br />

nische Republik nicht gem. §§ 953, 90a S. 3 BGB Eigentum an Bruno erworben.<br />

3. Möglicherweise hat J durch den Abschuss des Bären gem. § 958 Abs. 1 BGB<br />

durch Gesetz Eigentum erworben. Das setzt voraus, dass er tatsächlich Eigen-<br />

besitz am Bären erlangte. Ob ein Jäger durch Tötung des Wildes Besitz er-<br />

langt, ist umstritten. Das Schießen des Bären allein ist kein ausreichender Be-<br />

4 Jickeli/Stieper, in: BGB (2004), § 99 Rn. 7 Holch, in: MüKo-BGB 5. Aufl. (2006),<br />

§ 99 Rn. 2; Fritzsche, in: Bamberger/Roth BGB 2. Aufl. (2008) § 99 Rn. 4.<br />

5 Gursky, in: Staudinger BGB (1995), § 960 Rn. 1; Bassenge, in: Palandt-<br />

BGB, § 960 Rn. 1; Baur/Stürner Sachenrecht 18. Aufl. (2009), § 53 Rn. 68;<br />

Kindl, in: Bamberger/Roth BGB 2. Aufl. (2008), § 960 Rn. 1.<br />

6 Gursky, in: Staudinger BGB (1995), § 960 Rn. 7; Henssler, in: Soergel BGB<br />

13. Aufl. (2002), § 960 Rn. 2.<br />

7 Oechsler, in: MüKo-BGB 5. Aufl. (2006), § 960 Rn. 3; Gursky, in: BGB<br />

(1995), § 960 Rn. 6; Henssler, in: Soergel BGB 13. Aufl. (2002), § 960 Rn. 3;<br />

Wolff/Raiser, Sachenrecht, § 80 II 1.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

sitzerwerbstatbestand, hinzutreten müsste Eigenbesitz gem. § 872 BGB, etwa<br />

durch tatsächliche Gewalt über die Sache sowie eine Aneignungsberechti-<br />

gung im Jagdrevier, § 958 Abs. 2 BGB. So wird eine Besitzbegründung bei-<br />

spielsweise dann angenommen, wenn ein Tier sich in der Falle des Jägers be-<br />

findet <strong>und</strong> sich daraus nicht befreien kann. 8 Hier jedoch besteht keine Zuord-<br />

nung wie sie durch die Falle verkörpert wird. J hat also keinen Besitz <strong>und</strong> da-<br />

mit nicht gem. § 958 Abs.1 BGB Eigentum erworben.<br />

3. Möglicherweise hat der Freistaat Bayern Eigentum gem. § 958 Abs. 1 BGB<br />

an dem Tierkadaver erworben. <strong>Die</strong> Bergung des Tieres durch die Mitarbei-<br />

ter des Naturschutzministeriums stellt eine tatsächliche Inbesitznahme, mit-<br />

hin eine Aneignung dar; Eigentumserwerb gem. § 958 Abs. 1 BGB ist also zu<br />

bejahen.<br />

Zwischenergebnis: Der Freistaat Bayern ist Eigentümer des Bärenkadavers.<br />

4. P könnte durch das Präparieren des Bärenkadavers gem. § 950 Abs. 1 BGB<br />

Eigentum erworben haben.<br />

a) Das setzt zunächst voraus, dass es sich bei dem ausgestopften Tier um eine<br />

neue Sache handelt. In welchen Fällen eine Sache als neu anzusehen ist, ist<br />

gesetzlich nicht definiert. <strong>Die</strong> herrschende Meinung stellt dabei auf die Verkehrsanschauung<br />

ab. 9 Danach soll es insbesondere ein Indiz sein, ob die Sache<br />

einen neuen Namen erhält10 <strong>und</strong> ob die Sache einem neuen Verwendungszweck<br />

dient. 11 Danach ist hier das Vorliegen einer neuen Sache fraglich. Da<strong>für</strong><br />

spricht, dass die meisten Teile des Tierkadavers durch Kunststoff ersetzt wurden<br />

<strong>und</strong> so schon bereits von der ursprünglichen Sache nur noch ein geringer<br />

Teil in der neuen Sache vorhanden ist. Dagegen spricht, dass die Sache ihrer<br />

äußerlichen Gestalt nach weitgehend identisch ist <strong>und</strong> auch gerade identisch<br />

sein soll. <strong>Die</strong> Sache dient auch keinem neuen Verwendungszweck; sie soll lediglich<br />

eine dauerhafte Ausstellung der alten Sache ermöglichen. Auch erhält<br />

die Sache keinen neuen Namen. <strong>Die</strong> besseren Gründe sprechen also da<strong>für</strong>,<br />

hier keine neue Sache anzunehmen (a. A. genauso gut vertretbar).<br />

Hilfsgutachten:<br />

b) Der Verarbeitungswert darf weiter nicht erheblich hinter dem Stoffwert zurückbleiben.<br />

Der Verarbeitungswert wird ermittelt, indem man die Differenz<br />

zwischen dem Wert der neuen Sache <strong>und</strong> dem Stoffwert bildet. 12 Da der Stoffwert<br />

des Kunststoffs <strong>und</strong> des Fells im Hinblick auf die Nutzbarkeit des Präparats<br />

als Ausstellungsstück deutlich geringer ist als der Wert der neuen Sache,<br />

ist der Verarbeitungswert hier relativ hoch; er bleibt jedenfalls nicht erheblich<br />

hinter dem Stoffwert zurück.<br />

8 Gursky, in: Staudinger BGB 1995, § 958 Rn. 5; RGSt 32, 164 (164f.) ; KG<br />

JW 1926, 2647 (2647); a. A. Bassenge, Palandt § 958 Rn. 3 f.<br />

9 BGHZ 20 159 (163) = NJW 1956 788 (789); OGH OGHZ 3, 348 (351) = NJW 1950<br />

542; OLG Köln NJW 1997, 2187 (2187); CR 1996, 600 (601); NJW 1991, 2570 (2570);<br />

KG NJW 1961, 1026 (1026); OLG Stuttgart NJW 1952 ,145 (145); Baur/Stürner § 53<br />

Rn. 18; Henssler, in: Soergel BGB, § 950 Rn. 7; Füller, in: MüKo-BGB, § 950 Rn. 7 f.<br />

10 Baur/Stürner, § 53 Rn. 18; Ebbing, in: Erman, § 950 Rn. 4; Henssler, in:<br />

Soergel BGB, § 950 Rn. 7; Wiegand, in: Staudinger BGB, § 950 Rn. 9.<br />

11 Füller, in: MüKo-BGB, § 950 Rn. 8; Ebbing, in: Erman BGB, § 950 Rn. 4.<br />

12 BGHZ 18, 226 (226f.); 56, 88 (89); Wiegand, in: Staudinger BGB § 950 Rn.<br />

11; Baur/Stürner, § 53 Rn. 19; Henssler, in: Soergel BGB, § 950 Rn. 9; Westermann,<br />

Sachenrecht, § 53 II 4.


c) Weiter ist hier fraglich, wer als Hersteller anzusehen ist (Bearbeitervermerk:<br />

<strong>Die</strong> umstrittene Frage, ob die Herstellereigenschaft durch eine Vereinbarung<br />

modifiziert werden kann, 13 ist hier nicht relevant, da eine solche Vereinbarung<br />

hier nicht getroffen wurde). <strong>Die</strong> Herstellereigenschaft ist objektiv nach wer-<br />

tenden Kriterien zu entwickeln. Danach ist Hersteller, wer unabhängig von der<br />

tatsächlichen Verarbeitungshandlung den Verarbeitungsvorgang steuert <strong>und</strong><br />

das Produktions- <strong>und</strong> Absatzrisiko trägt. 14 Hier steuert P den Verarbeitungsvorgang<br />

eigenverantwortlich; das Produktions- <strong>und</strong> Absatzrisiko liegt jedoch beim<br />

Auftraggeber, da das Präparat in jedem Fall ausgestellt werden sollte. Das spricht<br />

eher da<strong>für</strong>, den Freistaat Bayern als Hersteller anzusehen (a. A. vertretbar).<br />

III. ENDERGEBNIS<br />

Der Freistaat Bayern ist Eigentümer des Tieres.<br />

AUFGABE 2<br />

A. ANWENDBARKEIT DEUTSCHEN RECHTS<br />

<strong>Die</strong> Anwendbarkeit deutschen Rechts bestimmt sich hier nach der Rom-II-<br />

Verordnung, Art. 1 Abs. 1. Maßgeblich gem. Art. 4 Abs. 1 Rom-II-VO ist das<br />

Recht des Staates des Ortes, an dem der Schaden eingetreten ist bzw. gem. Art.<br />

11 III Rom-II-VO das Recht, in dem die Geschäftsführung erfolgte; Art. 11<br />

Abs. 1 <strong>und</strong> Abs. 2 sind nicht einschlägig, da weder an ein bestehendes Rechtsverhältnis<br />

angeknüpft noch beide Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthalt in<br />

einem Staat haben. Da der Schaden in Deutschland eingetreten ist bzw. die<br />

Geschäftsführung in Deutschland erfolgte, ist deutsches Recht gem. Art. 4<br />

Abs. 1 bzw. Art. 11 III Rom-II-Verordnung anwendbar.<br />

B. ANSPRUCH AUS §§ 687 ABS. 2, 677, 280 ABS. 1 BGB<br />

Ein Anspruch könnte sich hier aus Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) gemäß<br />

§§ 687 Abs. 2, 677, 280 Abs. 1 BGB ergeben. Das setzt allerdings voraus,<br />

dass es sich bei dem Abschuss des Bären um ein fremdes Geschäft handelt.<br />

Ein fremdes Geschäft ist ein Geschäft, das (zumindest auch) 15 im Interesse<br />

<strong>und</strong> Rechtskreis eines Anderen als des Geschäftsführers liegt. 16 Das könnte<br />

hier allein dann zu bejahen sein, wenn die Italienische Republik als Tierhalter<br />

i .S. d. § 833 BGB anzusehen wäre <strong>und</strong> sie durch den Abschuss vor weiterer<br />

Haftung bewahrt würde. Das ist zweifelhaft (s. u.); in diesem Fall wäre<br />

allerdings auch eine Pflichtverletzung zu verneinen, da der dann erfolgte Abschuss<br />

im Interesse der Republik Italien liegt. Ein Anspruch aus §§ 687 Abs. 2,<br />

677, 280 Abs. 1 BGB besteht somit nicht.<br />

C. ANSPRUCH AUS § 823 ABS. 1 BGB<br />

In Betracht komm hier ferner ein Anspruch der Italienischen Republik auf<br />

Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 BGB.<br />

13 Da<strong>für</strong> BGHZ 20, 159 (163 f.); kritisch dazu Medicus/Petersen, Bürgerliches<br />

Recht, Rn. 515 ff. <strong>und</strong> Wiegand, in: Staudinger, § 950 Rn. 34.<br />

14 Bassenge, Staudinger, § 950 Rn. 8; Kindl, in: Bamberger/Roth BGB, § 950<br />

Rn. 9; Ebbing, in: Erman, § 950 Rn. 7.<br />

15 BGHZ 110, 313; BGH NJW 2000, 72.<br />

16 Prütting/Weigend/Weinreich BGB (2010), § 677 Rn. 12 ff.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Fallbearbeitung<br />

I. Das setzt voraus, dass ein von § 823 Abs. 1 BGB geschütztes Rechtsgut verletzt<br />

wurde. Eigentum der Italienischen Republik am Bären bestand nicht (s.<br />

o.). Ein als Individualrechtsgut geschütztes Recht auf Naturgenuss existiert<br />

nicht. 17 Ein Rechtsgut i. S. d. § 823 Abs.1 BGB wurde also nicht verletzt.<br />

Hilfsgutachten:<br />

II. Unterstellt, ein Rechtsgut i. S. d. § 823 Abs.1 BGB wäre verletzt, ist zu prüfen,<br />

ob die Tötung des Bären gerechtfertigt war.<br />

1. Eine Rechtfertigung aufgr<strong>und</strong> der Abschussgenehmigung kommt nicht in<br />

Betracht, da diese nicht vom einwilligungsberechtigten Eigentümer erlassen<br />

wurde.<br />

2. Eine Rechtfertigung gem. § 227 BGB (Notwehr) kommt ebenfalls nicht in<br />

Betracht, da ein gegenwärtiger Angriff nicht vorlag.<br />

3. Möglicherweise ist J jedoch gemäß § 228 BGB (defensiver Notstand) gerechtfertigt.<br />

a) Das setzt zunächst eine Gefahr <strong>für</strong> ein beliebiges Rechtsgut voraus; anders<br />

als bei § 227 BGB ist eine gegenwärtige Gefahr nicht erforderlich. Ausreichend<br />

ist, dass eine Schädigung des bedrohten Gutes als sehr wahrscheinlich anzusehen<br />

ist. 18 Hier hat der Bär bereits mehrmals Schafe <strong>und</strong> weitere Tiere getötet;<br />

es ist sehr wahrscheinlich, dass er das wieder tun würde. Ob auch eine Gefahr<br />

<strong>für</strong> den Menschen vorlag, ist demgegenüber zweifelhaft: Einerseits hatte<br />

er noch keine Menschen angegriffen, andererseits war er bereits mehrmals<br />

in Ortschaften angetroffen worden. Letztlich kommt es aber darauf nicht an.<br />

b) <strong>Die</strong> Gefahr muss ferner von der Sache ausgehen, welche beschädigt wird;<br />

dabei kommen gem. § 90a S. 3 BGB auch Tiere als Gefahrenquelle in Betracht.<br />

19 Hier ging die Gefahr von dem getöteten Bären aus.<br />

c) Bei dem Abschuss des Bären müsste es sich um eine erforderliche <strong>und</strong> verhältnismäßige<br />

Notstandshandlung handeln.<br />

aa) <strong>Die</strong> Notstandshandlung muss zunächst objektiv erforderlich gewesen<br />

sein. Das ist zu verneinen, wenn ein milderes Mittel zur Abwendung der Gefahr<br />

bestand. Hier waren jedoch sämtliche Fangversuche umsonst, auch ein<br />

Schuss mit Betäubungsmunition wäre nicht Erfolg versprechend gewesen.<br />

Das Zuwarten, um einen Schuss mit Betäubungsmunition abzugeben oder einen<br />

weiteren Fangversuch zu unternehmen, hätte die Gefahr nicht beseitigt,<br />

es bestand die konkrete Möglichkeit weiterer Schäden durch Bruno.<br />

bb) <strong>Die</strong> Notstandshandlung müsste weiter verhältnismäßig gewesen sein. Dabei<br />

ist erforderlich, dass der durch die Notstandshandlung angerichtete Schaden<br />

nicht außer Verhältnis zu der dem bedrohten Rechtsgut drohenden Gefahr<br />

steht.<br />

17 VGH München Beschl. vom 18.3.2008 AZ 14 ZB 07.1609 (zu diesem Fall).<br />

18 Repgen, in: Staudinger, § 228 Rn. 13; Grothe, in: MüKo-BGB, § 228 Rn. 7;<br />

Fahse, in: Soergel, § 228, Rn 12.<br />

19 Wagner, in: Erman BGB, § 228 Rn. 4; Fahse, in: Soergel, § 228 Rn. 13;<br />

Grothe, in: MüKo, § 228 Rn. 17.<br />

111


112<br />

Fallbearbeitung<br />

Fraglich ist, wie die Interessen hier zu bestimmen sind. Sachgüter werden<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nach ihrem materiellen Wert bemessen; das gilt gem. § 90a S.<br />

3 BGB auch <strong>für</strong> Tiere. Allerdings findet insbesondere bei Tieren auch ein be-<br />

rechtigtes Affektionsinteresse Berücksichtigung. 20 Problematisch ist jedoch,<br />

ob dieses wirklich besteht. Das Affektionsinteresse an einem Tier gründet<br />

sich auf einer besonderen Beziehung des Menschen gerade zum konkreten<br />

Tier, insbesondere aufgr<strong>und</strong> langjähriger emotionaler Bindung. Hier jedoch<br />

bestand eine solche gerade nicht. <strong>Die</strong> emotionale Zuwendung großer Teile<br />

der Öffentlichkeit zum Bären beruhte lediglich auf Presseberichterstattung,<br />

eine besondere Beziehung zum Bären war bei keiner der Personen gegeben.<br />

Ein berechtigtes Affektionsinteresse an Bruno bestand daher nicht. <strong>Die</strong> Wer-<br />

termittlung bestimmt sich also allein nach dem materiellen Wert. Ein wilder<br />

Braunbär weist jedoch keinen besonderen Marktwert auf, jedenfalls ist dieser<br />

durch die Tötung nicht nennenswert verringert worden. Demgegenüber be-<br />

steht ein gewisser materieller Wert hinsichtlich der bedrohten Schafe, Hüh-<br />

ner <strong>und</strong> Bienen. Deren Wert war in jedem Fall wesentlich höher als der Wert<br />

des Bären anzusehen.<br />

<strong>Die</strong> Notstandshandlung war also auch verhältnismäßig.<br />

d) <strong>Die</strong> Tötung des Bruno war gem. § 228 S. 1 BGB gerechtfertigt.<br />

III. Ein Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 Abs. 1 BGB besteht daher<br />

ebenfalls nicht.<br />

D. ERGEBNIS<br />

<strong>Die</strong> italienische Republik hat keinen Anspruch auf Ersatz des Schadens gegen J.<br />

AUFGABE 3<br />

A. ANWENDBARKEIT DEUTSCHEN RECHTS<br />

<strong>Die</strong> Anwendbarkeit deutschen Rechts bestimmt sich hier nach der Rom-II-<br />

Verordnung, Art. 1 Abs. 1 Rom-II-Verordnung. Maßgeblich gem. Art. 4 Abs. 1<br />

Rom-II-VO ist das Recht des Staates des Ortes, an dem der Schaden einge-<br />

treten ist. Da der Schaden in Deutschland eingetreten ist, ist deutsches Recht<br />

gem. Art. 4 Abs. 1 Rom-II-Verordnung anwendbar.<br />

B. ANSPRüCHE DES R GEGEN F<br />

I. ANSPRUCH AUS § 7 ABS. 1 STVG<br />

1. Eine Körperverletzung liegt hier bei R vor.<br />

2. <strong>Die</strong>se erfolgte auch unproblematisch bei Betrieb des Kfz.<br />

3. Fraglich ist, ob F auch als Halter anzusehen war. Halter ist, wer das Kfz <strong>für</strong> ei-<br />

gene Rechnung gebraucht, d. h. die Kosten bestreitet <strong>und</strong> die Nutzungen zieht. 21<br />

20 OLG Koblenz NJW-RR 1989, 541 (541); Repgen, in: Staudinger § 228 Rn.<br />

31; Wagner, in: Erman BGB, § 229 Rn. 7; Grothe, in: MüKo, § 228 Rn. 10.<br />

21 BGHZ 87, 133 (134); OLG Düsseldorf NZV 1991, 39 (39 f.); König, in: Hentschel/<br />

König/Dauer Straßenverkehrsrecht 40. Aufl. (2009), § 7 StVG Rn. 14; Burmann,<br />

in: Jagow/Burmann/Heß Straßenverkehrsrecht 20. Aufl. (2008), § 7 StVG Rn. 5.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Demgegenüber ist nicht entscheidend, wer Eigentümer des Fahrzeugs ist 22<br />

<strong>und</strong> auch nicht, wer die fixen Kosten als derjenige, auf den der Pkw zugel-<br />

assen wurde, trägt. 23 F hat die ständige Verfügungsgewalt über den Pkw <strong>und</strong><br />

trug auch die ständigen Kosten; er ist damit auch als Halter anzusehen.<br />

4. Möglicherweise ist jedoch die Haftung gem. § 7 Abs. 2 StVG wegen höherer<br />

Gewalt ausgeschlossen. Höhere Gewalt i. S. d. § 7 Abs. 2 StVG wird allgemein<br />

in Übernahme der Definition aus § 1 Abs. 2 S. 1 HaftpflichtG definiert als ein<br />

betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Hand-<br />

lungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Ein-<br />

sicht <strong>und</strong> Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mit-<br />

teln auch durch äußerste Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht<br />

werden kann <strong>und</strong> auch nicht wegen seiner Häufigkeit in Kauf zu nehmen ist. 24<br />

Beim plötzlichen Sprung eines Bären auf die Fahrbahn handelt es sich zwar<br />

um ein von außen einwirkendes, betriebsfremdes Ereignis, womit auch nicht<br />

gerechnet werden kann, jedoch besteht insoweit kein Unterschied zum plötz-<br />

lichen Auftauchen eines Hirsches oder sonstigen größeren Tieres, welches<br />

wegen seiner Häufigkeit nicht als außergewöhnlich bezeichnet werden kann. 25<br />

Höhere Gewalt i. S. d. § 7 Abs. 2 StVG liegt also nicht vor.<br />

III. R hat gegen F also einen Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG. Der Anspruch<br />

umfasst gem. § 11 S. 1 StVG Heilungskosten <strong>und</strong> Erwerbsausfall, sofern die-<br />

ser angefallen ist sowie gem. § 11 S. 2 StVG i. V. m. § 253 Abs.1 BGB auch<br />

„Schmerzensgeld“; der Anspruch ist allerdings begrenzt gem. § 12 Abs.1 Nr. 1<br />

StVG auf einen Betrag von 600.000 €.<br />

II. WEITERE ANSPRüCHE AUS DELIKT<br />

Ein Anspruch aus Fahrerhaftung gem. § 18 Abs. 1 S. 1 StVG besteht ebenso<br />

wenig wie ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB besteht, da hier weder Vorsatz<br />

noch Fahrlässigkeit bei F vorliegt.<br />

C. ANSPRüCHE DER E GEGEN F<br />

I. ANSPRUCH AUS § 280 ABS. 1 BGB<br />

Ein Anspruch auf Schadensersatz aus Vertrag aus § 280 Abs. 1 BGB besteht -<br />

unabhängig davon, ob hier ein Schuldverhältnis überhaupt vorliegt - mangels<br />

Verschuldens des F nicht.<br />

II. ANSPRUCH AUS § 823 ABS.1 BGB<br />

Ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB besteht ebenfalls mangels Vorsatzes oder<br />

Fahrlässigkeit nicht.<br />

22 OLG Karlsruhe NZV 1988, 191; OLG Köln VRS 85 (1994), 209; König, in:<br />

Hentschel/König/Dauer, § 7 StVG Rn. 14.; Burmann, in: Jagow/Burmann/<br />

Heß, § 7 StVG Rn. 5.<br />

23 OLG Karlsruhe NZV 1988, 191, (191 f.); König, in: Hentschel/König/<br />

Dauer, § 7 StVG Rn. 14.<br />

24 BGHZ 7, 338, (338 f.); 62, 351 (354); 109, 8 (14 f); Burmann, in: Jagow/Burmann/Heß,<br />

§ 7 StVG Rn. 18; König, in: Hentschel/König/Dauer, § 7 StVG Rn. 32.<br />

25 BGH NVZ 2008, 79 (80); König, in: Hentschel/König/Dauer, § 7 StVG Rn. 35.


III. ANSPRUCH AUS § 7 ABS. 1 STVG<br />

Fraglich ist, ob E gegen F einen Anspruch aus § 7 Abs. 1 StVG hat. Hier<br />

handelt es sich bei dem Notebook um eine Sache, welche im Kfz befördert<br />

wurde; die Vorschrift des § 7 Abs.1 StVG ist damit gemäß § 8 Nr. 3 StVG nicht<br />

anwendbar.<br />

D. ANSPRüCHE DER E GEGEN DIE ITALIENISCHE REPUBLIK<br />

In Betracht kommt lediglich ein Anspruch auf Haftung des Tierhalters aus<br />

§ 833 S. 1 BGB. Das setzt voraus, dass es sich bei der Italienischen Republik<br />

um den Halter des Bären handelte. Der Halterbegriff des § 833 BGB ist unab-<br />

hängig von der Eigentumslage; diese ist allenfalls ein Indiz. 26 Dass Bruno zur<br />

Zeit des Unfalls nicht mehr in der Einflusssphäre der Italienischen Republik<br />

stand, spielt ebenfalls keine Rolle; die Halterhaftung besteht auch bei entlau-<br />

fenen Tieren fort. 27 Maßgeblich ist vielmehr, ob die Italienische Republik über<br />

die Existenz des Tieres <strong>und</strong> seine Aktivitäten bestimmen konnte sowie <strong>für</strong><br />

26 Sprau, in: Palandt, § 833 Rn. 10; Wagner, in: MüKo, § 833 Rn. 23; Krause,<br />

in: Soergel, § 833 Rdnr. 12.<br />

27 Larenz/Canaris 13. Aufl. Bd. II/2, § 84 II 1 b S. 615; Wagner, in: MüKo,<br />

§ 833 Rn. 25; Krause, in: Soergel, § 833 Rn. 13; Schiemann, in: Erman,<br />

§ 833; Rn. 8.<br />

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<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Fallbearbeitung<br />

die Gewährung von Unterhalt <strong>und</strong> Obdach verantwortlich war. 28 Nach die-<br />

sen Kriterien ist eine Haltereigenschaft hier zweifelhaft. Zwar bestand in ge-<br />

wissem Sinne eine Herrschaft der Italienischen Republik über das Tier, da es<br />

sich auf der Fläche des Naturparks aufhielt; zudem wurde es, wie alle anderen<br />

Braunbären, überwacht. Jedoch war ein Zugriff auf das Tier nicht ohne wei-<br />

teres möglich, ein Aufkommen <strong>für</strong> Unterkunft <strong>und</strong> Obdach lag hier ebenfalls<br />

nicht vor. Somit ist die Italienische Republik nicht als Halter des Bären scha-<br />

densersatzpflichtig gem. § 833 S. 1 BGB.<br />

E. ANSPRüCHE DES F GEGEN DIE ITALIENISCHE REPUBLIK<br />

Ein Anspruch des F aus § 833 S.1 BGB kommt aus diesem Gr<strong>und</strong> ebenfalls<br />

nicht in Betracht.<br />

F. ENDERGEBNIS<br />

R hat gegen F einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 7 Abs. 1 StVG.<br />

28 BGH VersR 1956, 574 (574); NJW 1977, 2158 (2158); Wagner, in: MüKo,<br />

§ 833 Rn. 23; Eberl-Borges, in: Staudinger BGB (2008), § 833 Rn. 74 f.<br />

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113


114<br />

„Arbeitnehmer<br />

dürfen nicht getreten<br />

werden“<br />

Lustiges <strong>und</strong> Kurioses aus der Rechtsprechung<br />

Zugegeben: Der berufliche Alltag eines Richters oder Anwalts ist nicht<br />

selten von eher routine- <strong>und</strong> standardmäßigen Fällen gesäumt. Da<br />

bilden auch die Gerichtsverhandlungen nur selten eine Ausnahme. Aber<br />

manchmal tun sie es eben doch! Da gibt es Tage, an denen sich ein Richter bei<br />

der Urteilsverkündung ein Lächeln nicht verkneifen kann, die gegnerischen<br />

Anwälte sich beim Verlassen des Sitzungssaales schmunzelnd die Hände<br />

reichen <strong>und</strong> der Vertreter der Presse am liebsten mit Smileys in seinem Arti-<br />

kel arbeiten würde, um dem geneigten Leser die Stimmung besser vermitteln<br />

zu können. Nachfolgend werden Antworten auf vermeintlich kuriose Fragen<br />

gegeben, die nicht selten im eigenen Leben von Bedeutung werden können.<br />

Vorsicht beim Luftgitarre-Spielen<br />

Verletzt jemand einen anderen dadurch, dass er beim „Luftgitarre“-Spielen<br />

das Gleichgewicht verliert, weil er sich dabei zu weit über einen Mitspieler<br />

gebeugt hat, <strong>und</strong> schließlich auf ihn gefallen ist, haftet er dem Verletz-<br />

ten aus § 823 BGB, denn er ist <strong>für</strong> das die Sturzgefahr begründende Verhalten<br />

verantwortlich. Der Geschädigte Spieler erlitt hierbei Rotationstraumata bei-<br />

der Kniegelenke. Das OLG Hamm befand, dass eine etwaige Einwilligung des<br />

Spielers in eine Gefährdung nicht in Betracht kommt, da das Luftgitarre-Spie-<br />

len keine Sportveranstaltung darstellt, auf welche diese Gr<strong>und</strong>sätze Anwen-<br />

dung finden würden. OLG Hamm v. 15.09.2009, 9 U 230/08<br />

E-Mail mit obszönem Anhang kann<br />

<strong>Die</strong>nstunfall begründen<br />

Das Öffnen einer E-Mail <strong>und</strong> eines Dateianhangs durch einen Polizisten,<br />

die ihm im <strong>Die</strong>nst auf dienstlichen Computern von seinem Vorgesetzten<br />

geschickt worden war, kann ein plötzliches, auf äußerer Einwirkung be-<br />

ruhendes, in zeitlicher <strong>und</strong> örtlicher Hinsicht bestimmbares Ereignis, das in<br />

Ausübung des <strong>Die</strong>nstes eingetreten ist, darstellen. Eine dadurch entstandene<br />

psychische Erkrankung kann ein Körperschaden i.S.d. § 31 Absatz 1 BeamtVG<br />

sein. Unter dem Betreff „WG: Highlight zum Wochenende“ wurde dem<br />

Beamten in der Anlage eine Power-Point-Präsentation mit der Darstellung einer<br />

unbekleideten Frau an einem Sportwagen zugesandt, welche in der Abbildung<br />

des Unterleibes einer weiblichen Person mit eitrigen, blutigen W<strong>und</strong>en<br />

etc. gegipfelt sei. Der Empfänger dieser E-Mail habe sich die Präsentation angesehen<br />

<strong>und</strong> sei erschrocken, als er das stark Ekel erregende Bild am Ende der<br />

Präsentation gesehen habe. Seit diesem Tage sei ihm dieses Bild nicht mehr<br />

aus dem Kopf gegangen <strong>und</strong> habe ihn sehr belastet, was sich auch sehr negativ<br />

auf sein Privatleben ausgewirkt habe. Hierdurch sei eine Zwangsstörung<br />

mit vorwiegend Zwangsgedanken, <strong>und</strong> damit ein Körperschaden, wesentlich<br />

verursacht worden. Vor dem Unfall habe er nie an einer psychiatrischen<br />

Erkrankung gelitten <strong>und</strong> sei deswegen auch noch nie in ärztlicher Behandlung<br />

gewesen. Das beklagte Land wurde daher verpflichtet, das Öffnen der<br />

E-Mail seines damaligen Vorgesetzten <strong>und</strong> insbesondere des Dateianhangs<br />

als <strong>Die</strong>nstunfall anzuerkennen. VG Düsseldorf v. 02.11.2010, 23 K 5235/07<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Der Stiel unterscheidet einen Lutscher vom Bonbon<br />

<strong>und</strong> ist damit keine Verpackung<br />

Ein Lutscherstiel ist originärer <strong>und</strong> wesensmäßiger Bestandteil des Produkts<br />

Lutscher bzw. Lolly <strong>und</strong> kann daher nicht Verpackungsbestandteil<br />

sein, da es sich bei dem Stiel nicht um eine bloße Handhabungshilfe<br />

handelt. Das OLG Köln hat daher festgestellt, dass ein Lizenzentgeltnehmer<br />

<strong>für</strong> Verpackungsmaterial nicht berechtigt ist, von dem Lollyhersteller nach<br />

Maßgabe des Zeichennutzungsvertrages <strong>für</strong> das Zeichen „Der Grüne Punkt“<br />

ein Lizenzentgelt gem. § 4 dieses Vertrages <strong>für</strong> „Lollystiele“ zu verlangen. Ein<br />

Lizenentgeld darf daher nur auf das Plastik um den essbaren Teil erhoben<br />

werden, nicht aber <strong>für</strong> den Stiel. Ein Lolly ist eben ein Lolly <strong>und</strong> ein Bonbon<br />

ein Bonbon. OLG Köln v. 03.05.2001, 1 U 6/01<br />

Eltern dürfen mitunter mittels „Fingerpistole“<br />

bei Singspiel „erschossen“ werden<br />

Der siebenjährige Kläger, vertreten durch seine Eltern, wollte vom Veranstalter<br />

eines Zeltlagers, an dem er mit seinem Vater teilgenommen<br />

hatte, Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000 Euro einklagen. Hierzu<br />

Jura vom<br />

„Hören-Sagen“<br />

Der Sommer naht mit großen Schritten - <strong>für</strong> viele Studenten <strong>und</strong> Referendare<br />

geht er allerdings auch mit Klausuren <strong>und</strong> Hausarbeiten einher. Oftmals streiten<br />

sich sodann zwei Wesen auf ihren Schultern - Engel links, Teufel rechts -<br />

um die Antwort auf die Frage: Kann ich mir einen Tag am See oder im Freibad<br />

erlauben? <strong>Die</strong> Anbieter juristischer Lernmaterialien haben sich den Entwicklungen<br />

auf dem Büchermarkt angenommen <strong>und</strong> sich auf das Gebiet der<br />

stark im Kommen befindlichen Hörbücher gewagt. <strong>Die</strong>se Hörbücher stellen<br />

die perfekte Alternative oder Ergänzung <strong>für</strong> jeden dar, der seine Augen einmal<br />

schonen möchte oder schlichtweg in Situationen lernen möchte, in denen<br />

das Lesen unmöglich ist, wie z.B. beim Autofahren, Radfahren oder Joggen.<br />

Vorliegend werden die Hör-Materialien von Hemmer/Wüst <strong>und</strong> Niederle Media<br />

vorgestellt.<br />

<strong>Die</strong> Materialien von Hemmer/Wüst nennen sich Audio-Cards <strong>und</strong> wurden<br />

in Zusammenarbeit mit dem Verlag Ohrenmenschen produziert. Bisher werden<br />

die Bereiche BGB-AT, Schuldrecht, Sachenrecht, Deliktsrecht, Bereicherungsrecht<br />

<strong>und</strong> Staatsrecht angeboten; die Themengebiete Zivilprozessrecht,<br />

Strafrecht <strong>und</strong> weitere sind noch <strong>für</strong> diesen Herbst geplant. <strong>Die</strong> Audio-Cards<br />

können sowohl über den Shop des Verlages Ohrenmenschen, als<br />

auch den von Hemmer/Wüst bestellt werden; die praktische Option des On-


ehauptete er, ein Singspiel, bei dem sein Vater mitgewirkt hatte, habe bei ihm<br />

ein schweres Trauma ausgelöst. Im Rahmen dieses Singspiels wurde der Va-<br />

ter des Klägers von einem Mädchen mittels „Fingerpistole“ schauspielerisch<br />

erschossen. Der Kläger <strong>und</strong> seine Eltern vertraten die Ansicht, dass er da-<br />

durch ganz erhebliche psychische Beeinträchtigungen erlitten habe. Der Zelt-<br />

lagerveranstalter verteidigte sich damit, dass das Singspiel seit Jahrzehnten<br />

ohne ges<strong>und</strong>heitliche Beeinträchtigung <strong>für</strong> Teilnehmer oder Zuschauer auf-<br />

geführt werden konnte. Auch waren nach dem Singspiel weder am Kläger<br />

noch an seinem Vater eine nachteilige Veränderung festgestellt worden. Das<br />

LG Coburg hat die Klage auf Schmerzensgeld abgewiesen. Das OLG Bamberg<br />

machte deutlich, bei Kindern im Alter von sieben Jahren könne vorausgesetzt<br />

werden, dass sie zwischen Spiel <strong>und</strong> Realität unterscheiden können <strong>und</strong><br />

daher nicht damit gerechnet werden könne, dass ein Kind eine posttraumatische<br />

Belastungsstörung durch einen solchen Vorfall erleide. Auch die Mitwirkung<br />

des Vaters am Singspiel spreche da<strong>für</strong>, dass die behaupteten Auswirkungen<br />

nicht vorhersehbar waren. OLG Bamberg v. 05.01.2011, 5 U 159/1010<br />

Für alle Berufseinsteiger:<br />

Arbeitnehmer dürfen nicht getreten werden!<br />

Der Tritt ins Gesäß der unterstellten Mitarbeiterin gehört auch dann<br />

nicht zur „betrieblichen Tätigkeit“ eines Vorgesetzten, wenn er mit der<br />

Absicht der Leistungsförderung oder Disziplinierung geschieht. Daher sperrt<br />

§ 105 Abs. 1 SGB VII nicht Ansprüche auf Schadensersatz, insbesondere auf<br />

Schmerzensgeld. Für eine durch den Tritt verursachte Steißbeinfraktur, verb<strong>und</strong>en<br />

mit sechswöchiger Krankschreibung <strong>und</strong> fünftägiger stationärer<br />

Nachbehandlung, können DM 3.000,-- als Schmerzensgeld angemessen sein.<br />

Landesarbeitsgericht Düsseldorf v. 05.1998, 12 (18) Sa 196/98<br />

line-Downloads wird ebenfalls angeboten. <strong>Die</strong> Dateien sind alle im mp3-For-<br />

mat <strong>und</strong> im Frage-Antwort-Stil aufgebaut. Eine fre<strong>und</strong>liche Männerstimme<br />

stellt die Fragen, danach ertönt ein kurzer Gong, der es einem ermöglicht,<br />

sich selbst Gedanken über die Antwort zu machen <strong>und</strong> schließlich beantwortet<br />

eine Frauenstimme die aufgeworfene Frage. <strong>Die</strong> Stimmen legen eine angenehme<br />

Betonung an den Tag, so dass man ihnen problemlos folgen kann. Alle<br />

Audio-Cards enthalten zusätzlich ein pdf-Dokument, welches den gesamten<br />

vorgetragenen Inhalt wortwörtlich enthält. <strong>Die</strong> Dateien sind in zwei Spalten<br />

aufgeteilt: <strong>Die</strong> linke Spalte enthält die Fragen, die rechte die Antworten, so<br />

dass man es ideal zum Selbsttest heranziehen kann, indem man die Spalte mit<br />

den Antworten mit einem Zettel abdecken <strong>und</strong> sich so selbst abfragen kann.<br />

<strong>Die</strong> Audio-Cards sind äußerst ausführlich <strong>und</strong> daher auch ausgezeichnet als<br />

einzige Lernquelle geeignet. So hat z.B. allein das Komplettpaket der Audio-<br />

Cards zum BGB-AT einen Umfang von über 400 Minuten! <strong>Die</strong> Cards zum<br />

BGB AT bestehen aus drei Teilen die man auch einzeln <strong>für</strong> je 19,95 € erwerben<br />

kann, das Komplettpaket kostet 44,80 €.<br />

Weitere interessante Berichte finden Sie auf unserer Homepage<br />

www.<strong>iur</strong>ratio.de<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Augen auf bei der Tanzpartnerwahl<br />

Wer auf die Tanzpartnerin seiner Wahl zustürzt <strong>und</strong> mit dieser in<br />

großen Sätzen <strong>und</strong> Sprüngen auf die Tanzfläche rennt, muss, wenn<br />

er hierbei das Gleichgewicht verliert <strong>und</strong> dann rückwärts aus dem geöffneten<br />

Fenster fällt, wobei er seine Tanzpartnerin mit sich zieht, Schmerzensgeld <strong>für</strong><br />

erlittene Verletzungen zahlen. Im vorliegenden Fall hielt das Hanseatische<br />

OLG Hamburg ein Schmerzensgeld in Höhe von 8.000 DM <strong>für</strong> angemessen,<br />

da die Auserwählte eine Gehirnerschütterung, Becken- <strong>und</strong> Thoraxprellung<br />

sowie eine Schenkelhalsfissur erlitt. <strong>Die</strong> Geschädigte war ca. acht Wochen arbeitsunfähig.<br />

Hanseatisches OLG Hamburg v. 05.10.1999, 6 U 262/98<br />

Abschließend noch ein wichtiger Hinweis zur anstehenden<br />

Frauen-Fußball-WM 2011<br />

Wenn der Fahrer eines Pkw bemerkt, dass sich ein Fahrzeuginsasse aus<br />

dem Fenster der hinteren Tür hinauslehnt <strong>und</strong> sich mit dem Körper<br />

durch die Fensteröffnung weiter herausarbeitet, trifft ihn die Verpflichtung,<br />

rechts ranzufahren <strong>und</strong> sofort anzuhalten.<br />

Fährt er aber mit einer Geschwindigkeit<br />

von 50 bis 60 km/h weiter <strong>und</strong> fällt der Fahrzeuginsasse<br />

aus dem Pkw heraus, so hat er unter<br />

Berücksichtigung des erheblichen Mitverschuldens<br />

des Fahrzeuginsassen wegen Selbstgefährdung<br />

zu 50% <strong>für</strong> die Folgen des Unfalls einzustehen.<br />

Also besser zur Fuß <strong>und</strong> mit Bierchen<br />

fahneschwenkend durch die Städte ziehen <strong>und</strong><br />

den Weltmeistertitel feiern. Sicher ist sicher!<br />

OLG Karlsruhe v. 24.07.1998, 10 U 24/98<br />

Niederle Media bietet in seinem Sortiment vom BGB-AT über sämtliche<br />

Strafrechtsbereiche bis hin zu Nebengebieten wie Arbeitsrecht oder Handels-<br />

<strong>und</strong> Gesellschaftsrecht die gesamte Palette der juristischen Fachgebiete.<br />

Alle Hörbücher sind sowohl als Audio-CD als auch als mp3-Dateien<br />

erhältlich; letztere stehen auch online als Download inklusive pdf-Dateien<br />

im Originalwortlaut bereit. <strong>Die</strong> Dateien sind ebenfalls im Frage-Antwort-Stil<br />

aufgebaut; hier stellt eine Frauenstimme die Fragen, eine Männerstimme<br />

beantwortet diese dann direkt im Anschluss. Auch hier wird<br />

in einer angenehmen Tonlage vorgetragen, so dass man dem Vortrag sehr<br />

gut folgen kann. In den pdf-Dokumenten sind die Fragen <strong>und</strong> Antworten<br />

direkt untereinander in einem fortlaufenden Text aufgeführt. <strong>Die</strong> Dateien<br />

bieten einen kompakten Überblick über die verschiedenen Themenbereiche,<br />

sind aber nicht so ausführlich wie die von Hemmer/Wüst; so wird<br />

vergleichsweise das Basiswissen BGB-AT in 79 Minuten dargestellt. <strong>Die</strong>s<br />

macht sich aber natürlich preislich bemerkbar. <strong>Die</strong> Audio-CD ist <strong>für</strong> 7,90 €<br />

erhältlich, der mp3-Download bereits <strong>für</strong> 5,99 €. Zudem werden auch verschieden<br />

CDs mit Standardfällen, Streitfragen oder Definitionen angeboten.<br />

Als Wiederholung, Auffrischung oder Ergänzung sind auch diese Hörbücher<br />

sehr zu empfehlen. Hier ist der abschließende Wunsch tatsächlich<br />

einmal Programm: Viel Spaß beim Lernen!<br />

Weitere Informationen <strong>und</strong> Bestellmöglichkeiten unter:<br />

http://www.hemmer-shop.de/ oder<br />

http://www.ohrenmenschen.de/Shop/Intro/Rechtswissenschaften.html<br />

http://www.niederle-media.de/13.html<br />

115


116<br />

Praxis & Karriere<br />

A. EINLEITUNG 1<br />

Soft Skills im Rahmen der universitären Ausbildung<br />

von Christian Steger (Universität Hamburg)<br />

„Wir suchen zur Verstärkung unseres Teams Berufseinsteiger (m/w), die dyna-<br />

misch, teamfähig, zuverlässig <strong>und</strong> verhandlungsstark sind “ – so könnte der<br />

Anfang einer typischen Stellenanzeige lauten. Auch Arbeitgeber <strong>für</strong> Nach-<br />

wuchsjuristen, wie zum Beispiel Kanzleien, suchen zunehmend Berufsein-<br />

steiger, die neben juristischen Kenntnissen <strong>und</strong> Qualifikationen weiche Fak-<br />

toren mitbringen.<br />

Gr<strong>und</strong> genug <strong>für</strong> die juristischen Fakultäten, in der universitären Ausbildung<br />

neben Hard Skills, also juristischem Fachwissen, auch vermehrt Soft Skills<br />

zu vermitteln. <strong>Die</strong>ser Beitrag beleuchtet, welche weiche Faktoren zum Hand-<br />

werkszeug eines angehenden <strong>Juristen</strong> gehören <strong>und</strong> stellt die universitären Soft<br />

Skill-Angebote auf den Prüfstand.<br />

B. SoFT SKILLS<br />

Unter Soft Skills versteht man „Sozialkompetenzen“ oder „Schlüsselqualifi-<br />

kationen“. Vor allem das zweite Synonym lässt vermuten, dass ein Jurist ohne<br />

diese Qualifikationen nicht den Schlüssel zum beruflichen Erfolg hat. Auch<br />

wenn Universitäten, potenzielle Arbeitgeber <strong>und</strong> Studenten unter Soft Skills<br />

nicht immer das Gleiche verstehen, zählen alle Gruppen meist Begriffe wie<br />

Kommunikationsfähigkeit, Zeitmanagement, Methodik, Teamfähigkeit zu<br />

den weichen Faktoren.<br />

C. DAS UNIVERSITäRE SoFT SKILL-ANGEBoT<br />

Fest steht: Um sein fachliches Wissen erfolgreich in der Praxis anwenden zu<br />

können, muss der Nachwuchsjurist Soft Skills mitbringen. F<strong>und</strong>iertes recht-<br />

liches Fachwissen alleine stellt keine Brücke zum Mandanten im Beratungs-<br />

gespräch her. Ein Schriftsatz überzeugt nur dann, wenn er entsprechend aufgebaut<br />

<strong>und</strong> ausgefeilt ist <strong>und</strong> in einem Verhandlungsgespräch kommt es auf<br />

Taktik <strong>und</strong> Gesprächsführung an.<br />

Bereits während des Studiums spielen Soft Skills eine wichtige Rolle. Oft hört<br />

man den Satz „<strong>Die</strong> mündliche Examensprüfung sollte nicht die erste Gelegenheit<br />

eines Vortrags sein.“ Rhetorische Fähigkeiten sind <strong>für</strong> die mündlichen<br />

Prüfungen im Rahmen der Ersten juristischen Prüfung unabdingbar. 2 Der<br />

Gr<strong>und</strong>: <strong>Die</strong> Art <strong>und</strong> Souveränität, die der Student während des Vortrags an<br />

den Tag legt, beeinflussen die Prüfer – <strong>und</strong> letztlich auch die Note. Kann ein<br />

Kandidat achselzuckend eine Frage nicht beantworten oder lässt er souverän<br />

die Prüfer an seinen Gedanken teilhaben <strong>und</strong> gewinnt Zeit, um eine Antwort<br />

1 Christian Steger ist Student an der Universität Hamburg <strong>und</strong> Mentee des<br />

Career Mentorship Programme von Baker & McKenzie in Frankfurt am<br />

Main. Während seines Studiums nahm er am Willem C. Vis Moot Court<br />

teil <strong>und</strong> coachte im Folgejahr das Team der Universität Hamburg; zudem<br />

ist Christian Steger Vorsitzender des Vis Moot Court Alumni Universität<br />

Hamburg e.V.<br />

2 Malkus, JuS 2011, 296 f. (297).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

zu finden? Im Rahmen des Vortrags als Teil der mündlichen Prüfung sind<br />

Soft Skills sogar objektives Bewertungskriterium. 3<br />

Auch die Gesetzgeber haben erkannt, wie wichtig es ist, Studenten früh an<br />

Soft Skills heranzuführen – <strong>und</strong> haben sie als Bestandteile der Ausbildung in<br />

die Prüfungsordnungen <strong>und</strong> <strong>Juristen</strong>ausbildungsgesetze eingeb<strong>und</strong>en. 4 Außerdem<br />

sind Leistungsnachweise über Soft Skills bereits häufig ein Kriterium,<br />

um zur Ersten Juristischen Prüfung zugelassen zu werden. Sollten Universitäten<br />

ihre Soft Skill-Angebote <strong>und</strong> Seminare noch vertiefender in den Curriculum<br />

einbinden? Oder ist es nicht gerade eine Soft Skill-Stärke des Studenten,<br />

sich eigenständig ein individuelles Programm zusammenzustellen?<br />

Bestenfalls ergänzen sich beide Optionen.<br />

An den Universitäten gibt es erfreulicherweise viele Soft Skill-Angebote, darunter<br />

Seminare zu Rhetorik, Verhandlungsmanagement, (Examens-)Coaching,<br />

Gesprächsführung, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsfähigkeit. Daneben werden Fremdsprachenkurse mit<br />

fachlicher Verknüpfung <strong>und</strong> andere fächerübergreifende Seminare angeboten.<br />

Ein großer Teil des Soft Skill-Angebots bietet sich im <strong>stud</strong>entischen<br />

Engagement - teilweise in Zusammenarbeit mit der Universität - zum Beispiel<br />

durch die Studienvertretung <strong>und</strong> Fachschaftsräte, <strong>stud</strong>entische Organisationen<br />

wie ELSA5 , Model United Nations6 oder Moot Court-Projekte. Daneben<br />

stehen Pflicht-Praktika auf dem Curriculum, die ermöglichen, rechtliches<br />

Handwerkszeug zu erlernen <strong>und</strong> einen Berufszweig genauer kennen zu<br />

lernen sowie Soft Skills zu vertiefen.<br />

Somit bieten die Universitäten ein umfassendes Angebot – <strong>und</strong> die unterschiedlichen<br />

Angebote bedienen unterschiedliche Ansprüche. Daher lohnt es<br />

sich als Student, die Angebote genauer unter die Lupe zu nehmen <strong>und</strong> individuell<br />

auszuwählen.<br />

D. SoFT SKILL-ANGEBoTE AUSSERHALB DER UNIVERSITäT<br />

Auch außerhalb der Universitäten öffnet sich ein breites Soft Skill-Angebot,<br />

beispielsweise im ehrenamtlichen Bereich, in politischen Jugendorganisationen<br />

oder im Rahmen von Stipendien-Netzwerken.<br />

Daneben bieten vor allem Kanzleien <strong>und</strong> Unternehmen Workshops <strong>und</strong> Seminare<br />

zum Thema Soft Skills an, die den Teilnehmern auch ermöglichen,<br />

hinter die Kulissen des potenziellen Arbeitgebers zu blicken.<br />

Nach meiner persönlichen Erfahrung sind Mentorenprogramme eine interessante<br />

Option, wie beispielsweise das Career Mentorship Programme der<br />

3 So beispielsweise: § 20 Abs. 2 S. 1 HmbJAG.<br />

4 So beispielsweise: § 5a Abs. 3 DRiG; §§ 23 Abs. 2, 2 S. 1 JAPO Bayern.<br />

5 Weitere Informationen unter: http://www.elsa-germany.org.<br />

6 Weitere Informationen unter: http://www.model-un.de.


Kanzlei Baker & McKenzie. 7 Als Student steht einem ein erfahrener Anwalt<br />

als Mentor zur Seite, mit dem man fachliche <strong>und</strong> persönliche Fragen klären<br />

kann – zum Beispiel die Praxisrelevanz des angedachten Dissertationsthemas<br />

oder wie der Berufsalltag eines Anwalts aussieht. Daneben können die Teil-<br />

nehmer unter anderem an Soft Skill-Seminaren teilnehmen, beispielsweise<br />

r<strong>und</strong> um die Themen Legal Writing oder Selbstpräsentation, sowie an Fach-<br />

sprachkursen. Insgesamt bietet ein solches Programm gute Möglichkeiten,<br />

sich über einen längeren Zeitraum kennenzulernen <strong>und</strong> festzustellen, ob man<br />

zueinander passt.<br />

E. SoFT SKILLS – PFLICHT & KüR<br />

Einige Soft Skills entwickeln sich im Laufe des Erwachsenwerdens ganz von<br />

alleine: So nimmt man <strong>für</strong> gewöhnlich Sozialkompetenzen wie einen respektvollen<br />

<strong>und</strong> höflichen Umgang miteinander aus der Kinderstube mit.<br />

Wie sich Soft Skills im Erwachsenenleben ausprägen, lässt sich in Pflicht <strong>und</strong><br />

Kür unterteilen. In nahezu jeder Stellenanzeige tauchen die Kriterien Teamfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Zuverlässigkeit auf – sozusagen die Pflicht. Aspekte wie Verhandlungsgeschick,<br />

Argumentations- <strong>und</strong> Präsentationsstärke, Rhetorik, Didaktik,<br />

Streitschlichtung <strong>und</strong> Mediation stellen hingegen die Kür dar. Daher sollte<br />

man seine persönlichen Stärken <strong>und</strong> Schwächen kennen <strong>und</strong> sich überlegen,<br />

welche Soft Skills man besonders ausprägen möchte.<br />

F. AN SICH ARBEITEN UND SICH VERBESSERN – FEEDBACK<br />

UND CoACHING<br />

Dabei steht man zunächst vor der Aufgabe, sich selbst auswerten <strong>und</strong> beurteilen<br />

zu müssen. Das ist nicht <strong>für</strong> jeden einfach, aber enorm wichtig, um sich<br />

selbst zu entwickeln. Ebenso bedeutend ist es, sich Feedback geben zu lassen,<br />

beispielsweise nach einer Präsentation oder im Anschluss an ein Praktikum.<br />

Nur so kann man die Selbst- <strong>und</strong> Fremdwahrnehmung abgleichen <strong>und</strong><br />

an sich arbeiten. Man erhält neue Ideen <strong>und</strong> kann das Publikum als Sparrings-Partner<br />

nutzen. Spricht man zu laut oder zu schnell? Schafft man es,<br />

schwächere Argumente durch Körpersprache <strong>und</strong> Haltung zu unterstützen?<br />

All diese Punkte lassen sich nur durch Feedback evaluieren <strong>und</strong> verbessern.<br />

Für das Publikum ist es oft schwierig, hilfreiches <strong>und</strong> konstruktives Feedback<br />

zu geben. Dem Vortragenden hilft ein „Ja, war ganz gut“ oder „War schlecht“<br />

als Rückmeldung wenig. Es geht vielmehr darum, Eindrücke, die Wirkung<br />

<strong>und</strong> Verbesserungsvorschläge in Worte zu fassen. Generell gilt: Feedback<br />

sollte man nur auf Wunsch des Vortragenden, immer aus der „Ich“-Perspektive,<br />

konkret <strong>und</strong> direkt mit dem Verbesserungsvorschlag verknüpft formulieren,<br />

zum Beispiel: „Für mich war Ihre Gestik in der Einleitung zu hektisch.<br />

Sie sollten versuchen, gerade zu Beginn des Vortrags die Gestik akzentuiert<br />

einzusetzen <strong>und</strong> harmonisch auf den Inhalt abzustimmen“.<br />

Neben Feedback hilft Coaching, die Selbstreflexion zu stärken <strong>und</strong> an sich<br />

zu arbeiten. Im Rahmen des Coachings, zum Beispiel des systemischen Coa-<br />

7 Weitere Informationen unter: http://www.bakermentorship.de, prämiert<br />

mit dem azur Award 2011 des JUVE-Karrieremagazins azur in der Kategorie<br />

„Referendariat <strong>und</strong> Praktikum“.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Praxis & Karriere<br />

chings, lassen sich Probleme jeglicher Art identifizieren, etwa übermäßiges<br />

Lampenfieber vor einem Vortrag oder Prüfungsangst. Zusammen mit dem<br />

Coach erarbeitet man anschließend eine Lösung. Coaching unterstützt, die<br />

eigenen Soft Skills auszubilden, es bietet aber aus meiner Sicht nicht <strong>für</strong> jeden<br />

den Schlüssel zum Erfolg. Für den einen oder anderen ist es effizienter, durch<br />

Selbstreflexion <strong>und</strong> Feedback an den eigenen Soft Skills zu arbeiten.<br />

G. EINZELSEMINARE oDER GESAMTPAKET<br />

Wenig effizient sind Einzelseminare, die sich nur theoretisch mit einem Soft<br />

Skill-Thema beschäftigen. Während eines Wochenendseminars zum Thema<br />

Rhetorik bekommt man zwar einen Einblick in dieses Thema – jedoch ohne<br />

den Transfer zur Vortrags- oder Verhandlungssituation. Daher sollten Seminare<br />

mit praktischen Elementen verknüpft <strong>und</strong> als Gesamtpaket gestaltet sein.<br />

<strong>Die</strong>se Idee schlägt sich im Angebot der Universitäten nieder, wird aber nicht<br />

konsequent verfolgt, da bereits ein Leistungsnachweis aus einem Rhetorik-<br />

Seminar den Gesamtbereich Soft Skills abdeckt. Es wäre zu wünschen, dass<br />

die Universitäten künftig an diesem Punkt ansetzen.<br />

Wer sich nicht nur <strong>für</strong> Soft Skill-Puzzleteile sondern <strong>für</strong> das komplette Puzzle<br />

interessiert, sollte sich nach einem Gesamtpaket umschauen. Eine Möglichkeit,<br />

die eigenen Soft Skills <strong>und</strong> die Persönlichkeit insgesamt zu entwickeln,<br />

bieten Moot Courts8 , vor allem die großen weltweiten Wettbewerbe<br />

wie der Willem C. Vis Moot Court on International Commercial Arbitration9 oder Philipp C. Jessup International Law Moot Court Competition10 sowie<br />

weitere Moot Courts. 11<br />

Ein Moot Court ist eine simulierte Gerichtsverhandlung. <strong>Die</strong> Teilnehmer<br />

schlüpfen in die Rolle der Parteivertreter, entwerfen Schriftsätze <strong>für</strong> die jeweilige<br />

Partei <strong>und</strong> treten in mündlichen Verhandlungen gegeneinander an. Unter<br />

Umständen gibt es einen kleinen Vorteil im anglo-amerikanischen Curriculum,<br />

denn dort sind Moot Courts großenteils Bestandteil der universitären<br />

Ausbildung. 12<br />

Der Reiz liegt nicht nur darin, in der Praxis rechtlich zu argumentieren <strong>und</strong><br />

im Team zu agieren. Man bereitet sich auch auf verschiedene Charaktere als<br />

Gegner vor, lernt Elemente des Teammanagements, Strategie <strong>und</strong> bisweilen<br />

psychologische Aspekte. Bereits am Anfang eines Moot Court-Projekts sind<br />

persönliche Fähigkeiten gefragt, um Unterstützung <strong>und</strong> Sponsoren <strong>für</strong> die<br />

Teilnahme13 zu finden.<br />

Außerdem zeigt sich der Charakter des Soft Skill-Pakets14 in der Projektdauer<br />

von mehreren Monaten. Während der gesamten Zeit ist es notwendig,<br />

8 <strong>Die</strong> Teilnahme wird teilweise von den Universitäten oder einzelnen<br />

Lehrstühlen unterstützt bzw. gefördert.<br />

9 Weitere Informationen unter: http://www.cisg.law.pace.edu/vis.html.<br />

10 Weitere Informationen unter: http://www.ilsa.org/jessup/index.php.<br />

11 Darunter beispielweise der FDI Moot Court (http://www.fdimoot.org)<br />

oder ELSA Moot Courts (http://www.elsa-germany.org/aa/moot_court/de).<br />

12 So Beispielsweise: http://www.law.harvard.edu/academics/courses/2011-<br />

12/?id=9644.<br />

13 Beispielsweise <strong>für</strong> Reisekosten oder Buch- <strong>und</strong> Kopierkosten.<br />

14 Im Weiteren werden insbesondere persönliche Erfahrungen des Verfassers<br />

bezüglich des Willem C. Vis Moot Courts einbezogen.<br />

117


118<br />

Praxis & Karriere<br />

innerhalb des Teams offen zu kommunizieren, um möglichen Konflikte ent-<br />

gegen zu wirken. Zudem muss man die eigene <strong>und</strong> die Teamarbeit koordinie-<br />

ren <strong>und</strong> Zwischenziele setzen, um nicht kurz vor einer Frist von unerledigten<br />

Aufgaben überrascht zu werden.<br />

Ein weiterer großer Vorteil eines Moot Courts: Man lernt, Schriftsätze nicht<br />

im Gutachtenstil, sondern parteiorientiert zu verfassen <strong>und</strong> rechtliche Positi-<br />

onen zu argumentieren. Daneben gilt es, strategisch zu überlegen, welche Ar-<br />

gumente der Gegenseite man bereits antizipiert oder besser nicht anspricht.<br />

Während man sich auf die mündlichen Verhandlungen vorbereitet, sollte man<br />

an der eigenen Vortragsweise arbeiten <strong>und</strong> sich auf verschiedene Gegner <strong>und</strong><br />

Richter einzustellen. Vor allem muss man daran feilen, Fragen präzise zu be-<br />

antworten <strong>und</strong> die eigene Antwort zu nutzen, der Struktur des Vortrags zu<br />

folgen. Zudem sollte man stets aufmerksam die Argumente der Gegenseite<br />

verfolgen, um mögliche Schwachstellen aufzudecken.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Kanzleien <strong>und</strong> Unternehmen unterstützen diesen Wettbewerb. Besonders im<br />

Rahmen von Probeverhandlungen oder Pre-Moot Courts 15 stellen Kanzleien<br />

<strong>und</strong> Unternehmen ihre Anwälte als Schiedsrichter zu Verfügung, um den stu-<br />

dentischen Teilnehmern praxisnahes Feedback zu geben. Daneben bietet sich<br />

die Chance, über den Beruf, Praktika oder Referendarsstationen zu sprechen. 16<br />

Während des Moot Courts lernt man Soft Skills im Rahmen der rechtlichen<br />

Arbeit. Man erhält prompt Feedback zu Erfolgen <strong>und</strong> Fehler <strong>und</strong> kann an sich<br />

arbeiten. Last not least bringt ein solches Projekt <strong>und</strong> die Zusammenarbeit<br />

mit Team <strong>und</strong> Coaches enorm viel Freude mit sich.<br />

Oft bietet sich im Anschluss an einen Moot Court die Möglichkeit, sich einem<br />

Alumni Netzwerk anzuschließen. Damit kann man in folgenden Jahren die eigenen<br />

Erfahrungen an jüngere Generationen weitergeben - <strong>und</strong> durch dieses<br />

Coaching wiederum die eigenen Soft Skills stärken.<br />

Nach meiner Erfahrung kann ich die Teilnahme an einem Moot Court,<br />

beispielsweise am Willem C. Vis Moot Court, jedem Studenten empfehlen.<br />

Es ist eine einzigartige Erfahrung, die kein Seminar ersetzen kann.<br />

H. FRüHE WEICHENSTELLUNG<br />

Bereits während des Studiums sollte man die eigenen Fähigkeiten nutzen,<br />

sich selbst <strong>und</strong> das Studium zu organisieren. Das ist vor allem in der<br />

Lernphase <strong>für</strong> die erste juristische Prüfung enorm wichtig. Dabei geht<br />

es um Lernpläne, die Koordination zwischen (Uni-)Repetitorium, Klausurenkurs,<br />

Vor- <strong>und</strong> Nachbereitung <strong>und</strong> Arbeitsgruppen. Man muss all<br />

dies koordinieren <strong>und</strong> sinnvoll planen – <strong>und</strong> unter Umständen einen Nebenjob<br />

oder ein zeitintensives Hobby integrieren. Kein Student sollte bei<br />

den Soft Skills auf Lücke setzen – die Konsequenzen zeigen sich bereits<br />

während des Studiums.<br />

Es wäre zu wünschen, dass Universitäten ihr Soft Skill-Angebot noch<br />

praxisorientierter gestalten <strong>und</strong> vermehrt praktische Elemente einbinden<br />

würden. Besonders Projekte wie Moot Courts sollten stärker in den<br />

Curriculum eingeb<strong>und</strong>en werden.<br />

<strong>Die</strong> Universitäten bieten ein f<strong>und</strong>iertes Angebot, Soft Skills auszuprägen<br />

- jeder kann selbst entscheiden, an welchen seiner Soft Skills er arbeiten<br />

möchte. Einige weiche Faktoren sollte jeder angehende Jurist mitbringen,<br />

bei anderen bietet sich die Möglichkeit, individuelle Schwerpunkte<br />

zu setzen <strong>und</strong> darin Spezialist zu werden.<br />

15 Im Rahmen eines Pre-Moot Courts treten einige Teams in der<br />

Vorbereitung auf Finalr<strong>und</strong>en gegeneinander an; so beispielsweise<br />

ein PreMoot in Düsseldorf zum Willem C. Vis Moot http://www.premoot-ro<strong>und</strong>s.de,<br />

auch Baker & McKenzie veranstaltet jährlich im<br />

Frankfurter Büro einen PreMoot Court.<br />

16 Nicht selten kann sich bei Interesse an solche Veranstaltungen ein<br />

Praktikum o.ä. anschließen.


<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Praxis & Karriere<br />

Juristischer werdegang im Vergleich: deutschland vs. Litauen<br />

oder schwieriger vs. schneller Start<br />

von Giedre Adomaviciute (Bremen) 1<br />

<strong>Die</strong>ses 1 Jahr werde ich 26 <strong>und</strong> bin seit anderthalb Jahren in Deutschland um<br />

meinen LL.M. zu machen. In Litauen habe ich schon den Bachelor- <strong>und</strong> Ma-<br />

ster<strong>stud</strong>iengang in Jura abgeschlossen <strong>und</strong> in meinem Lebenslauf stehen be-<br />

reits drei Jahre Berufserfahrung in einer Anwaltskanzlei, zwei davon sind <strong>für</strong><br />

die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erforderlich. Meinen Studienfre<strong>und</strong>en<br />

in Deutschland erzähle ich davon, dass ich in Litauen schon <strong>für</strong> Mandanten<br />

vor Gericht aufgetreten bin. Sie w<strong>und</strong>ern sich darüber, in Litauen ist das je-<br />

doch selbstverständlich. So unterschiedlich sind die juristischen Systeme in<br />

unseren Ländern. Welches besser ist, muss jeder selbst beurteilen.<br />

Das Jura<strong>stud</strong>ium bieten drei Universitäten in Litauen an. Zwei Universitäten<br />

bieten ein einstufiges Studium, nach dem man den vollwertigen Magisterab-<br />

schluss erwirbt. An der anderen Universität ist das Jura<strong>stud</strong>ium zweistufig<br />

<strong>und</strong> besteht aus einem Bachelor- <strong>und</strong> einem Master<strong>stud</strong>iengang.<br />

Das Studium ist in Litauen kostenpflichtig (ca. 1000 Euro pro Jahr). <strong>Die</strong> Studi-<br />

endauer beträgt 5 Jahre <strong>für</strong> das einstufige Studium <strong>und</strong> 5,5 Jahre <strong>für</strong> das zwei-<br />

stufige (4 Jahre Bachelor <strong>und</strong> 1,5 Master). Um berufstätig werden zu können<br />

ist das Master<strong>stud</strong>ium zwar nicht zwingend erforderlich, jedoch sind die Be-<br />

rufschancen ohne diesen Abschluss im Vergleich zu den Studenten, die beide<br />

Titel erworben haben, deutlich schlechter, weswegen sich die meisten Stu-<br />

denten <strong>für</strong> beide Studiengänge entscheiden.<br />

Anders als in Deutschland dürfen die litauischen Studenten ohne zeitliche Be-<br />

grenzung schon während des Studiums arbeiten. Um im engen Markt einen<br />

Vorteil zu erwerben, fangen viele Studenten schon während des Studiums in<br />

Kanzleien oder Unternehmen als <strong>Juristen</strong> an. Da<strong>für</strong> sind insbesondere sehr<br />

gute Möglichkeiten <strong>und</strong> eine große Möglichkeit des Fern<strong>stud</strong>iums förderlich.<br />

<strong>Die</strong>ses ist unter den meisten <strong>Juristen</strong>, die sofort nach dem Bachelorabschluss<br />

in den Beruf einsteigen möchten, sehr angesagt.<br />

<strong>Die</strong> Universitäten in Litauen bieten zunächst ein allgemeines Studienpro-<br />

gramm an. Den Großteil der Vorlesungen bilden die Pflichtveranstaltungen,<br />

die in einem verbindlichen Studienplan festgelegt sind. Das Jura<strong>stud</strong>ium be-<br />

ginnt mit Rechtstheorie, Rechtsgeschichte, Logik, Philosophie, Latein sowie<br />

mit dem allgemeinen Teil des Verfassungsrechts. Im zweiten <strong>und</strong> dritten Jahr<br />

umfasst der Studienplan alle weiteren nationalen Rechtsgebiete. Im letzten<br />

Jahr wird der Studienplan durch das internationale- <strong>und</strong> EU-Recht sowie an-<br />

dere spezielle Rechtsgebiete ergänzt. Man muss nach jedem Semester zwi-<br />

schen vier <strong>und</strong> fünf Prüfungen ablegen <strong>und</strong> mehrere Zusatzleistungen erbrin-<br />

gen. Gelingt es nicht eine Prüfung zu bestehen, so kann sie einmal kostenlos<br />

wiederholt werden. Gelingt auch der zweite Versuch nicht, ist die Wiederho-<br />

lung kostenpflichtig. Spätestens nach dem dritten erfolglosen Versuch wird<br />

der oder die Gescheiterte zwangsexmatrikuliert.<br />

1 Ass.<strong>iur</strong>. Giedre Adomaviciute, Jahrgang 1985, <strong>stud</strong>iert „Europäisches<br />

<strong>und</strong> internationales Rech“ (LL.M.) an der Universität Bremen. 2010 hat sie<br />

die anwaltliche Praxis <strong>für</strong> die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft in einer<br />

Kanzlei in Vilnius (Litauen) abgeschlossen.<br />

Das Studium besteht aus gemeinsamen Vorlesungen <strong>und</strong> „Seminaren“. Letzte<br />

sind den deutschen Arbeitsgemeinschaften ähnlich. Der Unterschied besteht<br />

darin, dass diese Seminare zu jeder Vorlesung in den einzelnen Rechtsge-<br />

bieten gehören <strong>und</strong> mit einer Anwesenheitspflicht verb<strong>und</strong>en sind. Außer-<br />

dem enthält jedes Seminar ein zwingendes Lernprogramm, das die Studenten<br />

schon vor dem Seminar bewältigen müssen. Der Lernstoff wird in jeder Semi-<br />

narveranstaltung abgefragt. Ist der Student nicht vorbereitet, so muss er diese<br />

Kurseinheit in der Sprechst<strong>und</strong>e des Dozenten nachholen. <strong>Die</strong> Teilnahme<br />

an den Seminaren <strong>und</strong> die aktive Beteiligung daran können bis zu 40 % der<br />

Klausurendnote ausmachen. Wer fleißig während des ganzen Semesters war<br />

braucht nicht nur weniger <strong>für</strong> die Klausuren lernen, sondern kann sich auch<br />

sicherer fühlen, was das Bestehen der Klausuren angeht.<br />

Zusätzlich müssen die Jura<strong>stud</strong>enten im dritten <strong>und</strong> vierten Jahr ein Prak-<br />

tikum (insgesamt 400 St<strong>und</strong>en) an verschiedenen Stellen absolvieren. Da-<br />

nach folgen die Examina. Im Vergleich zu den deutschen Studenten haben es<br />

die litauischen Jura<strong>stud</strong>enten leichter, weil zum Abschluss des Bachelor<strong>stud</strong>i-<br />

ums nur zwei schriftliche Examensklausuren erforderlich sind. Ein Examen<br />

schreibt man in der Rechtstheorie, welche auch die Rechtsphilosophie um-<br />

fasst. <strong>Die</strong> zweite Examensklausur können die Studenten aus den Bereichen<br />

des Zivil-, des Öffentlichen- oder des Strafrechts wählen, die jeweils auch das<br />

dazugehörige Prozessrecht mit umfassen.<br />

Der universitäre Studienabschluss hat in Litauen ähnliche Bedeutung wie das<br />

erste Staatsexamen in Deutschland, weil man anschließend noch kein Volljurist<br />

ist. Man darf zwar als Jurist arbeiten, jedoch wird <strong>für</strong> die Tätigkeit des Anwalts,<br />

des Notars <strong>und</strong> des Staatsanwalts eine zusätzliche Qualifikation benötigt.<br />

Richter können inter alia nur die <strong>Juristen</strong> mit beiden Abschlüssen werden.<br />

Um Rechtsanwalt zu werden muss man in Litauen mindestens zwei Jahre anwaltliche<br />

Praxis in einer Kanzlei vorweisen. Danach folgen zwei staatliche<br />

Qualifikationsprüfungen aus allen Rechtsgebieten, die sowohl schriftlich als<br />

auch mündlich abzulegen sind <strong>und</strong> einen hohen Schwierigkeitsgrad aufweisen.<br />

Während der Praxiszeit ist man als selbstständiger Jurist tätig <strong>und</strong> wird<br />

dabei von einem Anwalt betreut. Schon im zweiten Jahr darf man vor dem<br />

Gericht mit begrenztem Streitwert, der <strong>für</strong> litauische Verhältnisse allerdings<br />

verhältnismäßig hoch ist, auftreten. Da der litauische Markt ziemlich eng<br />

<strong>und</strong> die Konkurrenz sehr stark ist, gehören zum Alltag des Berufsanfängers<br />

manchmal mehr als 12 Arbeitsst<strong>und</strong>en bei minimalem Anfangsgehalt. Des<br />

Weiteren dürfen Anwälte sowie Berufseinsteiger während der Praxiszeit keine<br />

anderen Tätigkeiten ausüben, d.h. es ist ihnen nicht gestattet anderswo als <strong>Juristen</strong><br />

oder Geschäftsführer zu arbeiten. Da<strong>für</strong> verfügen sie über die Vorteile<br />

eines Selbständigen – 15 % Einkommensteuer sowie 9 % <strong>für</strong> Sozialversicherung.<br />

Gleichzeitig gibt es aber auch Nachteile wie z.B. geringere Sozialgarantien<br />

<strong>und</strong> Altersversorgung.<br />

<strong>Die</strong> Notare sind in Litauen vom Staat bzw. vom Justizminister ernannte Personen<br />

mit einem juristischen Studienabschluss, die <strong>für</strong> die Sicherstellung,<br />

dass zwischen den bürgerlichen Rechtsverhältnissen keine illegalen Geschäfte<br />

119


120<br />

Praxis & Karriere<br />

<strong>und</strong> Dokumente entstehen, zuständig sind. Notar kann werden, wer sich auf<br />

eine öffentliche Ausschreibung bewirbt, mindestens ein Jahr als Notarasses-<br />

sor tätig war <strong>und</strong> eine Qualifikationsprüfung des Notariats bestanden hat. <strong>Die</strong><br />

notarielle Beglaubigung ist in Litauen bei vielen Geschäften erforderlich, wo-<br />

bei die Notargebühren <strong>für</strong> litauische Verhältnisse ziemlich hoch sind. Deswe-<br />

gen ist diese juristische Tätigkeit besonders beliebt <strong>und</strong> wird oft über Genera-<br />

tionen in einer Familie ausgeführt.<br />

Um ein Amt als Richter an einem Amtsgericht antreten zu können werden<br />

mindestens fünf Jahre juristische Berufserfahrung <strong>und</strong> eine Qualifikations-<br />

prüfung zum Richteramt benötigt. Nach weiteren fünf Jahren Berufserfah-<br />

rung können Richter zum Landrichter ernannt werden. <strong>Die</strong> Richter am Ober-<br />

sten Gerichtshof müssen mindestens eine achtjährige Berufspraxis an einem<br />

Landgericht vorweisen können. Ausnahmsweise ist keine Berufserfahrung als<br />

Richter erforderlich, wenn ein Doktortitel <strong>und</strong> wenigstens eine zehnjährige<br />

Lehrtätigkeit nachgewiesen werden kann.<br />

Unter diesem Aspekt bildete eine Podiumsdiskussion den Abschluss der Tagung<br />

am 11. März 2011 zum Thema „Praktische Jurisprudenz - Clinical Legal<br />

Education <strong>und</strong> Anwaltsorientierung im Studium“ im Ravensberger Park<br />

in Bielefeld.<br />

<strong>Die</strong> Tagung fand in der Hechelei im Ravensberger Park der Stadt Bielefeld<br />

statt; dorthin hatten Studierende <strong>und</strong> <strong>Juristen</strong> der unterschiedlichsten Berufe<br />

ihren Weg gef<strong>und</strong>en. Vorsitzende des JPA, Juniorprofessoren. Ebenso vielfältig<br />

waren die Regionen aus denen die Teilnehmer stammten, dabei war der<br />

weiteste Weg zweifellos der aus Innsbruck in Österreich.<br />

<strong>Die</strong> Tagung, die sich mit der Vorstellung verschiedener Projekte zum Thema<br />

der praktischen <strong>Juristen</strong>ausbildung befasste, wurde von der Universität<br />

Bielefeld angestoßen. <strong>Die</strong> Vertreter der Universität führten auchdurch das<br />

Programm.<br />

Nach einem Grußwort durch Prof. Dr. Susanne Hähnchen <strong>und</strong> Dekan<br />

Prof. Dr. Michael Kotulla, M.A. wurden die verschiedenen Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Projekte vorgestellt, die eine praktische <strong>Juristen</strong>ausbildung fördern <strong>und</strong><br />

unterstützen.<br />

Unter der Moderation von Prof. Dr. Detlef Kleindiek begann die Reihe der<br />

Projekte mit Prof. Dr. Stephan Barton, der einen einführenden Vortrag unter<br />

dem Thema „Ist praktische Jurisprudenz möglich“ hielt. In diesem Vortrag<br />

wurden vor allem die Pro- <strong>und</strong> Contraargumente <strong>für</strong> eine größere Praxisbezogenheit<br />

in der <strong>Juristen</strong>ausbildung erläutert. Gegen eine inhaltliche<br />

Neuausrichtung lässt sich besonders die Be<strong>für</strong>chtung einer „Verpraxung“<br />

der Rechtswissenschaft nennen – die erfolgreiche juristische Berufstätigkeit<br />

sei schließlich eine Kunst <strong>und</strong> keine Wissenschaft. Auch sei man gegen<br />

eine Studienreform, weil die deutsche <strong>Juristen</strong>ausbildung im internationalen<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Berufserfahrung ist nur bei der Staatsanwaltschaft nicht erforderlich. Für die-<br />

ses Amt muss man nur eine Qualifikationsprüfung zur Zulassung zur Staats-<br />

anwaltschaft bestehen. Allerdings entscheiden sich die meisten <strong>Juristen</strong> <strong>für</strong><br />

diese Prüfung erst, nachdem sie bereits seit längerer Zeit in der Staatsanwalt-<br />

schaft tätig waren.<br />

Wie bereits ausgeführt wurde, muss man sich in Litauen schon direkt nach<br />

dem Studienabschluss entscheiden, in welche juristische Richtung man ge-<br />

hen will. <strong>Die</strong> Entscheidung wird auch nicht etwa dadurch erleichtert, dass<br />

man in Litauen meistens schon mit 23 Jahren mit dem Studium fertig ist. Eine<br />

Änderung des gewählten Werdegangs ist zwar gr<strong>und</strong>sätzlich möglich, kostet<br />

jedoch viel Zeit. Merkt man nach fünf Jahre im Richteramt, dass die Entschei-<br />

dung nicht richtig war, so muss man in jedem anderen Bereich von vorne<br />

anfangen.<br />

Verdirbt die Praxis wissenschaft?<br />

von Lea Benning (Bielefeld)<br />

Vergleich gut dastehe. Gegen dieses Argument <strong>und</strong> <strong>für</strong> eine Veränderung in<br />

der Praxisbezogenheit stehe die Ansicht, dass sich die Stellung der deutschen<br />

<strong>Juristen</strong>ausbildung durch vermehrte Praxisbezogenheit nur verbessern lassen<br />

könne.<br />

<strong>Die</strong>se von Prof. Dr. Stephan Barton angesprochene vermehrte Praxisbezogenheit<br />

wurde durch verschiedene Projekte der anwesenden Vertreter der<br />

Universitäten in einer Vielzahl an Möglichkeiten dargestellt.<br />

Besonders hervorgestochen unter den Projekten hat jenes der Europa-Universität<br />

Viadrina Frankfurt (Oder), vorgestellt durch Prof. Dr. Dr. Uwe Scheffler<br />

<strong>und</strong> Wiss. Mitarb. Christin Toepler. In diesem Projekt geht es um eine<br />

Gestaltung von Moot-Courts mit <strong>und</strong> größtenteils von den Studenten selbst.<br />

Durch das Ausgestalten eigener Paragraphen als „Spielregeln“ <strong>und</strong> einer Ermittlungsakte,<br />

die dann durch die Leiter des Projektes mit Verfahrensfehlern<br />

gespickt wurden, sollen die Studierenden in besonderer Form Gesprächsführung,<br />

Rhetorik, Vernehmungslehre <strong>und</strong> Kommunikationsfähigkeit erproben.<br />

Um diesem Projekt des Moot-Courts noch eine besondere Authentizität zu<br />

vergeben, wurde die abschließende Verhandlung im Großen Schwurgerichtssaal<br />

das LG Frankfurt (Oder) unter der Leitung eines Vorsitzenden Richters<br />

gehalten. Der Moot-Court endete statt mit einem Urteil mit einer Würdigung<br />

der „Leistungen“.<br />

Der erste Teil der Tagung wurde durch zwei weitere Vorträge abger<strong>und</strong>et:<br />

Zum einen von Prof. Dr. Joachim Zekoll, LL.M („Clinical Legal Education -<br />

amerikanische Erfahrungen <strong>für</strong> die deutsche <strong>Juristen</strong>ausbildung“) <strong>und</strong> zum<br />

anderen von Dr. Judith Brockmann („Hochschuldidaktische Herausforderungen<br />

einer praxisorientierten <strong>Juristen</strong>ausbildung“).<br />

Prof. Zekoll, der sehr lange in den USA Erfahrungen zur dortigen praxisbezo-


genen <strong>Juristen</strong>ausbildung sammelte, schilderte dem Publikum, dass die amerikanischen<br />

Studierenden ihre Praxiserfahrungen besonders durch Mandatsarbeiten<br />

in Rechtsstreitigkeiten erhalten. Dazu gehöre sowohl das Gespräch<br />

mit Mandanten, das Abfassen von Schriftsätzen <strong>und</strong> Anträgen, sowie das Auftreten<br />

vor Gericht.<br />

Dr. Brockmann regte die Anwesenden vor allem zum Nachdenken an, da an<br />

die Hochschule besondere Anforderungen gestellt werden, wenn eine praxisbezogene<br />

Ausbildung Einzug halten soll. Prägend <strong>für</strong> ihren Vortag war besonders<br />

die Frage: „Wer was von wem wann mit wem wo wie womit <strong>und</strong> wozu<br />

lernen soll“.<br />

Am Nachmittag wurden weitere Projekte vorgestellt. Man begann mit dem<br />

Projekt von <strong>stud</strong>.jur. Johannes Oesterling <strong>und</strong> <strong>stud</strong>.jur. Viola Scharbius. Sie<br />

arbeiteten am Fall „Harry Wörz“ mit. In diesem Projekt konnten die Studierenden<br />

besonders den Umgang mit dem Verfahren, den Ermittlungsakten<br />

<strong>und</strong> den Beteiligten (Mandat, Richter, StA) erlernen <strong>und</strong> verbessern. Besonders<br />

die Einbindung <strong>und</strong> Anwendung von Inhalten des Schwerpunktbereichs<strong>stud</strong>iums<br />

bildete eine Motivation, ebenso wie die Orientierungshilfe <strong>für</strong><br />

die Berufswahl.<br />

Im darauffolgenden Projekt „Anwaltsseminare“ vorgestellt durch Dr. Kathrin<br />

Brei <strong>und</strong> Prof. Dr. Fritz Jost ging es vor allem darum, die Führung eines Zivilprozesses<br />

als Anwältin/Anwalt den Studierenden näher zu bringen. Hervorgehoben<br />

wurden die Aspekte im Zivilprozessrecht <strong>und</strong> Zivilrecht.<br />

Das Projekt „Schadensregulierung“, das ebenfalls durch Prof. Dr. Fritz Jost<br />

<strong>und</strong> durch RA Dr. Rainer Heß vorgestellt wurde, setzt den Schwerpunkt auf<br />

die Einführung in die Abwicklung von Verkehrsunfällen unter der Einbeziehung<br />

der Versicherer. Hier werden besonders der Rechtsgebiete des Schadensrechts<br />

<strong>und</strong> des Versicherungsrechts abgedeckt.<br />

Das Projekt „Wohnraumietrecht“ wurde von RiAG Ulf Börstinghaus vorgestellt.<br />

<strong>Die</strong> besondere Zielsetzung des Projektes bestand darin zum Abschluss<br />

der Veranstaltung eine gerichtliche Entscheidung von den Studierenden vorbereiten<br />

<strong>und</strong> entwickeln zu lassen. Im Zentrum der Veranstaltung stand besonders<br />

das materielle Recht <strong>und</strong> damit das Gerichtsverfahren, das praxisgerecht<br />

<strong>und</strong> realitätsnah dargeboten wurde.<br />

<strong>Die</strong> Zielsetzung des Projektes der Universität Gießen „Refugee Law Clinic“,<br />

vorgestellt durch RiVG Dr. Dr. Paul Tiedemann <strong>und</strong> Wiss. Mit. Janina Gieseking,<br />

ist eine ganz andere, als bei den vorherigen Projekten. Durch ein Praktikum<br />

bei der Außenstelle des B<strong>und</strong>esamtes <strong>für</strong> Migration <strong>und</strong> Flüchtlinge in<br />

Gießen, kommen die Studierenden mit dem Asylrecht in Kontakt. In der Praxisphase<br />

treten sie dann zusätzlichals Berater der Flüchtlinge auf. <strong>Die</strong>ses Projekt<br />

lässt die Teilnehmer unmittelbar an der Rechtswirklichkeit teilhaben <strong>und</strong><br />

vermittelt durch die Konfrontation mit Asylsuchenden <strong>und</strong> hilfesuchenden<br />

Menschen soziale Kompetenz.<br />

Ein anderes, sozial geprägtes Projekt wurde von Wiss. Mit. Nora Markard<br />

der Humboldt Universität vorgestellt. Im Rahmen dieses Projektes beschäftigen<br />

sich die Studierenden mit Menschenhandel, „Terrorlisten“ <strong>und</strong> der Verantwortung<br />

deutscher Unternehmen <strong>für</strong> Menschenrechtsverletzungen im<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Praxis & Karriere<br />

Kongo. Dabei arbeiten sie eng zusammen mit Amnesty International, DIMR<br />

oder Ban Ying.<br />

Ein weiterer wichtiger Punkt in der <strong>Juristen</strong>ausbildung kristallisierte sich bei<br />

den letzten beiden Projekten heraus: <strong>Die</strong> juristische Beratungspraxis. Mit<br />

dieser Thematik beschäftigt sich zum einen das Projekt von RA Prof. Dr.<br />

Christine M. Graebsch „Rechtsberatung <strong>für</strong> Gefangene“, in dem die Studierenden<br />

neben der persönlichen Rechtsberatung von Gefangenen in den Bremer<br />

Haftanstalten, auch die Möglichkeit haben im Strafvollzugsarchiv an der<br />

Beantwortung von Gefangenenanfragen mitzuwirken. Zum anderen tut dies<br />

auch das Projekt, welches von Prof. Dr. Bernd Oppermann, LL.M vorgestellt<br />

wurde. Kern seines Projektes ist es, die juristischen Beratungsmethoden<br />

den Studierenden auch mit Hilfe von Rechtsanwälten beizubringen, um das<br />

Erlernte dann unter Aufsicht auf einen realen Fall anzuwenden. Dabei übersteigt<br />

der Gegenstandswert jedoch nie 750 €.<br />

Nach dieser Vielzahl von Projekten, die die unterschiedlichsten Bereiche der<br />

Möglichkeiten der <strong>Juristen</strong>ausbildung ansprachen, wurde die Tagung mit einer<br />

Podiumsdiskussion unter der Leitung von Prof. Dr. Fritz Jost geschlossen.<br />

Das Fazit der Diskussion vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Projekte war, dass viele<br />

der anwesenden Lehrenden die Angst der bereits angesprochenen Verpraxung<br />

stets im Hinterkopf haben. Ebenso stellt sich oft die Frage der Durchsetzbarkeit<br />

der komplexen Projekte bei der hohen Zahl der Studierenden.<br />

Der entscheidende Schlussimpuls kam allerdings aus dem Publikum von<br />

Prof. Dr. Susanne Hähnchen. Ihr fehlte auf der Bühne ein sehr wichtiger Teil<br />

dieser Projekte <strong>und</strong> der Diskussion: Der Student selbst.<br />

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121


122<br />

Praxis & Karriere<br />

Modernes Compliance – Herausforderung oder Bestrafung<br />

von Fabian Jeremias (Bielefeld)<br />

Vielen Studenten <strong>und</strong> Referendaren der Rechtswissenschaften wird das<br />

Thema „Compliance“ in ihrem universitären Alltag nicht begegnet sein.<br />

Dabei ist dieses Thema sowohl mit Blick auf den Berufseinstieg als auch auf<br />

die Nachfrage nach Compliance-<strong>Juristen</strong> in Wirtschaftskanzleien <strong>und</strong> Unter-<br />

nehmen zunehmend bedeutsam. Galt es früher noch als „Bestrafung“ sich<br />

diesem Themengebiet zu widmen, bieten sich heute interessante <strong>und</strong> viel-<br />

schichtige „Herausforderungen“ <strong>für</strong> einen Compliance-<strong>Juristen</strong>.<br />

Über den Dächern Bielefelds - auf der „Alm“ (Schüco Arena in den Räum-<br />

lichkeiten von Mayflower Capital) - haben sich Stipendiaten der Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung im Rahmen eines Workshops den verschiedenen Sichtwei-<br />

sen <strong>und</strong> Herausforderungen des Compliance gestellt. Inhaltlich aufbereitet<br />

<strong>und</strong> begleitet wurde der Workshop von der Kanzlei Glade Michel Wirtz aus<br />

Düsseldorf.<br />

Behaftet mit der Legende „Bielefeld gibt es nicht“ haben trotz alledem die<br />

Teilnehmer <strong>und</strong> Referenten den Weg in die Ostwestfälische Metropole<br />

gef<strong>und</strong>en. Pünktlich haben die Veranstalter den Workshop eingeläutet, die<br />

Stipendiaten organisatorisch eingewiesen <strong>und</strong> Marcus Jacob (Deutsche Apo-<br />

theker- <strong>und</strong> Ärztebank) das Wort <strong>für</strong> den ersten Aufschlag zum Begriff<br />

„Compliance“ <strong>und</strong> zur Implementiereung eines modernen Compliance Sys-<br />

tems im Unternehmen erteilt. <strong>Die</strong> aktive Teilnahme der Stipendiaten bestand<br />

im Nachgang des Vortrages darin, Compliancestrukturen <strong>für</strong> ein Pharmaun-<br />

ternehmen <strong>und</strong> <strong>für</strong> einen Automobilhersteller zu entwickeln. Unter den<br />

prüfenden Augen des nachfolgenden Referenten der Bielefelder Unternehmer-<br />

schaft, Christoph Harras-Wolff (geschäfts-<br />

führender Gesellschafter der Dr. Wolff<br />

GmbH & Co. KG Arzneimittel), wurden<br />

die Ergebnisse vorgestellt, gewürdigt <strong>und</strong><br />

gekonnt in den folgenden Beitrag aufgenommen.<br />

„Aus der Sicht des Unternehmers<br />

dient Compliance der Haftungsminderung<br />

sowohl strafrechtlich als auch zivilrechtlich“<br />

so Harras-Wolff. Aber gerade auch um den<br />

Ruf der Pharmaunternehmen zu verbessern,<br />

unterwerfen sie sich bestimmten Verhaltenskodices.<br />

Denn eine so sensible Branche<br />

befindet sich im medialen, politischen<br />

<strong>und</strong> rechtlichen Spannungsfeld <strong>und</strong> bedarf<br />

daher klarer Regeln. <strong>Die</strong> anschließende lebhafte<br />

Diskussion gab der Staatsanwaltschaft,<br />

vertreten durch Staatsanwalt Jan Oelbermann,<br />

die Gelegenheit die Teilnehmer <strong>für</strong><br />

die strafrechtlichen Aspekte zu sensibilisieren.<br />

Mit zahlreichen Beispielen aus der<br />

Ein Workshop von Stipendiaten<br />

der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

<strong>und</strong> der Kanzlei Glade Michel Wirtz<br />

aus Düsseldorf<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Praxis gelang es ihm, den Stipendiaten die Perspektive der Strafverfolgungsbehörde<br />

näher zu bringen. Während die Veranstalter die Vorbereitungen<br />

<strong>für</strong> die Abendveranstaltung in einem gemütlichen Wirtshaus in der Altstadt<br />

Bielefelds vornahmen, wurde Staatsanwalt Jan Oelbermann noch mit Fragen<br />

ins Kreuzverhör genommen.<br />

Am folgenden Tag mussten die Stipendiaten dann selbst ran. Dr. Jochen<br />

Markgraf (Deutsche Apotheker- <strong>und</strong> Ärztebank) <strong>und</strong> Rechtsanwalt Florian<br />

Lauscher (Glade Michel Wirtz) leiteten ihren Workshop mit einem Kurzvortrag<br />

ein, indem sie eine thematische Einführung in das Kartellrecht gaben<br />

<strong>und</strong> den zu bearbeitenden Fall zu kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen<br />

<strong>und</strong> internen Regressansprüchen vorstellten. In zwei Teams hatten<br />

die Stipendiaten unter dem Motto „Da<strong>für</strong> wirst du büßen!“ Schadensersatzansprüche<br />

des kartellgeschädigten K<strong>und</strong>en gegen den Kartellanten zu prüfen<br />

<strong>und</strong> zu würdigen. In einer fiktiven Verhandlungssituation kam es dann<br />

zwischen den Teams zum „showdown“. Mit allen rechtlichen Finessen <strong>und</strong><br />

taktischem Geschick machten die einen Ansprüche geltend, während die anderen<br />

sie vernichteten. Kurzum: Man schenkte sich nichts.<br />

Nachdem die Beteiligten nach realitätsnahen Verhandlungen ein Verhandlungsergebnis<br />

erzielten, mit dem alle gut leben konnten, r<strong>und</strong>ete Rechtsanwalt<br />

Dr. Peter Talaska (Streck Mack Schwedhelm) gekonnt den Workshop mit<br />

dem Vortrag zum Compliance im Strafverfahren ab. Einfangend erläuterte er<br />

wie es abläuft, wenn die Steuerfahndung ins Haus kommt <strong>und</strong> welche Maßnahmen<br />

schnellstmöglich ergriffen werden müssen.


ein gutes Compliance-Programm ist ein Baustein<br />

<strong>für</strong> ein erfolgreiches <strong>und</strong> langfristiges Agieren eines Unternehmens<br />

Ein Interview mit Christoph Harras-Wolff von Herausgeber Jens-Peter Thiemann (Bielefeld)<br />

Christoph Harras-Wolff ist Urenkel des Firmengründers Dr. August<br />

Wolff <strong>und</strong> seit April 2006 geschäftsführender Gesellschafter bei<br />

der Dr. August Wolff GmbH & Co. KG Arzneimittel. In Erlangen <strong>und</strong><br />

München <strong>stud</strong>ierte er Jura, wo er das 1. juristische Staatsexamen<br />

ablegte. Nach der Referendarausbildung <strong>und</strong> dem 2. juristischen<br />

Staatsexamen arbeitete er von 2001 bis 2004 als wissenschaft-<br />

licher Mitarbeiter <strong>und</strong> Rechtsanwalt in der renommierten Kanzlei<br />

Dr. Kießel & Tomanke in München. Unternehmerische Erfahrungen<br />

sammelte er zwei Jahre lang bei der Firma Dr. August Oetker<br />

Nahrungsmittel KG in Bielefeld.<br />

Hier lagen seine Schwerpunkte<br />

im Controlling <strong>und</strong> beim<br />

internationalen Einkauf.<br />

ChRiStoph haRRaS-WoLff<br />

<strong>Iurratio</strong>: Was bedeutet Compliance aus Unternehmersicht <strong>für</strong> Sie?<br />

Harr as-wolff: Compliance dient der Vermeidung strafrechtlicher <strong>und</strong><br />

zivilrechtlicher Haftung von Unternehmen, Geschäftsleitung <strong>und</strong> handeln-<br />

den Personen.<br />

Ein gutes Compliance-Programm bedeutet somit Schutz des Unternehmens<br />

<strong>und</strong> aller Mitarbeiter <strong>und</strong> ist somit Baustein <strong>für</strong> ein erfolgreiches, langfristiges<br />

Agieren eines Unternehmens am Markt.<br />

<strong>Iurratio</strong>: Welche Herausforderungen sehen Sie <strong>für</strong> Ihre Branche im<br />

Bereich Compliance? Sind diese Herausforderungen langfristig nur durch<br />

eigene Compliance-Abteilungen zu meistern?<br />

Harr as-wolff: <strong>Die</strong> pharmazeutische Industrie genießt in Politik <strong>und</strong><br />

Bevölkerung einen inakzeptabel schlechten Ruf. Transparenz als Bestandteil<br />

von Compliance kann eine Brücke zur Verbesserung dieses Images sein. <strong>Die</strong><br />

Einrichtung einer eigenen Compliance-Abteilung ist sicherlich wünschens-<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Praxis & Karriere<br />

wert, hängt aber selbstverständlich von der Größe eines Unternehmens ab.<br />

Auch externe <strong>Die</strong>nstleister wie Anwaltssozietäten oder Selbstverpflichtungs-<br />

verbände können maßgeblich bei der Einrichtung von Compliance-Struk-<br />

turen helfen.<br />

<strong>Iurratio</strong>: Sie sind persönlich haftender Geschäftsführer der Dr. August<br />

Wolff GmbH & Co. KG Arzneimittel. Daneben sind Sie Vorsitzender des<br />

Vereins Arzneimittel <strong>und</strong> Kooperation im Ges<strong>und</strong>heitswesen e. V. (AKG).<br />

Was hat Sie dazu bewogen, diese zusätzliche Aufgabe anzunehmen? Welche<br />

Rolle nehmen Vereine wie der AKG bei der Bewältigung der Herausforde-<br />

rungen im Bereich Compliance ein?<br />

Harr as-wolff: Ein Unternehmen agiert nicht im luftleeren Raum,<br />

sondern ist regelmäßig Teil einer Branche. Der Ruf unserer Branche, der<br />

pharmazeutischen Industrie ist nicht gut <strong>und</strong> ich möchte gerne, soweit mir<br />

das möglich ist, dazu beitragen, dass er sich wieder verbessert. Es sollen die<br />

Leistungen unserer Industrie wieder mehr gewürdigt werden, denn schließ-<br />

lich heilen oder lindern unsere Produkte Krankheiten <strong>und</strong> verhelfen so zu<br />

einem längeren Leben.<br />

Der AKG e.V. ist der mitgliederstärkste Selbstverpflichtungsverband der<br />

pharmazeutischen Industrie. <strong>Die</strong> Idee <strong>und</strong> Struktur von Healtcare-Compli-<br />

ance kann somit über eine breite Basis im Markt etabliert werden, aber er<br />

verleiht den Mitgliedsunternehmen auch eine Stimme Richtung Öffentlich-<br />

keit <strong>und</strong> Politik.<br />

<strong>Iurratio</strong>: Was hat Sie dazu bewogen als Referent zum Gelingen des durch<br />

den Stipendiaten Fabian Jeremias zum Thema „Modernes Compliance –<br />

Herausforderung oder Bestrafung“ organisierten Workshop beizutragen <strong>und</strong><br />

diesem darüber hinaus auch als Zuhörer beizuwohnen?<br />

Harr as-wolff: Es war <strong>für</strong> mich die Möglichkeit, das Bewusstsein <strong>für</strong><br />

einen speziellen Bereich des Compliance, nämlich von Healthcare-Compli-<br />

ance zu schärfen. <strong>Die</strong>s ist mittlerweile <strong>für</strong> alle größeren Sozietäten, die sich<br />

mit Arzneimittelrecht beschäftigen, ein wichtiges Betätigungsfeld. Darüber<br />

finde ich es immer spannend zu hören, wie andere Compliance-Bereiche<br />

funktionieren <strong>und</strong> welche Schwierigkeiten es dort gibt.<br />

<strong>Iurratio</strong>: Was halten Sie gr<strong>und</strong>sätzlich von der in diesem Workshop<br />

gelebten Workshopkultur des Austausches zwischen Unternehmen <strong>und</strong><br />

Studierenden?<br />

Harr as-wolff: Theorie <strong>und</strong> Praxis – <strong>für</strong> beide Seiten eine Bereicherung.<br />

<strong>Iurratio</strong>: Können solche Workshops langfristig zu einer stärkeren<br />

Verzahnung der juristischen Ausbildung <strong>und</strong> Praxis beitragen?<br />

Harr as-wolff: Das ist denkbar <strong>und</strong> sicherlich auch wünschenswert.<br />

<strong>Iurratio</strong>: Vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch!<br />

123


124<br />

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Prof. Dr. Thomas Fetzer<br />

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wiss. Hilfskraft (m/w)<br />

(10-19 St<strong>und</strong>en/Woche)<br />

Bewerbungsschluss: 05.07.2011<br />

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<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

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Institut <strong>für</strong> Bankrecht<br />

Prof. Dr. Klaus Peter Berger, LL.M.<br />

Lehrstuhl <strong>für</strong> Bürgerliches Recht, Deutsches <strong>und</strong> Internationales<br />

Handels-,Wirtschafts- <strong>und</strong> Bankrecht,<br />

Internationales Privatrecht <strong>und</strong> Rechtsvergleichung<br />

Wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in<br />

(40 Std., volle Stelle)<br />

Bewerbungsschluss: ohne<br />

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Köln, Berlin, München, Frankfurt a.M., Essen<br />

Referendare (m/w)<br />

Einstellungszeitpunkt(e): Laufend<br />

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Der Lehrgang vermittelt einen umfassenden Einblick in die Praxis des Bank- <strong>und</strong><br />

Kapitalmarktrechts <strong>und</strong> der Unternehmensfinanzierung. Er wendet sich an hoch<br />

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wirtschaftlichen Verständnis <strong>und</strong> besonderem Interesse <strong>für</strong> das Bank<strong>und</strong><br />

Kapitalmarktrecht.<br />

<strong>Die</strong> Referenten sind Partner folgender Sozietäten:<br />

Darüber hinaus werden auch zahlreiche Vertreter von Banken teilnehmen.<br />

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Telefon: +49 (69) 798-33628 • E-Mail: info@ilf.uni-frankfurt.de


126<br />

Rechtsprechung<br />

Gericht<br />

Art der<br />

Entscheidung<br />

BGH Beschluss 12.01.2011 GSSt 1/10<br />

BVerfG Beschluss 07.03.2011 1 BvR 388/05<br />

BGH Beschluss 15.03.2011 1 StR 75/11<br />

Ausbildungsrelevante entscheidungen<br />

Datum Aktenzeichen Themenstichworte Rechtsgebiet<br />

Sind Anklageschriften wegen einer hohen Zahl gleichartiger<br />

Tatvorwürfe oder Einzelakte sehr lang, müssen diese unter<br />

bestimmten Voraussetzungen nicht vollständig verlesen<br />

werden, wodurch St<strong>und</strong>en lange oder Tage lange Anklageverlesungen<br />

nicht mehr erforderlich sind.<br />

Strafbarkeit wegen Nötigung durch Sitzblockade <strong>und</strong> das<br />

Gr<strong>und</strong>recht auf Versammlungsfreiheit<br />

Keine Strafrahmenverschiebung bei Aufklärungshilfe<br />

nach Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß<br />

§ 31 II BtMG i.V.m. 46b III StGB<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 2 / 2011<br />

Strafverfahrensrecht<br />

Strafrecht/<br />

Öffentliches Recht<br />

BGH Urteil 14.04.2011 4 StR 669/10 BGH u.a. zur Einvernehmlichkeit bei § 174c StGB Strafrecht<br />

BVerfG Urteil 04.05.2011<br />

2 BvR 2365/09,<br />

2 BvR 740/10,<br />

2 BvR 2333/08,<br />

2 BvR 571/10,<br />

2 Bvr 1152/10<br />

BGH Urteil 17.05.2011 1 StR 50/11<br />

OLG Köln Urteil 02.03.2011 6 U 165/10<br />

Regelungen über die Sicherungsverwahrung sind<br />

verfassungswidrig, vgl. dazu auch <strong>Iurratio</strong>-Karteikarte<br />

VerfR 4001<br />

BGH nimmt zu den Anforderungen an das Mordmerkmal<br />

der Verdeckungsabsicht Stellung<br />

AGB-Klausel, die eine Ersatzzustellung bei anderen<br />

Hausbewohnern oder Nachbarn erlaubt, ohne dass eine<br />

Benachrichtigung erfolgt, ist unwirksam.<br />

Strafrecht/<br />

Öffentliches Recht<br />

Strafrecht<br />

Zivilrecht<br />

BGH Urteil 09.03.2011 VIII ZR 266/09 Beweislast <strong>für</strong> das Fehlschlagen der Nachbesserung Zivilrecht<br />

BGH Urteil 22.03.2011 II ZR 249/09<br />

BGH Urteil 22.03.2011 II ZB 19/09<br />

BGH Urteil 24.03.2011<br />

VII ZR 164/10,<br />

VII ZR 146/10,<br />

135/10, 134/10,<br />

111/10<br />

Zur Rechtskrafterstreckung eines Urteils bei Inanspruchnahme<br />

der Gesellschafter einer GbR aus ihrer persönlichen Haftung<br />

BGH zur Organisation einer wirksamen Fristenkontrolle des<br />

Prozessbevollmächtigten<br />

Zivilprozessrecht<br />

Zivilprozessrecht<br />

BGH zu § 649 Satz 1 <strong>und</strong> 2 BGB Zivilrecht<br />

BGH Urteil 13.04.2011 VIII ZR 220/10 Bestimmung des Erfüllungsorts der Nacherfüllung Zivilrecht<br />

BGH Urteil 04.05.2010 VIII ZR 195/10 Ersatzansprüche des Mieters wegen Schönheitsreparaturen Zivilrecht<br />

BGH Urteil 11.05.2011 VIII ZR 289/09 Nutzung eines fremden ebay-Kontos Zivilrecht<br />

BVerwG Urteil 23.02.2011 8 C 50.09<br />

BVerfG Beschluss 24.02.2011<br />

VG Karlsruhe<br />

2 BvR 1596/10 ,<br />

2 BvR 2346/10<br />

Urteil 07.04.2011 6 K 2400/10<br />

Mengenmäßige Beschränkung der Abgabe von Alkohol an<br />

Tankstellen außerhalb der Ladenöffnungszeiten rechtmäßig<br />

BVerfG erneut zum Richtervorbehalt bei der Blutentnahme<br />

Kommunales Vertretungsverbots eines Rechtsanwalts, der zugleich<br />

Stadtrat ist, ist zulässig.<br />

Verwaltungsrecht/<br />

Wirtschaftsverwaltungsrecht<br />

Öffentliches Recht/<br />

Strafprozessrecht<br />

Verwaltungsrecht


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