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Von wem lasse ich mir etwas sagen? - Kiwoarbeit.de

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4<br />

beate (oberes bild rechts) als<br />

stu<strong>de</strong>ntin in Potsdam, bei ihrer hauskreis-Familie<br />

in liebenwal<strong>de</strong> (2. v. li.)<br />

und im internatsbüro in berlin<br />

Mit Kin<strong>de</strong>rn<br />

wollte <strong>ich</strong><br />

arbeiten und<br />

n<strong>ich</strong>t mit<br />

Stahl.<br />

dass man <strong>mir</strong> die Anerkennungsurkun<strong>de</strong><br />

für meine Absolventenzeit n<strong>ich</strong>t geben<br />

kann. Und genau diese Unterr<strong>ich</strong>tsstun<strong>de</strong><br />

wur<strong>de</strong> mit gera<strong>de</strong> noch 4 minus bewertet!<br />

Später traf <strong>ich</strong> <strong>de</strong>n Fachberater zufällig<br />

wie<strong>de</strong>r. Er konnte <strong>mir</strong> n<strong>ich</strong>t in die Augen<br />

sehen und rannte fast an <strong>mir</strong> vorbei.<br />

Man sagte <strong>mir</strong>, dass in <strong>de</strong>r Volksbildung<br />

kein Platz mehr für m<strong>ich</strong> sei. Da <strong>ich</strong> ja in<br />

Mathe und Physik ausgebil<strong>de</strong>t war, bot<br />

man <strong>mir</strong> einen Arbeitsplatz in einem Stahlund<br />

Walzwerk an. Ich lehnte ab. Mit Kin<strong>de</strong>rn<br />

wollte <strong>ich</strong> arbeiten und n<strong>ich</strong>t mit<br />

Stahl.<br />

Später erzählte <strong>mir</strong> eine Bekannte, dass<br />

die Stasi m<strong>ich</strong> vom Studienbeginn an beobachtet<br />

hatte.<br />

Zuerst war <strong>ich</strong> total sauer auf Gott. Acht<br />

Jahre hatte <strong>ich</strong> gelernt, Prüfungen und<br />

Praktika absolviert und nun sollte alles<br />

umsonst gewesen sein? Warum hatte s<strong>ich</strong><br />

<strong>mir</strong> die Tür zum Studium doch noch aufgetan?<br />

Nur um jetzt zuzufallen? Schließl<strong>ich</strong><br />

hatte <strong>ich</strong> doch für die r<strong>ich</strong>tige Berufswahl<br />

gebetet. Auch alle Pläne für eine weitere<br />

Ausbildung, um später z.B. als Lehrerin für<br />

Körperbehin<strong>de</strong>rte arbeiten zu können,<br />

hatten s<strong>ich</strong> damit für m<strong>ich</strong> erledigt.<br />

Aber <strong>ich</strong> hatte m<strong>ich</strong> am Abend zuvor im<br />

Hauskreis festgelegt, dass <strong>ich</strong> die Entscheidung<br />

<strong>de</strong>r Schulbehör<strong>de</strong>, wie immer sie<br />

auch ausfallen wür<strong>de</strong>, akzeptiere. Also<br />

musste <strong>ich</strong> das jetzt auch tun. Der erste<br />

Schritt in diese R<strong>ich</strong>tung fiel <strong>mir</strong> sehr<br />

schwer. Es war mehr eine Willensentscheidung,<br />

zu <strong>de</strong>r <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> durchringen musste.<br />

Aber es ging immer le<strong>ich</strong>ter und plötzl<strong>ich</strong><br />

war <strong>ich</strong> voller Vertrauen, dass Gott schon<br />

weiß, wie es weitergeht.<br />

Noch am selben Nachmittag besuchte<br />

m<strong>ich</strong> die Frau unseres Hauskreisleiters.<br />

Sie hatte Blumen mitgebracht und wollte<br />

<strong>mir</strong> gratulieren. Als <strong>ich</strong> ihr erklärte, dass es<br />

dafür keinen Anlass gibt, wollte sie das zuerst<br />

gar n<strong>ich</strong>t glauben. Inzwischen hatte<br />

<strong>ich</strong> über <strong>de</strong>r ganzen Sache Frie<strong>de</strong>n im Herzen.<br />

Das hat sie <strong>mir</strong> wohl angesehen.<br />

Ein paar Tage später sagte <strong>mir</strong> eine Diakonisse,<br />

die <strong>ich</strong> mal im Hauskreis getroffen<br />

hatte: „Ihnen ist eine große Gna<strong>de</strong> wi<strong>de</strong>rfahren.“<br />

Schöne Gna<strong>de</strong>, dachte <strong>ich</strong>. Was<br />

war an meiner Situation Gna<strong>de</strong>? Mein Berufsabschluss<br />

wur<strong>de</strong> n<strong>ich</strong>t anerkannt und<br />

wie es für m<strong>ich</strong> weitergehen wür<strong>de</strong>, war<br />

völlig offen. Doch nach einiger Zeit empfand<br />

<strong>ich</strong> es auch als Gna<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m sozialistischen<br />

Bildungswesen entkommen zu sein.<br />

Erstmal war <strong>ich</strong> aber bis zum Schuljahresen<strong>de</strong>,<br />

also noch fast sechs Monate, als<br />

Lehrerin an dieser Schule. Ich erledigte wie<br />

gewohnt meine Arbeit. Nach einigen Wochen<br />

sprach m<strong>ich</strong> ein Kollege an, ob <strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>t daran gedacht hätte, m<strong>ich</strong> für die<br />

restl<strong>ich</strong>e Zeit <strong>de</strong>s Schuljahres krank schreiben<br />

zu <strong>lasse</strong>n. Schließl<strong>ich</strong> sei man ja n<strong>ich</strong>t<br />

gera<strong>de</strong> fein mit <strong>mir</strong> umgegangen. Auf<br />

diese I<strong>de</strong>e war <strong>ich</strong> gar n<strong>ich</strong>t gekommen.<br />

Wir unterhielten uns dann noch über<br />

unsere Standpunkte: er als SED-Parteimitglied<br />

mit vielen Fragen und <strong>ich</strong> als Christ.<br />

Ich hatte <strong>mir</strong> immer wie<strong>de</strong>r mal gewünscht,<br />

über <strong>de</strong>n Hauskreis hinaus mit Leuten über<br />

Jesus ins Gespräch zu kommen. Natürl<strong>ich</strong><br />

hätte <strong>ich</strong> <strong>mir</strong> dafür einen an<strong>de</strong>ren Anlass<br />

gewünscht als ausgerechnet meine<br />

Kündigung.<br />

lange Zeit ze<strong>ich</strong>nete s<strong>ich</strong> keine Lösung<br />

ab. Ich betete um offene Türen und versuchte,<br />

im kirchl<strong>ich</strong>en Raum eine Arbeit zu<br />

fin<strong>de</strong>n. Kurz vor Schuljahresen<strong>de</strong> ging<br />

dann doch in einem evangelischen Krankenhaus<br />

in Berlin die Tür auf. Dort sollte <strong>ich</strong><br />

im Ausbildungbere<strong>ich</strong> mitarbeiten.<br />

Zur Krankenpflegeschule gehörte ein<br />

Internat, in <strong>de</strong>m die Schüler wohnten.<br />

Mehrere Mitarbeiter kümmerten s<strong>ich</strong> sowohl<br />

um sie als auch um die organisatorischen<br />

Belange. Aber dort wur<strong>de</strong> erst in<br />

neun Monaten eine Stelle frei. Die Oberin<br />

fragte m<strong>ich</strong>, ob <strong>ich</strong> vorher in die Verwaltung<br />

gehen wür<strong>de</strong>. Das konnte <strong>ich</strong> <strong>mir</strong> gut<br />

vorstellen. Dann legte sie <strong>mir</strong> aber nahe,<br />

als pflegerische Hilfskraft auf einer Station<br />

<strong>de</strong>s Krankenhauses zu arbeiten. Dies wie<strong>de</strong>rum<br />

konnte <strong>ich</strong> <strong>mir</strong> n<strong>ich</strong>t so gut vorstellen.<br />

Da <strong>ich</strong> so aber <strong>de</strong>n Alltag <strong>de</strong>r Schüler<br />

gut kennen lernen wür<strong>de</strong>, willigte <strong>ich</strong> ein.<br />

Es war eher ein Gehorsamsschritt, als dass<br />

<strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> auf diese Arbeit freute.<br />

Etwas uns<strong>ich</strong>er ging <strong>ich</strong> zu meinem ersten<br />

Früh dienst auf einer inneren Station.<br />

Die Schwestern und Schüler zeigten und<br />

erklärten <strong>mir</strong> geduldig alles, vieles machten<br />

wir gemeinsam. Ich fand m<strong>ich</strong> schnell<br />

zurecht. Nach <strong>de</strong>m ersten Wochenenddienst<br />

ging <strong>ich</strong> wie<strong>de</strong>r r<strong>ich</strong>tig gern zur<br />

Arbeit. Was in <strong>de</strong>r Schule in Liebenwal<strong>de</strong><br />

oft n<strong>ich</strong>t mehr so gewesen war.<br />

Im Internat erlebte <strong>ich</strong> dann tatsächl<strong>ich</strong>,<br />

dass <strong>mir</strong> meine Erfahrungen auf <strong>de</strong>r Station<br />

in <strong>de</strong>n Gesprächen mit <strong>de</strong>n Schülern<br />

zugute kamen. Hatte <strong>ich</strong> doch viele Situationen,<br />

die n<strong>ich</strong>t so le<strong>ich</strong>t zu verarbeiten<br />

sind, selbst erlebt. Zum Beispiel, wenn<br />

jemand stirbt, <strong>de</strong>n man am Tag zuvor noch<br />

gepflegt hat.<br />

bald stieg <strong>ich</strong> mit „Mathematik für Krankenpflegeberufe“<br />

und später mit ein paar<br />

Stun<strong>de</strong>n Physik wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Unterr<strong>ich</strong>t<br />

ein. Insgesamt arbeitete <strong>ich</strong> fast zehn Jahre<br />

im Ausbildungsbere<strong>ich</strong> dieses Krankenhauses.<br />

Mein Studium war also n<strong>ich</strong>t umsonst<br />

gewesen.<br />

1994 heiratete <strong>ich</strong> und zog zu meinem<br />

Mann nach Bautzen. Seit<strong>de</strong>m bin <strong>ich</strong> bei<br />

<strong>de</strong>r Kirchenwochenarbeit angestellt. Dort<br />

habe <strong>ich</strong> es beim Vorbereiten und Abwikkeln<br />

<strong>de</strong>s „Aufwind“-Versands auch wie<strong>de</strong>r<br />

mit Zahlen zu tun. Manchmal gebe <strong>ich</strong><br />

Nachhilfeunterr<strong>ich</strong>t in Mathematik. Einzelne<br />

Schüler zu begleiten macht <strong>mir</strong> wirkl<strong>ich</strong><br />

Spaß und ist gar n<strong>ich</strong>t so weit entfernt von<br />

<strong>de</strong>m, was die Lehrerin in meiner Kindheit<br />

im Krankenhaus für uns getan hat.<br />

Beate Lehnert<br />

Ihre Dozenten an <strong>de</strong>r Hochschule<br />

sagten immer: „Mathematik ist nur<br />

eine Hilfswissenschaft.“ Und doch<br />

begegnet sie uns im alltägl<strong>ich</strong>en<br />

Leben immer wie<strong>de</strong>r.<br />

Fotos: Privat<br />

Hintergrundfotos: lily / photocase.com<br />

Ich hatte m<strong>ich</strong><br />

festgelegt, die<br />

Entscheidung<br />

<strong>de</strong>r Schulbehör<strong>de</strong><br />

zu<br />

akzeptieren.<br />

5

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