ANNA VIEBROCK Das Vorgefundene erfinden - Verlag Theater der ...
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<strong>ANNA</strong> <strong>VIEBROCK</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Vorgefundene</strong> <strong>erfinden</strong>
<strong>ANNA</strong> <strong>VIEBROCK</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Vorgefundene</strong> <strong>erfinden</strong><br />
Ute Müller-Tischler und Malte Ubenauf (Hg.)<br />
<strong>Theater</strong> <strong>der</strong> Zeit
6 VORWORT<br />
von Ute Müller-Tischler und Malte Ubenauf<br />
8 <strong>ANNA</strong> <strong>VIEBROCK</strong>S TORSEN<br />
von Jürg Lae<strong>der</strong>ach<br />
10 DAS TOTEMTIER DER SCHLAFLOSEN<br />
von Götz Leineweber<br />
14 YRSTRULY<br />
von Ernst Surberg<br />
17 GESAMMELTE RAUM-ZEITEN<br />
Zur Arbeit von Anna Viebrock<br />
von Hans-Thies Lehmann und Helene Varopoulou<br />
EINE WERKBESICHTIGUNG<br />
Anna Viebrock über ausgewählte Inszenierungen,<br />
befragt von Malte Ubenauf<br />
24 Woyzeck | Stuttgart, 1986<br />
28 Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn!<br />
Murx ihn ab! | Berlin, 1993<br />
32 Wolken.Heim. | Hamburg, 1993<br />
36 Sturm vor Shakespeare – Le petit rien | Berlin, 1994<br />
40 Kasimir und Karoline | Hamburg, 1996<br />
46 La vie parisienne | Berlin, 1998<br />
52 Katja Kabanowa | Salzburg, 1998<br />
58 Die Spezialisten. Ein Überlebenstanztee |<br />
Hamburg, 1999<br />
62 20th Century Blues | Basel, 2000<br />
66 Hotel Angst / Die schöne Müllerin |<br />
Zürich, 2000, 2001<br />
72 Was ihr wollt | Zürich, 2001<br />
76 Macht nichts | Zürich, 2003<br />
80 Moses und Aron | Stuttgart, 2003<br />
84 Visitors only | Zürich, 2003 | Gent, 2007<br />
90 Geschwister Tanner | Zürich, 2004
96 Ohne Leben Tod | Berlin, 2004<br />
100 Lucio Silla | Amsterdam, 2004<br />
106 iOPAL | Hannover, 2005<br />
112 Tristan und Isolde | Bayreuth, 2005<br />
116 Winch only | Brüssel, 2006<br />
120 Alceste | Stuttgart, 2006<br />
124 69 Arten den Blues zu spielen / Doubleface<br />
o<strong>der</strong> Die Innenseite des Mantels – Ein Defilée /<br />
Die Bügelfalte des Himmels hält für immer –<br />
Eine Reinigung | Basel, 2006, 2008, 2009<br />
130 Ariane et Barbe-Bleue | Paris, 2007<br />
136 Wozzeck | Paris, 2008<br />
140 Der letzte Riesenalk. Ein Diorama | Köln, 2009<br />
146 Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie | Wien, 2009<br />
152 La Grande-Duchesse de Gérolstein | Basel, 2009<br />
154 wozuwozuwozu | Köln, 2010<br />
158 Medea in Corinto | München, 2010<br />
160 Meine faire Dame. Ein Sprachlabor | Basel, 2010<br />
162 Papperlapapp | Avignon, 2010<br />
166 ±0 | Nuuk, 2011 / Fremd | Stuttgart, 2011<br />
170 DIE VERGANGENHEITEN SIND GANZ ANDERS<br />
Ein Gespräch zwischen Anna Viebrock<br />
und dem Architekten Peter Märkli<br />
181 ENDE DER DURCHSAGE<br />
Über die Regisseurin Anna Viebrock<br />
von Malte Ubenauf<br />
188 BIOGRAPHIE<br />
192 WERKVERZEICHNIS<br />
197 BIBLIOGRAPHIE
VORWORT<br />
Anna Viebrock gehört zu den wichtigsten Künstlerinnen des<br />
postdramatischen <strong>Theater</strong>s. Ihre Bühnenbil<strong>der</strong> sind komplexe<br />
Raumlösungen voll anziehen<strong>der</strong> Kraft und Poesie, die aus <strong>der</strong><br />
intensiven Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem <strong>Theater</strong>raum und den<br />
noch spürbaren Atmosphären vergangener Gesellschaften<br />
hervorgegangen sind. Ihr Material sei das gesamte 20. Jahrhun<strong>der</strong>t,<br />
beschreibt sie einmal ihre Herangehensweise, weil<br />
man heute noch sehen könne, wie ein Jahrzehnt auf das an<strong>der</strong>e<br />
reagiere. Und in <strong>der</strong> Tat werden ihre Bühnen und <strong>Theater</strong>collagen<br />
einhellig von <strong>Theater</strong>kritik und Publikum als einprägsame<br />
Kunst <strong>der</strong> Erinnerung empfunden. Anna Viebrocks<br />
Arbeiten machen Geschichte auf <strong>der</strong> Bühne lebendig über<br />
<strong>Vorgefundene</strong>s, Details aus hinterlassenen Raumeinrichtungen<br />
und aus verschiedenen Epochen zusammengestellten Architekturelementen.<br />
Sie erhalten wie nie zuvor im <strong>Theater</strong> eine<br />
unbedingte Aufmerksamkeit und erzeugen jene rätselhafte<br />
Aura und traumatische Präsenz historischer Gegenwart, für<br />
die Anna Viebrocks <strong>Theater</strong>räume berühmt geworden sind.<br />
Geboren 1951 in Köln, wächst Anna Viebrock in Frankfurt am<br />
Main auf. Nach ihrem Studium an <strong>der</strong> Kunstakademie in Düsseldorf<br />
in <strong>der</strong> Bühnenbildklasse von Karl Kneidl hatte sie ihr<br />
erstes Engagement als Bühnenbild- und Kostümbildassistentin<br />
am Schauspiel Frankfurt. Ende <strong>der</strong> achtziger, Anfang <strong>der</strong><br />
neunziger Jahre entwickelte sie in <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit<br />
den Schweizer Regisseuren Christoph Marthaler und Jossi<br />
Wieler ihre eigene, sehr persönliche Handschrift: Anna Viebrocks<br />
Arbeiten zeichnet ein feinnerviger, subversiver Realismus<br />
aus, eine atmosphärische Verdichtung durch täuschend<br />
6<br />
echte Oberflächen und eine fast metaphysische Raumauffassung.<br />
Diesen Realismus, dem sie in ihrer Zürcher Zeit <strong>der</strong> frühen<br />
nuller Jahre und in ihren Regiearbeiten für das Sprechund<br />
Musiktheater treu geblieben ist, hat <strong>der</strong> Ausstellungskurator<br />
Hubertus Adam als „antiillusionistischen Illusionismus“<br />
beschrieben. Viebrock lässt ihre <strong>Theater</strong>räume meist wie reale<br />
Architektur wirken und stellt eine „Ästhetik des Eintauchens“<br />
her, auch in ihren neueren offenen Raumarbeiten. Sie operiert<br />
mit befremdlich wirkenden Proportionen von Dingen und Bühnenelementen<br />
sowie unklaren Raumbeziehungen, die Innenund<br />
Außenwelt verkehren. Ihre Bühnenbil<strong>der</strong> sind überreale,<br />
fast monumentale Rauminstallationen, hybride Architekturkonstruktionen,<br />
die den szenischen Zusammenhang von dramatischem<br />
Stoff und Ort <strong>der</strong> Handlung nicht nur organisieren,<br />
son<strong>der</strong>n gleichsam <strong>erfinden</strong> und entwickeln. Ihre fantastischrealen<br />
Wartezimmer, Flugzeugkabinen, Schalterhallen o<strong>der</strong><br />
Kirchenräume stecken voll surrealer Logik und überraschen<strong>der</strong><br />
Mechanik, die jedem Anschein von Alltäglichkeit zuwi<strong>der</strong>laufen.<br />
Ihre vieldeutig-verschlüsselten Bildaussagen, in denen<br />
sich eigene Seherlebnisse und allgemeine Geschichtserfahrungen<br />
durchdringen, bleibt in <strong>der</strong> zeitgenössischen <strong>Theater</strong>kunst<br />
bis heute unerreicht.<br />
Der vorliegende Band „<strong>Das</strong> <strong>Vorgefundene</strong> <strong>erfinden</strong>“ ist eine<br />
das gesamte Werk umfassende Monografie <strong>der</strong> Bühnenbildnerin<br />
und Regisseurin Anna Viebrock. Die großen, farbigen<br />
Bil<strong>der</strong>tableaus von über dreißig beispielhaften Inszenierungen<br />
aus fast dreißig Jahren werden ergänzt durch Modell- und Entwurfsfotos,<br />
Recherchebil<strong>der</strong> und Abbildungen, welche dem<br />
Betrachter die Entwicklung ihrer Raum- und Regiekonzeption<br />
vor Augen führen. Anna Viebrock kommentiert selbst im Gespräch<br />
mit ihrem Dramaturgen Malte Ubenauf, das die beiden<br />
für dieses Buch im Frühjahr 2011 geführt haben, die jeweilige
Inszenierung und gibt Auskunft über ihre Gedankenwelt, ihre<br />
Arbeitsweise, die konkreten Bühnenlösungen und Regieideen.<br />
Begleitet werden Anna Viebrocks Kommentare durch Essays<br />
und Analysen <strong>der</strong> ihr beson<strong>der</strong>s in den letzten Jahren ver -<br />
bundenen Künstler und Autoren wie Jürg Lae<strong>der</strong>ach, Götz<br />
Leineweber, Peter Märkli, Ernst Surberg, Malte Ubenauf,<br />
Hans-Thies Lehmann und Helene Varopoulou. Neben einer<br />
ausführlichen Beschreibung ihrer bisherigen Regieprojekte<br />
und einem Gespräch über ihr Selbstverständnis als Bühnenbildnerin<br />
und Raumgestalterin erfahren wir von persönlichen<br />
Arbeitserfahrungen und künstlerischen Anregungen vor allem<br />
aus ihrem eigenen Regielabor, etwa für Inszenierungen wie<br />
„Der letzte Riesenalk“ und „wozuwozuwozu“.<br />
<strong>Das</strong> Buch möchte einen umfassenden Einblick in die visuelle<br />
Dramaturgie <strong>der</strong> Arbeit Anna Viebrocks mit prägenden Regisseurinnen<br />
und Regisseuren wie Christoph Marthaler, Jossi<br />
Wieler, Meg Stuart o<strong>der</strong> Hans Neuenfels vermitteln. Es zeigt<br />
die komplexen, mehrdimensionalen Raumlösungen herausragen<strong>der</strong><br />
Inszenierungen, Entwürfe und Vorarbeiten ihrer wichtigsten<br />
Bühnenbil<strong>der</strong> unter an<strong>der</strong>em für das Zürcher Schauspielhaus,<br />
die Opéra national de Paris, für die Bayreuther<br />
und Salzburger Festspiele, die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz<br />
in Berlin, das <strong>Theater</strong> Basel und für die Stuttgarter<br />
Staats oper. Und es verfolgt, wie sie in ihren eigenen Raumentwürfen<br />
zunehmend die künstlerische Gesamtleitung übernimmt<br />
und selbst Regie führt u. a. an <strong>der</strong> Opéra national de<br />
Paris, am <strong>Theater</strong> Basel, an <strong>der</strong> Staatsoper Hannover, dem<br />
Schauspiel Köln und am Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin.<br />
Wir danken allen, die uns in den letzten Monaten zur Seite<br />
standen. An erster Stelle bedanken wir uns bei Anna Viebrock<br />
für das umfangreiche Material, welches sie uns zur Verfügung<br />
gestellt hat, für ihre Mitarbeit bei <strong>der</strong> Sichtung und Auswahl<br />
<strong>der</strong> Fotografien und für ihre Bereitschaft, den Abdruck zahlreicher,<br />
bisher unveröffentlichter Arbeitsmaterialien und persönlicher<br />
Dokumente zu ermöglichen. Ihre konkreten Werkkommentare<br />
und Selbstauskünfte für diese Monografie sind<br />
theatergeschichtlich von unschätzbarem Wert. Bedanken<br />
möchten wir uns auch bei <strong>der</strong> Grafikerin Sibyll Wahrig, die das<br />
Buch umsichtig gestaltete und einen fabelhaften Blick für Fotoauswahl<br />
und Bildkomposition hat. Außerdem möchten wir<br />
es nicht versäumen, den Autorinnen und Autoren zu danken,<br />
<strong>der</strong>en persönliche Texte dazu beigetragen haben, die Herangehensweise<br />
von und die Arbeitsatmosphäre um Anna Viebrock<br />
deutlich zu machen. Ohne die brillanten Bühnenaufnahmen<br />
von David Baltzer, Clärchen und Matthias Baus, Matthias<br />
Horn, Walter Mair, A.T. Schaefer, Judith Schlosser, Dorothea<br />
Wimmer, Ruth Walz und Leonard Zubler wäre dieses Buch<br />
nur halb so überzeugend, wenn nicht sogar unmöglich gewesen.<br />
Und nicht zuletzt ist uns <strong>der</strong> Dank an Nicole Gronemeyer<br />
wichtig, unserer Lektorin, <strong>der</strong>en kluges und behutsames Urteil<br />
wir schätzen gelernt haben.<br />
Ute Müller-Tischler und Malte Ubenauf<br />
Berlin, Mai 2011<br />
Ute Müller-Tischler (*1959) ist Kunstwissenschaftlerin, Herausgeberin und Projektkuratorin<br />
für <strong>Theater</strong> <strong>der</strong> Zeit mit Schwerpunkt Bühnenbild.<br />
Malte Ubenauf (*1973) ist Dramaturg und arbeitet regelmäßig mit den Regisseuren<br />
Anna Viebrock, Christoph Marthaler, Christiane Pohle und Sven Holm zusammen.<br />
7
Woyzeck | Stuttgart, 1986<br />
| Woyzeck | Malte Ubenauf: Im Bühnenbild zu Jossi Wielers Inszenierung von Büchners „Woyzeck“ aus dem Jahr 1986<br />
spielten Größenverhältnisse eine entscheidende Rolle. Der Ort des Geschehens, die Stadt, wurde „en miniature“ nachgebaut:<br />
kleine Häuser, wie aus einer frei verschiebbaren Spiel- o<strong>der</strong> Modellwelt. Die Leitern in Realformat, die rings um<br />
die Modell-Stadt an die Bühnenwände gelehnt waren, verstärkten das Heterogene <strong>der</strong> Relationen. Fast schien es, als<br />
handle es sich um eine sadistische Spielanordnung, die herablassende Blicke auf die Existenzbedingungen <strong>der</strong> ARMEN<br />
LEUTE Woyzeck und Marie beinhaltete. Welche Aussagen traf <strong>der</strong> Bühnenraum zum sozialen Status <strong>der</strong> Figuren? O<strong>der</strong><br />
handelte es sich bei dieser Raumerfindung eher um ein Sehnsuchtsbild? Anna Viebrock: Um ein Sehnsuchtsbild handelt<br />
es sich auf keinen Fall! Zur Vorbereitung von „Woyzeck“ fuhren wir (<strong>der</strong> Regisseur Jossi Wieler, <strong>der</strong> Dramaturg Hans-Thies<br />
Lehmann und ich) nach Butzbach ins Hessische. <strong>Das</strong> waren sehr eindrückliche Reisen, denn mir schienen die armen Zeiten<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, als viele Menschen an Hunger starben o<strong>der</strong> das Land verlassen mussten, noch immer sichtbar.<br />
Selbst heute staune ich in meiner Erinnerung über die ärmlichen, ländlichen Häuschen, die oft auseinan<strong>der</strong>zufallen schienen.<br />
Ganz wichtig war auch das Gefängnis von Butzbach. Ich habe das sogar einmal von innen gesehen, als Kostümbild-<br />
25
Woyzeck | Stuttgart, 1986<br />
nerin von dem Film „Zufall“, <strong>der</strong> dort spielte. In unmittelbarer Nähe zum Gefängnis gab es auch einen Krammarkt. Die<br />
Alu-Haushaltsleitern, die dort zum Verkauf angeboten wurden, lehnten gegen die Gefängniswand; das hatte wirklich<br />
etwas von einer sadistischen Anordnung, denn sie lehnten natürlich an <strong>der</strong> falschen Seite <strong>der</strong> Mauer. Der Grundbau <strong>der</strong><br />
Bühne war ein hoher Gefängnisraum, auf Sockelhöhe gestrichen mit einer Ochsenblutölfarbe, so wie ich sie noch in<br />
vielen alten Treppenhäusern in Butzbach gesehen und gerochen hatte. Immer wie<strong>der</strong> gab mir dieser Geruch das Gefühl,<br />
Büchner müsste das alles zu seiner Zeit genau so erlebt haben. So stark wie selten zuvor hatte ich den Eindruck, mich<br />
bis an die Zeit des Autors heranriechen zu können. Eine Vorgehensweise wie die unsrige, nämlich durch Besichtigungen<br />
Orte und Zustände kennenzulernen, wird indirekt auch von Büchner selber angeregt. Er, <strong>der</strong> mit einer sehr realistischen<br />
Phantasie seine Stücke schrieb und diese mit wissenschaftlicher Methodik fast wie ein Anatom durchdachte, baute immer<br />
wie<strong>der</strong> wörtliche Zitate <strong>der</strong> ihn um gebenden Menschen in seine Texte ein. Durch das Bild des hohen Innenhofes mit seinem<br />
verschlossenen riesigen Gefängnistor wollten wir erzählen, dass die armen Leute in diesem System <strong>der</strong> Ausbeutung,<br />
Unterdrückung und Entfremdung gefangen sind. Es ist die Armut Woyzecks, die ihn ausliefert. Und es ist die durch<br />
26
Woyzeck, Bauprobe | Stuttgart, 1986<br />
Menschenversuche ins Extreme gesteigerte entfremdete Arbeit, die ihn ruiniert. <strong>Das</strong> Bild von den sehr simpel aus ein -<br />
fachem Holz gezimmerten kleinen Häuschen (samt Kirche) entstammt einer Erzählung aus Dr. Heinrich Hoffmanns<br />
Kin<strong>der</strong>buch „Der Struwwelpeter“. Sie hieß „Der arme Reinhold“, ein noch deutlich vor Büchner geschriebener Text, an den<br />
ich mich in <strong>der</strong> Vorbereitungszeit zu „Woyzeck“ erinnerte und <strong>der</strong> viel mit meiner Frankfurter Kindheit zu tun hatte. Er handelt<br />
von einem kranken armen Kind, das in Fieberträumen von einem Engel ein Kästchen mit Holzspielzeug einer kleinen<br />
Stadt geschenkt bekommt. Während es mit den kleinen Häuschen spielt, wachsen diese zu einer großen Stadt heran.<br />
Dieses Spiel mit den im Traum verschobenen Proportionen hat dann wohl die Raumidee für unsere Inszenierung aus -<br />
gelöst. Auf diese Weise wollte ich zeigen, dass das, was als gebaute Kleinstadt den Menschen ihren Rahmen gibt, sich<br />
innerhalb eines Systems von Gefangenschaft abspielt.<br />
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Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! | Berlin, 1993<br />
| Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab! | Die erste Produktion von Christoph Marthaler an <strong>der</strong><br />
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin trug einen rätselhaften Titel. Welcher Europäer war hier eigentlich gemeint?<br />
Der Schweiz-Europäer, <strong>der</strong> in den OSTEN kam, zusammen mit seinen helvetischen Schauspielern und <strong>der</strong> gebürtigen<br />
Kölnerin Anna Viebrock? Die wie<strong>der</strong>vereinigten Ost-Europäer, die an <strong>der</strong> Volksbühne mit Frank Castorf arbeiteten<br />
und für die die Schweiz gleichbedeutend sein musste mit einer ausgeklinkten und damit zutiefst antieuropäischen Geldinsel?<br />
Es waren im wahrsten Sinne des Wortes zwei Lebenswelten, die anlässlich dieses Projektes aufeinan<strong>der</strong>trafen.<br />
<strong>Das</strong> vereitelte <strong>Das</strong>ein: „Murx“ war wahrscheinlich das einschneidendste Erlebnis in meinem <strong>Theater</strong>leben. Alles fing 1991 mit<br />
unseren ersten Reisen nach Ostberlin an. Man konnte noch sehr gut das von <strong>der</strong> DDR geprägte Ostberlin sehen und damit<br />
den traurigen Zustand eines Landes, das nicht mehr gebraucht wird. Es war für mich wie eine Zeitreise: fast nirgendwo<br />
gab es Lokale, es roch nach Braunkohle, überall graue, zerbröckelnde Fassaden, an vielen Häusern waren Einschusslöcher<br />
zu erkennen. Wir, die Zugereisten, trafen zum ersten Mal auf ostdeutsche Menschen und Schauspieler. Damals nahmen<br />
wir uns noch richtig Zeit und begaben uns gemeinsam auf Sangesspurensuche. Durch den entwaffnenden Charme <strong>der</strong><br />
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