Theoretische Physik: Mechanik - Skriptum zur Vorlesung - Laserphysik
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<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong><br />
- <strong>Skriptum</strong> <strong>zur</strong> <strong>Vorlesung</strong> -<br />
Prof. Dr. H.-J. Kull<br />
Fraunhofer Institut für Lasertechnik<br />
und<br />
Lehr- und Forschungsgebiet <strong>Laserphysik</strong><br />
Institut für <strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong> A<br />
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule<br />
Aachen<br />
13. Februar 2007
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Grundprinzipien der <strong>Mechanik</strong> 4<br />
2 Eindimensionale Bewegungen 9<br />
2.1 Elementar lösbare Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
2.2 Harmonischer Oszillator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
2.2.1 Freie ungedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
2.2.2 Freie gedämpfte Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
2.2.3 Erzwungene Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />
2.3 Bewegungen mit veränderlicher Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
3 Kinematik 26<br />
3.1 Inertialsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
3.1.1 Galileisches Relativitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
3.1.2 Galileitransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
3.1.3 Orthogonale Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
3.2 Beschleunigte Bezugssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
3.2.1 Translatorisch beschleunigtes Bezugssystem . . . . . . . . . . 34<br />
3.2.2 Rotierendes Bezugssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
3.2.3 Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . 39<br />
3.2.4 Begleitendes Dreibein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
4 Newtonsche <strong>Mechanik</strong> 43<br />
4.1 Newtonsche Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
4.2 Erhaltungssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
4.2.1 Impulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46<br />
1
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 2<br />
4.2.2 Drehimpulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />
4.2.3 Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />
4.3 Systeme von Massenpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />
4.3.1 Additive Bewegungsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
4.3.2 Impulssatz und Schwerpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
4.3.3 Drehimpulssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
4.3.4 Energiesatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />
4.3.5 Virialsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />
4.4 Zentralpotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />
4.5 Kepler-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />
4.6 Coulomb-Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />
4.6.1 Ablenkwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />
4.6.2 Wirkungsquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
4.6.3 Streuung an harten Kugeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />
4.6.4 Rutherfordscher Wirkungsquerschnitt . . . . . . . . . . . . . . 72<br />
4.7 Zweikörperproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
5 Lagrangesche <strong>Mechanik</strong> 78<br />
5.1 Systeme mit Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />
5.1.1 Zwangsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />
5.1.2 Zwangskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />
5.2 Lagrangegleichungen erster Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
5.2.1 D’Alembertsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />
5.2.2 Bewegungsgleichungen mit Zwangskräften . . . . . . . . . . . 87<br />
5.3 Lagrangegleichungen zweiter Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />
5.3.1 Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90<br />
5.3.2 Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
5.3.3 Erhaltungsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />
5.4 Variationsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97<br />
5.4.1 Eulersche Gleichung der Variationsrechung . . . . . . . . . . . 97<br />
5.4.2 Hamiltonsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100<br />
5.5 Symmetrien und Erhaltungsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103<br />
5.6 Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 3<br />
5.6.1 Entwicklung um die Gleichgewichtslage . . . . . . . . . . . . . 106<br />
5.6.2 Schwingungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />
5.7 Starrer Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />
5.7.1 Freiheitsgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />
5.7.2 Eulersche Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />
5.7.3 Winkelgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110<br />
5.7.4 Trägheitstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />
5.7.5 Eulersche Kreiselgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />
5.7.6 Kräftefreie Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />
6 Hamiltonsche <strong>Mechanik</strong> 118<br />
6.1 Kanonische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118<br />
6.2 Modifiziertes Hamiltonsches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120<br />
6.3 Poisson-Klammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121<br />
6.4 Kanonische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122<br />
6.5 Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />
7 Relativistische <strong>Mechanik</strong> 125<br />
7.1 Relativitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />
7.2 Lorentz-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />
7.3 Der Abstand von Ereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />
7.3.1 Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />
7.3.2 Längenkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />
7.3.3 Zeitdilatation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />
7.3.4 Eigenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132<br />
7.3.5 Gleichzeitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132<br />
7.4 Vierervektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />
7.5 Relativistische <strong>Mechanik</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Kapitel 1<br />
Grundprinzipien der <strong>Mechanik</strong><br />
Die <strong>Mechanik</strong> beruht auf Grundbegriffen wie Raum, Zeit, Masse, Kraft und Energie,<br />
die in der Geschichte der <strong>Physik</strong> immer wieder zu unterschiedlichen Interpretationen<br />
Anlaß gaben. Wir wollen hier voraussetzen, daß es hinreichend genaue Meßverfahren<br />
gibt, die die physikalischen Größen jeweils durch eine Meßvorschrift definieren.<br />
Daher verwenden wir diese Begriffe hier ohne weitere Definition in ihrer üblichen<br />
physikalischen Bedeutung. Einleitend stellen wir einige der Grundprinzipien der <strong>Mechanik</strong><br />
zusammen. Die Newtonschen Gesetze und die sich aus ihnen ergebenden<br />
Folgerungen werden ausführlicher in einem späteren Kapitel behandelt.<br />
Impulssatz<br />
Eine Masse m, die sich mit der Geschwindigkeit v bewegt, besitzt den Impuls p =<br />
mv. Das wichtigste Grundgesetz der <strong>Mechanik</strong> besteht in der Aussage, daß <strong>zur</strong><br />
zeitlichen Änderung des Impulses eine äußere Einwirkung in Form einer Kraft F<br />
notwendig ist. Dies wird durch den Impulssatz formuliert,<br />
dp<br />
dt<br />
= F . (1.1)<br />
Der Impulssatz wird auch Newtonsche Grundgleichung der <strong>Mechanik</strong> oder Newtonsche<br />
Bewegungsgleichung genannt.<br />
Massenpunkt<br />
Die Masse wird hier als punktförmig angenommen. Daher kann der Ort der Masse<br />
bereits durch die Angabe der Koordinaten eines Punktes festgelegt werden. Man<br />
spricht von der Bewegung von Massenpunkten bzw. von Punktmechanik.<br />
4
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 5<br />
Definition 1.1 Ein Körper dessen gesamte Masse in einem Punkt vereinigt ist,<br />
heißt Massenpunkt.<br />
Ein Massenpunkt stellt eine Idealisierung eines ausgedehnten Körpers dar. Diese<br />
Idealisierung setzt voraus, daß die Eigenbewegungen des Körpers, d.h. Drehungen<br />
und Deformationen, für den betrachteten Vorgang vernachlässigt werden können.<br />
Neben der Punktmechanik gibt es die <strong>Mechanik</strong> des starren Körpers und die Kontinuumsmechanik.<br />
Diese stellen Verallgemeinerungen der Punktmechanik auf ausgedehnte<br />
starre Körper bzw. auf deformierbare Medien dar.<br />
Inertialsystem<br />
Der Ort eines Massenpunktes kann nur relativ zu einem Bezugssystem angegeben<br />
werden. In der <strong>Mechanik</strong> spielen bestimmte Bezugssysteme eine ausgezeichnete Rolle,<br />
die als Inertialsysteme bezeichnet werden.<br />
Definition 1.2 Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem sich ein kräftefreier<br />
Körper geradlinig und gleichförmig bewegt.<br />
Erfahrungsgemäß sind Bezugssysteme, die gegenüber dem Fixsternhimmel ruhen<br />
oder sich gegenüber dem Fixsternhimmel mit konstanter Geschwindigkeit bewegen,<br />
Inertialsysteme.<br />
In einem Inertialsystem verwenden wir ein kartesisches Koordinatensystem mit den<br />
Koordinaten x, y, z und messen die Zeit t mit einer Uhr. Die Bewegung eines Massenpunktes<br />
läßt sich dann durch einen zeitabhängigen Ortsvektor<br />
r(t) = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez<br />
(1.2)<br />
darstellen, wobei ex, ey, ez die Basisvektoren des Koordinatensystems bezeichnen<br />
(Abb.(1.1)).<br />
Bewegung und Bahnkurve<br />
Vom mathematischen Standpunkt aus ist eine Bewegung eine Abbildung.<br />
Definition 1.3 Eine differenzierbare Abbildung t ↦→ r(t), die jedem Zeitpunkt t<br />
einen Ortsvektor r(t) zuordnet, nennt man eine Bewegung. Das Bild der Abbildung<br />
nennt man die Bahnkurve.<br />
Die Eindeutigkeit, Stetigkeit und Differenzierbarkeit der Abbildung beinhalten physikalische<br />
Annahmen: Aus der Eindeutigkeit folgt, daß sich der Massenpunkt zu<br />
jedem Zeitpunkt t an genau einem Ort r(t) befindet. Aus der Stetigkeit folgt, daß
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 6<br />
r(t)<br />
Abbildung 1.1: Bahnkurve eines Massenpunktes<br />
die Bahn keine Sprünge macht (natura non facit saltus). Aus der (zweimaligen)<br />
Differenzierbarkeit der Abbildung folgt, daß die Bewegung gemäß (1.1) aus der Impulsänderung<br />
bestimmt werden kann. Die erste Ableitung der Funktion r(t) nach<br />
der Zeit definiert die Geschwindigkeit, die zweite Ableitung die Beschleunigung,<br />
r(t+dt)<br />
r(t)<br />
dr<br />
dv<br />
v(t+dt)<br />
Abbildung 1.2: Änderungen des Ortsvektors und des Geschwindigkeitsvektors<br />
v(t) = ˙r = lim<br />
ɛ→0<br />
a(t) = ˙v = lim<br />
ɛ→0<br />
r(t + ɛ) − r(t)<br />
,<br />
ɛ<br />
v(t + ɛ) − v(t)<br />
.<br />
ɛ<br />
v(t)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 7<br />
Hier und im folgenden werden Zeitableitungen oft durch einen Punkt gekennzeichnet<br />
Determinismus<br />
˙r = dr<br />
. (1.3)<br />
dt<br />
Zur Bestimmung der Bewegung aus der Grundgleichung (1.1) ist eine Kenntnis des<br />
Kraftgesetzes notwendig. Eine allgemeine Aussage hierzu macht das Newtonsche<br />
Gesetz des Determinismus: Jede Bewegung wird eindeutig durch die Vorgabe von<br />
Anfangswerten für den Ort und die Geschwindigkeit festgelegt, d.h.<br />
r(t) = r(t; r0, v0, t0),<br />
wobei die Anfangswerte mit dem Index 0 bezeichnet werden. Differenziert man diese<br />
Funktion zweimal nach t und wertet das Ergebnis <strong>zur</strong> Zeit t0 aus, so folgt<br />
a(t0) = ¨r(t0; r0, v0, t0)<br />
Da der Anfangspunkt t0 beliebig ist, muß die Beschleunigung eine Funktion von den<br />
Variablen t, r, und v darstellen. Damit besitzt die Kraft in (1.1) die allgemeine<br />
Form<br />
Phasenraum<br />
F = F (r, v, t). (1.4)<br />
Eine Bahnkurve durch einen Punkt r im Ortsraum ist nicht eindeutig. Man kann in<br />
jedem Punkt die Geschwindigkeit noch beliebig wählen. Insbesondere kann sich eine<br />
Bahnkurve im Ortsraum schneiden. Es ist daher oft von Vorteil die Bewegung in<br />
einem erweiterten Raum, dem Phasenraum darzustellen. Ein Punkt im Phasenraum<br />
wird durch die Komponenten des Orts- und Impulsvektors (r, p) angegeben. Die<br />
Bewegungsgleichung definiert im Phasenraum ein Richtungsfeld ( ˙r, ˙p) durch:<br />
˙r = 1<br />
p, ˙p = F . (1.5)<br />
m<br />
Eine Bahnkurve im Phasenraum ist eine Integralkurve, deren Tangente in jedem<br />
Punkt durch das Richtungsfeld (1.5) bestimmt ist. Da die Richtung der Kurve in<br />
jedem Punkt eindeutig bestimmt ist, kann sich eine Phasenraumkurve nicht schneiden.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 8<br />
Gültigkeitsgrenzen der <strong>Mechanik</strong><br />
Die Bewegungsgesetze der <strong>Mechanik</strong> erlauben im Prinzip die exakte Vorhersage<br />
der zukünftigen Entwicklung des Systems. Sie sind streng deterministisch, d.h. der<br />
zukünftige Zustand wird eindeutig durch die Kenntnis des Anfangszustandes zu<br />
einem Zeitpunkt bestimmt.<br />
Die Erfolge der Newtonschen <strong>Mechanik</strong> haben anfänglich zu der Ansicht geführt,<br />
daß alle Naturvorgänge exakt den mechanischen Gesetzen gehorchen und durch<br />
diese erklärt werden können (mechanistisches Weltbild). Heute wissen wir, daß die<br />
<strong>Mechanik</strong> ein mathematisches Modell ist, welches empirische Beobachtungen nur<br />
innerhalb bestimmter Gültigkeitsgrenzen beschreiben kann. Die folgenden Beispiele<br />
sollen dies verdeutlichen:<br />
• Die Vorhersagbarkeit eines Systems wird durch die Quantentheorie (Unschärferelation)<br />
prinzipiell eingeschränkt. Die Größe der Quanteneffekte wird durch<br />
das Plancksche Wirkungsquantum charakterisiert. Man unterscheidet daher<br />
zwischen klassischer <strong>Mechanik</strong> ( → 0) und der Quantenmechanik ( = 0).<br />
• Für Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit c müssen die Gesetze der<br />
<strong>Mechanik</strong> entsprechend der speziellen Relativitätstheorie modifiziert werden.<br />
Man unterscheidet hierbei die nichtrelativistische <strong>Mechanik</strong> (v ≪ c) und die<br />
relativistische <strong>Mechanik</strong> (v ≈ c).<br />
• In starken Gravitationsfeldern ist die Newtonsche Theorie der Gravitationskräfte<br />
nicht mehr anwendbar. Die relativistische Gravitationstheorie von Einstein<br />
führt Gravitationskräfte auf Trägheitskräfte <strong>zur</strong>ück, die infolge der<br />
Krümmung des Raumes durch Massen auftreten.<br />
• Die Theorie der nichtlinearen Dynamik zeigt, daß der Vorhersagbarkeit eines<br />
nichtlinearen Systems bereits im Rahmen der Newtonschen <strong>Mechanik</strong> prinzipielle<br />
Grenzen gesetzt sind. Die Lösungen nichtlinearer Bewegungsgleichungen<br />
hängen i.a. in komplizierter Weise von den Anfangsbedingungen ab und können<br />
bei beliebig kleinen Änderungen des Anfangszustandes zu ganz unterschiedlichen<br />
Ergebnissen führen (deterministisches Chaos).<br />
Trotz diesen Einschränkungen ist die klassische <strong>Mechanik</strong> auch heute noch von<br />
großer Bedeutung für viele Gebiete der <strong>Physik</strong>, wie z.B. die Astronomie, die Erforschung<br />
des Weltraums oder die Molekulardynamik. Mit dem Einsatz moderner<br />
Computer kann das mechanische Verhalten von Vielteilchensystemen mit mehr als<br />
10 4 Teilchen untersucht werden.
Kapitel 2<br />
Eindimensionale Bewegungen<br />
Im folgenden betrachten wir eindimensionale Bewegungen x = x(t), die einer Bewegungsgleichung<br />
2. Ordnung<br />
m¨x = F (x, ˙x, t)<br />
mit den Anfangsbedingungen<br />
x(0) = x0, v(0) = v0<br />
genügen. Die wesentliche physikalische Einschränkung ist hierbei, daß die x-<br />
Komponente der Kraft F (x, ˙x, t) unabhängig ist von den restlichen Koordinaten y,<br />
z und Geschwindigkeiten ˙y, ˙z des Massepunktes. Die Bewegung in der x-Richtung<br />
ist dann unabhängig von der Bewegung in der y oder z Richtung.<br />
2.1 Elementar lösbare Fälle<br />
Zeitabhängige Kraft<br />
Hängt die Kraft nur von der Zeit ab, F = F (t), so kann die Bewegungsgleichung<br />
durch Integration direkt gelöst werden,<br />
v(t) = v0 + 1<br />
m<br />
x(t) = x0 +<br />
9<br />
t<br />
0<br />
t<br />
0<br />
dt ′ F (t ′ )<br />
dt ′ v(t ′ )
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 10<br />
Geschwindigkeitsabhängige Kraft<br />
Ist die Kraft nur von der Geschwindigkeit abhängig, F = F (v), so bestimmt man<br />
zunächst die Funktion t = t(v) durch<br />
dt(v)<br />
dv<br />
= 1<br />
˙v<br />
<br />
t =<br />
v0<br />
v<br />
= m<br />
F (v)<br />
′ m<br />
dv<br />
F (v ′ )<br />
(2.1)<br />
Die gesuchte Funktion v = v(t) ist die Umkehrfunktion von t = t(v). Die Umkehrfunktion<br />
existiert lokal in der Umgebung eines Punktes v∗ falls t ′ (v∗) = 0. Dann<br />
ist dt = t ′ (v∗)dv nach dv = dt/t ′ (v∗) auflösbar. Mit v(t) erhält man x(t) durch<br />
Integration<br />
Ortsabhängige Kraft<br />
x(t) = x0 +<br />
t<br />
0<br />
dt ′ v(t ′ ). (2.2)<br />
Besondere Bedeutung haben Kräfte F = F (x), die nur vom Ort abhängen. Für<br />
diese Kräfte existiert ein Energieerhaltungssatz. Multipliziert man die Bewegungsgleichung<br />
mit ˙x, so gilt<br />
m¨x ˙x = F (x) ˙x,<br />
<br />
d 1<br />
m ˙x2 =<br />
dt 2 d<br />
⎛<br />
<br />
⎝<br />
dt<br />
x(t)<br />
a<br />
dx ′ F (x ′ )<br />
Definiert man die kinetische Energie T (v) und die potentielle Energie U(x) durch<br />
T (v) = 1<br />
2 mv2 , U(x) = −<br />
x<br />
a<br />
⎞<br />
⎠ .<br />
dx ′ F (x ′ ), U(a) = 0 (2.3)<br />
mit einem beliebigen Bezugspunkt a, so folgt daraus der Energieerhaltungssatz<br />
d<br />
(T + U) = 0, T (v) + U(x) = E. (2.4)<br />
dt<br />
Die Gesamtenergie E ist eine Konstante, die bei der Bewegung, x = x(t), v = v(t)<br />
erhalten bleibt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 11<br />
Bewegung im Potential, Umkehrpunkte, Gleichgewichte<br />
Aus dem Energiesatzes können wichtige Folgerungen für die Bewegung des Massepunktes<br />
gezogen werden. Dazu verwendet man häufig eine graphische Darstellung<br />
der Energie als Funktion der Koordinate x (Abb. (2.1)). Die potentielle Energie<br />
y = U(x) ist eine Funktion von x, die Gesamtenergie y = E eine vorgegebene Konstante.<br />
Die kinetische Energie am Ort x ergibt sich aus der Differenz T = E − U(x).<br />
Da die kinetische Energie nie negativ sein kann, ist die Bewegung auf Gebiete mit<br />
E −U(x) > 0 eingeschränkt, d.h. auf diejenigen Gebiete in denen die Potentialkurve<br />
y = U(x) unterhalb der horizontalen Geraden y = E verläuft.<br />
Die Umkehrpunkte x = xu der Bewegung werden definiert durch die Nullstellen von<br />
E − U(xu) = 0. (2.5)<br />
An den Umkehrpunkten gilt T = 0 und daher auch v = 0. Im Umkehrpunkt ist die<br />
Kraft i.a. ungleich Null, so daß die Bewegung nicht <strong>zur</strong> Ruhe kommt, sondern nur<br />
ihre Richtung umkehrt. Aus der Definition des Potentials folgt, daß die Kraft immer<br />
in der Richtung des abnehmenden Potentials gerichtet ist,<br />
F (x) = − dU(x)<br />
. (2.6)<br />
dx<br />
Verläuft eine Bahn zwischen zwei Umkehrpunkten, so ist die Bewegung periodisch.<br />
Gleichgewichtspunkte x = xg, die eine mögliche Ruhelage darstellen, werden definiert<br />
durch die Nullstellen der Kraft, bzw. die Extrema des Potentials,<br />
F (xg) = − dU(xg)<br />
dx<br />
= 0 . (2.7)<br />
Um die Stabilität eines solchen Kräftegleichgewichts zu untersuchen, entwickelt man<br />
das Potential um den Gleichgewichtspunkt bis <strong>zur</strong> zweiten Ordnung,<br />
U(x) = U(xg) + dU(xg)<br />
dx (x − xg) + 1<br />
2<br />
d2U(xg) dx2 (x − xg) 2 .<br />
Wegen der Gleichgewichtsbedingung (2.7) verschwindet die erste Ordnung, so daß<br />
die Kraft durch die zweite Ordnung bestimmt wird,<br />
F (x) = − d2U(xg) dx2 (x − xg).
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 12<br />
Abhängig vom Vorzeichen der zweiten Ableitung des Potentials unterscheidet man<br />
stabile und instabile Gleichgewichte,<br />
d 2 U(xg)<br />
dx 2 > 0, stabil<br />
d 2 U(xg)<br />
dx 2 < 0, instabil<br />
Ein stabiles Gleichgewicht entspricht also einem Potentialminimum, ein instabiles<br />
einem Potentialmaximum.<br />
y<br />
E<br />
E<br />
E<br />
E<br />
E<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
Phasenebene<br />
y=<br />
U(x)<br />
x<br />
Abbildung 2.1: Bewegung im Potential<br />
U(x) bei verschiedenen Energien.<br />
E1: Stabiles Gleichgewicht, E2: Periodische<br />
Bewegung im linken Potentialminimum,<br />
stabiles Gleichgewicht im<br />
rechten Potentialminimum, E3: Periodische<br />
Bewegungen in beiden Minima,<br />
E4: Instabiles Gleichgewicht, Grenzkurve<br />
zwischen den periodischen Bewegungen<br />
unterhalb und oberhalb des Potentialmaximums,<br />
E5: Periodische Bewegung<br />
oberhalb des Potentialmaximums.<br />
Der Phasenraum einer eindimensionalen Bewegung ist die durch (x, p) aufgespannte<br />
Phasenebene. Die Kurven, die eine Bewegung in der Phasenebene durchläuft, werden<br />
durch den Energiesatz bestimmt,<br />
p 2<br />
2m + U(x) = E, p = ± 2m(E − U(x)).<br />
Abbildung (2.2) zeigt die der Potentialdarstellung (2.1) entsprechenden Kurven in<br />
der Phasenebene. Die Kurven werden im Uhrzeigersinn durchlaufen. Kurven zu verschiedenen<br />
Energien dürfen sich nicht schneiden, da sie durch eine Anfangsbedingung<br />
(x, p) bereits eindeutig festgelegt sind. Sie bilden daher ein System ineinandergeschachtelter<br />
Ringe um die stabilen Gleichgewichtspunkte. Die Kurve durch den instabilen<br />
Gleichgewichtspunkt nennt man Separatrix, da Sie Bereiche mit qualitativ<br />
verschiedenen Kurven voneinander trennt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 13<br />
p<br />
Zeitabhängigkeit der Bewegung, Periode<br />
x<br />
Abbildung 2.2: Bewegung in der Phasenebene.<br />
Die einzelnen Kurven entsprechen den<br />
Energien in Abbildung (2.1). Die auf der<br />
x-Achse hervorgehobenen Punkte sind die<br />
Gleichgewichtspunkte. Durch den mittleren<br />
instabilen Gleichgewichtspunkt geht die Separatrix.<br />
Ausgehend vom Energiesatz erhält man für die Geschwindigkeit den Ausdruck,<br />
v = dx<br />
<br />
2<br />
= ± (E − U(x)).<br />
dt m<br />
Das Vorzeichen wird durch das Vorzeichen der Anfangsgeschwindigkeit und nachfolgende<br />
Vorzeichenwechsel an den Umkehrpunkten bestimmt. Damit läßt sich<br />
zunächst die Funktion t = t(x) als Integral darstellen<br />
dt<br />
dx<br />
t(x) =<br />
= 1<br />
dx<br />
dt<br />
x<br />
<br />
x0<br />
=<br />
1<br />
v(x, E)<br />
dx ′<br />
<br />
2 ± m (E − U(x′ . (2.8)<br />
))<br />
Durch die Bildung der Umkehrfunktion erhält man aus t = t(x) die gesuchte Bewegung<br />
x = x(t). Die Umkehrfunktion existiert lokal für t ′ (x) = 1/v = 0.<br />
Ist die Bewegung periodisch so erhält man die Periode T durch eine Integration über<br />
einen Umlauf. Sind die beiden Umkehrpunkte der Bahn x1 und x2, dann gilt<br />
x2<br />
T =<br />
x1<br />
dx<br />
+<br />
2 (E − U)<br />
m<br />
=<br />
x2<br />
dx<br />
2 <br />
2 (E − U)<br />
m<br />
x1<br />
x1<br />
x2<br />
dx<br />
<br />
2 − (E − U)<br />
m<br />
(2.9)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 14<br />
Lineares Kraftgesetz<br />
Ist die Kraft linear in x und ˙x, so sind spezielle Lösungsmethoden für lineare Differentialgleichungen<br />
anwendbar. Ein wichtiges Beispiel hierzu ist der harmonische<br />
Oszillator, der im folgenden Abschnitt ausführlich behandelt wird.<br />
2.2 Harmonischer Oszillator<br />
Ein harmonischer Oszillator führt harmonische Schwingungen aus, die durch die<br />
Kreisfunktionen Sinus und Kosinus beschriebenen werden. <strong>Physik</strong>alisch wird der<br />
harmonische Oszillator in guter Näherung durch eine an einer elastischen Feder<br />
aufgehängte Masse realisiert. Allerdings gibt es viele weitere physikalische Anwendungen,<br />
da das Modell allgemeine Eigenschaften eines Systems in der Nähe eines<br />
Gleichgewichts beschreibt.<br />
In der Umgebung eines Gleichgewichtspunktes, x = 0, v = 0, kann eine allgemeine<br />
Kraft F (x, v) durch die lineare Approximation<br />
F (x, v) = F (0, 0) + ∂F<br />
<br />
<br />
x +<br />
∂x<br />
∂F<br />
<br />
<br />
v (2.10)<br />
∂v<br />
x=0,v=0<br />
dargestellt werden. Für ein stabiles Gleichgewicht gilt<br />
F (0, 0) = 0,<br />
<br />
∂F <br />
<br />
∂x<br />
= −f,<br />
<br />
∂F <br />
<br />
∂v<br />
x=0,v=0<br />
x=0,v=0<br />
x=0,v=0<br />
= −2mβ,<br />
mit positiven Konstanten f und β. Die Kraft besteht in dieser Näherung aus einer<br />
<strong>zur</strong> Auslenkung proportionalen Rückstellkraft<br />
Fx = −fx<br />
und einer <strong>zur</strong> Geschwindigkeit proportionalen Reibungskraft<br />
Fv = −2mβv<br />
Die Bewegungsgleichung einer Masse m in der Nähe eines Gleichgewichtspunktes<br />
besitzt daher die allgemeine Form<br />
¨x + 2β ˙x + ω 2 0x = 0, ω0 = f/m. (2.11)<br />
Sie wird als die Bewegungsgleichung oder Schwingungsgleichung des gedämpften<br />
harmonischen Oszillators bezeichnet. Für β = 0 ist der Oszillator ungedämpft.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 15<br />
2.2.1 Freie ungedämpfte Schwingungen<br />
Das Anfangswertproblem des ungedämpften harmonischen Oszillators lautet<br />
¨x + ω 2 0x = 0, mit x(0) = x0, v(0) = v0. (2.12)<br />
An diesem Beispiel sollen zwei unterschiedliche Lösungsmethoden veranschaulicht<br />
werden, die auf dem Energiesatz bzw. dem Exponentialansatz basieren.<br />
Energiesatz, Phasenebene und Schwingungsbewegung<br />
Im vorliegenden Fall ist die Kraft nur von x abhängig, so daß ein Energieerhaltungssatz<br />
existiert. Definiert man den Energienullpunkt durch U(0) = 0, so ergibt sich<br />
das Potential<br />
x<br />
U(x) = − dx(−fx) = 1<br />
2 fx2 = 1<br />
2 mω2 0x 2<br />
(2.13)<br />
und die Gesamtenergie<br />
0<br />
E = p2 1<br />
+<br />
2m 2 mω2 0x 2 . (2.14)<br />
Für Energien E > 0 bewegt sich der Massepunkt in einem parabelförmigen Potentialtopf<br />
(Abb.2.3). Für E < 0 gibt es keine reellen Lösungen.<br />
In der Phasenebene stellen die Kurven konstanter Energie E Ellipsen dar,<br />
x 2<br />
a<br />
2 + p2<br />
= 1, a =<br />
b2 <br />
2E/mω 2 0, b = √ 2Em, (2.15)<br />
deren Halbachsen mit a und b bezeichnet wurden (Abb.2.3). Die Umkehrpunkte auf<br />
der x-Achse ergeben sich daraus zu x1,2 = ±a. Die von einer Bahnkurve in der<br />
Phasenebene eingeschlossene Fläche wird durch die Energie und die Umlaufperiode<br />
T = 2π/ω0 bestimmt,<br />
S(E) = πab = 2π E<br />
= ET. (2.16)<br />
Allgemein gilt für Bewegungen in einem eindimensionalen Potential der Zusammenhang<br />
dS(E)<br />
= T. (2.17)<br />
dE<br />
ω0
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 16<br />
-a<br />
U<br />
E<br />
+a<br />
x<br />
Abbildung 2.3: Bewegung des harmonischen Oszillators im Potential und in der<br />
Phasenebene<br />
-a<br />
p<br />
+b<br />
S(E)<br />
Die Zeitabhängigkeit der Bewegung ergibt sich aus dem Integral<br />
t =<br />
x<br />
x0<br />
dx<br />
v(x)<br />
mit<br />
<br />
2<br />
v(x) = ± (E − U) = ±ω0<br />
m<br />
Das Integral kann durch eine Substitution<br />
-b<br />
+a<br />
x<br />
(2.18)<br />
√ a 2 − x 2 . (2.19)<br />
x = a cos ϕ, v = aω0 sin ϕ. (2.20)<br />
ausgewertet werden. Der Ausdruck für v ergibt sich aus (2.19) indem man dort x<br />
substituiert und 0 < ϕ < π für v > 0 und −π < ϕ < 0 für v < 0 setzt. Dies entspricht<br />
einem Übergang zu den in Abb. 2.4 gezeigten Polarkoordinaten. Die Amplitude a<br />
und die Anfangsphase ϕ0 werden durch die Anfangsbedingungen festgelegt,<br />
a =<br />
Damit ergibt die Integration<br />
<br />
v 2 0<br />
ω 2 0<br />
+ x 2 0, tan ϕ0 = v0<br />
ϕ<br />
ω0t = − dϕ = ϕ0 − ϕ,<br />
ϕ0<br />
ω0x0<br />
. (2.21)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 17<br />
und somit<br />
Abbildung 2.4: Polarkoordinaten a, ϕ<br />
x(t) = a cos(ω0t − ϕ0). (2.22)<br />
Dies ist eine harmonische Schwingung mit der durch die Schwingungsgleichung vorgegebenen<br />
Frequenz ω0. Die Amplitude a und die Phasenverschiebung δ sind gemäß<br />
(2.21) durch die Anfangsbedingungen bestimmt.<br />
Exponentialansatz, charakteristisches Polynom und Basissystem linear<br />
unabhängiger Lösungen<br />
Die zweite Methode <strong>zur</strong> Lösung der Schwingungsgleichung (2.12) beruht auf dem<br />
Exponentialansatz<br />
x(t) = A exp(λt), (2.23)<br />
mit Konstanten A und λ. Lineare Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten,<br />
n<br />
Lx =<br />
i=0<br />
ci<br />
dix = 0,<br />
dti können durch diesen Ansatz gelöst werden. Die Ableitungen werden hierbei durch<br />
Potenzen von λ ersetzt. Die Differentialgleichung definiert damit ein charakteristisches<br />
Polynom P (λ), dessen Nullstellen die möglichen Werte von λ bestimmen,<br />
<br />
n<br />
P (λ)x = ciλ i<br />
<br />
x = 0.<br />
i=0<br />
Sind alle Nullstellen verschieden, so bestimmen diese genau ein Basissystem linear<br />
unabhängiger Lösungen der Differentialgleichung. Bei mehrfachen Nullstellen muß<br />
der Ansatz erweitert werden. Im Fall der Schwingungsgleichung (2.12) folgt<br />
P (λ) = λ 2 + ω 2 0 = (λ − iω0)(λ + iω0)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 18<br />
mit den beiden Nullstellen,<br />
λ1,2 = ±iω0.<br />
Die allgemeine Lösung ist die Linearkombination<br />
Die Anfangsbedingungen<br />
x(t) = A1 exp(iω0t) + A2 exp(−iω0t). (2.24)<br />
x0 = A1 + A2, v0 = iω0(A1 − A2)<br />
bestimmen die Konstanten A1,2 zu<br />
A1 = 1<br />
<br />
x0 +<br />
2<br />
v0<br />
<br />
, A2 =<br />
iω0<br />
1<br />
<br />
x0 −<br />
2<br />
v0<br />
<br />
iω0<br />
Wie in Abbildung (2.4) dargestellt, können die komplexen Amplituden durch ihren<br />
Betrag und ihre Phase ausgedrückt werden<br />
x0 + i v0<br />
ω0<br />
= a exp(iϕ0).<br />
Damit folgt wiederum die Lösung in der Form (2.22). Alternativ kann man A1,2<br />
direkt in (2.24) einsetzen und erhält dann das Ergebnis<br />
x(t) = x0 cos(ω0t) + v0<br />
2.2.2 Freie gedämpfte Schwingungen<br />
ω0<br />
sin(ω0t). (2.25)<br />
Um die Wirkung der Reibungskraft in der Schwingungsgleichung (2.11) zu veranschaulichen<br />
betrachten wir zunächst zwei einfache Spezialfälle. Vernachlässigt man<br />
die Rückstellkraft, so führt die Reibungskraft zu einer Abbremsung der Anfangsgeschwindigkeit<br />
v0 eines Teilchens<br />
˙v + 2βv = 0, v = v0e −2βt . (2.26)<br />
Die Geschwindigkeit relaxiert mit der Rate 2β in den Ruhezustand. Vernachlässigt<br />
man andererseits die Beschleunigung, so entsteht ein Kräftegleichgewicht von Reibungskraft<br />
und Rückstellkraft. Dabei geht eine Anfangsauslenkung x0 in die Ruhelage<br />
<strong>zur</strong>ück,<br />
2β ˙x + ω 2 0x0 = 0, x = x0e −(ω2 0 /2β)t . (2.27)<br />
Die Auslenkung relaxiert mit der Rate ω 2 0/(2β). Relaxiert die Geschwindigkeit<br />
schneller als die Auslenkung, β ≫ ω0, so ergibt sich eine stark gedämpfte aperiodische<br />
Bewegung. Im umgekehrten Fall kehrt die Masse mit einer endlichen Geschwindigkeit<br />
in die Ruhelage <strong>zur</strong>ück, was zu periodischen Schwingungen führt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 19<br />
Die allgemeine Lösung der gedämpften Schwingungsgleichung (2.11) bestimmen wir<br />
wieder durch den Exponentialansatz (2.23). Das charakteristische Polynom,<br />
besitzt die Nullstellen<br />
P (λ) = λ 2 + 2βλ + ω 2 0<br />
λ1,2 = −β ± γ, γ =<br />
Die allgemeine Lösung hat daher die Form<br />
Mit den Anfangsbedingungen<br />
x(t) = A1e γt + A2e −γt e −βt .<br />
x0 = A1 + A2<br />
v0 = (γ − β)A1 − (γ + β)A2<br />
bestimmt man die Integrationskonstanten<br />
Daraus folgt die Lösung,<br />
<br />
β 2 − ω 2 0. (2.28)<br />
(γ + β)x0 + v0 = 2γA1, A1 = x0<br />
2 + v0 + 2βx0<br />
2γ<br />
(γ − β)x0 − v0 = 2γA2, A2 = x0<br />
2 − v0 + 2βx0<br />
.<br />
2γ<br />
<br />
x(t) = x0 cosh(γt) + v0 + βx0<br />
γ<br />
<br />
sinh(γt) e −βt<br />
Nach Gleichung (2.28) kann man die folgenden drei Fälle unterscheiden.<br />
Aperiodische Bewegung (β > ω0):<br />
(2.29)<br />
In diesem Fall ist γ reell und beide Nullstellen sind negativ, λ1,2 < 0. Die beiden<br />
partikulären Lösungen sind exponentiell abfallend. Die allgemeine Lösung ist nicht<br />
notwendig monoton fallend. Sie kann jedoch höchstens ein Maximum besitzen. Aus<br />
der Bedingung für einen Umkehrpunkt, v = 0, folgt<br />
e 2γt = − λ2A2<br />
λ1A1<br />
= r.<br />
Für r < 1 gibt es keinen, für r ≥ 1 genau einen Umkehrpunkt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 20<br />
Im Grenzfall starker Dämpfung, ω0/β ≪ 1, läßt sich die Lösung noch weiter vereinfachen.<br />
Unter Verwendung der Potenzreihenentwicklung,<br />
erhält man<br />
√ 1<br />
1 + x = 1 + x + · · ·<br />
2<br />
<br />
γ = β 1 − ω2 0/β2 <br />
≈ β 1 − ω2 0<br />
2β2 <br />
λ1 = − ω2 0<br />
2β , λ2 = −2β.<br />
Diese Relaxationsraten entsprechen den oben behandelten Grenzfällen (2.26) und<br />
(2.27). Da |λ1| ≪ |λ2| ist, handelt es sich hier um ein Beispiel einer Differentialgleichung,<br />
deren Lösungen stark unterschiedliche Zeitskalen aufweisen. Für große<br />
Zeiten spielt nur der langsam veränderliche Anteil eine Rolle. Für kleine Zeiten<br />
benötigt man den schnell veränderlichen Anteil, um die Anfangsbedingungen erfüllen<br />
zu können. Mit den Anfangswerten<br />
folgt<br />
A1 = x0 + v0<br />
2β , A2 = − v0<br />
2β<br />
x(t) = x0e λ1t v0 λ1t λ2t<br />
+ e − e<br />
2β<br />
.<br />
Bei einer Anfangsauslenkung x0 relaxiert die Amplitude auf der langsamen Zeitskala<br />
in die Ruhelage. Bei einer Anfangsgeschwindigkeit v0 relaxiert die Amplitude<br />
dagegen zuerst schnell ins Kräftegleichgewicht und danach langsam in die Ruhelage<br />
(Abb. (2.5)).<br />
x(t)<br />
Abbildung 2.5: Auslenkung x(t) als Superposition<br />
einer schnell und langsam<br />
relaxierenden Lösung. Für große Zeiten<br />
nähert sich x(t) asymptotisch der<br />
langsam relaxierenden Lösung. Diese<br />
Lösung erfüllt jedoch nicht die Anfangsbedingung<br />
x0 = 0. Daher ist für<br />
kleine Zeiten auch die schnell relaxierende<br />
Lösung erforderlich.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 21<br />
Gedämpft periodische Bewegung (ω0 > β)<br />
In diesem Fall ist γ imaginär. Setzt man γ = iΩ so erhält man aus (2.28) und (2.29)<br />
die Lösung,<br />
<br />
x(t) = x0 cos(Ωt) + v0 + βx0<br />
Ω<br />
<br />
sin(Ωt) e −βt <br />
, Ω = ω2 0 − β2 . (2.30)<br />
Alternativ kann man auch die Amplitude und Phasenverschiebung der Schwingung<br />
durch<br />
A2 = A ∗ 1 = 1<br />
<br />
x0 + i<br />
2<br />
v0<br />
<br />
+ βx0<br />
=<br />
Ω<br />
1<br />
2 reiδ<br />
mit<br />
r =<br />
definieren. Damit folgt<br />
<br />
x2 0 + 1<br />
Ω2 (v0 + βx0)<br />
0<br />
2 , tan δ = v0 + βx0<br />
Ωx0<br />
x(t) = r cos(Ωt − δ)e −βt . (2.31)<br />
Es handelt sich hierbei um eine gedämpfte Schwingung. Ihre Schwingungsfrequenz<br />
Ω ist kleiner als die Eigenfrequenz ω0 des ungedämpften Oszillators. Ihre Amplitude<br />
ist exponentiell abfallend.<br />
Abbildung 2.6: Schematische Darstellung<br />
einer gedämpften Schwingung. Die<br />
Einhüllende ±re −βt wird jeweils in den<br />
Maxima bzw. Minima der Kosinus-<br />
Schwingung berührt. Die Phasenverschiebung<br />
δ wurde Null gesetzt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 22<br />
Aperiodischer Grenzfall (β = ω0)<br />
In diesem Fall ist γ = Ω = 0 und das charakteristische Polynom besitzt die doppelte<br />
Nullstelle λ1,2 = −β. Der obige Exponentialansatz ergibt hier nur eine partikuläre<br />
Lösung. Die vollständige Lösung des aperiodischen Grenzfalls erhält man, indem<br />
man in der Lösung des Anfangswertproblems (2.30) den Grenzübergang Ω → 0 zu<br />
einer festen Zeit t ausführt. Mit<br />
folgt<br />
sin x<br />
lim<br />
x→0 x<br />
= 1<br />
x(t) = [x0 + (v0 + βx0)t] e −βt . (2.32)<br />
Die Amplitude enthält hier einen linear in t anwachsenden Anteil.<br />
2.2.3 Erzwungene Schwingungen<br />
Wird ein harmonischer Oszillator mit einer harmonischen Kraft, F (t) = F0 cos(ωt),<br />
angetrieben, so lautet die Bewegungsgleichung,<br />
¨x + 2β ˙x + ω 2 0x = a0 cos(ωt), a0 = F0/m. (2.33)<br />
Hierbei handelt es sich um eine inhomogene lineare Differentialgleichung. Ihre allgemeine<br />
Lösung besitzt die Form,<br />
x(t) = xh(t) + xs(t),<br />
wobei xh(t) die allgemeine Lösung der bereits behandelten homogenen Differentialgleichung<br />
(2.11) bezeichnet und xs(t) eine spezielle Lösung der inhomogenen Differentialgleichung<br />
darstellt. Offensichtlich erfüllt dieser Ansatz die Bewegungsgleichung<br />
(2.33) und besitzt genau die erforderliche Anzahl von Integrationskonstanten<br />
<strong>zur</strong> Erfüllung der Anfangsbedingungen.<br />
Wegen der Dämpfung der freien Schwingungen, d.h. aller Lösungen der homogenen<br />
Differentialgleichung, stellt sich für große Zeiten ein Zustand ein, der von den Anfangsbedingungen<br />
unabhängig ist und als erzwungene Schwingung bezeichnet wird.<br />
Es handelt sich dabei um eine Schwingung mit der Frequenz der anregenden Kraft.<br />
Zunächst sind die Spezialfälle instruktiv, bei denen die Anregungsfrequenz ω sehr<br />
viel kleiner bzw. sehr viel größer ist als die Oszillatorfrequenz ω0. Für ω → 0 gilt<br />
näherungsweise,<br />
ω 2 0x = a0 cos(ωt), x = a0<br />
ω2 cos(ωt). (2.34)<br />
0
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 23<br />
Die Auslenkung folgt der anregenden Kraft instantan ins neue Kräftegleichgewicht.<br />
Für ω → ∞ gilt entsprechend<br />
¨x = a0 cos(ωt), x = − a0<br />
cos(ωt). (2.35)<br />
ω2 Hierbei handelt es sich um die erzwungene Schwingung eines freien Teilchens. Die<br />
Auslenkung schwingt gegenphasig <strong>zur</strong> anregenden Kraft und die Amplitude nimmt<br />
wie 1/ω 2 ab.<br />
Für beliebige Anregungsfrequenzen ist es einfacher anstelle von (2.33) die Schwingungsgleichung<br />
¨z + 2β ˙z + ω 2 0z = a0e iωt , (2.36)<br />
mit einer komplexen Variable z(t) zu betrachten. Für jede komplexe Lösung z(t)<br />
von (2.36) ist der Realteil x = ℜ(z) eine Lösung der ursprünglichen Schwingungsgleichung<br />
(2.33). Dies beruht darauf, daß die Gleichung linear ist und nur reelle<br />
Koeffizienten besitzt.<br />
Es ist naheliegend für die erzwungene Schwingung einen Exponentialansatz mit der<br />
Frequenz ω zu wählen,<br />
z = Be iωt .<br />
Die Schwingungsgleichung (2.36) bestimmt dann die komplexe Amplitude der erzwungenen<br />
Schwingung,<br />
B =<br />
a0<br />
ω2 0 − ω2 . (2.37)<br />
+ 2iβω<br />
Setzt man B = be −iδ so erhält man die gesuchte reelle Lösung in der Form<br />
mit der Amplitude und Phase<br />
b =<br />
x(t) = b cos(ωt − δ), (2.38)<br />
a0<br />
<br />
2 (ω0 − ω2 ) 2 + 4β2 2βω<br />
, tan δ =<br />
ω2 ω2 . (2.39)<br />
0 − ω2 Für schwache Dämpfung (β ≪ ω0) ist die Frequenzabhängigkeit der Amplitude und<br />
Phase in Abb. (2.7) dargestellt. Für kleine und große Frequenzen werden die schon<br />
diskutierten Grenzfälle<br />
⎧<br />
⎪⎨<br />
b(ω) →<br />
⎪⎩<br />
a0<br />
ω 2 0<br />
für ω → 0<br />
a0<br />
ω 2 für ω → ∞
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 24<br />
erreicht. Dazwischen nimmt die Amplitude ein Maximum mit<br />
ωm = Ω 2 − β 2 , bm = a0<br />
2βΩ , Ω = ω 2 − β 2<br />
an. Es liegt etwas unterhalb der Eigenfrequenz Ω des gedämpften harmonischen<br />
Oszillators. Die Auslenkung folgt der anregenden Kraft um die Phase δ verschoben<br />
nach. Die Phase wächst mit zunehmender Frequenz monoton von 0 bis π an und<br />
erreicht bei ω = ω0 den Wert π/2.<br />
Abbildung 2.7: Frequenzabhängigkeit<br />
der Amplitude und der Phase einer erzwungenen<br />
Schwingung des harmonischen<br />
Oszillators.<br />
2.3 Bewegungen mit veränderlicher Masse<br />
Zwei unterschiedliche Massen m1 und m2, auf die dieselbe Kraft F einwirkt, erfahren<br />
unterschiedliche Beschleunigungen ˙v1 und ˙v2 aber dieselbe Impulsänderung<br />
˙p = m1 ˙v1 = m2 ˙v2 = F.<br />
Die Impulsänderung, die eine Kraft hervorruft, ist unabhängig von den Eigenschaften<br />
des speziellen Körpers. Bei Körpern mit veränderlicher Masse ist die Kraft daher<br />
als Ursache von Impulsänderungen aufzufassen. Nur bei konstanter Masse ist die<br />
Impulsänderung der Beschleunigung proportional.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 25<br />
Massenänderung ohne Rückstoß<br />
Für eine zeitabhängige Masse m(t) lautet der Impulssatz,<br />
d<br />
[m (t) v] = F, ˙p = m ˙v + ˙mv = F, m ˙v = F − ˙mv (2.40)<br />
dt<br />
Diese Form der Bewegungsgleichung tritt bei relativistischen Teilchen auf, deren<br />
Geschwindigkeit im Bereich der Lichtgeschwindigkeit c liegt. In diesem Fall ist die<br />
Zeitabhängigkeit der Masse durch die Geschwindigkeit gegeben,<br />
m(t) = m0γ, γ =<br />
<br />
1<br />
1 − v2<br />
c2 ,<br />
wobei m0 die Ruhemasse bezeichnet. Eine allgemeine Begründung der relativistischen<br />
Bewegungsgleichung wird in der relativistischen <strong>Mechanik</strong> gegeben.<br />
Massenänderung mit Rückstoß<br />
Die Bewegungsgleichung (2.40) berücksichtigt noch nicht die Impulsänderung, die<br />
durch die zu- oder abgeführte Masse hervorgerufen wird. Im Zeitintervall dt werde<br />
der Masse m mit der Geschwindigkeit v eine zusätzliche Masse dm mit der Geschwindigkeit<br />
v ′ = v+vr zugeführt. Hierbei ist vr die Geschwindigkeit der Masse dm relativ<br />
<strong>zur</strong> Masse m. Der Gesamtimpuls der noch getrennten Massen ist mv + (dm)v ′ . Der<br />
Impuls der Gesamtmasse nach der Zeit dt ist (m + dm)(v + dv). Für die gesamte<br />
Impulsänderung gilt demnach<br />
dp = (m + dm)(v + dv) − [mv + (dm)v ′ ] = mdv + (dm)(v − v ′ ) = F dt.<br />
Die Bewegungsgleichung lautet in diesem Fall<br />
m ˙v = F + ˙mvr. (2.41)<br />
Auf der rechten Seite steht nun die Relativgeschwindigkeit der zugeführten Masse.<br />
Wird die Masse dm ohne Impulsübertrag zugeführt, d.h. v ′ = 0, so gilt vr = −v und<br />
man erhält wieder das Ergebnis (2.40).<br />
Ein Anwendungsbeispiel für die Gleichung (2.41) ist die Beschleunigung einer Rakete<br />
durch den Rückstoß des verbrannten Brennstoffs. Nimmt man an, daß pro Zeiteinheit<br />
eine konstante Masse µ der Antriebsgase mit einer konstanten Geschwindigkeit u<br />
austritt, so gilt entsprechend ˙m = −µ und vr = −u. Auf die Rakete wirkt also bei<br />
abnehmender Masse eine konstante Antriebskraft ˙mvr = µu.
Kapitel 3<br />
Kinematik<br />
Die Kinematik beschreibt Bewegungen ohne Bezugnahme auf die wirkenden Kräfte.<br />
Kinematische Grundgrößen sind die Geschwindigkeit und Beschleunigung. Von besonderem<br />
Interesse sind Koordinatentransformationen beim Wechsel des Bezugssystems.<br />
Man unterscheidet Koordinatentransformationen zwischen Inertialsystemen<br />
und Koordinatentransformationen von Inertialsystemen in beschleunigte Bezugssysteme.<br />
In beschleunigten Systemen treten sogenannte Scheinkräfte auf, deren Ursache<br />
in der beschleunigten Bewegung des Bezugssystems liegt.<br />
3.1 Inertialsysteme<br />
Inertialsysteme sind Bezugssysteme, in denen sich ein kräftefreier Körper geradlinig<br />
und gleichförmig bewegt. Die besondere Bedeutung der Inertialsysteme beruht<br />
darauf, daß es diejenigen Bezugssysteme sind, in denen die Newtonsche Bewegungsgleichung<br />
gilt.<br />
3.1.1 Galileisches Relativitätsprinzip<br />
Es gibt viele verschiedene Inertialsysteme. Das Galileische Relativitätsprinzip besagt<br />
allgemein:<br />
Alle Inertialsysteme sind gleichberechtigt.<br />
Demnach ist es nicht möglich physikalisch zwischen zwei Inertialsystemen zu unterscheiden.<br />
In einem Zug, der mit konstanter Geschwindigkeit fährt, ist es z.B. nicht<br />
möglich die Geschwindigkeit des Zuges durch eine Messung innerhalb des Zuges<br />
festzustellen.<br />
26
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 27<br />
3.1.2 Galileitransformationen<br />
Das Galileische Relativitätsprinzip definiert in Verbindung mit der Grundgleichung<br />
der <strong>Mechanik</strong> die Klasse der Galileitransformationen. Da alle Inertialsysteme gleichberechtigt<br />
sind, muß die Newtonsche Bewegungsgleichung in allen diesen Systemen<br />
in der gleichen Form gelten. Galileitransformationen sind Koordinatentransformationen,<br />
gegenüber denen die Grundgleichung der <strong>Mechanik</strong> für einen Massepunkt<br />
mit fester Masse m forminvariant ist.<br />
Definition 3.1 Eine Gleichung F (Xi) = 0 zwischen verschiedenen Größen<br />
Xi(x, y, z, t) heißt forminvariant, wenn sie in den transformierten Größen<br />
X ′ i(x ′ , y ′ , z ′ , t ′ ) dieselbe Form besitzt, wie in den ursprünglichen Größen Xi:<br />
F (Xi) = F (X ′ i).<br />
Man unterscheidet zwischen Forminvarianz und Invarianz.<br />
Definition 3.2 Invarianz bedeutet die stärkere Forderung, daß die transformierte<br />
Gleichung identisch ist mit der ursprünglichen Gleichung, d.h. die transformierten<br />
Größen sind auch die gleichen Funktionen der Koordinaten wie die ursprünglichen<br />
Größen<br />
X ′ i(x ′ , y ′ , z ′ , t ′ ) = Xi(x, y, z, t)<br />
Aus der Invarianz folgt, daß jede Lösung als Funktion der alten Koordinaten auch<br />
eine Lösung als Funktion der neuen Koordinaten darstellt.<br />
Die möglichen Galileitransformationen werden im folgenden behandelt. Nicht dazu<br />
gezählt werden Umskalierungen der Koordinaten: x ′ = αx, t ′ = βt. Fasst man die<br />
Koordinaten als dimensionsbehaftete Größen auf, so entspricht einer Umskalierung<br />
der Maßzahl eine inverse Umskalierung der Einheit. Die dimensionsbehaftete Größe<br />
wird dadurch nicht geändert.<br />
Verschiebung des Zeitursprungs<br />
Eine Verschiebung des Zeitursprungs um eine feste Zeit t0,<br />
ist eine Galileitransformation.<br />
t ′ = t − t0, (3.1)<br />
Das ursprüngliche Koordinatensystem S sei ein Inertialsystem, so daß dort die Newtonsche<br />
Bewegungsgleichung gilt. Wegen dt = dt ′ , r ′ = r gilt im neuen System S ′<br />
die transformierte Gleichung<br />
m d2 r<br />
dt ′2 = F ′ , (3.2)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 28<br />
mit<br />
F ′ = F (r, dr<br />
dt ′ , t′ + t0). (3.3)<br />
Die transformierte Kraft F ′ ist <strong>zur</strong> Zeit t ′ in S ′ identisch mit der alten Kraft <strong>zur</strong><br />
entsprechenden Zeit t = t ′ +t0 in S. Die Gleichung ist daher forminvariant gegenüber<br />
einer Zeitverschiebung. Das System S ′ ist ebenfalls ein Inertialsystem. Hängt die<br />
Kraft nicht explizit von der Zeit ab, so ist die Gleichung sogar invariant gegenüber<br />
einer Zeitverschiebung.<br />
Parallelverschiebung der Koordinatenachsen<br />
Eine Verschiebung des Koordinatenursprungs<br />
r ′ = r − d0, d0 =<br />
3<br />
d0iei, (3.4)<br />
um einen konstanten Vektor d0 ist eine Galileitransformation. In beiden Systemen<br />
können die gleichen Basisvektoren ei gewählt werden, so daß die Achsen von S und<br />
S ′ parallel sind. Man nennt dies eine Translation.<br />
i=1<br />
Abbildung 3.1: Verschiebung des Koordinatenursprungs<br />
um einen konstanten Vektor d.<br />
Die Koordinatenachsen von S und S ′ sind<br />
parallel.<br />
Wegen dr = dr ′ folgt die Forminvarianz der Bewegungsgleichung,<br />
m d2r ′<br />
dt2 = F ′ ; F ′ <br />
= F r ′ + d0, dr′<br />
<br />
, t .<br />
dt<br />
(3.5)<br />
Invarianz gegenüber Translationen liegt vor, falls die Kraft nur von den Relativvektoren<br />
ri − rj, der Massenpunkte abhängt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 29<br />
Gleichförmige Bewegung<br />
Eine Koordinatentransformation zu einem mit der konstanten Geschwindigkeit v0<br />
bewegten Koordinatenssystem<br />
r ′ = r − v0t, v ′ = v − v0, (3.6)<br />
ist eine Galileitransformation. Wegen dv = dv ′ ist die Bewegungsgleichung forminvariant,<br />
m dv′<br />
dt = F ′ ; F ′ <br />
= F r ′ + v0t, dr′<br />
dt + v0,<br />
<br />
t . (3.7)<br />
Invarianz liegt vor, falls die Kraft nur von den Relativvektoren ri − rj und den<br />
Relativgeschwindigkeiten vi − vj der Massenpunkte abhängt.<br />
Orthogonale Transformationen<br />
Sei αij eine orthogonale Transformation der Koordinaten<br />
x ′ i = <br />
j<br />
αijxj, α −1<br />
ij = αji . (3.8)<br />
Orthogonale Transformationen werden im folgenden Abschnitt behandelt. Sie stellen<br />
ebenfalls Galileitransformationen dar. Die Forminvarianz der Bewegungsgleichung<br />
gegenüber orthogonalen Transformationen beruht auf dem Vektorcharakter<br />
der Gleichung, d.h. die linke und die rechte Seite der Gleichung transformieren sich<br />
in gleicher Weise<br />
<br />
m¨x ′ i = F ′<br />
i , F ′<br />
i = <br />
Allgemeine Galileitransformation<br />
j<br />
αijFj<br />
<br />
<br />
α −1<br />
ij x′ j, <br />
i<br />
i<br />
α −1<br />
ij xj, ˙ t<br />
. (3.9)<br />
Die Galileitransformationen bilden eine Gruppe mit insgesamt 10 Parametern:<br />
t0,v0i,d0i und die 3 unabhängigen Parameter einer orthogonalen Transformation.<br />
Die allgemeine Transformation lautet<br />
x ′ i = αijxj − v0it − d0i (3.10)<br />
t ′ = t − t0 . (3.11)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 30<br />
3.1.3 Orthogonale Transformationen<br />
Orthogonale Transformationen sind Transformationen einer Orthonormalbasis.<br />
Definition 3.3 Eine Orthonormalbasis im dreidimensionalen Ortsraum ist eine<br />
Basis von Einheitsvektoren {ei}, mit i = 1, 2, 3, die jeweils paarweise senkrecht<br />
zueinander stehen:<br />
ei·ej = δij, δij =<br />
1 ; i = j<br />
0 ; i = j<br />
. (3.12)<br />
Man bezeichnet δij als das Kroneckersymbol. Es stellt die Elemente der Einheitsmatrix<br />
dar.<br />
Definition 3.4 Die Einheitsvektoren ei bilden ein Rechtssystem, falls<br />
mit<br />
ei·(ej×ek) = ɛijk, (3.13)<br />
⎧<br />
⎨ +1 ; i, j, k zyklische Vertauschung von 1, 2, 3<br />
ɛijk = −1<br />
⎩<br />
0<br />
;<br />
;<br />
i, j, k antizyklische Vertauschung von 1, 2, 3<br />
sonst<br />
Man bezeichnet ɛijk als den Levi-Civita-Tensor oder den Epsilontensor.<br />
Basistransformation<br />
. (3.14)<br />
Wir untersuchen nun die Eigenschaften von Transformationen, die eine gegebene<br />
Orthonormalbasis {ei} in eine neue Orthonormalbasis {e ′ i} überführen. Jeder Basisvektor<br />
der neuen Basis kann als Linearkombination der Basisvektoren der alten<br />
Basis geschrieben werden,<br />
e ′ i =<br />
3<br />
αijej, αij = e ′ i·ej = cos(ϕij). (3.15)<br />
j=1<br />
Die Entwicklungskoeffizienten αij werden als Richtungskosinus bezeichnet, da sie<br />
durch den Kosinus des Winkels ϕij zwischen der i-ten neuen und der j-ten alten<br />
Richtung dargestellt werden.<br />
Als Beispiel betrachten wir eine Drehung des Koordinatensystems um die x3-Achse<br />
um den Winkel ϕ. Nach Abb.(3.2) gilt hier<br />
α11 = α22 = cos ϕ,<br />
α12 = cos(ϕ − π/2) = sin ϕ, α21 = cos(ϕ + π/2) = − sin ϕ,<br />
α33 = 1, α13 = α23 = α31 = α32 = 0.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 31<br />
Als Matrix geschrieben erhält man<br />
⎛<br />
cos ϕ sin ϕ<br />
⎞<br />
0<br />
α = ⎝ − sin ϕ cos ϕ 0 ⎠ . (3.16)<br />
0 0 1<br />
Abbildung 3.2: Drehung des<br />
kartesischen Koordinatensystems<br />
um den Winkel ϕ.<br />
Wie man an diesem Beispiel bereits erkennt sind die αij nicht unabhängig voneinander.<br />
Allgemein muß man an die Transformation (3.15) noch die Orthonormalitätsbedingungen<br />
für die neue Basis stellen,<br />
e ′ i·e ′ j = <br />
αinαjmen·em = <br />
αinαjn = δij. (3.17)<br />
n,m<br />
Die Indizes i und j stellen hier die Indizes der Zeilen der Matrix α dar. Die Orthonormalität<br />
der neuen Basis wird also durch die Orthonormalität der Zeilen der<br />
Transformationsmatrix ausgedrückt. Dies sind insgesamt 6 Bedingungen an die 9<br />
Matrixelemente αij. Eine allgemeine orthogonale Transformation wird durch die<br />
verbleibenden 3 freien Parameter festgelegt. Definiert man die transponierte Matrix<br />
α T mit den Elementen α T ij = αji und die Einheitsmatrix I mit den Elementen δij,<br />
so lassen sich die Orthonormalitätsbedingungen in Matrixschreibweise zusammenfassen,<br />
α·α T = I. (3.18)<br />
Drehungen und Spiegelungen<br />
Aus der Orthonormalitätsbedingung folgt, daß die Determinante einer orthogonalen<br />
Transformation den Betrag eins besitzt:<br />
Das Vorzeichen der Determinante,<br />
n<br />
det α·α T = det α det α T = det α 2 = 1. (3.19)<br />
det α = ±1, (3.20)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 32<br />
bestimmt, ob das neue Basissystem ein Rechtssystem (+1)oder ein Linkssystem (−1)<br />
darstellt, denn es gilt<br />
e ′ 1·(e ′ 2×e3) ′ = <br />
α1iα2jα3kei·(ej×ek) = <br />
ɛijkα1iα2jα3k = det <br />
α . (3.21)<br />
i,j,k<br />
Durch eine stetige Variation der Parameter einer orthogonalen Transformation kann<br />
sich das Vorzeichen der Determinante nicht sprunghaft ändern. Drehungen eines<br />
Rechtssystems werden daher durch orthogonale Transformationen mit der Determinante<br />
+1 dargestellt. Beim Übergang von einem Rechtssytem zu einem Linkssystem<br />
muß zusätzlich eine Koordinatenachse gespiegelt werden. Raumspiegelungen stellen<br />
keine exakte Symmetrie der physikalischen Gesetze dar. Diese Symmetrie wird durch<br />
die schwache Wechselwirkung gebrochen.<br />
Umkehrtransformation<br />
Da die Determinante einer orthogonalen Transformation immer ungleich Null ist,<br />
existiert die Umkehrtransformation. Durch die Entwicklung eines alten Basisvektors<br />
nach der neuen Basis erhält man,<br />
ei =<br />
3<br />
j=1<br />
i,j,k<br />
α −1<br />
ij e′ j, α −1<br />
ij = ei·e ′ j = αji. (3.22)<br />
Die Orthonormalitätsbedingungen für die alte Basis lauten entsprechend,<br />
ei·ej = <br />
n,m<br />
α −1<br />
in α−1<br />
jm e′ n·e ′ m = <br />
n<br />
αniαnj = δij. (3.23)<br />
Die Indizes i und j stellen hier die Indizes der Spalten der Matrix α dar. Die Orthonormalität<br />
der alten Basis wird also durch die Orthonormalität der Spalten der<br />
Transformationsmatrix ausgedrückt. Damit besitzen orthogonale Transformationen<br />
die Eigenschaften<br />
α·α T = α T ·α = I, α −1 = α T , det α = ±1 . (3.24)<br />
Transformation von Vektoren und Skalaren<br />
Zur Beschreibung der Drehung von Vektoren unterscheidet man zwei Möglichkeiten.<br />
Bei einer passiven Drehung wird die Basis bei festgehaltenen Vektoren gedreht.<br />
Umgekehrt werden bei einer aktiven Drehung die Vektoren bei festgehaltener Basis<br />
gedreht.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 33<br />
Entwickelt man einen beliebigen Vektor V nach der alten und der neuen Basis einer<br />
passiven Drehung, so gilt<br />
V = <br />
Vjej = <br />
j<br />
j<br />
V ′<br />
j e ′ j,<br />
V ′<br />
i = e ′ i·V = <br />
e ′ i·ejVj = <br />
αijVj. (3.25)<br />
j<br />
Man bezeichnet Vi und V ′<br />
i als Darstellungen des Vektors bezüglich der Basis S bzw.<br />
S ′ . Diese Darstellungen können auch als Spaltenvektoren<br />
⎛ ⎞ ⎛ ⎞<br />
V = ⎝<br />
V1<br />
V2<br />
V2<br />
⎠ , V ′ = ⎝<br />
j<br />
V ′<br />
1<br />
V ′<br />
2<br />
V ′<br />
2<br />
⎠ (3.26)<br />
zusammengefaßt werden. Für diese Darstellungen gilt das Transformationsgesetz<br />
V ′<br />
i = <br />
αijVj, V ′ = α·V . (3.27)<br />
j<br />
Bei einer aktiven Transformation bezeichnet umgekehrt V ′ die Darstellung des alten<br />
Vektors und V die Darstellung des neuen Vektors. Demnach gilt hier die inverse<br />
Transformation<br />
Vi = <br />
j<br />
α T ijV ′<br />
j , V = α T ·V ′<br />
. (3.28)<br />
Im folgenden werden Drehungen meist unter dem passiven Gesichtspunkt behandelt.<br />
Aufgrund der Eigenschaften orthogonaler Transformationen bleiben Skalarprodukte<br />
zwischen Vektoren invariant,<br />
<br />
X ′ iY ′<br />
i = <br />
αimαinXmXn = <br />
<br />
<br />
αimαin XmXn<br />
i<br />
i,m,n<br />
n,m<br />
= <br />
δmnXmXn = <br />
XmYm.<br />
n,m<br />
3.2 Beschleunigte Bezugssysteme<br />
In beschleunigten Bezugssystemen treten in den Bewegungsgleichungen Zusatzterme<br />
auf, die als Trägheitskräfte bezeichnet werden. Die Form der Bewegungsgleichungen<br />
im beschleunigten System muß durch eine explizite Koordinatentransformation bestimmt<br />
werden.<br />
m<br />
i
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 34<br />
3.2.1 Translatorisch beschleunigtes Bezugssystem<br />
Der Ursprung von S ′ werde relativ zum Ursprung von S um einen zeitabhängigen<br />
Vektor d(t) verschoben. Ein Punkt P befinde sich in S am Ort r, in S ′ am Ort r ′ .<br />
Dann gelten die Transformationsgesetze:<br />
Die Bewegungsgleichung in S ′ lautet:<br />
r ′ = r − d(t) (3.29)<br />
v ′ = v − ˙ d(t) (3.30)<br />
˙v ′ = ˙v − ¨ d(t) (3.31)<br />
m ˙v ′ = F − m ¨ d (3.32)<br />
In S ′ tritt eine Trägheitskraft −m ¨ d auf, die entgegen der Richtung der Beschleunigung<br />
wirkt.<br />
Bemerkungen:<br />
(i) Auf ein Teilchen, welches in S ′ ruht (v ′ = 0) wirkt in S die Kraft F = m ¨ d.<br />
(ii) Auf ein Teilchen, welches in S ruht (v = 0) wirkt in S ′ die Kraft F = −m ¨ d.<br />
(iii) Einsteinsches Äquivalenzprinzip: Ein homogenes Schwerefeld mit der konstanten<br />
Schwerkraft G = mSg ist äquivalent zu einem beschleunigten Bezugssystem<br />
mit der Trägheitskraft F T = −mta. Hierbei wird vorausgesetzt,<br />
daß die schwere Masse mS für alle Körper gleich der trägen Masse mt ist<br />
und a = −g gesetzt wird. Man kann den Einfluß der Schwerkraft (lokal)<br />
eliminieren, indem man sich in ein frei fallendes Bezugssystem begibt.<br />
Abbildung 3.3: Beschleunigtes Bezugssystem<br />
S ′ mit Beschleunigung a relativ zum Inertialsystem<br />
S. Eine in S ′ ruhende Masse m<br />
erfährt eine der Beschleunigung entgegengerichtete<br />
Trägheitskraft −ma, die äquivalent<br />
ist zu einer Schwerebeschleunigung g = −a.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 35<br />
3.2.2 Rotierendes Bezugssystem<br />
Ein rotierendes Bezugssystem werde durch eine zeitabhängige Orthonormalbasis<br />
{e ′ i(t)} dargestellt, die sich gegenüber der festen Orthonormalbasis {ei} eines Inertialsystems<br />
dreht. Zu jedem Zeitpunkt ist die Transformation der Basis eine orthonormale<br />
Transformation, d.h. es gilt<br />
e ′ i(t) = <br />
αij(t)ej. (3.33)<br />
j<br />
Zur Berechnung der Geschwindigkeit und der Beschleunigung eines Massenpunktes<br />
im rotierenden System benötigt man die zeitliche Änderung der Basisvektoren. Diese<br />
Änderung kann zu jedem Zeitpunkt durch eine Drehachse und eine Winkelgeschwindigkeit<br />
angegeben werden. Wir zeigen dies zuerst am Beispiel einer Rotation um die<br />
x3-Achse und dann allgemein für beliebige Drehungen.<br />
Drehung um die x3-Achse<br />
Eine Rotation um die x3-Achse mit einer Winkelgeschwindigkeit ω = ˙ϕ wird durch<br />
eine orthogonale Transformation der Form (3.16) mit einem zeitabhängigen Drehwinkel<br />
ϕ(t) dargestellt. Differenziert man (3.16) nach der Zeit, so folgt in Matrix-<br />
schreibweise<br />
⎛<br />
d<br />
⎝<br />
dt<br />
e ′ 1<br />
e ′ 2<br />
e ′ 3<br />
⎞<br />
⎠ = d<br />
⎛<br />
cos ϕ(t)<br />
⎝ − sin ϕ(t)<br />
dt<br />
0<br />
⎛<br />
− sin ϕ(t)<br />
sin ϕ(t)<br />
cos ϕ(t)<br />
0<br />
cos ϕ(t)<br />
⎞ ⎛<br />
0<br />
0 ⎠ ⎝<br />
1<br />
⎞ ⎛<br />
0<br />
= ω ⎝ − cos ϕ(t) − sin ϕ(t) 0 ⎠ ⎝<br />
⎛<br />
0<br />
0<br />
1<br />
⎞ ⎛<br />
0<br />
0<br />
⎞<br />
0<br />
= ω ⎝ −1 0 0 ⎠ ⎝ ⎠ .<br />
0 0 0<br />
Definiert man mit Hilfe der Drehachse e3 und der Winkelgeschindigkeit ω eine vektorielle<br />
Winkelgeschwindigkeit ω = ωe3, so folgt<br />
e ′ 1<br />
e ′ 2<br />
e ′ 3<br />
˙e ′ 1 = ω×e ′ 1 ˙e ′ 2 = ω×e ′ 2 ˙e ′ 3 = ω×e ′ 3 . (3.34)<br />
Die spezielle Wahl des Koordinatensystems spielt hierbei keine Rolle, so daß dieses<br />
Ergebnis auch auf allgemeine Drehungen angewandt werden kann.<br />
e1<br />
e2<br />
e3<br />
e1<br />
e2<br />
e3<br />
⎞<br />
⎠<br />
⎞<br />
⎠
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 36<br />
Infinitesimale Rotationen<br />
Die Änderung der rotierenden Basis in einem infinitesimalen Zeitintervall dt kann<br />
durch eine infinitesimale orthogonale Transformation dargestellt werden. Dies ist<br />
eine orthogonale Transformation, die nur in linearer Ordnung in dt von der Einheitsmatrix<br />
abweicht,<br />
Die Matrix Ω ist antisymmetrisch,<br />
Letzteres folgt aus der Orthonormalitätsbedingung<br />
α = I + Ωdt . (3.35)<br />
Ω T = −Ω . (3.36)<br />
α · α T − I = (I + Ωdt) · (I + Ω T dt) − I = Ω + Ω T dt = 0 . (3.37)<br />
Eine antisymmetrische 3 × 3 Matrix besitzt nur drei unabhängige Elemente. Diese<br />
können den drei Elementen eines Vektors ω auf folgende Weise zugeordnet werden,<br />
Ωij = (ei×ej)·ω = <br />
ɛijkωk . (3.38)<br />
Die zugehörige Matrix besitzt die Form<br />
⎛<br />
0<br />
Ω = ⎝ −ω3<br />
ω3<br />
0<br />
⎞<br />
−ω2<br />
ω1 ⎠ . (3.39)<br />
ω2 −ω1 0<br />
Unter Verwendung von (3.35) und (3.38) erhält man für die Änderung der Basisvektoren,<br />
e ′ i(t + dt) = <br />
j<br />
˙e ′ i = <br />
j<br />
= <br />
j<br />
k<br />
(δij + Ωijdt) e ′ j(t)<br />
Ωije ′ j = <br />
ω·(e ′ i×e ′ j)e ′ j<br />
j<br />
(ω×e ′ i)·e ′ je ′ j = ω×e ′ i .<br />
Damit ist gezeigt, daß (3.34) auch für beliebige infinitesimale Rotationen gilt.<br />
Schreibt man ω = ωn, so definiert der Betrag ω die Winkelgeschwindigkeit und
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 37<br />
der Einheitsvektor n die Richtung der Drehachse. Im allgemeinen ist der Vektor<br />
ω(t) zeitabhängig.<br />
Drehungen mit konstanter Winkelgeschwindigkeit und Drehachse können in der folgenden<br />
Weise veranschaulicht werden. Ein beliebiger Vektor V , der im rotierenden<br />
System ruht, besitzt in S ′ die Darstellung<br />
V = <br />
i<br />
V ′<br />
i e ′ i(t)<br />
mit zeitunabhängigen Komponenten V ′<br />
i . Er ändert sich daher genauso wie die Ba-<br />
sisvektoren<br />
˙V = <br />
V ′<br />
i ˙e′ i = <br />
V ′<br />
i ω×e ′ i = ω × V .<br />
i<br />
i<br />
Der Vektor dreht sich in S auf einem Kegelmantel um die Drehachse. Die Komponente<br />
des Vektors entlang der Drehachse bleibt fest. Die Komponente senkrecht <strong>zur</strong><br />
Drehachse rotiert in der Ebene senkrecht <strong>zur</strong> Drehachse.<br />
Bewegung im rotierenden System<br />
Abbildung 3.4: Drehung eines Vektors V um<br />
die Drehachse ω.<br />
Der Ortsvektor eines Massenpunktes sei r im Inertialsystem S und r ′ im rotierenden<br />
System S ′ . Da es sich um denselben Vektor handelt gilt<br />
r ′ = r. (3.40)<br />
Der Ortsvektor besitzt jedoch in beiden Systemen unterschiedliche Koordinatendarstellungen<br />
r = <br />
xi(t)ei(t) , r ′ = <br />
i<br />
i<br />
x ′ i(t)e ′ i(t) . (3.41)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 38<br />
Die Geschwindigkeit des Massenpunktes wird in beiden Systemen unterschiedlich<br />
definiert. Ein Beobachter im rotierenden System bestimmt die Geschwindigkeit des<br />
Massenpunktes anhand der Koordinatendarstellung in S ′ ,<br />
v ′ = <br />
˙x ′ ie ′ i . (3.42)<br />
Die Geschwindigkeit des Massenpunktes in S ist aber<br />
v = ˙r = ˙r ′ = <br />
˙x ′ ie ′ i + x ′ i ˙e′ i = <br />
i<br />
i<br />
i<br />
˙x ′ ie ′ i + ω×x ′ ie ′ i . (3.43)<br />
Damit ergibt sich für die Geschwindigkeit das Transformationsgesetz<br />
v = v ′ + ω × r ′<br />
. (3.44)<br />
Der Unterschied der Geschwindigkeiten ist die Rotationsgeschwindigkeit des Systems.<br />
Dieses Transformationsgesetz gilt nicht nur für die Zeitableitung des Ortsvektors,<br />
sondern genauso für die Zeitableitung eines beliebigen Vektors. Daher kann<br />
man es auch als Transformationsgesetz für die Zeitableitung auffassen,<br />
d<br />
dt<br />
′<br />
d<br />
= + ω×, (3.45)<br />
dt<br />
die links auf die Darstellung im Inertialsystem S und rechts auf die Darstellung im<br />
rotierenden System S’ wirkt.<br />
Das Transformationsgesetz für die Beschleunigungen erhält man durch zweimalige<br />
Anwendung von (3.45),<br />
d2 r<br />
dt2 =<br />
′ ′ <br />
d<br />
d<br />
+ ω× + ω× r<br />
dt dt<br />
′<br />
= a ′ + 2ω × v ′ + ω×(ω × r ′ ) + dω<br />
′<br />
×r<br />
dt<br />
′ . (3.46)<br />
Die Beschleunigung im rotierenden System wird hierbei definiert durch<br />
a ′ = <br />
¨x ′ ie ′ i.<br />
i<br />
Mit dem Transformationsgesetz für die Beschleunigungen erhält man für die Newtonsche<br />
Bewegungsgleichung im rotierenden System<br />
m¨r ′ = F + F C + F Z + F A. (3.47)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 39<br />
Hierbei treten die folgenden Scheinkräfte auf<br />
F C = −2mω × v ′<br />
F Z = −mω×(ω × r ′ )<br />
F A = −m ˙ω×r ′ .<br />
Man bezeichnet F C als Corioliskraft, F Z als Zentrifugalkraft. Bei einer beschleunigten<br />
Drehbewegung wirkt noch die Kraft F A.<br />
3.2.3 Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten<br />
Polarkoordinaten sind krummlinig orthogonale Koordinaten. Dies bedeutet, daß die<br />
Tangenteneinheitsvektoren an die Koordinatenlinien in jedem Punkt ein lokales i.a.<br />
gedrehtes Orthonormalsystem bilden. Die lokale Basis am Ort eines bewegten Massenpunktes<br />
bildet somit ein rotierendes Bezugssystem, in dem die Bewegungsgleichung<br />
die Form (3.47) besitzt.<br />
Abbildung 3.5: Koordinatennetz der Polarkoordinaten<br />
(r, ϕ) mit lokaler Basis {er, eϕ}.<br />
Die Polarkoordinaten (r, ϕ) eines Punktes (x, y) werden durch die Koordinatentransformation<br />
x = r cos ϕ, y = r sin ϕ (3.48)<br />
definiert. Der Ortsvektors besitzt im kartesischen Basissystem die Form<br />
r = r cos ϕ ex + r sin ϕ ey.<br />
Seine Änderung in Richtung der Koordinatenlinien r und ϕ bestimmt die Tangenteneinheitsvektoren<br />
des lokalen Basissystems<br />
er = ∂r<br />
∂r = cos ϕ ex + sin ϕ ey<br />
eϕ = ∂r<br />
r∂ϕ = − sin ϕ ex + cos ϕ ey. (3.49)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 40<br />
Bei einer Bewegung des Massenpunktes dreht sich diese lokale Basis mit der Winkelgeschwindigkeit<br />
ω = ˙ϕ um die z-Achse.<br />
Im lokalen Basissystem erhält man für den Ortsvektor (3.41), die Geschwindigkeit<br />
(3.44) und die Beschleunigung (3.47) jeweils<br />
r = r er<br />
v = ˙r er + ωr ez×e r = ˙r er + ωr eϕ . (3.50)<br />
a = ¨r er + 2ω ˙r ez×e r + ω 2 r ez×(ez×e r) + ˙ωr ez×e r<br />
= ¨r er + 2ω ˙r eϕ − ω 2 r er + ˙ωr eϕ .<br />
Damit lauten die beiden Komponenten der Bewegungsgleichung in Polarkoordinaten<br />
3.2.4 Begleitendes Dreibein<br />
m¨r = Fr + mω 2 r, Fr = F · er,<br />
mr ¨ϕ = Fϕ − 2mω ˙r , Fϕ = F · eϕ . (3.51)<br />
Eine Raumkurve definiert in jedem Punkt der Kurve ein spezielles Orthonormalsystem<br />
von Basisvektoren, das man als das begleitende Dreibein bezeichnet. Das<br />
Dreibein ändert seine Richtung entlang der Kurve, so daß man es hier physikalisch<br />
mit einem speziellen rotierenden Bezugssystem zu tun hat. Die Änderungen<br />
der Basisvektoren entlang der Kurve definieren die lokalen Kurveneigenschaften der<br />
Krümmung und Torsion. Die Komponenten der Beschleunigung definieren die lokale<br />
Tangential- und Zentripetalbeschleunigung.<br />
Interessiert man sich für die geometrischen Eigenschaften der Bahnkurve, so ist es<br />
besser die Bogenlänge s anstelle der Zeit t als Kurvenparameter zu verwenden. Aus<br />
dem skalaren Weg-Differential<br />
ds = √ dr·dr (3.52)<br />
erhält man für eine Kurve mit der Parameterdarstellung r = r(t) die Bogenlänge<br />
s(t) mit dem Anfangswert s(0) = 0 durch<br />
s =<br />
t<br />
0<br />
dt ′ √ ˙r· ˙r =<br />
t<br />
0<br />
dt ′ v(t ′ ) (3.53)<br />
Als ersten Basisvektor des Dreibeins definiert man den Tangenten-Einheitsvektor<br />
t = dr<br />
ds<br />
˙r<br />
= . (3.54)<br />
v<br />
Es ist ein Einheitsvektor, der in Richtung der Geschwindigkeit gerichtet ist.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 41<br />
Ändert der Tangentenvektor t seine Richtung entlang der Kurve, so bildet die Änderung<br />
dt zusammen mit t die lokale Kurvenebene. Da t ein Einheitsvektor ist, gilt<br />
t· dt<br />
ds<br />
1 dt<br />
=<br />
2<br />
2<br />
ds<br />
= 0, (3.55)<br />
d.h. dt steht senkrecht auf t. Als zweiten Einheitsvektor des Dreibeins definiert man<br />
daher die Hauptnormale n durch<br />
dt<br />
ds<br />
= κn (3.56)<br />
Der Betrag der Änderung wird als die Krümmung κ bezeichnet. Der Kehrwert der<br />
Krümmung ist der Krümmungsradius R = 1/κ.<br />
Der dritte Einheitsvektor des Dreibeins, die Binormale b, steht senkrecht auf der<br />
lokalen Kurvenebene und bildet mit t und n ein Rechtssystem,<br />
b = t×n, t = n×b, n = b×t. (3.57)<br />
Abbildung 3.6: Begleitendes Zweibein einer<br />
ebenen Kurve.<br />
Wir bestimmen nun noch die Änderungen der Binormalen und der Hauptnormale.<br />
Die Änderung der Binormalen steht senkrecht auf b, da es sich wie in (3.55) um<br />
einen Einheitsvektor handelt. Andererseits steht die Änderung auch senkrecht auf<br />
t,<br />
db<br />
ds<br />
dt<br />
= ×n + t×dn<br />
ds ds<br />
= t×dn<br />
ds .
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 42<br />
Der erste Beitrag verschwindet wegen (3.56). Daher besitzt die Änderung der Binormalen<br />
nur eine Komponente in Richtung der Hauptnormalen<br />
db<br />
ds<br />
= −τn. (3.58)<br />
Die Proportionalitätskonstante τ heißt die Torsion der Raumkurve, 1/τ ist der Windungsradius.<br />
Die Änderung der Hauptnormalen kann durch die Differentiation von (3.57) ebenfalls<br />
bestimmt werden,<br />
dn<br />
ds<br />
db<br />
= ×t + b×dt<br />
ds ds<br />
= −τn×t + κb×n<br />
= τb − κt. (3.59)<br />
Die Änderungen der Basisvektoren des begleitenden Dreibeins werden als Frenetsche<br />
Ableitungen bezeichnet:<br />
dt<br />
ds<br />
= κn,<br />
db<br />
ds<br />
= −τn,<br />
dn<br />
ds<br />
= τb − κt (3.60)<br />
Wir bestimmen noch die Komponenten der Beschleunigung in diesem Basissystem.<br />
Die Geschwindigkeit besitzt nur eine Komponente entlang des Tangenten-<br />
Einheitsvektors,<br />
v = vt (3.61)<br />
Unter Verwendung der Produktregel und der Frenetschen Ableitungen folgt für die<br />
Beschleunigung<br />
mit<br />
a = ˙vt + v ˙t<br />
=<br />
2 dt<br />
˙vt + v<br />
ds<br />
= att + aZn, (3.62)<br />
at = ˙v = d2 s<br />
dt 2 , aZ = v 2 κ = v2<br />
R .<br />
Man nennt at die Tangentialbeschleunigung und aZ die Zentripetalbeschleunigung.
Kapitel 4<br />
Newtonsche <strong>Mechanik</strong><br />
Die Newtonschen Grundgesetze der <strong>Mechanik</strong> bestimmen die Bewegung von<br />
Körpern unter der Einwirkung von Kräften. Sie wurden von Newton in der Form<br />
von drei Grundgesetzen oder Axiomen formuliert. Sein grundlegendes Werk Philosophiae<br />
Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Prinzipien der Naturlehre)<br />
erschien im Jahr 1687.<br />
Als Folgerungen ergeben sich aus den Newtonschen Grundgesetzen die Erhaltungssätze<br />
für den Impuls, den Drehimpuls und die Energie. Als Anwendungen der<br />
Newtonschen <strong>Mechanik</strong> behandeln wir Bewegungen im Zentralpotential, das Kepler-<br />
Problem, die Coulomb-Streuung und das Zweikörperproblem.<br />
4.1 Newtonsche Gesetze<br />
Die Newtonschen Gesetze werden im folgenden nach Ernst Mach zitiert und dann<br />
formelmäßig angegeben.<br />
Erstes Gesetz:<br />
Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe oder gleichförmigen geradlinigen<br />
Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand<br />
zu ändern.<br />
F = 0 =⇒ p = mv = const. (4.1)<br />
Das erste Newtonsche Gesetz ist eine Neuformulierung des Galileischen Trägheitsgesetzes.<br />
Galilei hatte bereits die gleichförmige Bewegung auf einer horizontalen<br />
Ebene (als Grenzfall der schiefen Ebene) beobachtet und dabei das Trägheitsgesetz<br />
43
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 44<br />
entdeckt. Dies widersprach der jahrhundertealten Vorstellung, daß Bewegung von<br />
selbst <strong>zur</strong> Ruhe kommt. Bei Newton bekommt das Trägheitsgesetz eine universelle<br />
Bedeutung.<br />
Das Trägheitsgesetz gilt nur in ausgezeichneten Bezugssystemen, nämlich den<br />
Inertialsystemen. Man kann es daher auch als eine Definition der Bezugssysteme<br />
ansehen, in denen die Newtonschen Gesetze gelten. Damit bekommt es eine vom<br />
zweiten Newtonschen Gesetz unabhängige Bedeutung.<br />
Zweites Gesetz:<br />
Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional<br />
und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft<br />
wirkt.<br />
dp<br />
dt<br />
= F (4.2)<br />
Mit Änderung der Bewegung ist nach heutiger Ausdrucksweise Änderung des Impulses<br />
gemeint. Die Kraft ist eine gerichtete Größe, also ein Vektor. Sie ändert im<br />
allgemeinen Betrag und Richtung des Impulses. Bei konstanter Masse gilt das Beschleunigungsgesetz<br />
m d2r = F . (4.3)<br />
dt2 Die Beschleunigung ist also umgekehrt proportional <strong>zur</strong> Masse.<br />
Die Kraft hängt von der Wechselwirkung ab. Neben den Bewegungsgesetzen wurde<br />
von Newton auch das Gesetz für die Gravitationskraft eingeführt. Das Newtonsche<br />
Gravitationsgesetz führt alle Schwerkräfte auf eine Anziehungskraft zwischen Massen<br />
<strong>zur</strong>ück. Die Kraft, die von einer Masse m2 am Ort r2 auf eine Masse m1 am Ort<br />
r1 ausgeübt wird ist,<br />
F 12 = −γ m1m2<br />
r 2 12<br />
r1 − r2<br />
r12<br />
. (4.4)<br />
Hierbei ist r12 = r1 − r2 der Abstand der Massenpunkte und γ die Gravitationskonstante.<br />
In der Elektrostatik gilt für die Kraftwirkung zwischen zwei Ladungen q1 und q2 das<br />
analoge Coulombgesetz,<br />
F 12 = k q1q2<br />
r 2 12<br />
r1 − r2<br />
r12<br />
. (4.5)<br />
Gleichnamige Ladungen (q1q2 > 0) stoßen sich ab, ungleichnamige (q1q2 < 0) ziehen<br />
sich an. Die Proportionalitätskonstante k ist vom Maßsystem abhängig. Im Gaußsystem<br />
gilt k = 1.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 45<br />
Abbildung 4.1: Gravitationskraft zwischen<br />
zwei Massenpunkten. Die Kräfte<br />
auf die beiden Massenpunkte sind betragsmäßig<br />
gleich aber entgegengesetzt<br />
entlang der Verbindungslinie der Massen<br />
gerichtet.<br />
In der Elektrodynamik wird die Kraft auf eine Ladung q durch das elektrische Feld<br />
E(r) und das magnetische Feld B(r) am Ort r der Ladung bestimmt. Im Gaußsystem<br />
gilt<br />
F = q(E + 1<br />
v × B). (4.6)<br />
c<br />
Drittes Gesetz:<br />
Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper<br />
aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.<br />
F 12 = −F 21, r1×F 12 = −r2×F 21 . (4.7)<br />
Der Begriff Wirkung wurde hier sowohl als Kraft als auch als Drehmoment gedeutet.<br />
Die Kräfte auf zwei Massenpunkte sind demnach einander entgegengesetzt gleich und<br />
wirken entlang der Verbindungslinie der Massenpunkte,<br />
(r1 − r2)×F 12 = 0 . (4.8)<br />
In Kurzform wird dieses Gesetz als actio=reactio bezeichnet. Das bedeutet z.B., daß<br />
ein fallender Stein die Erde genauso stark anzieht wie die Erde den fallenden Stein.<br />
Aufgrund der größeren Masse ist aber die Beschleunigung der Erde sehr viel kleiner<br />
als die des Steins.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 46<br />
Zusatz<br />
Abbildung 4.2: Links: Actio=reactio<br />
gilt für die Kräfte aber nicht für die<br />
Drehmomente. Rechts: Actio=reactio<br />
gilt für die Kräfte und für die Drehmomente.<br />
Die Kräfte sind in diesem Fall<br />
nicht nur entgegengesetzt gleich sondern<br />
auch entlang der Verbindungslinie<br />
der Massen gerichtet.<br />
Greifen an einem Körper mehrere Kräfte an, so addieren sich diese vektoriell,<br />
F = <br />
F i. (4.9)<br />
Dies wird als Superpositionsprinzip der Kräfte oder als Regel vom Parallelogramm<br />
der Kräfte bezeichnet. Es wurde von Newton als Zusatz zu den Bewegungsgesetzen<br />
angegeben.<br />
4.2 Erhaltungssätze<br />
Aus den Newtonschen Gesetzen folgen Erhaltungssätze für den Impuls, den Drehimpuls<br />
und die Energie. Wir betrachten zunächst einen Massenpunkt in einem äußeren<br />
Kraftfeld.<br />
4.2.1 Impulssatz<br />
Die Änderung des Impulses wird durch das zweite Newtonsche Gesetz (4.2) bestimmt.<br />
Es wird daher auch als Impulssatz bezeichnet. Impulserhaltung gilt falls<br />
auf den Massenpunkt keine Kraft einwirkt,<br />
i<br />
F = 0 =⇒ p = mv = const . (4.10)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 47<br />
4.2.2 Drehimpulssatz<br />
Ein Massenpunkt bewege sich gleichförmig auf einer Kreisbahn mit Radius r. Bei<br />
einer Veränderung des Radius stellt man fest, daß der Drehimpuls L = rp erhalten<br />
ist. Es liegt nahe, daß es sich bei dieser Erhaltungsgröße ebenfalls um einen Vektor<br />
handelt. Da die Vektoren r und p ihre Richtung ändern, muß dieser Vektor senkrecht<br />
auf der Bewegungsebene stehen. Man definiert allgemein für einen Massenpunkt am<br />
Ort r mit Impuls p den Drehimpulsvektor<br />
L = r×p. (4.11)<br />
Für eine Kreisbahn besitzt der Betrag von L den Maximalwert L = rp. Für eine<br />
Gerade durch den Ursprung verschwindet der Drehimpuls.<br />
Abbildung 4.3: Radiale Bewegung mit Drehimpuls<br />
L = 0 und Kreisbewegung mit Drehimpuls<br />
L = rp.<br />
Der Drehimpuls hängt vom Bezugspunkt ab. Von einem beliebigen festen Bezugspunkt<br />
r0 aus ist der Ortsvektor r ′ = r(t) − r0 und der Drehimpuls<br />
L ′ = r ′ ×p = L − r0×p.<br />
Die zeitliche Änderung des Drehimpulses (4.11) ergibt nach der Produktregel<br />
dL<br />
= v × p + r × ˙p = r × F .<br />
dt<br />
Der erste Term verschwindet, da v parallel ist zu p = mv. Im zweiten Term wurde<br />
die Bewegungsgleichung (4.2) eingesetzt. Damit lautet der Drehimpulssatz,<br />
dL<br />
dt<br />
= N, N = r × F . (4.12)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 48<br />
Hierbei bezeichnet N das Drehmoment der Kraft F am Ort r. Der Drehimpuls<br />
ändert sich durch Einwirkung eines Drehmomentes.<br />
Drehimpulserhaltungssatz: Wirkt auf den Massenpunkt kein Drehmoment, so<br />
gilt<br />
N = 0 ⇒ L = mr×v = const. (4.13)<br />
Aufgrund der Drehimpulserhaltung verläuft die Bewegung entweder entlang einer<br />
Ursprungsgeraden<br />
L = 0, v r<br />
oder in einer Ebene senkrecht zum Drehimpulsvektor<br />
L = 0, v · L = r · L = 0.<br />
Die Bahnebene wird hierbei durch die beiden zu L senkrechten Vektoren r und v<br />
aufgespannt.<br />
Flächensatz: Eine geometrische Deutung der Drehimpulserhaltung gibt der<br />
Flächensatz. Der Ortsvektor zum Massenpunkt überstreicht in gleichen Zeiten gleiche<br />
Flächen.<br />
Abbildung 4.4: Ist der Drehimpuls erhalten,<br />
so werden vom Ortsvektor r in gleichen Zeiten<br />
gleiche Flächen überstrichen.<br />
Beweis: Im Zeitintervall dt bewegt sich der Massenpunkt um dr = vdt. Hierbei<br />
überstreicht der Ortsvektor die Fläche<br />
dS = 1<br />
1<br />
|r×dr| = Ldt. (4.14)<br />
2 2m<br />
Bei konstantem Drehimpuls ist die Flächenänderungsrate dS/dt konstant.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 49<br />
4.2.3 Energiesatz<br />
Die kinetische Energie eines Massenpunktes mit der Masse m und der Geschwindigkeit<br />
v wird definiert durch<br />
T = 1<br />
2 mv2 . (4.15)<br />
Dies ist eine Verallgemeinerung der Definition (2.3) für eindimensionale Bewegungen.<br />
Die kinetische Energie ist richtungsunabhängig. Sie hängt nur vom Betragsquadrat<br />
v 2 = v · v ab.<br />
Für die zeitliche Änderung der kinetischen Energie erhält man mit Hilfe der Bewegungsgleichung<br />
(4.2)<br />
dT<br />
= mv · ˙v = F · v.<br />
dt<br />
Man bezeichnet diese Änderung als die von der Kraft verrichtete Leistung<br />
P = F · v . (4.16)<br />
Im Zeitintervall dt ändert sich der Ort des Massenpunktes um dr = vdt. Man<br />
bezeichnet<br />
dW = P dt = F ·dr . (4.17)<br />
als die von der Kraft F längs des vektoriellen Wegelementes dr geleistete Arbeit.<br />
Nur die Kraftkomponente parallel zum Wegelement verrichtet Arbeit. Zum Beispiel<br />
verrichtet die Lorentzkraft keine Arbeit, wenn sich eine Ladung q in einem Magnetfeld<br />
B mit der Geschwindigkeit v bewegt:<br />
dW = F ·vdt = q<br />
(v×B)·vdt = 0.<br />
c<br />
Bewegt sich der Massenpunkt zwischen den Zeitpunkten t0 und t1 von einem Anfangspunkt<br />
r0 zu einem Endpunkt r1 entlang einer Kurve γ, so erhält man für diesen<br />
Weg den Energiesatz<br />
<br />
T1 − T0 =<br />
γ<br />
F ·dr =<br />
t1<br />
t0<br />
F (r(t), v(t), t)·v(t)dt . (4.18)<br />
Die Änderung der kinetischen Energie ist gleich der gesamten von der Kraft auf<br />
dem Weg verrichteten Arbeit. Im allgemeinen hängt die von einer Kraft F =<br />
F (r(t), ˙r(t), t) verrichtete Arbeit vom Verlauf der Bahnkurve r(t) ab (Abb. 4.5).
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 50<br />
Abbildung 4.5: Für jedes Wegelement dr verrichtet die Tangentialkomponente der<br />
Kraft F die Arbeit dW = F ·dr (links). Die Gesamtarbeit, die zwischen einem<br />
Anfangspunkt 1 und einem Endpunkt 2 verrichtet wird, hängt im allgemeinen vom<br />
Weg ab (rechts). Für den Weg γ1 ist die Tangentialkomponente der Kraft immer<br />
kleiner als für den Weg γ2.<br />
Energieerhaltung<br />
Ein wichtiger Spezialfall liegt vor, wenn die Arbeit wegunabhängig ist, d.h. für alle<br />
Wege zwischen zwei Endpunkten hängt die Arbeit nur von der Lage der Endpunkte<br />
ab. In diesem Fall gibt es einen Energieerhaltungssatz und die Kraft wird als<br />
konservativ bezeichnet.<br />
Ein Beispiel einer konservativen Kraft ist die Schwerkraft. Für einen beliebigen Weg<br />
von der Höhe z0 auf die Höhe z1 verrichtet die Schwerkraft G = −mgez immer die<br />
Arbeit<br />
<br />
W =<br />
r0<br />
r1<br />
dr·G =<br />
z1<br />
z0<br />
dz(−mg) = −mg(z1 − z0) = U(z0) − U(z1).<br />
Hierbei ist U(z) = mgz die potentielle Energie, die nur von der Höhe des Körpers<br />
abhängt.<br />
Ist die Arbeit wegunabhängig, so kann man allgemein eine potentielle Energie<br />
U(r) = − F ·dr (4.19)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 51<br />
definieren. Ohne Einschränkung kann man einen beliebigen Weg wählen und entlang<br />
dieses Weges mit der Bogenlänge als Kurvenparameter eine Stammfunktion<br />
berechnen,<br />
<br />
U(r) = −<br />
(F ·t) ds , t = dr<br />
ds .<br />
Die Arbeit ist dann die Differenz der potentiellen Energien in den Endpunkten des<br />
Weges,<br />
r1<br />
r1<br />
<br />
W = F ·dr = −U(r) <br />
= U(r0) − U(r1) . (4.20)<br />
Aus dem Energiesatz (4.18) folgt mit (4.20)<br />
r0<br />
r0<br />
T1 + U(r1) = T0 + U(r0) = E.<br />
Da der Endpunkt beliebig gewählt werden kann, bleibt die Gesamtenergie E bei<br />
der Bewegung r = r(t) mit der Geschwindigkeit v = v(t) konstant und es gilt der<br />
Energieerhaltungssatz<br />
Konservative Kräfte<br />
1<br />
2 mv2 + U(r) = E (4.21)<br />
Es stellt sich nun die Frage, welche Kräfte konservativ sind, d.h. ein Potential besitzen.<br />
Dazu nehmen wir an, daß ein Potential existiert und leiten daraus die allgemeine<br />
Form des zugehörigen Kraftfeldes her.<br />
Es existiere ein Potential U(r), so daß die Arbeit wegunabhängig ist und der Energiesatz<br />
(4.21) gilt. Dann erhält man durch Zeitableitung<br />
Hierbei bezeichnet<br />
den Nabla-Operator und<br />
dT<br />
dt<br />
+ dU<br />
dt<br />
= (F + ∇U)·v = 0 . (4.22)<br />
∂ ∂ ∂<br />
∇ = ex + ey + ez<br />
∂x ∂y ∂z<br />
∂U<br />
∇U = ex<br />
∂x<br />
∂U<br />
+ ey<br />
∂y<br />
∂U<br />
+ ez<br />
∂z<br />
(4.23)<br />
(4.24)<br />
den Gradienten von U. Allgemein kann das Differential einer Funktion f(r) mit<br />
Hilfe des Gradienten angegeben werden,<br />
df = ∂f<br />
∂x<br />
dx + ∂f<br />
∂y<br />
∂f<br />
dy + dz = dr·∇f. (4.25)<br />
∂z
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 52<br />
Aus (4.22) folgt, daß der Vektor F +∇U senkrecht auf der Geschwindigkeit v steht.<br />
Mit einem beliebigen Vektor A gilt daher für konservative Kräfte<br />
F = −∇U + v×A. (4.26)<br />
Insbesondere haben geschwindigkeitsunabhängige konservative Kräfte die einfache<br />
Form<br />
F = −∇U. (4.27)<br />
Ein notwendiges und hinreichendes Kriterium dafür, daß eine geschwindigkeitsunabhängige<br />
Kraft in einem zusammenhängenden Gebiet konservativ ist, lautet<br />
∇ × F = 0. (4.28)<br />
Man bezeichnet das Kreuzprodukt von F mit Nabla als die Rotation von F . In<br />
Komponenteschreibweise gilt,<br />
(∇ × F )i = <br />
jk<br />
ɛijk<br />
∂Fk<br />
.<br />
∂xj<br />
Die Bedingung ist notwendig. Ist F konservativ, so folgt daraus notwendig (4.28).<br />
Denn eine konservative ortsabhängige Kraft ist nach (4.27) aus einem Potential<br />
ableitbar und die Rotation des Gradienten verschwindet:<br />
(∇ × F )i = − <br />
jk<br />
ɛijk<br />
∂ 2 U<br />
∂xj∂xk<br />
= − <br />
kj<br />
ɛikj<br />
∂ 2 U<br />
∂xk∂xj<br />
= <br />
jk<br />
ɛijk<br />
∂ 2 U<br />
∂xj∂xk<br />
= 0.<br />
Umgekehrt kann man auch zeigen, daß die Bedingung (4.28) hinreichend dafür ist,<br />
daß die Arbeit wegunabhängig ist. Dies folgt aus dem Stokeschen Satz, der aber erst<br />
in der Vektoranalysis und in der Elektrostatik behandelt wird.<br />
4.3 Systeme von Massenpunkten<br />
Wir betrachten nun ein System von N Massenpunkten mit den Bewegungsgleichungen<br />
mi¨ri = F i, i = 1, 2, 3, · · · , N. (4.29)<br />
Für die Kraft auf den i-ten Massenpunkt gilt das Superpositionsprinzip der Kräfte,<br />
F i =<br />
N<br />
j=1,j=i<br />
F ij + F e<br />
i . (4.30)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 53<br />
Hierbei bezeichnet F e<br />
i eine externe Kraft auf den i-ten Massenpunkt und F ij die<br />
Wechselwirkungskraft, die vom j-ten auf den i-ten Massenpunkt ausgeübt wird. Für<br />
die Wechselwirkungskräfte gelte das actio=reactio Gesetz,<br />
F ij = −F ji, ri×F ij = −rj×F ji . (4.31)<br />
4.3.1 Additive Bewegungsgrößen<br />
Für Systeme von Massenpunkten definiert man eine Reihe von additiven Bewegungsgrößen,<br />
M =<br />
R =<br />
P =<br />
L =<br />
T =<br />
N<br />
mi, Gesamtmasse (4.32)<br />
i=1<br />
N<br />
miri<br />
i=1<br />
M<br />
, Schwerpunkt , (4.33)<br />
N<br />
mi ˙ri, Gesamtimpuls (4.34)<br />
i=1<br />
N<br />
ri×(mi ˙ri), Gesamtdrehimpuls (4.35)<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
4.3.2 Impulssatz und Schwerpunkt<br />
1<br />
2 mi ˙r 2 i , Gesamte kinetische Energie (4.36)<br />
Der Schwerpunkt ist dadurch ausgezeichnet, daß seine Bewegung durch die Gesamtmasse<br />
und durch die Gesamtkraft auf die Massenverteilung,<br />
N N<br />
F i =<br />
i=1<br />
i=1<br />
F e<br />
i = F e , (4.37)<br />
bestimmt wird. Die Gesamtkraft hängt nur von den externen Kräften ab, da sich<br />
die Wechselwirkungskräfte wegen des Gesetzes von actio=reactio zu Null addieren,<br />
<br />
F ij = <br />
F ij + <br />
F ij = <br />
F ij + F ji = 0.<br />
i,j,i=j<br />
i,j,ij<br />
i,j,i
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 54<br />
Die erste Gleichung ergibt sich aus der Definition des Schwerpunktes durch einmalige<br />
Zeitableitung. Demnach bewegt sich der Schwerpunkt mit derselben Geschwindigkeit<br />
wie ein Massenpunkt mit der Masse M und mit dem Impuls P . Die zweite Gleichung<br />
ist der Impulssatz des Gesamtsystems.<br />
Ändert sich die externe Kraft nur wenig über die Massenverteilung, so kann sie<br />
näherungsweise im Schwerpunkt ausgewertet werden,<br />
F e =<br />
N<br />
i=1<br />
F e<br />
i (ri) ≈<br />
N<br />
i=1<br />
F e<br />
i (R) = F e(R).<br />
In diesem Fall ist die Schwerpunktsbewegung unabhängig von der Bewegung der<br />
einzelnen Massenpunkte und kann tatsächlich durch einen einzigen Massenpunkt mit<br />
der Gesamtmasse M ersetzt werden. Unter dieser Voraussetzung ist die Idealisierung<br />
ausgedehnter Körper als Massenpunkte gerechtfertigt.<br />
Gibt es keine äußeren Kräfte, so bezeichnet man das System als abgeschlossen. Für<br />
ein abgeschlossenes System ist der Gesamtimpuls erhalten. Der Schwerpunkt ist<br />
dann entweder in Ruhe oder er bewegt sich gleichförmig,<br />
F e = 0 ⇒ P = P 0, R = R0 + 1<br />
P t. (4.39)<br />
M<br />
Die Bewegung der Massenpunkte relativ zum Schwerpunkt wird durch die Relativvektoren<br />
r ′ i = ri − R (4.40)<br />
beschrieben. Die Relativvektoren sind die Ortsvektoren der Massenpunkte in einem<br />
Bezugssystem S ′ , dessen Ursprung im Schwerpunkt liegt. Daher verschwinden der<br />
Schwerpunkt und der Gesamtimpuls in S’<br />
MR ′ =<br />
P ′ =<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
mir ′ i =<br />
mi ˙r ′<br />
i =<br />
N<br />
mi(ri − R) = M(R − R) = 0.<br />
i=1<br />
N<br />
mi( ˙ri − ˙R) = P − M ˙R = 0. (4.41)<br />
i=1<br />
Der Drehimpuls L’ in S’ ist der Gesamtdrehimpuls um den Schwerpunkt. Er unterscheidet<br />
sich vom Drehimpuls L in S durch den Drehimpuls des mit dem Gesamtimpuls<br />
P bewegten Schwerpunktes,<br />
L = L ′ + R×P . (4.42)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 55<br />
Dieses Transformationsgesetz folgt mit (4.41) aus,<br />
L =<br />
=<br />
N<br />
ri×(mi ˙ri) =<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
r ′ i×(mi ˙r ′ i) +<br />
= L ′ + R × P .<br />
N<br />
i=1<br />
(r ′ i + R)×(mi ˙ri)<br />
N<br />
mir ′ i×( ˙R) + R × P<br />
Für die kinetische Energie T erhält man eine entsprechende Zerlegung,<br />
i=1<br />
T = T ′ + 1<br />
2 M ˙ R 2 , (4.43)<br />
in die kinetische Energie T ’ und die kinetische Energie des mit der Gesamtmasse<br />
bewegten Schwerpunktes. Dies folgt aus<br />
T =<br />
=<br />
4.3.3 Drehimpulssatz<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
1<br />
2 mi( ˙r ′<br />
i + ˙R) 2<br />
1<br />
2 mi( ˙r ′2<br />
i + 2 ˙r ′<br />
i· ˙R + ˙ R 2 )<br />
= T ′ + 1<br />
2 M ˙ R 2 .<br />
Für ein System von Massenpunkten lautet der Drehimpulssatz<br />
˙L = N e . (4.44)<br />
Hierbei bezeichnet L den Gesamtdrehimpuls und N e das Gesamtdrehmoment der<br />
externen Kräfte,<br />
N e N<br />
=<br />
i=1<br />
ri×F e<br />
i .<br />
Beweis: Zur Herleitung von (4.44) verwenden wir den Drehimpulssatz (4.12) für<br />
den i-ten Massenpunkt und erhalten durch Summation über die Massenpunkte<br />
˙L =<br />
N<br />
i=1<br />
˙Li =<br />
N<br />
ri×F i.<br />
i=1
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 56<br />
Die Drehmomente, die durch die Wechselwirkungskräfte ausgeübt werden, addieren<br />
sich wegen des actio=reactio-Gesetzes zu Null,<br />
<br />
ri×F ij = <br />
ri×F ij + <br />
ri×F ij = <br />
ri×F ij + rj×F ji = 0.<br />
i,j,i=j<br />
i,j,ij<br />
i,j,i
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 57<br />
Mit der kinetischen Energie,<br />
lautet der Energieerhaltungssatz<br />
T = 1<br />
2<br />
N<br />
i=1<br />
mi ˙r 2 i ,<br />
T + U = E = const. (4.47)<br />
Beweis: Zum Beweis des Energieerhaltungssatzes ist zu zeigen, daß die Zeitableitung<br />
der Gesamtenergie E verschwindet, wenn die Bewegung der Massenpunkte<br />
den Bewegungsgleichungen (4.29) genügt. Für die zeitliche Änderung der Wechselwirkungsenergie<br />
gilt<br />
dUW<br />
dt<br />
d <br />
= Uij(rij)<br />
dt<br />
i,j,i
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 58<br />
besitzt und daß die Größe<br />
G(t) = <br />
pi(t)·ri(t) i<br />
für alle Zeiten beschränkt bleibt. Die letzte Annahme ist erfüllt wenn die Bewegung<br />
in einem endlichen Raumgebiet lokalisiert ist und die Energie endlich bleibt. Dies ist<br />
insbesondere bei allen beschränkten periodischen Bewegungen der Fall. Dann gilt<br />
der Virialsatz<br />
wobei<br />
T = − 1<br />
2<br />
1<br />
f = lim<br />
τ→∞ τ<br />
<br />
F i·ri<br />
i<br />
<br />
+τ/2<br />
−τ/2<br />
das Zeitmittel der Funktion f(t) bezeichnet.<br />
f(t)dt<br />
Beweis: Der Beweis des Virialsatzes beruht auf der Identität<br />
dG<br />
dt<br />
= <br />
i<br />
˙p i·ri + pi· ˙ri = <br />
F i·ri + 2T.<br />
Da G beschränkt ist, verschwindet das Zeitmittel der linken Seite:<br />
dG<br />
dt<br />
G(τ/2) − G(−τ/2)<br />
= lim<br />
τ→∞ τ<br />
i<br />
= 0.<br />
Aus dem Zeitmittel der rechten Seite ergibt sich dann (4.48).<br />
(4.48)<br />
Beispiele: Für einen harmonischen Oszillator mit der potentiellen Energie U =<br />
fx2 /2 folgt aus dem Virialsatz die Gleichverteilung von kinetischer und potentieller<br />
Energie,<br />
T = − 1<br />
(−fx)x = U<br />
2<br />
Für ein Zentralpotential U = −α/r einer Zentralkraft F = −αr/r3 ist die mittlere<br />
kinetische Energie betragsmäßig halb so groß wie die mittlere potentielle Energie,<br />
T = − 1<br />
2 (−αr/r3 )·r = − 1<br />
U .<br />
2<br />
Für ein freies Teilchen (F = 0) ergibt der Virialsatz das offensichtlich unrichtige<br />
Ergebnis T = 0. Hier ist die Voraussetzung des Satzes nicht erfüllt, daß die Bewegung<br />
in einem endlichen Raumbereich verläuft.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 59<br />
4.4 Zentralpotential<br />
Wir betrachten nun die Bewegung eines Massenpunktes in einem Zentralfeld der<br />
Form,<br />
U = U(r), F = −∇U = −U ′ (r) r<br />
.<br />
r<br />
(4.49)<br />
Die potentielle Energie hängt nur vom Abstand r vom Kraftzentrum ab. Die Äquipotentialflächen<br />
sind Kugelflächen. Der Gradient zeigt in Richtung der Flächennormalen.<br />
Die abgeleitete Zentralkraft ist daher in radialer Richtung gerichtet. Ein<br />
Zentralfeld wird von einer Masse erzeugt, die so groß ist, daß sie als unbeweglich im<br />
Ursprung des Koordinatensystems angenommen werden kann.<br />
Erhaltungssätze<br />
Die Bewegung eines Teilchens im Zentralpotential kann man aufgrund der Erhaltung<br />
des Drehimpulses und der Energie auf eine eindimensionale Bewegung in einem<br />
effektiven Potential <strong>zur</strong>ückführen.<br />
Eine Zentralkraft erzeugt kein Drehmoment, da sie parallel zum Ortsvektor gerichtet<br />
ist,<br />
N = r × F = (F (r)/r)r × r = 0.<br />
Damit gilt der Drehimpulserhaltungssatz (4.13). Wie bereits gezeigt, verläuft die<br />
Bahn in diesem Fall in einer Ebene senkrecht zum Drehimpulsvektor. In der Bahnebene<br />
beschreiben wir die Bewegung durch Polarkoordinaten (r(t), ϕ(t)).<br />
Abbildung 4.6: In Polarkoordinaten(r, ϕ) ist die<br />
Änderung des Ortsvektors dr = drer + rdϕeϕ.<br />
Unter Verwendung der Darstellung (3.50) oder nach Abb.(4.6) erhält man in Polarkoordinaten<br />
r = rer, v = ˙rer + r ˙ϕeϕ, r × v = r 2 ˙ϕez, v 2 = ˙r 2 + r 2 ˙ϕ 2 .
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 60<br />
Damit lauten der Drehimpuls- und Energieerhaltungssatz<br />
L = mr 2 ˙ϕ = const, (4.50)<br />
E = 1<br />
2 m ˙r2 + 1<br />
2 mr2 ˙ϕ 2 + U(r) = const. (4.51)<br />
Diese Erhaltungssätze bilden ein System von 2 gekoppelten Differentialgleichungen<br />
1. Ordnung für die Funktionen r(t) und ϕ(t). Zur eindeutigen Festlegung einer<br />
Lösung sind noch zwei Anfangsbedingungen<br />
r(0) = r0, ϕ(0) = ϕ0 (4.52)<br />
erforderlich. Die Newtonsche Bewegungsgleichung für einen Massenpunkt stellt ein<br />
System von 3 gekoppelten Differentialgleichungen 2.Ordnung dar. Die allgemeine<br />
Lösung besitzt 6 Integrationskonstanten. 4 Integrationskonstanten werden durch<br />
die Energie und die drei Komponenten des Drehimpulses bestimmt. Die restlichen<br />
beiden Integrationskonstanten sind durch (4.52) festgelegt.<br />
Integration der Bewegungsgleichungen<br />
Eliminiert man ˙ϕ mit Hilfe der Beziehungen<br />
so lautet der Energiesatz<br />
˙ϕ = L<br />
,<br />
mr2 1<br />
2 mr2 ˙ϕ 2 = L2<br />
2mr 2<br />
(4.53)<br />
E = 1<br />
2 m ˙r2 + Ueff(r), Ueff(r) = U(r) + L2<br />
. (4.54)<br />
2mr2 Man kann die Radialbewegung r = r(t) als eine eindimensionale Bewegung in einem<br />
effektiven Potential Ueff(r) auffassen und entsprechend integrieren<br />
<br />
2<br />
˙r = ±<br />
m (E − Ueff), t = ±<br />
r(t)<br />
r0<br />
dr ′<br />
.<br />
2 (E − Ueff)<br />
m<br />
Die Lösung t = t(r) bestimmt implizit die Radialbewegung r = r(t). Damit kann<br />
die Winkelbewegung ϕ = ϕ(t) ebenfalls integriert werden,<br />
ϕ(t) = ϕ0 +<br />
t<br />
0<br />
L<br />
mr 2 dt′ . (4.55)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 61<br />
Die Bewegung r = r(t), ϕ = ϕ(t) stellt eine Parameterdarstellung der Bahnkurve<br />
r = r(ϕ) mit dem Kurvenparameter t dar. Die Bahnkurve kann wegen<br />
dϕ<br />
dr<br />
auch direkt durch das Integral<br />
= ˙ϕ<br />
˙r<br />
ϕ = ϕ0 ±<br />
L<br />
= ±<br />
r22m(E − Ueff)<br />
r(t)<br />
r0<br />
(4.56)<br />
Ldr<br />
r2 , (4.57)<br />
2m(E − Ueff)<br />
dargestellt werden. Die Umkehrung von ϕ = ϕ(r) ergibt r = r(ϕ).<br />
Bahnkurven<br />
Die Radialbwegung wird durch das effektive Potential Ueff(r) bestimmt. Das effektive<br />
Potential Ueff(r) ist die Summe aus dem Zentralpotential U(r) und einem<br />
Potential Uz = L 2 /2mr 2 , das als Zentrifugalpotential bezeichnet wird. Abbildung<br />
(4.7) zeigt das effektive Potential für die Potentiale U = αr 2 und U = −α/r mit<br />
α > 0. Die Radialbewegung ist auf die Bereiche mit E > Ueff eingeschränkt. Punkte,<br />
in denen E = Ueff sind Umkehrpunkte der Radialbewegung. Falls die Bedingung<br />
E > Ueff nur in einem endlichen Intervall rmin < r < rmax erfüllt ist, spricht man<br />
von einer gebundenen Bahn.<br />
Abbildung 4.7: Effektives Potential Ueff = U+L 2 /2mr 2 für U = αr 2 und U = −α/r.<br />
An den Umkehrpunkten der Radialbewegung gilt ˙r = 0 aber ˙ϕ = 0, nach (4.53).<br />
Daher dreht sich der Ortsvektor an diesen Umkehrpunkten in der Bahnebene weiter.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 62<br />
Bei einer ungebundenen Bewegung kommt die Bahn aus dem Unendlichen, nähert<br />
sich dem Kraftzentrum bis auf einen minimalen Abstand r0 und entfernt sich dann<br />
wieder ins Unendliche.<br />
Abbildung 4.8: Bahnkurven einer<br />
ungebundenen Bewegung in einem<br />
anziehenden (rechts) und einem<br />
abstoßenden (links) Zentralpotential.<br />
Die Bahn nähert sich<br />
dem Zentrum bis zum minimalen<br />
Abstand r0.<br />
Bei einer gebundenen Bahn verläuft die Radialbewegung zwischen zwei Umkehrpunkten<br />
rmin und rmax. Einem Umlauf im effektiven Potential von rmin nach rmax<br />
und <strong>zur</strong>ück nach rmin entspricht ein Winkelzuwachs<br />
∆ϕ =<br />
rmax<br />
rmin<br />
2Ldr<br />
r 2 2m(E − Ueff)<br />
(4.58)<br />
für den Umlauf des Teilchens um das Kraftzentrum. Die Bahn des Teilchens verläuft,<br />
wie in Abb. (4.9) dargestellt innerhalb eines Kreisringes, wobei sich die Radien<br />
zu zwei aufeinanderfolgenden Scheitelpunkten der Bahn am äußeren bzw. inneren<br />
Rand des Ringes um den Winkel (4.58) drehen. Die Bahn ist geschlossen, falls für<br />
ganzzahlige m und n die Bedingung<br />
m∆ϕ = n2π (4.59)<br />
erfüllt wird. Dann schließt sich die Bahn nach m Umläufen im effektiven Potential<br />
bzw. n Umläufen um das Kraftzentrum (Rosettenbahn). Ist ∆ϕ kein rationales Vielfaches<br />
von 2π, so ist die Bahn offen und erfüllt nach beliebig vielen Umläufen den<br />
gesamten Kreisring. Man kann zeigen, daß sie jedem Punkt des Kreisringes beliebig<br />
nahe kommt und bezeichnet solche Bahnen als ergodisch.<br />
Newtonsche Bewegungsgleichung: Zum selben Ergebnis gelangt man auch<br />
durch direkte Lösung der Newtonschen Bewegungsgleichung<br />
m¨r = m{(¨r − r ˙ϕ 2 )er + (r ¨ϕ + 2 ˙r ˙ϕ)eϕ} = −U ′ (r)er<br />
(4.60)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 63<br />
Abbildung 4.9: Bahnkurve einer gebundenen<br />
Bewegung in einem Zentralpotential. Die<br />
Bahn verläuft innerhalb des Kreisringes zwischen<br />
rmin und rmax. Die Teilstücke der Bahn<br />
zwischen 2 Umkehrpunkten sind jeweils spiegelsymmetrisch<br />
bezüglich der vom Zentrum<br />
zu den Umkehrpunkten gerichteten Radien<br />
rmin bzw. rmax.<br />
in der Bahnebene. Die Komponente der Bewegungsgleichung in Richtung eϕ,<br />
r ¨ϕ + 2 ˙r ˙ϕ = 1<br />
r<br />
d 2<br />
r ˙ϕ = 0 (4.61)<br />
dt<br />
ergibt die Drehimpulserhaltung L = mr 2 ˙ϕ = const. Damit kann die Radialkomponente<br />
der Bewegungsgleichung in der Form<br />
m¨r = −U ′ (r) + mr L2<br />
m 2 r 4 = −U ′ eff(r) (4.62)<br />
angegeben werden. Zusätzlich <strong>zur</strong> vorgegebenen Zentralkraft tritt eine Zentrifugalkraft<br />
auf, die immer radial nach außen gerichtet ist und aus dem Zentrifugalpotential<br />
abgeleitet werden kann. Der Energiesatz dieser eindimensionalen Bewegungsgleichung<br />
stimmt mit dem obigen Energiesatz für die Gesamtenergie des Teilchens<br />
überein.<br />
4.5 Kepler-Problem<br />
Die Bestimmung der Bewegung eines Massenpunktes in einem Zentralfeld der Form<br />
U(r) = − α<br />
α<br />
, F = −<br />
r r2 r<br />
, α = const, (4.63)<br />
r<br />
wird als das Kepler-Problem bezeichnet. Für α = γmM ist es auf die Planetenbewegung<br />
(Masse m) um die Sonne (Masse M) anwendbar, wobei die Sonne als festes<br />
Zentrum behandelt wird. Im Rahmen der Newtonschen Theorie können die Keplerschen<br />
Planetengesetze hergeleitet und durch das universelle Gravitationsgesetz
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 64<br />
(4.63) begründet werden. Dies war einer der größten und überzeugensten Erfolge<br />
der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>.<br />
Für α = q1q1 erhält man das Coulomb-Gesetz der Elektrostatik. Es beschreibt zum<br />
Beispiel die klassischen Elektronenbahnen in einem Atom oder die Streuung geladener<br />
Teilchen. Für α > 0 ist das Potential anziehend, für α < 0 abstoßend.<br />
Keplersche Gesetze<br />
1.) Die Planetenbahnen sind Ellipsen. Die Sonne befindet sich in einem Brennpunkt<br />
der Ellipse.<br />
2.) Der von der Sonne zum Planeten gerichtete Vektor überstreicht in gleichen<br />
Zeiten gleiche Flächen.<br />
3.) Für 2 Planetenbahnen verhalten sich die Quadrate der Umlaufzeiten wie die<br />
Kuben der großen Halbachsen.<br />
Das zweite Keplersche Gesetz ist der Flächensatz (4.14), der allgemein aus der Drehimpulserhaltung<br />
folgt. Das erste und dritte Gesetz werden im folgenden aus der<br />
Lösung des Kepler-Problems abgeleitet.<br />
Effektives Potential<br />
Abbildung 4.10: Effektives Potential<br />
für ein anziehendes 1/r-<br />
Potential. Für negative Energien<br />
sind die Bahnen gebunden.<br />
Die Radialbewegung verläuft zwischen<br />
den Umkehrpunkten rmin<br />
und rmax. Für positive Energien<br />
existieren keine gebundenen<br />
Bahnen. Ein einfallendes Teilchen<br />
wird am Kraftzentrum gestreut<br />
und entfernt sich danach<br />
wieder beliebig weit.<br />
Das effektive Potential<br />
Ueff = − α L2<br />
+<br />
r 2mr2 (4.64)<br />
besitzt das in Abb.(4.10) dargestellte Verhalten. Für L = 0 existiert ein Minimum<br />
bei<br />
r∗ = L2<br />
mα , U∗ = − 1 mα<br />
2<br />
2<br />
.<br />
L2 (4.65)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 65<br />
Demnach gibt es gebundene Bahnen für negative Energien im Intervall<br />
Für positive Energien sind die Bahnen ungebunden.<br />
Bahnkurven<br />
Die Bahnkurve r = r(ϕ) wird durch das Integral<br />
<br />
L dr<br />
ϕ =<br />
r2 <br />
− mα2<br />
≤ E < 0. (4.66)<br />
2L2 2m(E + α<br />
r<br />
) − L2<br />
r 2<br />
(4.67)<br />
bestimmt. Es ist hilfreich mit Hilfe von (4.65) die Parameter p = r∗ und ɛ =<br />
(U∗ − E)/U∗ einzuführen. Explizit lautet diese Definition<br />
Damit erhält man durch quadratische Ergänzung<br />
Mit der Substitution<br />
p = L2<br />
<br />
, ɛ = 1 +<br />
mα 2EL2<br />
. (4.68)<br />
mα2 2m(E + α L2<br />
) −<br />
r r2 = m2α2 L2 2 2EL 2p p2<br />
+ −<br />
mα2 r r2 <br />
= L2<br />
p2 <br />
ɛ 2 <br />
p<br />
<br />
2<br />
− − 1<br />
r<br />
= L2ɛ2 p2 <br />
2<br />
p/r − 1<br />
1 −<br />
.<br />
ɛ<br />
ξ =<br />
der Integrationsvariablen folgt<br />
<br />
ϕ = −<br />
p/r − 1<br />
, dξ = −<br />
ɛ<br />
p<br />
ɛ<br />
dξ<br />
1 − ξ 2<br />
1<br />
dr,<br />
r2 = arccos ξ + const.<br />
Die hierbei auftretende Integrationskonstante kann Null gesetzt werden. Dies entspricht<br />
einer Drehung des Koordinatensystems, so daß der Wert ξ = 1 für ϕ = 0
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 66<br />
angenommen wird. Löst man nach r auf, so erhält man die Bahnkurve:<br />
r =<br />
p<br />
1 + ɛ cos ϕ<br />
(4.69)<br />
Sie beschreibt Kegelschnitte mit Parameter p und Exzentrizität ɛ. Für ɛ < 1 sind<br />
dies Ellipsen, für ɛ > 1 Hyperbeln, für ɛ = 1 Parabeln. Eine Kreisbahn (ɛ = 0)<br />
ist ein Spezialfall einer Ellipse.<br />
Ellipsenbahnen<br />
Für ɛ im Intervall 0 < ɛ < 1 sind die Bahnkurven Ellipsen. Dieses Intervall entspricht<br />
dem Energieintervall (4.66) für gebundene Bahnen im effektiven Potential.<br />
Der Grenzfall ɛ = 0 entspricht dabei der Kreisbahn im Minimum des effektiven<br />
Potentials.<br />
Nach Abbildung (4.11) und gemäß der Polargleichung (4.69) bestehen für die Parameter<br />
der Ellipse folgende Relationen,<br />
2a = r1 + r2<br />
rmin = r(0) = p<br />
1 + ɛ , rmax = r(π) = p<br />
<br />
1<br />
a = 1<br />
2 (rmin + rmax) = p<br />
2<br />
∆ = 1<br />
2 (rmax − rmin) = p<br />
2<br />
b 2 + ∆ 2 = a 2 , b = √ 1 − ɛ 2 a<br />
Daraus erhält man für die große Halbachse<br />
und für die kleine Halbachse<br />
a = p L2<br />
=<br />
1 − ɛ2 mα<br />
b = √ 1 − ɛ 2 a =<br />
, p = r(π/2)<br />
1 −<br />
<br />
ɛ<br />
1<br />
+ =<br />
1 + ɛ 1 − ɛ<br />
p<br />
.<br />
1 − ɛ2 <br />
1 1<br />
− =<br />
1 − ɛ 1 + ɛ<br />
ɛp<br />
= ɛa .<br />
1 − ɛ2 2|E|L 2<br />
mα 2<br />
mα2 α<br />
=<br />
2|E|L2 2|E|<br />
α<br />
2|E| =<br />
(4.70)<br />
L<br />
2m|E| . (4.71)<br />
Der Halbparameter p ist eindeutig durch L bestimmt. Die große Halbachse a ist<br />
eindeutig durch E bestimmt. Abbildung (4.12) zeigt schematisch die Ellipsenbahnen<br />
als Funktion des Drehimpulses bei fester Energie und als Funktion der Energie bei<br />
festem Drehimpuls.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 67<br />
Abbildung 4.11: Ellipse mit<br />
Halbachsen a, b, Halbparameter<br />
p und Exzentrität ɛ.<br />
Abbildung 4.12: Links: Bahnellipsen bei festem E und Variation von L. Die Kreisbahn<br />
besitzt den größtmöglichen Drehimpuls. Rechts: Bahnellipsen bei festem L und<br />
Variation von E. Die Kreisbahn besitzt die kleinstmögliche Energie.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 68<br />
Umlaufperiode<br />
Aufgrund des Flächensatzes (4.14) gilt für eine Umlaufperiode T<br />
S = πab = L<br />
2m T<br />
T = 2m 2πm<br />
πab =<br />
L L<br />
α<br />
2|E|<br />
<br />
L<br />
m 3<br />
= 2π a 2<br />
2m|E| α<br />
Mit α = γmM ergibt sich für die Umlaufperiode T und die große Halbachse a der<br />
Zusammenhang.<br />
T 2 = (2π)2<br />
γM a3<br />
(4.72)<br />
Da die Proportionalitätskonstante für alle Planeten und für alle Drehimpulse gleich<br />
groß ist, erhält man hieraus das dritte Keplersche Gesetz.<br />
4.6 Coulomb-Streuung<br />
Für ɛ > 1 sind die Bahnkurven Hyperbeln. Sie beschreiben die Streuung von Teilchen<br />
mit Energien E > 0. Die Energie E und der Drehimpuls L bleiben bei der Streuung<br />
erhalten. Das einfallende Teilchen bewege sich asymptotisch in konstantem Abstand<br />
s von der x-Achse mit der Geschwindigkeit v0, d.h. es gilt<br />
r = xex + sey, v = v0ex, L = mr × v = −msv0ez. (4.73)<br />
Man bezeichnet s als den Stoßparameter. Die asymptotische Geschwindigkeit und<br />
der Stoßparameter legen die Parameter der Bahnkurve fest,<br />
4.6.1 Ablenkwinkel<br />
E = 1<br />
2 mv2 0, L = −msv0, L 2 = 2ms 2 E,<br />
p = 2Es2<br />
<br />
2 2Es<br />
, ɛ = 1 + . (4.74)<br />
α α<br />
Das auslaufende Teilchen bewegt sich asymptotisch ebenfalls entlang einer Geraden.<br />
Diese ist gegenüber der x-Achse um den Ablenkwinkel ϑ geneigt. Für abstoßende<br />
Wechselwirkung gilt gemäß (4.68) und (4.69),<br />
α < 0, p < 0, 1 + ɛ cos ϕ < 0, ϕ(rmin) = π. (4.75)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 69<br />
Abbildung 4.13: Streuung an einem abstoßenden Coulomb-Potential.<br />
Abbildung 4.14: Streuung an einem anziehenden Coulomb-Potential.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 70<br />
Die Polarkoordinaten sind so zu wählen, daß ϕ = π für r = rmin gilt. Die Achse des<br />
Polarkoordinatensystems ist also von rmin zum Ursprung gerichtet (Abb. (4.13)).<br />
Bei anziehender Wechselwirkung gilt entsprechend<br />
α > 0, p > 0, 1 + ɛ cos ϕ > 0, ϕ(rmin) = 0. (4.76)<br />
Hier zeigt die Achse des Polarkoordinatensystems vom Ursprung zum Punkt rmin<br />
(Abb. (4.14)). In beiden Fällen besteht zwischen dem Polarwinkel ϕ = ϕ0 und dem<br />
Ablenkwinkel ϑ der auslaufenden Asymptote der Zusammenhang<br />
ϑ = 2ϕ0 − π, ϕ0 = ϑ<br />
2<br />
π<br />
+ . (4.77)<br />
2<br />
Der Ablenkwinkel bei der Coulomb-Streuung läßt sich nun einfach bestimmen. Aus<br />
der Polargleichung (4.69), ergibt sich für die auslaufende Asymptote (r → ∞) die<br />
Bedingung<br />
<br />
ϑ π<br />
1 + ɛ cos ϕ0 = 1 + ɛ cos + = 1 − ɛ sin<br />
2 2<br />
ϑ<br />
2<br />
Damit folgt für den Ablenkwinkel die Beziehung<br />
4.6.2 Wirkungsquerschnitt<br />
sin ϑ<br />
2<br />
= 0.<br />
1<br />
= . (4.78)<br />
ɛ<br />
Die Teilchen eines Teilchenstrahls können durch Stöße mit einem anderen Teilchen<br />
abgelenkt und als Funktion des Ablenkwinkels mit einem Detektor nachgewiesen<br />
werden. Diesen Vorgang nennt man Streuung. Wir betrachten hier die Streuung<br />
eines Teilchenstrahls an einem festen Streuzentrum.<br />
Abbildung 4.15: Streuung von<br />
Teilchen aus dem Flächenelement<br />
dσ = sdsdϕ in das Raumwinkelelement<br />
dΩ = sin ϑdϑdϕ.<br />
Zur Definition des Wirkungsquerschnittes betrachte man einen Strahl monoenergetischer<br />
Teilchen, die von einem Streuzentrum in ein Raumwinkelelement gestreut
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 71<br />
werden (Abb. 4.15). Der Abstand der Bahn des ungestörten Teilchens vom Streuzentrum<br />
wird als Stoßparameter s bezeichnet. Teilchen, die durch den Kreisring<br />
zwischen s und s + ds hindurchtreten werden um einen Winkel zwischen ϑ und<br />
ϑ + dϑ abgelenkt.<br />
Einfallender Teilchenstrom: Die Anzahl der Teilchen, die pro Zeiteinheit durch<br />
die Fläche dσ hindurchtreten, sei<br />
Detektorfläche:<br />
Raumwinkelelement:<br />
I = jdσ; dσ = sdϕds (4.79)<br />
dO = RdϑR sin ϑdϕ = R 2 dΩ (4.80)<br />
dΩ = dO<br />
= sin ϑdϑdϕ (4.81)<br />
R2 Gestreuter Teilchenstrom pro Raumwinkelelement:<br />
dI<br />
dΩ<br />
= j dσ<br />
dΩ<br />
Differentieller Wirkungsquerschnitt:<br />
1 dI dσ<br />
=<br />
j dΩ dΩ =<br />
<br />
<br />
<br />
sdsdϕ <br />
<br />
s<br />
sin<br />
ϑdϑdϕ<br />
=<br />
sin ϑ<br />
<br />
<br />
<br />
ds <br />
<br />
dϑ<br />
= s<br />
sin ϑ<br />
1<br />
<br />
dϑ<br />
ds<br />
(4.82)<br />
(4.83)<br />
Der Betrag ist notwendig, da in der Regel einer Zunahme des Stoßparameters ds<br />
eine Abnahme des Ablenkwinkels dϑ entspricht.<br />
4.6.3 Streuung an harten Kugeln<br />
Abbildung 4.16: Streuung eines Teilchens an<br />
einer harten Kugel mit Radius a.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 72<br />
Ein Teilchen werde an einer harten Kugel mit Radius a gestreut (Abb. 4.16). Die<br />
Beziehung zwischen dem Stoßparamter und dem Ablenkwinkel ergibt sich aus der<br />
Abbildung zu<br />
π − ϑ ϑ<br />
s = a sin ϕ0 = a sin = a cos<br />
2 2 .<br />
Damit kann der Differentielle Wirkungsquerschnitt wie folgt berechnet werden:<br />
ds = − a ϑ<br />
sin<br />
2 2 dϑ<br />
ϑ<br />
dσ cos <br />
2 = −a −<br />
dΩ sin ϑ<br />
a<br />
<br />
sin<br />
2<br />
ϑ a2<br />
ϑ ϑ<br />
= , mit: sin cos 2 2 2 4<br />
Durch Integration über den Raumwinkel erhält man den totalen Wirkungsquerschnitt.<br />
Er entspricht hier der Querschnittsfläche der Kugel:<br />
<br />
σ =<br />
dΩ dσ<br />
dΩ<br />
1 = sin ϑ. (4.84)<br />
2<br />
= a2<br />
4 · 4π = πa2 . (4.85)<br />
4.6.4 Rutherfordscher Wirkungsquerschnitt<br />
Bei der Coulomb-Streuung wird der Zusammenhang zwischen dem Ablenkwinkel<br />
und dem Stoßparameter (Abb.4.17) durch die Formel (4.78) bestimmt. Damit ergibt<br />
sich folgende Berechnung des Wirkungsquerschnittes.<br />
Berechnung der Funktion s = s(ϑ):<br />
2Es<br />
α<br />
2<br />
Abbildung 4.17: Ablenkung eines Teilchens<br />
um einen Winkel ϑ bei einem Stoß mit Stoßparameter<br />
s.<br />
ɛ 2 1<br />
=<br />
sin2 (ϑ/2)<br />
1<br />
=<br />
sin2 ϑ/2 − 1 = 1 − sin2 ϑ/2<br />
sin2 ϑ/2 =<br />
<br />
cos ϑ/2<br />
sin ϑ/2<br />
s = |α| cos ϑ/2<br />
2E sin ϑ/2 →<br />
<br />
∞ ; ϑ = 0<br />
0 ; ϑ = π<br />
2<br />
(4.86)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 73<br />
Ableitung ds/dϑ:<br />
ds<br />
dϑ<br />
= |α|<br />
2E<br />
− 1<br />
2 sin2 ϑ/2 − 1<br />
2 cos2 ϑ/2<br />
sin 2 ϑ/2<br />
= − |α|<br />
4E<br />
1<br />
sin 2 ϑ/2<br />
(4.87)<br />
Differentieller Wirkungsquerschnitt:<br />
dσ<br />
dΩ<br />
=<br />
|α| cos ϑ/2 1<br />
−<br />
2E sin ϑ/2 sin ϑ<br />
<br />
− |α|<br />
<br />
4E<br />
1<br />
sin2 ;<br />
ϑ/2<br />
ϑ ϑ<br />
sin ϑ = 2 sin cos<br />
2 2 ,<br />
=<br />
<br />
α<br />
2 1<br />
4E sin4 .<br />
ϑ/2<br />
(4.88)<br />
Beispiel: Im Rutherfordschen Streuexperiment wurden α-Teilchen (Z1 = 2; E ≈<br />
4 − 8MeV ) an Goldkernen (Z2 = 79) gestreut. Mit α = −Z1Z2e 2 erhält man den<br />
Rutherfordschen Wirkungsquerschnitt<br />
dσ<br />
dΩ =<br />
Z1Z2e 2<br />
4E<br />
2<br />
1<br />
sin4 (4.89)<br />
ϑ<br />
2<br />
Wird der Rutherfordsche Wirkungsquerschnitt im Experiment gemessen, so kann<br />
daraus geschlossen werden, daß die Streuzentren näherungsweise punktförmig sein<br />
müssen. Der Kernradius ist also kleiner als der minimale Stoßparameter rmin ≈<br />
30 . . . 60fm (1 fm = 10 −15 m). Dadurch wurde das Rutherfordsche Atommodell<br />
bestätigt: Die Masse des Atoms ist in einem Atomkern konzentriert, dessen Ausdehnung<br />
sehr viel kleiner ist als die der Elektronenhülle (rAtom ≈ 1˚A, 1˚A=10 −10 m).<br />
Totaler Wirkungsquerschnitt:<br />
<br />
σ =<br />
dΩ dσ<br />
dΩ =<br />
2π<br />
0<br />
<br />
dϕ<br />
0<br />
π<br />
dϑ sin ϑ dσ<br />
dΩ<br />
<br />
= 2π<br />
0<br />
π<br />
dϑ sin ϑ dσ<br />
dΩ<br />
(4.90)<br />
Wegen der unendlichen Reichweite der Coulombwechselwirkung divergiert der totale<br />
Wirkungsquerschnitt. Man erhält einen endlichen Wirkungsquerschnitt, wenn man<br />
die Abschirmung der Ladung durch die Atomhülle berücksichtigt.<br />
4.7 Zweikörperproblem<br />
Wir behandeln nun ein abgeschlossenes System aus zwei Massenpunkten, die miteinander<br />
wechselwirken. Dieses Zweikörperproblem kann mit Hilfe des Impulserhaltungssatzes<br />
auf ein Einkörperproblem <strong>zur</strong>ückgeführt werden.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 74<br />
Die Bewegungsgleichungen der beiden Teilchen besitzen die Form<br />
m1¨r1 = F 12, m2¨r2 = F 21. (4.91)<br />
Die Wechselwirkungskräfte sollen nur vom Abstand der Teilchen abhängen und das<br />
Gesetz von actio=reactio erfüllen:<br />
F 12 = F 12(|r1 − r2|), F 12 = −F 21. (4.92)<br />
Schwerpunkts- und Relativkoordinaten<br />
Das Gleichungssystem (4.91) kann durch die Einführung von Schwerpunkts- und Relativkoordinaten<br />
entkoppelt werden. Die Koordinatentransformation und ihre Umkehrtransformation<br />
werden durch die Vektorgleichungen<br />
R = 1<br />
M (m1r1 + m2r2) , r = r2 − r1 (4.93)<br />
r1 = R − µ<br />
m1<br />
r, r2 = R + µ<br />
m2<br />
r, (4.94)<br />
mit<br />
M = m1 + m2, µ = m1m2<br />
m1 + m2<br />
definiert. Man bezeichnet µ als die reduzierte Masse. Bei stark unterschiedlichen<br />
Massen entspricht die reduzierte Masse näherungsweise der kleineren Masse, d.h.<br />
µ ≈ m2 für m2 ≪ m1. Bei gleichen Massen gilt m1 = m2 = 2µ, d.h. µ ist gegenüber<br />
den Massen m1,2 um den Faktor 1/2 reduziert.<br />
Der Relativvektor r ist vom Massenpunkt r1 zum Massenpunkt r2 gerichtet. Die in<br />
(4.40) definierten Relativvektoren sind vom Ursprung des Schwerpunktssystems aus<br />
definiert und besitzen hier die Form<br />
r ′ 1 = − µ<br />
r, r<br />
m1<br />
′ 2 = µ<br />
m2<br />
Für die Impulse der Massenpunkte gilt die Transformation<br />
mit<br />
p 1 = m1V − µv, p 2 = m2V + µv, (4.95)<br />
V = ˙R, v = ˙r.<br />
r.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 75<br />
Abbildung 4.18:<br />
Laborsystem und<br />
Schwerpunktssystem.<br />
Die kinetische Energie der Massenpunkte kann als Summe der kinetischen Energien<br />
der Schwerpunkts- und Relativbewegungen dargestellt werden,<br />
Dies folgt unmittelbar aus (4.43) wobei<br />
T ′ = 1<br />
2<br />
′2<br />
m1v 1 + 1<br />
2<br />
= 1<br />
2 m1<br />
<br />
µv<br />
= 1<br />
2 µv2<br />
m1<br />
2<br />
T = 1<br />
2 MV 2 + 1<br />
2 µv2 . (4.96)<br />
m1v ′2<br />
2<br />
+ 1<br />
2 m2<br />
µv<br />
m2<br />
die Energie im Schwerpunktssystem darstellt.<br />
2<br />
= 1<br />
2 µ2v 2<br />
<br />
1<br />
+<br />
m1<br />
1<br />
<br />
m2<br />
(4.97)<br />
Die Bewegung der Teilchen wird durch die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung<br />
eindeutig bestimmt. Die Schwerpunktsbewegung und die Relativbewegung<br />
können unabhängig voneinander behandelt werden.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 76<br />
Schwerpunkts- und Relativbewegung<br />
Durch die Addition der beiden Bewegungsgleichungen in (4.91) ergibt sich die Bewegungsgleichung<br />
für den Schwerpunkt:<br />
m1¨r1 + m2¨r2 = M ˙V = F 12 + F 21 = 0<br />
(4.98)<br />
Da die Gesamtkraft verschwindet, ist der Gesamtimpuls erhalten und der Schwerpunkt<br />
bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit.<br />
V = V 0 = const, R = R0 + V 0t. (4.99)<br />
Für die Relativbewegung erhält man mit (4.95) und (4.99) die Bewegungsgleichung<br />
˙p 2 = µ¨r = F 21(r) (4.100)<br />
Hierbei handelt es sich um ein Einkörperproblem für ein fiktives Teilchen mit der<br />
reduzierten Masse µ und dem Ortsvektor r unter Einwirkung der Kraft F 21(r).<br />
Schwerpunktsystem (SS): Ein Bezugssystem in dem der Schwerpunkt im Koordinatenursprung<br />
ruht, R = V = 0, wird Schwerpunktsystem genannt. Für die<br />
Teilchenbewegung im SS gilt:<br />
r1(t) = − µ<br />
m1<br />
r(t), r2(t) = µ<br />
p 1 = −µv, p 2 = µv.<br />
m2<br />
r(t)<br />
(4.101)<br />
Die Impulse der beiden Teilchen sind entgegengesetzt gerichtet und betragsmäßig<br />
gleich groß.<br />
Elastische Stöße<br />
Bei elastischen Stößen gelten die Erhaltungssätze für die Energie und den Impuls.<br />
Aufgrund dieser Erhaltungssätze besteht das Ergebnis des Stoßes im Schwerpunktsystem<br />
in einer Drehung der Richtung der Relativgeschwindigkeit. Die Größe des<br />
Ablenkwinkels im Schwerpunktsystem hängt von der Art der Wechselwirkung ab.<br />
Zur Bestimmung des Ablenkwinkels muß die Bewegungsgleichung gelöst werden.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 77<br />
Impulserhaltung: Aufgrund der Impulserhaltung kann sich beim Stoß nur die<br />
Relativgeschwindigkeit ändern. Die Schwerpunktgeschwindigkeit bleibt erhalten:<br />
V = V ′ . (4.102)<br />
Der Strich kennzeichnet Größen nach dem Stoß. Im Schwerpunktsystem verschwindet<br />
der Gesamtimpuls vor und nach dem Stoß:<br />
P = µv − µv = 0, P ′ = µv ′ − µv ′ = 0. (4.103)<br />
Energieerhaltung: Aufgrund der Energieerhaltung kann sich beim Stoß nur die<br />
Richtung der Relativgeschwindigkeit ändern. Die Relativgeschwindigkeit vor dem<br />
Stoß sei v = vt, nach dem Stoß v ′ = v ′ t ′ mit Einheitsvektoren t bzw. t ′ in Richtung<br />
der Relativgeschwindigkeit. Im Schwerpunktssystem lautet der Energieerhaltungs-<br />
satz nach (4.96)<br />
E = E ′ , E = µv2<br />
2 , E′ 2 µv′<br />
= . (4.104)<br />
2<br />
Daraus folgt, daß der Betrag der Relativgeschwindigkeit erhalten ist,<br />
v = v ′ .<br />
Der noch unbestimmte Winkel zwischen t und t ′ wird als Ablenkwinkel ϑ bezeichnet<br />
und hängt vom speziellen Wechselwirkungsgesetz ab.<br />
Die Geschwindigkeiten nach dem Stoß sind im Schwerpunktssystem<br />
und im Laborsystem<br />
v ′ 1 = − µ<br />
v ′ 1,L = V − µ<br />
m1<br />
m1<br />
vt ′ , v ′ 2 = µ<br />
m2<br />
vt ′ , v ′ 2,L = V + µ<br />
vt ′ , (4.105)<br />
m2<br />
vt ′ . (4.106)
Kapitel 5<br />
Lagrangesche <strong>Mechanik</strong><br />
Die Behandlung von Systemen von Massenpunkten mit Zwangsbedingungen erfordert<br />
eine Erweiterung der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>. Die Einführung von Zwangskräften<br />
führt zu den Lagrangegleichungen erster Art, die von generalisierten Koordinaten<br />
zu den Lagrangegleichungen zweiter Art.<br />
Die Lagrangegleichungen können auch aus Variationsprinzipien abgeleitet werden.<br />
Das d’Alembertsche Prinzip ist äquivalent zu den Lagrangegleichungen erster Art,<br />
das Hamiltonsche Prinzip zu den Lagrangegleichungen zweiter Art. Im Rahmen des<br />
Hamiltonschen Variationsprinzips formuliert das Noether-Theorem den allgemeinen<br />
Zusammenhang von Symmetrien und Erhaltungsgrößen.<br />
5.1 Systeme mit Zwangsbedingungen<br />
5.1.1 Zwangsbedingungen<br />
Ein System aus N freien Massenpunkten besitzt 3N Freiheitsgrade. Diese entsprechen<br />
den Lagekoordinaten der Massenpunkte im dreidimensionalen Raum. Ist ein<br />
Massenpunkt Teil eines mechanischen Systems, so kann die Zahl seiner Freiheitsgrade<br />
durch äußere Vorgaben eingeschränkt sein. Beim ebenen Pendel bewegt sich die<br />
Masse auf einer Kreisbahn und besitzt daher nur noch einen Freiheitsgrad. Bedingungen,<br />
die die Zahl der Freiheitsgrade einschränken, werden Zwangsbedingungen<br />
genannt.<br />
<strong>Physik</strong>alische Systeme mit Zwangsbedingungen sind in der Technik sehr verbreitet.<br />
Bei mechanischen Maschinen werden die beweglichen Teile, wie Kolben und Räder,<br />
so geführt, daß meist schon ein Freiheitsgrad ausreicht um deren Stellung anzugeben.<br />
Die Reduktion der Anzahl der Freiheitsgrade auf wenige relevante Freiheitsgrade ist<br />
von prinzipieller Bedeutung. Viele Probleme werden erst auf diese Weise behandelbar.<br />
Ein starrer Körper besteht z.B. aus unendlich vielen Massenpunkten. Da wir<br />
78
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 79<br />
aber wissen, daß die Abstände zwischen den Massenpunkten bei der Bewegung fest<br />
bleiben, reduziert sich das Problem auf eine Bewegung mit den sechs Freiheitsgraden<br />
der Translation und Rotation.<br />
Die folgenden Beispiele zeigen einige typische Zwangsbedingungen:<br />
• Massenpunkt mit Ortsvektor r auf einer<br />
Ebene mit Normalenvektor n:<br />
n · r = 0.<br />
• Massenpunkt mit Ortsvektor r auf<br />
oder oberhalb einer Ebene mit Normalenvektor<br />
n:<br />
n · r ≥ 0<br />
• Massenpunkt auf der Oberfläche einer<br />
Kugel mit Radius R:<br />
r − R = 0<br />
• Starr verbundene Massenpunkte mit<br />
Abständen rij:<br />
(ri − rj) 2 − r 2 ij = 0
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 80<br />
• Massenpunkt auf rotierender Stange<br />
mit Richtung e(t).<br />
r × e(t) = 0<br />
• Mittelpunkt des rollenden Rades:<br />
Konfigurationsraum<br />
˙x − R ˙ϕ = 0, z − R = 0<br />
Zur Klassifikation der Zwangsbedingungen ist es hilfreich ein System von N Massenpunkten<br />
in einem 3N dimensionalen Konfigurationsraum darzustellen. Das System<br />
wird im Konfigurationsraum durch einen Punkt x repräsentiert. Hierbei werden die<br />
Koordinaten des Punktes im Konfigurationsraum,<br />
xi, i = 1, · · · , 3N ,<br />
durch die Koordinaten der N Massenpunkte definiert,<br />
⎛ ⎞ ⎛ ⎞<br />
r1 = ⎝<br />
x1<br />
x2<br />
x3<br />
⎠ , r2 = ⎝<br />
Holonome Zwangsbedingungen<br />
x4<br />
x5<br />
x6<br />
⎛<br />
⎠ , · · · , rN = ⎝<br />
x3N−2<br />
x3N−1<br />
Unter holonomen Zwangsbedingungen versteht man Zwangsbedingungen, die sich<br />
in Form einer Gleichung<br />
x3N<br />
⎞<br />
⎠ .<br />
g(x, t) = 0. (5.1)<br />
zwischen den Lagekoordinaten und eventuell der Zeit ausdrücken lassen. Holonome<br />
Zwangsbedingungen werden im Rahmen der Lagrangegleichungen zweiter Art<br />
vorausgesetzt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 81<br />
Lineare differentielle Zwangsbedingungen<br />
Das totale Differential von (5.1) definiert in jedem Punkt eine lineare differentielle<br />
Zwangsbedingung,<br />
3N ∂g<br />
dg(x, t) = dxi +<br />
∂xi<br />
∂g<br />
dt = 0. (5.2)<br />
∂t<br />
i=1<br />
Lineare differentielle Zwangsbedingungen besitzen die allgemeine Form,<br />
3N<br />
i=1<br />
Ai(x, t)dxi + B(x, t)dt = 0, (5.3)<br />
mit beliebigen Funktionen Ai(x, t) und B(x, t). Differentielle Zwangsbedingungen<br />
können holonom oder nicht-holonom sein. Im holonomen Fall ist (5.3) das totale<br />
Differential einer Funktion g(x, t). Dazu müssen Integrabilitätsbedingungen erfüllt<br />
sein. Im Rahmen der Lagrangegleichungen erster Art wird nur die lineare differentielle<br />
Form der Zwangsbedingungen vorausgesetzt.<br />
Dividiert man (5.3) durch dt, so ergeben sich Zwangsbedingungen, die außer von<br />
den Lagekoordinanten auch noch linear von den Geschwindigkeiten abhängen.<br />
3N<br />
i=1<br />
Ai(x, t)vi + B(x, t) = 0, (5.4)<br />
Ein Beispiel dieser Art ist die Zwangsbedingung für das rollende Rad. Allgemeinere<br />
Zwangsbedingungen, die sich nicht in der Form von (5.3) schreiben lassen, sind<br />
z.B. Ungleichungen oder Gleichungen, die nicht linear von den Geschwindigkeiten<br />
abhängen.<br />
Rheonome und skleronome Zwangsbedingungen<br />
Man unterscheidet auch noch zeitabhängige, g = g(x, t), und zeitunabhängige,<br />
g = g(x), Zwangsbedingungen. Zeitabhängige Zwangsbedingungen heißen rheonom,<br />
zeitunabhängige skleronom.<br />
Hyperflächennormale und virtuelle Verrückungen<br />
Wir betrachten nun die durch eine holonome Zwangsbedingung definierte Hyperfläche<br />
zu einem festen Zeitpunkt t. Die Richtung der Hyperflächennormalen wird<br />
durch den Gradienten<br />
A(x, t) =<br />
∂g(x, t)<br />
. (5.5)<br />
∂x
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 82<br />
bzw. in Komponentenschreibweise<br />
Ai(x, t) =<br />
∂g(x, t)<br />
,<br />
∂xi<br />
bestimmt. Denn es gilt für jede infinitesimale Verschiebung δx innerhalb der momentanen<br />
Hyperfläche gemäß (5.3) die Orthogonalitätsbedingung<br />
A · δx =<br />
3N<br />
i=1<br />
Aiδxi = 0. (5.6)<br />
Der Vektor A zeigt in Normalenrichtung, er ist aber nicht auf eins normiert. Die<br />
infinitesimalen Verschiebungen δx innerhalb der momentanten Hyperfläche werden<br />
als virtuelle Verrückungen bezeichnet. Es sind infinitesimale Änderungen der Koordinaten,<br />
die mit den Zwangsbedingungen des Systems zu einer festen Zeit konsistent<br />
sind. Virtuelle Verrückungen müssen von den tatsächlichen Verschiebungen dx der<br />
Massenpunkte in einem Zeitintervall dt unterschieden werden, da sich in dieser Zeit<br />
die Zwangsbedingungen ändern können.<br />
Abbildung 5.1: Hyperfläche mit Normale und<br />
virtueller Verrückung.<br />
Nicht-holonome linear differentielle Zwangsbedingungen haben lokal eine entsprechende<br />
geometrische Bedeutung. Die Zwangsbedingung (5.3) definiert zu einer festen<br />
Zeit ganz analog ein Richtungsfeld A(x, t) im Konfigurationsraum. In jedem Punkt x<br />
liegen die virtuellen Verrückungen in einer zu A(x, t) orthogonalen Tangentialebene.<br />
5.1.2 Zwangskräfte<br />
Zwangsbedingungen führen zu einer Erweiterung der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>. Um<br />
die Zwangsbedingungen erfüllen zu können, werden in den Bewegungsgleichungen<br />
zusätzliche Kräfte eingeführt. Diese Kräfte werden als Zwangskräfte bezeichnet.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 83<br />
Die Bewegungsgleichung eines Massenpunktes mit einer Zwangskraft Z lautet<br />
m¨r = F + Z.<br />
Die Rolle der Zwangskraft soll zuerst an den folgenden Beispielen illustriert werden.<br />
Schiefe Ebene<br />
Abbildung 5.2: Schiefe Ebene<br />
mit Schwerkraft G und<br />
Zwangskraft Z.<br />
Ein Massenpunkt bewege sich unter Einwirkung der Schwerkraft G = −mgez auf<br />
einer um den Winkel α geneigten schiefen Ebene (Abb.5.2). In einem um den Winkel<br />
α gedrehten Inertialsystem S ′ lauten die Bewegungsgleichungen<br />
m¨x ′ = −mg sin α + Z ′ x<br />
m¨z ′ = −mg cos α + Z ′ z (5.7)<br />
Um die Zwangsbedingung z ′ = 0 zu erfüllen, kann die Zwangskraft<br />
Z ′ x = 0, Z ′ z = mg cos α .<br />
gewählt werden. Dabei ist die Normalenkomponente Z ′ z eindeutig durch die Zwangsbedingung<br />
bestimmt. Die Tangentialkomponente wird zu Null gewählt, da in dieser<br />
Richtung keine Zwangsbedingung vorliegt.<br />
Die Zwangskraft kompensiert hier gerade die Komponente der Schwerkraft in Richtung<br />
der Flächennormale. Das folgende Beispiel zeigt, daß die Größe der Zwangskraft<br />
im allgemeinen nicht nur von den Kräften im Gleichgewicht sondern auch von der<br />
Bewegung abhängt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 84<br />
Ebenes Pendel<br />
Abbildung 5.3: Ebenes Pendel<br />
mit einer zum Aufhängepunkt<br />
gerichteten Zwangskraft Z =<br />
−mg cos α − ml ˙α 2 .<br />
Ein ebenes Pendels mit Pendellänge l sei im Schwerefeld g = −gez um den Winkel<br />
α(t) gegenüber der unteren Gleichgewichtslage ausgelenkt (Abb.5.3). Setzt man ϕ =<br />
α+3π/2, so kann die in (3.51) angegebene Polardarstellung der Bewegungsgleichung<br />
verwendet werden und man erhält<br />
m¨r = mg cos α + mr ˙α 2 + Zr (5.8)<br />
mr¨α = −mg sin α − 2m ˙r ˙α + Zα (5.9)<br />
Die Zwangsbedingung r = l, ˙r = ¨r = 0 wird durch die Zwangskraft<br />
Zr = −mg cos α − ml ˙ϕ 2 , Zα = 0<br />
erfüllt. Sie kompensiert hier die Normalkomponente der Schwerkraft und die von<br />
der Bewegung abhängige Zentrifugalkraft.<br />
Masse auf rotierender Stange<br />
Als Beispiel für eine rheonome Zwangsbedingung betrachten wir eine in der Ebene<br />
rotierende Stange, auf der ein Massenpunkt reibungsfrei gleiten kann. Die Zwangsbedingung<br />
lautet in Polarkoordinaten (r,ϕ),<br />
<br />
˙ϕ = ω(t), ϕ = dt ′ ω(t ′ ) (5.10)<br />
wobei ω(t) die vorgegebene Kreisfrequenz der Stange darstellt.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 85<br />
Abbildung 5.4: Virtuelle Verrückung δx,<br />
tatsächliche Verrückung dx und Zwangskraft<br />
Z für einen Massepunkt auf einer rotierenden<br />
Stange.<br />
In einem rotierendes Bezugssystem, in dem die Stange ruht, gelten nach (3.51) die<br />
Bewegungsgleichungen,<br />
m¨r = mrω 2 + Zr (5.11)<br />
mr ˙ω = −2m ˙rω + Zϕ (5.12)<br />
Die Zwangsbedingung (5.10) beinhaltet keine Einschränkung an die radiale Bewegung.<br />
Daher wählt man die Zwangskraft,<br />
Zr = 0, rZϕ = mr 2 ˙ω + 2mr ˙rω = d<br />
dt (mr2 ω). (5.13)<br />
Sie stellt das <strong>zur</strong> Drehimpulsänderung notwendige Drehmoment dar. In diesem Fall<br />
unterscheiden sich virtuelle und tatsächliche Verrückungen (Abb.5.4). Die virtuelle<br />
radiale Verrückung bestimmt die Richtung, die tatsächliche azimuthale Verrückung<br />
die Größe der Zwangskraft.<br />
5.2 Lagrangegleichungen erster Art<br />
Gegeben sei nun ein System von N Massenpunkten mit k linear differentiellen<br />
Zwangsbedingungen,<br />
m · ¨x = F + Z. (5.14)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 86<br />
A l (x, t) · dx + B l (x, t)dt = 0, l = 1, 2, · · · , k. (5.15)<br />
Hierbei sind F und Z Vektoren im Konfigurationsraum, deren Komponenten durch<br />
die Kräfte F j und Zwangskräfte Zj auf die Massenpunkte bestimmt werden,<br />
⎛ ⎞<br />
⎛ ⎞<br />
F j = ⎝<br />
F3j−2<br />
F3j−1<br />
F3j<br />
⎠ , Zj = ⎝<br />
Z3j−2<br />
Z3j−1<br />
Die Matrix m ist eine Diagonalmatrix mit den Matrixelementen mik = miδik. Die<br />
Diagonalelemente mi werden durch die Massen Mj der Massenpunkte definiert<br />
⎛ ⎞<br />
Mj = ⎝<br />
m3j−2<br />
m3j−1<br />
5.2.1 D’Alembertsches Prinzip<br />
Die Zwangskraft wird durch die zugehörige Zwangsbedingung mathematisch nicht<br />
eindeutig bestimmt. In den Beispielen aus Abschnitt (5.1.2) wurden die Komponenten<br />
der Zwangskräfte in Richtung der virtuellen Verrückungen jeweils Null gesetzt.<br />
Diese Wahl beruht auf einem physikalischen Postulat über die Richtung der Zwangskraft,<br />
welches als das d’Alembertsche Prinzip bezeichnet wird:<br />
Die Richtung der Zwangskraft Z ist so zu wählen, daß für beliebige virtuellle<br />
Verrückungen δx<br />
Z · δx =<br />
3N<br />
i=1<br />
m3j<br />
⎠ .<br />
Z3j<br />
⎠<br />
Ziδxi = 0. (5.16)<br />
gilt. Man sagt auch, die Zwangskräfte leisten keine virtuelle Arbeit. Hierbei ist aber<br />
zu beachten, daß die virtuelle Arbeit i.a. nicht die tatsächliche Arbeit darstellt.<br />
Das d’Alembertsche Prinzip definiert die Zwangskräfte. Daneben können in realen<br />
physikalischen Systemen auch andere Kräfte, wie z.B. Reibungskräfte, durch den<br />
Kontakt mit Führungselementen hervorgerufen werden.<br />
Eine alternative Formulierung des d’Alembertschen Prinzips erhält man, indem man<br />
die Zwangskräfte mit Hilfe der Bewegungsgleichung eliminiert,<br />
(F − m · ¨x) · δx = 0. (5.17)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 87<br />
Ein Spezialfall des d’Alembertschen Prinzips ist das Prinzip der virtuellen Arbeit.<br />
Für ein Kräftegleichgewicht, bei dem alle Koordinaten zeitunabhängig sind, gilt die<br />
Gleichgewichtsbedingung,<br />
Im Gleichgewicht leisten die Kräfte keine virtuelle Arbeit.<br />
F · δx = 0. (5.18)<br />
Als Beispiel für das Prinzip der virtuellen Arbeit betrachten wir das Gleichgewicht<br />
eines Hebels (Abb.5.5). Die virtuellen Verrückungen der Massen m1,2 bei einer Drehung<br />
um den vektoriellen Drehwinkel δϕ sind jeweils δr1,2 = δϕ×r 1,2. Aus dem<br />
Prinzip der virtuellen Arbeit folgt<br />
F 1·(δϕ×r 1) + F 2·(δϕ×r 2) = δϕ·(r1×F 1 + r2×F 2) = 0.<br />
Der Hebel ist im Gleichgewicht, wenn sich die Drehmomente in Richtung der Drehachse<br />
zu Null addieren.<br />
Abbildung 5.5: Virtuelle<br />
Verrückungen eines Hebels<br />
aus der Gleichgewichtslage.<br />
5.2.2 Bewegungsgleichungen mit Zwangskräften<br />
Mit Mitteln der Variationsrechnung kann man aus dem d’Alembertschen Prinzip die<br />
Bewegungsgleichungen mit Zwangskräften herleiten. Wir wollen diese hier lediglich<br />
angeben. Für jede Zwangsbedingung kann man die zugehörige Zwangskraft in der<br />
Form<br />
Z l = λ l A l<br />
(5.19)<br />
mit einer noch unbestimmten Funktion λ l (t) ansetzen. Dieser Ansatz erfüllt das<br />
d’Alembertsche Prinzip, da die virtuellen Verrückungen definitionsgemäß den Bedingungen<br />
A l · δx = 0, l = 1, 2, · · · , k
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 88<br />
genügen. Das zugehörige Gleichungssystem nennt man die Lagrangegleichungen erster<br />
Art,<br />
m · ¨x = F + Z, Z =<br />
k<br />
λ l A l , A l · dx + B l dt = 0. (5.20)<br />
l=1<br />
Dies sind 3N + k Gleichungen für 3N Koordinaten xi und k Parameter λ l .<br />
Diskussion des d’Alembertschen Prinzips<br />
Am Beispiel einer linear differentiellen Zwangsbedingung zeigen wir explizit wie diese<br />
Zwangsbedingung in Verbindung mit dem d’Alembertschen Prinzip die Zwangskraft<br />
bestimmt.<br />
Wir fragen zuerst in welcher Weise eine linear differentielle Zwangsbedingung die<br />
tatsächliche Bewegung einschränkt. Aus (5.4) erhält man für die Geschwindigkeiten<br />
der Massenpunkte die Bedingung<br />
A(x, t) · v(t) = −B(x, t). (5.21)<br />
Sie bestimmt die Geschwindigkeit in Richtung der Hyperflächennormalen. Für skleronome<br />
Zwangsbedingungen ist diese Geschwindigkeitskomponente Null, für rheonome<br />
eine vorgegebene Funktion. Eine entsprechende Aussage läßt sich auch für<br />
die Beschleunigung machen. Differenziert man (5.21) nach der Zeit, so folgt eine<br />
Bedingung für die Normalenkomponente der Beschleunigung<br />
A(x, t) · ¨x(t) = −C(x, v, t), C(x, v, t) = ˙ B + ˙<br />
A · v. (5.22)<br />
Sie muß von der Lösung der Bewegungsgleichung mit einer Zwangskraft Z,<br />
erfüllt werden.<br />
m · ¨x = F + Z,<br />
Wir zeigen nun, daß man die vorgegebene Beschleunigung unter gleichen Voraussetzungen<br />
für eine ganze Klasse von Zwangskräften erreichen könnte. Das<br />
d’Alembertsche Prinzip ist dann notwendig, um die physikalisch richtige Zwangskraft<br />
zu bestimmen. Dazu betrachten wir eine Transformation, bei der jede Koordinate<br />
um einen konstanten Faktor αi gestreckt wird,<br />
x ′ i = αixi<br />
Diese Transformation bewirkt eine Deformation der Hyperfläche und eine entsprechende<br />
Änderung der Hyperflächennormalen. Aus der Invarianz der Zwangsbedingung<br />
in (5.20) oder (5.22) folgt für die Normale das Transformationsgesetz,<br />
A ′ i = Ai/αi . (5.23)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 89<br />
Die transformierte Beschleunigung wird durch die Bewegungsgleichung<br />
¨x ′ = m −1 · (F ′ + Z ′ ), F ′<br />
i = αiFi, Z ′ i = αiZi<br />
bestimmt. Ihre Komponente in Richtung der transformierten Normalen (5.23) wird<br />
durch die Zwangsbedingung vorgegeben. Unter der Annahme, daß die Zwangsbeschleunigung<br />
nur in Richtung der Hyperflächennormale auftritt, folgt für die transformierte<br />
Zwangskraft der Ansatz<br />
Z ′ = λm · A ′ .<br />
Der Parameter λ wird durch die vorgegebene Normalenkomponente der Beschleunigung<br />
bestimmt,<br />
A ′ · ¨x ′ = A ′ · m −1 · F ′ + λA ′ · A ′ = −C<br />
λ = − C + A′ · m −1 · F ′<br />
A ′ · A ′ . (5.24)<br />
Damit erhält man für die ursprüngliche Zwangskraft den Ausdruck<br />
Zi = λ mi<br />
α2 Ai . (5.25)<br />
i<br />
Obwohl diese Zwangskraft für beliebige αi die Zwangsbedingung erfüllt, genügt sie<br />
im allgemeinen nicht dem d’Alembertschen Prinzip. Um auch letzteres zu erfüllen<br />
muß Z in Richtung der Normalen A gewählt werden. Dies ist aber nur möglich falls<br />
αi = α √ mi<br />
wobei α eine von i unabhängige Konstante darstellt. Da eine Proportionalitätskonstante<br />
bereits durch λ berücksichtigt wurde, kann ohne Einschränkung α = 1 gesetzt<br />
werden. Für Systeme mit unterschiedlichen Massen mi stellt das d’Alembertsche<br />
Prinzip also eine wesentliche zusätzliche Forderung dar. Der Grund hierfür ist, daß<br />
dann Beschleunigungen und Kräfte im Konfigurationsraum linear unabhängige Vektoren<br />
sind.<br />
5.3 Lagrangegleichungen zweiter Art<br />
Für Systeme mit holonomen Zwangsbedingungen können die Zwangskräfte durch<br />
eine geeignete Koordinatenwahl eliminiert werden. Dies führt zu den Lagrangegleichungen<br />
zweiter Art. Nicht-holonome Zwangsbedingungen müssen weiterhin durch<br />
die Gleichungen erster Art beschrieben werden.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 90<br />
5.3.1 Herleitung<br />
Gegeben sei ein System von N Massenpunkten mit k holonomen Zwangsbedingungen<br />
Generalisierte Koordinaten<br />
mi¨xi = Fi + Zi, i = 1, 2, · · · , 3N<br />
g l (x, t) = 0, l = 1, 2, · · · , k .<br />
Die Zwangsbedingungen bestimmten zu jedem Zeitpunkt eine Hyperfläche im Konfigurationsraum.<br />
Auf dieser Hyperfläche können geeignete, i.a. krummlinige, Koordinaten<br />
q1, q2, · · · , qn, · · · , qf gewählt werden, wobei f die Dimension der Hyperfläche<br />
bezeichnet. Solche Koordinaten werden als generalisierte oder verallgemeinerte<br />
Koordinaten bezeichnet. Generalisierte Koordinaten auf einer Kugel sind z.B.<br />
die Winkel ϕ, ϑ der Kugelkoordinaten. Die Koordinatentransformation zwischen den<br />
generalisierten Koordinaten und den kartesischen Koordinaten besitzt die Form<br />
xi = xi(q1, q2, · · · , qf, t), i = 1, 2, · · · , 3N (5.26)<br />
Abkürzend verwenden wir auch die Notation x = x(q, t), wobei q für die Argumente<br />
q1, q2, · · · , qf steht.<br />
D’Alembertsches Prinzip in generalisierten Koordinaten<br />
Der Ortsvektor auf der momentanen Hyperfläche wird durch (5.26) dargestellt. Eine<br />
virtuelle Verrückung ist definitionsgemäß eine infinitesimale Verschiebung dieses<br />
Ortsvektors bei festgehaltener Zeit. Dafür erhalten wir durch Differentiation,<br />
δxi =<br />
f<br />
n=1<br />
∂xi<br />
δqn. (5.27)<br />
∂qn<br />
Die Verrückungen δq auf der Hyperfläche unterliegen keinen Einschränkungen mehr.<br />
Die Vektoren<br />
a n = ∂x<br />
, n = 1, · · · , f (5.28)<br />
∂qn<br />
bilden in jedem Punkt der Hyperfläche eine lokale Basis (Abb.5.6). Hierbei ist an ein Tangentenvektor an die qn-Koordinate.<br />
Mit (5.27), (5.28) lautet das d’Alembertsche Prinzip (5.17),<br />
<br />
(m · ¨x − F ) · a n δqn = 0. (5.29)<br />
n
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 91<br />
Abbildung 5.6: Generalisierte<br />
Koordinaten und lokale Basis auf<br />
der Hyperfläche.<br />
Da die δqn unabhängig voneinander beliebig gewählt werden können, muß jeder<br />
Koeffizient einzeln verschwinden,<br />
(m · ¨x − F ) · a n = 0, n = 1, · · · , f. (5.30)<br />
Dies sind die Komponenten der Bewegungsgleichung entlang der lokalen Basis. Damit<br />
wurden genau f Bewegungsgleichungen für die f Freiheitsgrade der Hyperfläche<br />
gewonnen. Die Zwangskräfte wurden durch die Koordinatenwahl eliminert.<br />
Generalisierte Geschwindigkeiten<br />
In den Bewegungsgleichungen (5.30) müssen x und ¨x durch die generalisierten Koordinaten<br />
q ausgedrückt werden.<br />
Für die Geschwindigkeit erhält man aus (5.27) das Transformationsgesetz<br />
f ∂x(q, t) ∂x(q, t)<br />
˙x =<br />
˙qn + = v(q, ˙q, t) (5.31)<br />
∂qn ∂t<br />
n=1<br />
Man bezeichnet ˙q = ( ˙q1, · · · , ˙qf) als generalisierte Geschwindigkeiten und behandelt<br />
in der Transformationsgleichung (5.31) q, ˙q, und t als unabhängige Variablen. Dann<br />
gilt<br />
∂v<br />
∂ ˙qn<br />
d ∂x<br />
dt ∂qn<br />
= ∂x<br />
∂qn<br />
f ∂<br />
=<br />
2x ∂qm∂qn<br />
m=1<br />
˙qm + ∂2 x<br />
∂t∂qn<br />
(5.32)<br />
= ∂v<br />
. (5.33)<br />
∂qn
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 92<br />
Der Beschleunigungsterm in der Bewegungsgleichung läßt sich damit wie folgt umformen<br />
∂xi<br />
mi¨xi =<br />
∂qn<br />
i<br />
<br />
<br />
d ∂xi d ∂xi<br />
mivi − mivi<br />
dt ∂qn dt ∂qn<br />
i<br />
= <br />
<br />
d ∂vi<br />
∂vi<br />
mivi − mivi<br />
dt ∂ ˙qn ∂qn<br />
i<br />
= d<br />
<br />
∂T<br />
−<br />
dt ∂ ˙qn<br />
∂T<br />
. (5.34)<br />
∂qn<br />
Hierbei bezeichnet<br />
T (q, ˙q, t) = <br />
i<br />
1<br />
2 mivi(q, ˙q, t) 2<br />
die kinetische Energie des Systems als Funktion der generalisierten Koordinaten und<br />
Geschwindigkeiten.<br />
Generalisierte Kraft<br />
Der Kraftterm in der Bewegungsgleichung wird als generalisierte Kraft,<br />
Qn(q, ˙q, t) = F · a n<br />
(5.35)<br />
bezeichnet. Damit lauten die auf generalisierte Koordinaten transformierten Bewegungsgleichungen<br />
Generalisiertes Potential<br />
<br />
d ∂T<br />
−<br />
dt ∂ ˙qn<br />
∂T<br />
∂qn<br />
= Qn . (5.36)<br />
Falls die Kraft F aus einem Potential U(x) abgeleitet werden kann,<br />
F = − ∂U<br />
∂x ,<br />
so gilt dies auch für die generalisierte Kraft,<br />
Qn(q, ˙q, t) = F · a n = − ∂U(x)<br />
∂x<br />
· ∂x<br />
∂qn<br />
∂U(x(q, t))<br />
= − . (5.37)<br />
∂qn
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 93<br />
Allgemeiner nennt man eine Funktion U(q, ˙q, t) ein generalisierte Potential, falls die<br />
generalisierte Kraft in der Form<br />
Qn = d<br />
<br />
∂U<br />
−<br />
dt ∂ ˙qn<br />
∂U<br />
∂qn<br />
(5.38)<br />
darstellbar ist. Das geschwindigkeitunabhängige Potential (5.37) ist ein Spezialfall<br />
hiervon.<br />
Lagangegleichungen zweiter Art<br />
Existiert ein Potential, so können die kinetische und die potentielle Energie in der<br />
Bewegungsgleichung (5.36) zusammengefasst werden,<br />
<br />
d ∂T<br />
−<br />
dt ∂ ˙qn<br />
∂T<br />
− Qn<br />
∂qn<br />
= d<br />
<br />
∂T<br />
−<br />
dt ∂ ˙qn<br />
∂T<br />
−<br />
∂qn<br />
d<br />
<br />
∂U<br />
−<br />
dt ∂ ˙qn<br />
∂U<br />
∂qn<br />
= d<br />
<br />
∂(T − U) ∂(T − U)<br />
− .<br />
dt ∂ ˙qn ∂qn<br />
Damit erhält man aus (5.36)<br />
mit<br />
d<br />
dt<br />
<br />
∂L<br />
∂ ˙qn<br />
= ∂L<br />
, n = 1, · · · , f, (5.39)<br />
∂qn<br />
L(q, ˙q, t) = T (q, ˙q, t) − U(q, ˙q, t).<br />
Man nennt L(q, ˙q, t) die Lagrangefunktion und (5.39) die Lagrangegleichungen zweiter<br />
Art. Dies ist ein System von f Differentialgleichungen zweiter Ordnung für die<br />
Bewegung q(t) auf der Hyperfläche. Es ist im allgemeinen einfacher zu behandeln<br />
als die 3N + k gekoppelten Lagrangegleichungen erster Art.<br />
5.3.2 Anwendung<br />
Lösungsweg<br />
Ein mechanisches System mit holonomen Zwangsbedingungen wird damit<br />
vollständig durch die Wahl der verallgemeinerten Koordinaten q, durch Anfangsbedingungen<br />
(q0, ˙q0) und durch die Angabe der Lagrangefunktion L(q, ˙q, t) in diesen
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 94<br />
Koordinaten beschrieben. Dabei ist die Form der Gleichungen von der Koordinatenwahl<br />
unabhängig.<br />
Das Verfahren <strong>zur</strong> Lösung eines mechanischen Problems mit den Lagrangegleichungen<br />
zweiter Art besteht aus den folgenden Teilschritten:<br />
1. Angabe der holonomen Zwangsbedingungen<br />
2. Wahl der generalisierten Koordinaten: q<br />
3. Bestimmung der Koordinatentransformation: x = x(q, t)<br />
4. Aufstellen der Lagrangefunktion. Hierzu müssen T und U als Funktion von q,<br />
˙q und t angegeben werden.<br />
5. Herleitung der Bewegungsgleichungen aus den Lagrangegleichungen<br />
6. Lösung der Bewegungsgleichungen<br />
7. Bestimmung der Integrationskonstanten durch Anfangsbedingungen<br />
Massenpunkt auf schiefer Ebene<br />
Ein einfaches Beispiel ist die Bewegung eines Massenpunktes auf einer schiefen Ebene<br />
mit Neigungswinkel α im Schwerefeld (Abb.5.2). Verwendet man Polarkoordinaten<br />
(r, ϕ), so ist der Winkel durch die Zwangsbedingung, ϕ − α = 0 festgelegt. Der<br />
Radius kann als verallgemeinerte Koordinate q = r gewählt werden. Die Koordinatentransformation<br />
lautet<br />
x = r cos α, z = r sin α .<br />
Durch Ableitung erhält man die Geschwindigkeiten<br />
und damit die kinetische Energie<br />
Die potentielle Energie ist<br />
˙x = ˙r cos α, ˙z = ˙r sin α<br />
T = 1<br />
2 m( ˙x2 + ˙z 2 ) = 1<br />
2 m ˙r2 (cos 2 α + sin 2 α) = 1<br />
2 m ˙r2 .<br />
U = mgz = mgr sin α.<br />
Die Lagrangefunktion besitzt damit die Form<br />
L(r, ˙r) = T − U = 1<br />
2 m ˙r2 − mgr sin α.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 95<br />
Mit den partiellen Ableitungen<br />
∂L<br />
∂ ˙r<br />
= m ˙r,<br />
folgt aus (5.39) die Bewegungsgleichung<br />
∂L<br />
∂r<br />
m¨r = −mg sin α .<br />
= −mg sin α,<br />
Dasselbe Ergebnis hatten wir in (5.7) mit der Newtonschen Bewegungsgleichung<br />
abgeleitet. Die dort benötigte Zwangskraft tritt jetzt nicht mehr in Erscheinung.<br />
5.3.3 Erhaltungsgrößen<br />
Zyklische Koordinaten und generalisierte Impulse<br />
Analog <strong>zur</strong> Impulserhaltung in der Newtonschen <strong>Mechanik</strong> folgt aus den Lagrangegleichungen<br />
(5.39) der Erhaltungssatz<br />
∂L<br />
∂qn<br />
Man bezeichnet die Größe<br />
= 0 =⇒ pn = ∂L<br />
∂ ˙qn<br />
pn = ∂L<br />
∂ ˙qn<br />
= const. (5.40)<br />
(5.41)<br />
als generalisierten Impuls. Hängt die Lagrangefunktion nicht explizit von einer generalisierten<br />
Koordinate qn ab, so nennt man diese Koordinate zyklisch. Für jede<br />
zyklische Variable ist der zugehörige generalisierte Impuls erhalten.<br />
Energieerhaltung<br />
Der Energieerhaltungssatz kann in der Lagrangemechanik in der folgenden Form<br />
angegeben werden<br />
∂L<br />
∂t<br />
<br />
= 0 =⇒ E = pn ˙qn − L = const. (5.42)<br />
Ist die Lagrangefunktion nicht explizit zeitabhängig, so ist die Energie E erhalten.<br />
n
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 96<br />
Beweis: Differenziert man L(q, ˙q, t) nach der Zeit und verwendet die Lagrangegleichungen<br />
(5.39), so folgt<br />
Damit gilt<br />
d<br />
∂L<br />
L(q, ˙q, t) = ˙qn +<br />
dt ∂qn n<br />
∂L<br />
¨qn +<br />
∂ ˙qn<br />
∂L<br />
∂t<br />
= <br />
˙pn ˙qn + pn¨qn + ∂L<br />
∂t<br />
n<br />
= d<br />
dt<br />
<br />
<br />
pn ˙qn<br />
n<br />
<br />
d <br />
pn ˙qn − L<br />
dt<br />
n<br />
+ ∂L<br />
∂t .<br />
= − ∂L<br />
. (5.43)<br />
∂t<br />
Die Zwangsbedingungen seien nun skleronom und die potentielle Energie sei geschwindigkeitsunabhängig.<br />
Dann gilt für die Energie die übliche Beziehung<br />
E = <br />
pn ˙qn − L = T + U. (5.44)<br />
n<br />
Beweis: Für skleronome Zwangsbedingungen ist die Koordinatentransformation<br />
x = x(q) zeitunabhängig. Mit (5.27) und (5.28) lauten die entsprechenden Transformationen<br />
für die Geschwindigkeit und die kinetische Energie,<br />
mit<br />
v = ∂x<br />
˙qn<br />
(5.45)<br />
∂qn n<br />
T = 1 <br />
µnm ˙qn ˙qm, (5.46)<br />
2<br />
n,m<br />
µnm(q) = <br />
i<br />
∂xi ∂xi<br />
mi<br />
∂qn ∂qm<br />
Die kinetische Energie ist eine positiv definite quadratische Form mit einer symmetrischen<br />
Matrix µnm = µmn. Für geschwindigkeitsunabhängige Potentiale werden<br />
die verallgemeinerten Impulse allein durch die kinetische Energie bestimmt<br />
pn = ∂L<br />
∂ ˙qn<br />
.<br />
= ∂T<br />
. (5.47)<br />
∂ ˙qn
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 97<br />
Die Differentiation ergibt<br />
pk = 1<br />
2<br />
= 1<br />
2<br />
= 1<br />
2<br />
<br />
n,m<br />
<br />
m<br />
<br />
m<br />
µnm(δnk ˙qm + ˙qnδkm)<br />
µkm ˙qm + 1<br />
2<br />
<br />
µnk ˙qn<br />
n<br />
(µkm + µmk) ˙qm = <br />
m<br />
µkm ˙qm . (5.48)<br />
Damit erhält man die Gesamtenergie<br />
E = <br />
pk ˙qk − L = 2T − (T − U) = T + U. (5.49)<br />
5.4 Variationsprinzipien<br />
k<br />
Die Lagrangegleichungen zweiter Art können aus einem Variationsprinzip hergeleitet<br />
werden. Diese Formulierung ist besonders elegant, da das vollständige mechanische<br />
System durch eine einfache skalare Gleichung beschrieben wird. Außerdem findet<br />
das Hamiltonsche Prinzip Anwendung in anderen Gebieten der <strong>Physik</strong>, wie z.B. in<br />
Feldtheorien.<br />
5.4.1 Eulersche Gleichung der Variationsrechung<br />
Differential und stationäre Punkte<br />
Bei Variationsproblemen handelt es sich um eine Verallgemeinerung der Extremwertbestimmung<br />
von Funktionen. Für eine Funktion f(x1, · · · , xn) nennt man die<br />
Punkte, bei denen das Differential der Funktion verschwindet stationäre Punkte:<br />
(x01, · · · , x0n) stationär ⇐⇒ df = 0 .<br />
Das Verschwinden des Differentials ist gleichbedeutend mit dem Verschwinden aller<br />
partiellen Ableitungen. Diese Bedingung ist notwendig aber nicht hinreichend für<br />
ein Extremum. Es können neben Extrema auch Wendepunkte oder Sattelpunkte<br />
auftreten. Daher bezeichnet man die Punkte, bei denen das Differential verschwindet<br />
allgemein als stationäre Punkte.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 98<br />
Variation und stationäre Funktionen<br />
Bei Variationsproblemen betrachtet man anstelle von Funktionen Funktionale. Funktionale<br />
sind Abbildungen aus einem Funktionenraum in den Zahlenkörper:<br />
J : y ↦→ J[y] .<br />
Zur Einführung in die Methode der Variationsrechnung behandeln wir die folgende<br />
Aufgabenstellung. Gesucht sei diejenige Funktion y(x) im Intervall x1 < x < x2, mit<br />
den Randwerten<br />
y(x1) = y1, y(x2) = y2<br />
für die das Integral<br />
J[y] =<br />
x2<br />
x1<br />
dxF (y, y ′ , x) (5.50)<br />
stationär ist. Hierbei seien die Funktionen F (y, y ′ , x) und y(x) bezüglich ihrer Argumente<br />
zweimal stetig differenzierbar.<br />
Das Variationsproblem kann auf eine gewöhnliche Extremwertaufgabe <strong>zur</strong>ückgeführt<br />
werden. Hierzu sei vorausgesetzt, daß eine Lösung y(x) des Variationsproblems innerhalb<br />
einer vorgegebenen Funktionenklasse existiert. Die Vergleichsfunktionen in<br />
einer Nachbarschaft dieser Funktion seien<br />
y(x) = y(x) + δy(x), δy(x) = ɛη(x) . (5.51)<br />
wobei ɛ ein Parameter ist, der hinreichend klein gewählt werden kann. Man nennt<br />
δy eine Variation von y. Aufgrund der vorgegebenen Randwerte muß die Variation<br />
für alle Vergleichsfunktionen y am Rand verschwinden<br />
δy(x1) = δy(x2) = 0. (5.52)<br />
Mit diesem Ansatz ist J(ɛ) = J[y + ɛη] eine gewöhnliche Funktion der Variablen ɛ.<br />
In Analogie zum Differential einer Funktion bezeichnet man den Ausdruck<br />
δJ = J[y + δy] − J[y] = dJ(ɛ)<br />
<br />
<br />
ɛ (5.53)<br />
dɛ<br />
als die Variation von J.<br />
Funktionen bei denen die Variation von J verschwindet heißen stationäre Funktionen:<br />
ɛ=0<br />
y stationär ⇐⇒ δJ = 0. (5.54)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 99<br />
Eulersche Gleichung<br />
Die Variation δJ läßt sich berechnen, indem man bis <strong>zur</strong> linearen Ordnung in δy<br />
bzw. δy ′ entwickelt,<br />
δJ =<br />
=<br />
x2<br />
x1<br />
<br />
x1<br />
x2<br />
dxF (y + δy, y ′ + δy ′ , x) − F (y, y ′ , x)<br />
dx ∂F ∂F<br />
δy +<br />
∂y ∂y ′ δy′ . (5.55)<br />
Ein typischer Schritt der Variationsrechnung besteht nun darin, den zweiten Term<br />
partiell zu integrieren, so daß dieser ebenfalls proportional zu δy wird,<br />
δJ = ∂F<br />
<br />
<br />
δy<br />
∂y ′ <br />
x1<br />
x2<br />
x1<br />
+<br />
x2<br />
x1<br />
dx<br />
<br />
∂F d ∂F<br />
δy −<br />
∂y dx ∂y ′<br />
<br />
δy<br />
(5.56)<br />
Der Randterm verschwindet wegen der Randbedingung (5.52). Für stationäre Funktionen<br />
gilt<br />
x2<br />
<br />
∂F d ∂F<br />
δJ = dx −<br />
∂y dx ∂y ′<br />
<br />
η(x) = 0. (5.57)<br />
An dieser Stelle wird ein Hilfssatz der Variationsrechnung benötigt. Sei η(x) eine<br />
beliebige zweimal stetig differenzierbare Funktion. Dann gilt<br />
x2<br />
x1<br />
dx ϕ(x)η(x) = 0 =⇒ ϕ(x) = 0. (5.58)<br />
Zum Beweis nehmen wir an, es sei ϕ(x) = 0 für ξ1 < x < ξ2, wobei dieses Intervall<br />
beliebig klein sein kann. Wählt man dann für η(x) eine Funktion, die außerhalb<br />
dieses Intervalls verschwindet und innerhalb des Intervalls ungleich Null ist, z.B.<br />
<br />
(x − ξ1)<br />
η(x) =<br />
4 (x − ξ2) 4 ; ξ1 < x < ξ2<br />
0 ; sonst<br />
so ist das Integral ungleich Null im Widerspruch <strong>zur</strong> Voraussetzung. Daher gilt ϕ = 0<br />
im ganzen Intervall, x1 < x < x2.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 100<br />
Mit diesem Hilfssatz folgt aus (5.57) die Eulersche Differentialgleichung der Variationsrechnung<br />
<br />
d ∂F<br />
dx ∂y ′<br />
<br />
− ∂F<br />
∂y<br />
= 0. (5.59)<br />
Dies ist eine Differentialgleichung zweiter Ordnung für die gesuchte Funktion y(x).<br />
Die beiden Integrationskonstanten werden durch die Randbedingungen festgelegt.<br />
5.4.2 Hamiltonsches Prinzip<br />
Ein Vergleich der Lagrangegleichungen zweiter Art (5.39) mit der Eulerschen Differentialgleichung<br />
der Variationsrechnung (5.59) legt es nahe, daß die Lagrangegleichungen<br />
aus einem Variationsprinzip abgeleitet werden können. Dieses Variationsprinzip<br />
wird als Hamiltonsches Prinzip bezeichnet.<br />
Für ein physikalisches System mit der Lagrangefunktion L(q, ˙q, t) definiert man die<br />
Wirkung<br />
S[q] =<br />
t2<br />
t1<br />
dt L(q, ˙q, t) . (5.60)<br />
Die Wirkung ist ein Funktional der Bahn q(t), die in einem Zeitintervall t1 < t < t2<br />
zwischen einem Anfangspunkt q(t1) und einem Endpunkt q(t2) durchlaufen wird.<br />
Nach dem Hamiltonschen Prinzip ist die Wirkung für die tatsächlich durchlaufene<br />
Bahn stationär,<br />
δS[q] = 0 mit δq(t1) = δq(t2) = 0 . (5.61)<br />
Als Vergleichsfunktionen sind hier alle Bahnen zwischen dem Anfangspunkt q(t1)<br />
und dem Endpunkt q(t2) zugelassen. Da die Anfangs- und Endpunkte vorgegeben<br />
sind, verschwindet die Variation in diesen Randpunkten.<br />
Der Beweis des Hamiltonschen Prinzips beruht auf der oben dargestellten Variationsrechnung.<br />
Anstatt einer Funktion y(x) müssen nun die f Funktionen q1(t), · · · , qf(t)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 101<br />
variiert werden:<br />
δS = S[q + δq] − S[q]<br />
t2<br />
= dt {L(q + δq, ˙q + δ ˙q, t) − L(q, ˙q, t)}<br />
=<br />
=<br />
t1<br />
t2<br />
f<br />
<br />
∂L<br />
dt<br />
∂qn<br />
n=1<br />
t1<br />
⎧<br />
f ⎨ <br />
∂L <br />
δqn<br />
<br />
⎩∂<br />
˙qn<br />
n=1<br />
t2<br />
t1<br />
δqn + ∂L<br />
<br />
δ ˙qn<br />
∂ ˙qn<br />
+<br />
t2<br />
t1<br />
<br />
∂L<br />
dt −<br />
∂qn<br />
d<br />
dt<br />
⎫<br />
<br />
∂L<br />
⎬<br />
δqn = 0 . (5.62)<br />
∂ ˙qn ⎭<br />
Aufgrund der Randbedingungen δq(t1) = δq(t2) = 0 verschwindet der Randterm<br />
bei der partiellen Integration. Da die Variationen δqn(t) unabhängig voneinander<br />
gewählt werden können, muß jeder der f Summanden für sich allein verschwinden.<br />
Wegen (5.58) gilt dann<br />
d<br />
dt<br />
<br />
∂L<br />
∂ ˙qn<br />
− ∂L<br />
∂qn<br />
= 0, n = 1, · · · , f . (5.63)<br />
Die Eulerschen Differentialgleichungen des Hamiltonschen Variationsprinzips sind<br />
also genau die Lagrangegleichungen der <strong>Mechanik</strong>.<br />
Eichtransformationen<br />
Die Lagrangefunktion eines mechanischen Systems ist nicht eindeutig. Multipliziert<br />
man die Lagrangefunktionen L mit einem konstanten Faktor c, so führt die neue<br />
Lagrangefunktion L ′ = cL auf dieselben Bewegungsgleichungen. Dasselbe gilt bei<br />
Addition einer Konstanten, L ′ = L + c. Diese Lagrangefunktionen sind also völlig<br />
gleichwertig.<br />
Unter einer Eichtransformation versteht man eine allgemeinere Transformation<br />
L ′ = L + d<br />
f(q, t), (5.64)<br />
dt<br />
der Lagrangefunktion. Die neue Lagrangefunktion L ′ unterscheidet sich dabei von<br />
der alten Lagrangefunktion L durch eine totale Zeitableitung einer beliebigen Funktion<br />
f(q, t). Beide Lagrangefunktionen sind gleichwertig. Man sagt auch, die Lagrangefunktion<br />
ist nur bis auf eine totale Zeitableitung bestimmt.<br />
Der Beweis der Gleichwertigkeit der Lagrangefunktionen bei Eichtransformationen<br />
ist eine einfache Folgerung aus dem Hamiltonschen Prinzip. Wegen<br />
δS ′ <br />
− δS = δ<br />
t1<br />
t2<br />
dt df<br />
dt<br />
<br />
<br />
= δf(q, t) <br />
<br />
t2<br />
t1<br />
=<br />
f<br />
<br />
∂f <br />
δqn<br />
∂qn<br />
n=1<br />
t2<br />
t1<br />
= 0,
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 102<br />
führt die Variation der Wirkung in beiden Fällen zum selben Ergebnis. Hierbei<br />
wurde verwendet, daß die Variation in den Endpunkten der Bahn verschwindet.<br />
Galileitransformation als Eichtransformation<br />
Bei einer Galileitransformation mit einer konstanten Geschwindigkeit u<br />
erhält man aus der Lagrangefunktion<br />
L =<br />
die neue Lagrangefunktion<br />
L ′ =<br />
v ′ i = vi − u, r ′ i = r − ut<br />
N<br />
i=1<br />
N<br />
i=1<br />
= L + d<br />
dt<br />
1<br />
2 miv 2 i −<br />
1 ′2<br />
miv i −<br />
2<br />
i=1<br />
N i−1<br />
U(ri − rj)<br />
i=2<br />
j=1<br />
N i−1<br />
i=2<br />
j=1<br />
U(r ′ i − r ′ j)<br />
N<br />
<br />
−mivi·u + 1<br />
2 miu 2 <br />
t .<br />
Die Lagrangefunktion im neuen Inertialsystem unterscheidet sich also von der<br />
Lagrangefunktion im alten Inertialsystem durch eine Eichtransformation.<br />
Eichtransformation der elektromagnetischen Potentiale<br />
In der Elektrodynamik können die elektrischen und magnetischen Felder aus einem<br />
Vektorpotential A(r, t) und einem skalaren Potential φ(r, t) in folgender Weise abgeleitet<br />
werden,<br />
E = − 1<br />
c ∂tA − ∇φ, B = ∇ × A.<br />
Hierbei ist c die Lichtgeschwindigkeit und wir verwenden das Gaußsche Maßsystem.<br />
Die Potentiale sind nicht eindeutig. Bei einer Transformation<br />
A ′ = A + ∇χ(r, t), φ ′ = φ − 1<br />
c ∂tχ(r, t)<br />
mit einer beliebigen Funktion χ(r, t) bleiben die Felder E und B invariant. Man<br />
nennt diese Transformationen Eichtransformationen der Potentiale. Die Lagrangefunktion<br />
einer Ladung q im elektromagnetischen Feld ist<br />
L = 1<br />
2 mv2 − q(φ − 1<br />
v · A). (5.65)<br />
c
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 103<br />
Einer Eichtransformation der Potentiale entspricht eine Eichtransformation der Lagrangefunktion,<br />
L ′ = 1<br />
2 mv2 <br />
− q φ ′ − 1<br />
<br />
v · A′<br />
c<br />
= 1<br />
2 mv2 <br />
− q φ − 1<br />
c ∂tχ(r, t) − 1<br />
<br />
1<br />
v · A − v·∇χ(r, t)<br />
c c<br />
= L + d<br />
<br />
q<br />
<br />
χ(r, t) .<br />
dt c<br />
5.5 Symmetrien und Erhaltungsgrößen<br />
Aus dem Hamiltonschen Prinzip folgt ein allgemeiner Zusammenhang zwischen Symmetrien<br />
und Erhaltungsgrößen. Er wurde von der Mathematikerin Emmy Noether<br />
abgeleitet und wird als Noether-Theorem bezeichnet.<br />
Punkttransformationen<br />
Beim Noether-Theorem betrachtet man Symmetrien gegenüber einer Klasse einparametriger<br />
infinitesimaler Punkttransformationen,<br />
q ′ = q + ɛψ(q, ˙q, t), t ′ = t + ɛφ(q, ˙q, t). (5.66)<br />
Hierbei bezeichnet ψ = (ψ1, · · · , ψf) eine Transformation der verallgemeinerten Koordinaten,<br />
φ eine Transformation der Zeit und ɛ einen infinitesimal kleinen Parameter.<br />
Invarianzbedingung<br />
Die Wirkung des Systems als Funktion der neuen Koordinaten sei<br />
S ′ =<br />
t ′ 2<br />
t ′ 1<br />
dt ′ L(q ′ , ˙q ′ , t ′ ).<br />
mit einer Lagrangefunktion L ′ = L(q ′ , ˙q ′ , t ′ ). Für ɛ = 0 ergibt sich die identische<br />
Abbildung. Die Lagrangefunktion des Systems als Funktion der alten Koordinaten<br />
ist daher,<br />
L = L(q ′ , ˙q ′ , t ′ ) ɛ=0 = L(q, ˙q, t).
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 104<br />
Ersetzt man in der Wirkung die Integrationsvariable t ′ durch t und entwickelt um<br />
die Stelle ɛ = 0 bis <strong>zur</strong> linearen Ordnung in ɛ, so folgt<br />
S ′ =<br />
t2<br />
t1<br />
′ dt<br />
dt<br />
dt L(q′ , ˙q ′ , t ′ <br />
) = S + ɛ<br />
t2<br />
t1<br />
dt d<br />
′ dt<br />
dɛ dt L(q′ , ˙q ′ , t ′ <br />
ɛ=0<br />
) ,<br />
wobei S die Wirkung in den alten Koordinaten bezeichnet. Eine Symmetrie des Systems<br />
gegenüber einer infinitesimalen Punkttransformationen liegt dann vor, wenn<br />
die Transformation nur zu einer ”Umeichung” der Lagrangefunktion führt. In diesem<br />
Fall gilt für den Zusatzterm in der Wirkung S ′<br />
′ d dt<br />
dɛ dt L(q′ , ˙q ′ , t ′ <br />
ɛ=0<br />
) = d<br />
f(q, t). (5.67)<br />
dt<br />
Die Invarianzbedingung (5.67) ist der formale Ausdruck für eine Symmetrie des<br />
durch die Lagrangefunktion L beschriebenen Systems gegenüber der Punkttransformation<br />
(5.66).<br />
Erhaltungsgrößen<br />
Das Noether-Theorem kann nun in der folgenden Form angegeben werden. Für jede<br />
einparametrige infinitesimale Punkttransformation (5.66), die einer Invarianzbedingung<br />
der Form (5.67) genügt, gibt es eine Erhaltungsgröße. Diese lautet<br />
I =<br />
f<br />
n=1<br />
<br />
∂L<br />
ψn + L −<br />
∂ ˙qn<br />
f<br />
n=1<br />
<br />
∂L<br />
˙qn<br />
∂ ˙qn<br />
φ − f(q, t) . (5.68)<br />
Als Beispiele betrachten wir die Energie-, Impuls- und Drehimpulserhaltung. Die<br />
Energieerhaltung folgt aus der Homogenität der Zeit. Für eine infinitesimale Zeittranslation,<br />
t ′ = t + ɛ, ist ψ = 0 und φ = 1. Hängt die Lagrangefunktion nicht<br />
explizit von der Zeit ab, so ist die Invarianzbedingung (5.67) mit f = 0 erfüllt.<br />
Dann entspricht der Erhaltungsgröße (5.68) die Energie,<br />
E =<br />
f<br />
n=1<br />
∂L<br />
˙qn − L.<br />
∂ ˙qn<br />
Die Impulserhaltung folgt aus der Homogenität des Raumes. Für eine infinitesimale<br />
räumliche Translation, q ′ n = qn + ɛ, ist ψn = 1 und φ = 0. Hängt die Lagrangefunktion<br />
nicht explizit von der Koordinate qn ab, so ist (5.67) mit f = 0 erfüllt. Dann
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 105<br />
entspricht der Erhaltungsgröße (5.68) der Impuls,<br />
pn = ∂L<br />
.<br />
∂ ˙qn<br />
Die Drehimpulserhaltung folgt aus der Isotropie des Raumes. Bei einer infinitesimalen<br />
Drehung um eine Drehachse n ändern sich die Ortsvektoren aller Teilchen<br />
gemäß r ′ i = ri + ɛn×ri. Für diese Transformation ist ψi = n×ri und φ = 0. Aus<br />
der Invarianz von L mit f = 0 folgt die Erhaltungsgröße<br />
N<br />
N<br />
<br />
∂L<br />
· (n×ri) = n· ri×<br />
∂ ˙ri<br />
∂L<br />
<br />
.<br />
∂ ˙ri<br />
i=1<br />
Dies ist die Komponente des Drehimpulses in Richtung der Drehachse n.<br />
Beweis des Noether-Theorems<br />
Aus der Zeittransformation in (5.66) folgt<br />
dt ′<br />
= 1 + ɛdφ<br />
(5.69)<br />
dt dt<br />
In linearer Ordnung in ɛ erhält man für die Transformation der verallgemeinerten<br />
Geschwindigkeiten<br />
˙q ′ n = dq′ n<br />
dt ′ = dq′ n<br />
dt<br />
i=1<br />
dt<br />
dt ′<br />
=<br />
<br />
dqn<br />
+ ɛdψn 1 − ɛ<br />
dt dt<br />
dφ<br />
=<br />
<br />
dt<br />
<br />
dψn dφ<br />
˙qn + ɛ − ˙qn .<br />
dt dt<br />
(5.70)<br />
Die linke Seite von (5.67) ergibt<br />
′ d dt<br />
dɛ dt L′<br />
<br />
ɛ=0<br />
= dL′<br />
<br />
<br />
<br />
dɛ + L<br />
ɛ=0<br />
dφ<br />
dt<br />
f ∂L<br />
= ψn +<br />
∂qn n=1<br />
∂L<br />
<br />
dψn dφ<br />
− ˙qn +<br />
∂ ˙qn dt dt<br />
∂L<br />
φ + Ldφ<br />
∂t dt<br />
f<br />
<br />
d ∂L<br />
=<br />
ψn +<br />
dt ∂ ˙qn<br />
n=1<br />
∂L<br />
<br />
f<br />
<br />
dψn<br />
∂L dφ ∂L<br />
+ L − ˙qn +<br />
∂ ˙qn dt<br />
∂ ˙qn dt ∂t<br />
n=1<br />
φ<br />
= d<br />
<br />
f<br />
<br />
∂L<br />
ψn +<br />
dt ∂ ˙qn<br />
d<br />
<br />
f<br />
<br />
∂L<br />
L − ˙qn φ . (5.71)<br />
dt<br />
∂ ˙qn<br />
n=1<br />
In der dritten Zeile wurden die Lagrangegleichungen (5.63), in der vierten der Energiesatz<br />
(5.43) verwendet. Mit diesem Ausdruck ergibt die Integration von (5.67) die<br />
Erhaltungsgröße (5.68).<br />
n=1
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 106<br />
5.6 Schwingungen<br />
Gegeben sei ein konservatives System mit f Freiheitsgraden, das sich in einem stabilen<br />
Gleichgewicht befindet. Bei kleinen Auslenkungen der Massenpunkte aus ihrer<br />
Gleichgewichtslage führt das System Schwingungen aus. Diese können als Überlagerung<br />
von Normalmoden dargestellt werden, denen jeweils eine charakteristische<br />
Schwingungsfrequenz zugeordnet ist.<br />
5.6.1 Entwicklung um die Gleichgewichtslage<br />
Sei ξ = q − q0 eine Auslenkung des Systems aus der Gleichgewichtslage q0. Wir<br />
wählen diese Auslenkungen als verallgemeinerte Koordinaten und entwickeln die<br />
kinetische und die potentielle Energie bis <strong>zur</strong> quadratischen Ordnung in ξ.<br />
Die kinetische Energie eines konservativen Systems besitzt die Form (5.45). Da im<br />
Gleichgewicht ˙q0 = 0 gilt, ist ˙q = ˙ ξ. In quadratischer Ordnung ergibt sich für die<br />
kinetische Energie der Ausdruck<br />
T = 1<br />
2<br />
f<br />
n,m=1<br />
µnm ˙ ξn ˙ ξm mit µnm = <br />
i<br />
mi<br />
<br />
∂xi ∂xi q=q0<br />
.<br />
∂qn ∂qm<br />
Da das Produkt der Geschwindigkeiten bereits von quadratischer Ordnung ist, kann<br />
µnm im Gleichgewicht ausgewertet werden. In dieser Näherung ist µnm eine konstante<br />
Matrix. Diese ist symmetrisch laut Definition und positiv definit, da die kinetische<br />
Energie für ˙ ξ = 0 positiv ist.<br />
Im stabilen Gleichgewicht besitzt die potentielle Energie U = U(q) ein Minimum,<br />
d.h. es gilt<br />
n,m=1<br />
<br />
∂U <br />
<br />
∂qn<br />
q=q0<br />
= 0.<br />
Die Entwicklung der potentiellen Energie lautet daher<br />
U = U(q0) + 1<br />
2<br />
f<br />
knm ξnξm mit knm = ∂2 <br />
U <br />
<br />
∂qn∂qm<br />
q=q0<br />
Ohne Einschränkung kann U(q0) = 0 gewählt werden, da die Bewegungsgleichungen<br />
nicht von einer additiven Konstante in der Lagrangefunktion abhängen. Die Matrix<br />
knm ist definitionsgemäß symmetrisch und positiv definit, da die potentielle Energie<br />
nach Voraussetzung im Gleichgewicht ein Minimum annimmt.<br />
Damit erhält man in quadratischer Ordnung die Lagrangefunktion<br />
L(ξ, ˙ ξ) = 1<br />
2<br />
f <br />
µnm ˙ ξn ˙ <br />
ξm − knm ξnξm . (5.72)<br />
n=1<br />
.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 107<br />
Zur Aufstellung der Lagrangegleichungen berechnen wir zuerst das totale Differential<br />
von L unter Berücksichtigung der Symmetrie von µnm und knm,<br />
dL = 1<br />
f <br />
µnm d<br />
2<br />
˙ ξn ˙ ξm + ˙ ξnd ˙ <br />
ξm − knm (dξnξm + ξndξm)<br />
= 1<br />
2<br />
=<br />
n,m=1<br />
f<br />
n,m=1<br />
(µnm + µmn) ˙ ξmd ˙ ξn − (knm + kmn) ξmdξn<br />
f<br />
µnm ˙ ξmd ˙ ξn − knmξmdξn.<br />
n=1<br />
Daraus erhält man für die verallgemeinerten Impulse und Kräfte<br />
∂L<br />
∂ ˙ ξn<br />
=<br />
f<br />
µnm<br />
m=1<br />
˙ ξm<br />
∂L<br />
∂ξn<br />
=<br />
f<br />
− knmξm.<br />
5.6.2 Schwingungsgleichung<br />
Die zugehörigen Lagrangegleichungen stellen ein Gleichngssystem von f gekoppelten<br />
linearen Oszillatoren dar,<br />
f<br />
In Vektornotation gilt<br />
m=1<br />
m=1<br />
µnm ¨ ξm + knmξm = 0 (5.73)<br />
µ · ¨ ξ + k · ξ = 0. (5.74)<br />
Die Bewegungsgleichungen (5.74) bilden ein Differentialgleichungessystem mit konstanten<br />
Koeffizienten, das durch einen Exponentialansatz,<br />
ξ = Ae −iωt , (5.75)<br />
gelöst werden kann. Mit diesem Lösungsansatz folgt ein homogenes algebraisches<br />
Gleichungssystem k − ω 2 µ · A = 0. (5.76)<br />
Nichtverschwindende Lösungen existieren nur für bestimmte Werte von ω 2 die durch<br />
die Lösbarkeitsbedingung des linearen Gleichungssystems<br />
D(ω 2 ) = det k − ω 2 µ = 0 (5.77)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 108<br />
bestimmt werden. Hierbei ist D(λ) ein Polynom vom Grad f, das f komplexe Nullstellen<br />
besitzt. Diese seien<br />
λk, k = 1, · · · , f .<br />
Treten Mehrfachnullstellen auf, so sind einige der λk gleich. Zu einer r-fachen Nullstelle<br />
bestimmt das Gleichungessystem<br />
(k − λkµ) · A (k) = 0 (5.78)<br />
einen r-dimensionalen Lösungsraum, d.h. r der Komponenten von A (k) können beliebig<br />
gewählt werden, die restlichen Komponenten sind dann durch das Gleichungssystem<br />
eindeutig bestimmt. Insgesamt findet man auf diese Weise f Lösungsvektoren<br />
A (k) .<br />
Eigenfrequenzen<br />
Zu jeder Nullstelle λk gibt es eine Frequenz ωk = √ λk. Diese werden auch als<br />
Eigenfrequenzen bezeichnet. Wir zeigen, daß die Eigenfrequenzen für ein stabiles<br />
Gleichgewicht reell sind.<br />
Im allgemeinen besitzt ein Polynom komplexe Nullstellen. Aus der Symmetrie der<br />
Matrizen folgt jedoch, daß die Nullstellen λk reell sind. Um dies zu zeigen, nehmen<br />
wir zunächst an, es gäbe eine komplexe Nullstelle λ und einen zugehörigen komplexen<br />
Lösungsvektor A. Durch skalare Multiplikation von (5.78) mit A ∗ erhält man<br />
Die konjugiert komplexe Gleichung ist<br />
λ = A∗ · k · A<br />
A ∗ · µ · A .<br />
λ ∗ = (A∗ · k · A) ∗<br />
(A ∗ · µ · A) ∗<br />
Für eine hermitesche Matrix, Mmn = M ∗ nm, ist<br />
(A ∗ · M · A) ∗ = A · M ∗ · A ∗ = A ∗ · M · A<br />
reell. Die reellen symmetrischen Matrizen µmn und kmn sind auch hermitesch. Daraus<br />
folgt λ ∗ = λ, so daß λ tatsächlich reell ist. Damit können auch die Lösungsvektoren<br />
A reell gewählt werden. Da die Matrizen außerdem positiv definit sind, folgt sogar,<br />
daß alle Nullstellen positiv sind. Daher können auch die Eigenfrequenzen ωk reell<br />
und positiv gewählt werden.<br />
Eine Sonderrolle spielt die doppelte Nullstelle ω 2 k = 0. Wegen ¨ ξ = −ω 2 ξ entspricht<br />
diese Lösung einer gleichförmigen Bewegung<br />
ξ = ξ0 + ˙ ξ0t.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 109<br />
Normalmoden<br />
Die Lösungen der Schwingungsgleichung für ωk > 0 besitzen die Form<br />
ξ (k) = A (k) ℜ Cke −iωkt = A (k) Bk cos(ωkt + αk), (5.79)<br />
wobei Ck = Bke −iαk eine komplexe Integrationskonstante darstellt und die Lösungsvektoren<br />
A (k) durch eine Normierungsvorschrift<br />
A (k) · µ · A (l) = δkl<br />
(5.80)<br />
festgelegt wurden. Dies sind Schwingungen mit genau einer Eigenfrequenzen, die als<br />
Normalmoden bezeichnet werden.<br />
Die allgemeine Lösung des linearen Gleichungssystems ist eine Superposition aller<br />
Normalmoden,<br />
f<br />
ξ = A (k) Bk cos(ωkt + αk) . (5.81)<br />
k=1<br />
Die hierbei auftretenden 2f Integrationskonstanten werden durch die Anfangsbedingungen<br />
ξ(0) = ξ0 und ˙ ξ(0) = ˙ ξ0 bestimmt.<br />
5.7 Starrer Körper<br />
5.7.1 Freiheitsgrade<br />
Ein Körper wird als starrer Körper bezeichnet, wenn alle Punkte der Massenverteilung<br />
feste Relativabstände zueinander besitzen. Die Massenverteilung kann<br />
punktförmig oder kontinuierlich vorgegeben sein.<br />
Ein Punkt Pν eines starren Körpers kann in einem Inertialsystem S durch den Ortsvektor<br />
(5.82)<br />
rν,S = r0 + rν<br />
dargestellt werden. Hierbei bezeichnet r0 einen beliebigen Bezugspunkt im starren<br />
Körper, der den Ursprung eines körperfesten Bezugssystems K bildet. Der Ortsvektor<br />
von Pν im körperfesten System ist rν. Die Basisvektoren und die Koordinaten<br />
in den beiden Bezugssystemen werden durch folgende Notation unterschieden:<br />
S : rS = x(t)ex + y(t)ey + z(t)ez,<br />
K : r = x1e1(t) + x2e2(t) + x3e3(t).<br />
Ein starrer Körper besitzt 6 Freiheitsgrade, drei Freiheitsgrade der Translation und<br />
drei Freiheitsgrade der Rotation. Die Lage seiner Punkte kann dementsprechend<br />
durch die 3 Komponenten des Bezugspunktes und durch die 3 Winkel der Drehung<br />
von K relativ zu S angegeben werden.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 110<br />
5.7.2 Eulersche Winkel<br />
Die Drehung von K relativ zu S kann durch die drei Eulerwinkel φ, θ und ψ angegeben<br />
werden, die durch die folgenden drei aufeinanderfolgenden Drehungen definiert<br />
sind. Die xy Ebene von S schneidet die x1x2 Ebene von K entlang einer Geraden, die<br />
als Knotenlinie bezeichnet wird. Die erste Drehung ist eine Drehung um die z-Achse<br />
um den Winkel φ, so daß die x-Achse mit der Knotenlinie <strong>zur</strong> Deckung gebracht<br />
wird. Der Einheitsvektor der gedrehten x-Achse zeigt entlang der Knotenlinie und<br />
wird mit eK bezeichnet. Die zweite Drehung ist eine Drehung um die Knotenlinie<br />
um den Winkel θ, so daß die z-Achse mit der x3-Achse <strong>zur</strong> Deckung kommt. Bei<br />
der dritten Drehung um die x3-Achse um den Winkel ψ wird schließlich die x-Achse<br />
von der Knotenlinie bis <strong>zur</strong> x1-Achse gedreht. Damit sind die Achsen von S in die<br />
Achsen von K überführt worden.<br />
Die Einheitsvektoren der drei Drehachsen besitzen im körperfesten System die Darstellung<br />
nφ = ez = sin θ sin ψe1 + sin θ cos ψe2 + cos θe3<br />
nθ = eK = cos ψe1 − sin ψe2 (5.83)<br />
nψ = e3<br />
5.7.3 Winkelgeschwindigkeit<br />
Die Geschwindigkeit eines Punktes Pν ist<br />
Abbildung 5.7: Eulerwinkel<br />
vν,S = v0 + ω × r ν . (5.84)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 111<br />
Der erste Term bezeichnet die Geschwindigkeit des Bezugspunktes, der zweite die<br />
Geschwindigkeit der Drehung um den Bezugspunkt. Die Komponenten der vektoriellen<br />
Winkelgeschwindigkeit ω im körperfesten System werden mit<br />
ω = pe1 + qe2 + re3. (5.85)<br />
bezeichnet. Sie können in folgender Weise durch die Euler-Winkel ausgedrückt werden.<br />
Die infinitesimale Drehung um dϕ = ωdt im Zeitintervall dt kann additiv aus<br />
den Drehungen um die drei Eulerwinkel zusammengesetzt werden,<br />
ω = ˙ φnφ + ˙ θnθ + ˙ ψnψ. (5.86)<br />
Die hierbei angenommene Additivität infinitesimaler Drehungen zeigt man wie folgt:<br />
dr1 = ω1×rdt<br />
dr2 = ω2×(r + dr1)dt = ω2×rdt<br />
dr = dr1 + dr2 = (ω1 + ω2)×rdt = ω×rdt<br />
ω = ω1 + ω2. (5.87)<br />
Die Komponenten von ω in K berechnen sich damit zu<br />
5.7.4 Trägheitstensor<br />
Kinetische Energie<br />
p = ω · e1 = ˙ φ sin θ sin ψ + ˙ θ cos ψ<br />
q = ω · e2 = ˙ φ sin θ cos ψ − ˙ θ sin ψ (5.88)<br />
r = ω · e3 = ˙ φ cos θ + ˙ ψ<br />
Die kinetischen Energie des starren Körpers kann durch Momente der Massenverteilung,<br />
die Gesamtmasse M, den Schwerpunkt R, und den Trägheitstensor<br />
ausgedrückt werden. Man findet<br />
Θ = <br />
ν<br />
mν<br />
<br />
2<br />
rνI − rνrν<br />
(5.89)<br />
T = 1<br />
2 Mv2 0 + 1<br />
2 ω·Θ · ω + ω·(R×Mv0). (5.90)<br />
Der erste Anteil ist die Translationsenergie des Bezugspunktes, der zweite die Rotationsenergie<br />
um den Bezugspunkt. Als neue Größe tritt hierbei der Trägheitstensor
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 112<br />
auf. Der dritte Anteil ist ein Mischterm. Er verschwindet, wenn entweder der Bezugspunkt<br />
ruht (v0 = 0) oder wenn der Schwerpunkt als Bezugspunkt gewählt wird<br />
(R = 0).<br />
Zur Herleitung dieses Ergebnisses summiert man die kinetischen Energien der einzelnen<br />
Massenpunkte mit den Geschwindigkeiten (5.84),<br />
T = 1<br />
2<br />
= 1<br />
2<br />
<br />
mν(v0 + ω × rν) 2<br />
ν<br />
<br />
ν<br />
mν<br />
v 2 0 + 2v0·(ω × r ν) + (ω × r ν) 2<br />
= 1<br />
2 Mv2 0 + ω·(R×Mv0) + 1<br />
2<br />
<br />
mν(ω × rν) 2 .<br />
Der letzte Term stellt die Rotationsenergie dar. Sie kann auf folgende Weise umgeformt<br />
werden,<br />
Trot = 1<br />
2<br />
= 1<br />
2<br />
= 1<br />
2<br />
<br />
mν(ω × rν)·(ω × rν) ν<br />
<br />
mνω· {rν× (ω × rν))} ν<br />
<br />
ν<br />
= 1<br />
2 ω·<br />
mνω· r 2 <br />
νω − (ω · rν) rν<br />
<br />
Der in Klammern stehende Ausdruck ist der Trägheitstensor.<br />
ν<br />
mν<br />
Koordinatendarstellung des Trägheitstensors<br />
ν<br />
2<br />
rνI − rνrν<br />
<br />
·ω. (5.91)<br />
Definiert man die Koordinaten des Punktes Pν durch x ν i = rν·ei, so lautet die<br />
Komponentendarstellung des Trägheitstensors<br />
Θik = ei·Θ · ek = <br />
ν<br />
mν<br />
2<br />
rνδik − x ν i x ν k<br />
Die entsprechende Darstellung der Rotationsenergie lautet<br />
Trot = 1<br />
2<br />
3<br />
i,k=1<br />
Θikωiωk<br />
(5.92)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 113<br />
Für eine kontinuierliche Massenverteilung mit der Massendichte γ(r) kann die Summation<br />
durch eine Integration ersetzt werden,<br />
<br />
<br />
M = dV γ(r), Θik = dV γ(r) r 2 <br />
δik − xixk . (5.93)<br />
Trägheitsmomente<br />
Eine einfachere Darstellung erhält man, indem man die Drehachse n als eine Koordinatenachse<br />
wählt. Hier gilt<br />
Trot = 1<br />
2 Θnnω 2 , Θnn = n · Θ · n, ω = ωn.<br />
Hierbei wird Θnn als das Trägheitsmoment des starren Körpers bezüglich der Drehachse<br />
n bezeichnet. Es kann nach der Formel<br />
Θnn = <br />
mν(n × rν) 2 = <br />
ν<br />
ν<br />
mνr 2 ν sin 2 ϑν<br />
berechnet werden, wobei ϑν den Winkel zwischen rν und n bezeichnet.<br />
Hauptträgheitsmomente<br />
Der Trägheitstensor ist symmetrisch und besitzt daher in einem beliebigen Koordinatensystem<br />
6 unabhängige Elemente. Eine symmetrische Matrix kann durch eine<br />
Drehung der Koordinatenachsen immer auf Diagonalform gebracht werden. Dieses<br />
Koordinatensystem heißt Hauptachsensystem des Trägheitstensors, die Diagonalelemente<br />
der Matrix sind die Hauptträgheitsmomente. Die Hauptachsen xi und die<br />
zugehörigen Hauptträgheitsmomente Θi findet man als Lösungen des Eigenwertproblems<br />
Θ · xi = Θixi, det |Θik − Θiδik| = 0. (5.94)<br />
Sind allle Hauptträgheitsmomente verschieden, so nennt man den starren Körper<br />
einen unsymmetrischen Kreisel. Sind zwei Hauptträgheitsmomente gleich, so handelt<br />
es sich um einen symmetrischen Kreisel. Sind alle drei Hauptträgheitsmomente<br />
gleich, so spricht man von einem Kugelkreisel.<br />
Drehimpuls<br />
Der Drehimpuls des starren Körpers um den Bezugspunkt r0 kann ebenfalls mit<br />
Hilfe des Trägheitstensors angegeben werden,<br />
L = R×Mv0 + Θ · ω. (5.95)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 114<br />
Der erste Term verschwindet, wenn der Bezugspunkt ruht oder wenn der Schwerpunkt<br />
als Bezugspunkt gewählt wird. Unter diesen Voraussetzungen gilt<br />
L = Θ · ω. (5.96)<br />
Der Trägheitstensor ist eine lineare Abbildung der Winkelgeschwindigkeit auf den<br />
Drehimpuls. Nur bei Drehungen um eine Hauptträgheitsachse ist L parallel zu ω.<br />
Zur Herleitung von (5.95) summiert man wieder die Einzeldrehimpulse,<br />
L = <br />
rν×mν(v0 + ω × rν) ν<br />
= <br />
(mνrν)×v0 + mνrν×(ω × rν) ν<br />
= R×Mv0 +<br />
<br />
ν<br />
mν<br />
5.7.5 Eulersche Kreiselgleichungen<br />
2<br />
rν − rνrν<br />
<br />
·ω. (5.97)<br />
Die Änderungen des Gesamtimpulses P und des Gesamtdrehimpulses L eines starren<br />
Körpers genügen im Inertialsystem S den Gleichungen<br />
Hierbei bezeichen<br />
d<br />
P = F ,<br />
dt<br />
F = <br />
F e<br />
ν, N = <br />
ν<br />
d<br />
L = N. (5.98)<br />
dt<br />
ν<br />
rS,ν×F e<br />
ν<br />
(5.99)<br />
die Summe der äußeren Kräfte bzw. Drehmomente. Wir beschränken uns auf den<br />
Fall, in dem die von außen einwirkende Gesamtkraft verschwindet, so daß<br />
F = 0, N = <br />
(r0 + rν)×F e<br />
ν = <br />
ν<br />
ν<br />
rν×F e<br />
ν<br />
gesetzt werden kann. Damit ist der Gesamtimpuls erhalten. Das Drehmoment kann<br />
wie angegeben auf das körperfeste System bezogen werden.<br />
Zur Vereinfachung des Drehimpulssatzes sei der Bezugspunkt so gewählt, daß für<br />
den Drehimpuls (5.96) gilt. Die Achsen des körperfesten Bezugssystems können noch<br />
so gewählt werden, daß das körperfeste System ein Hauptachsensystem darstellt. Die
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 115<br />
Transformation der Drehimpulsänderung auf das körperfeste System ergibt dann,<br />
<br />
dL<br />
<br />
dt <br />
S<br />
= dL<br />
=<br />
<br />
<br />
<br />
dt + ω × L<br />
K <br />
dω K<br />
Θ· + ω× (Θ · ω)<br />
dt<br />
(5.100)<br />
In Komponentenschreibweise lautet das Gleichungssystem<br />
Θ1 ˙p + (Θ3 − Θ2)qr = N1<br />
Θ2 ˙q + (Θ1 − Θ3)pr = N2 (5.101)<br />
Θ3 ˙r + (Θ2 − Θ1)pq = N3.<br />
Hierbei sind die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit durch (5.88) und die<br />
Hauptträgheitsmomente durch (5.94) definiert. Diese Gleichungen werden als Eulersche<br />
Kreiselgleichungen bezeichnet. Sie bestimmen die Eulerwinkel und damit die<br />
Orientierung des starren Körper als Funktion der Zeit.<br />
5.7.6 Kräftefreie Bewegung<br />
Bei der Diskussion der Eulerschen Kreiselgleichungen beschränken wir uns auf den<br />
kräftefreien Fall. Hier verschwindet das Drehmoment N auf der rechten Seite von<br />
(5.101).<br />
Gleichförmige Rotation eines unsymmetrischen Kreisels<br />
Wir untersuchen zuerst unter welchen Bedingungen ein unsymmetrischer Kreisel um<br />
eine körperfeste Achse gleichförmig rotieren kann. Unter der Voraussetzung ˙ω = 0<br />
folgt aus (5.100), daß der Drehimpuls parallel <strong>zur</strong> Winkelgeschwindigkeit gerichtet<br />
sein muß,<br />
L = Θ · ω = Θiω<br />
Dies ist die Bedingung für eine Hauptträgheitsachse. Somit sind gleichförmige Rotationen<br />
nur um Hauptträgheitsachsen möglich.<br />
Die Drehachse sei nun nahezu parallel zu einer Hauptträgheitsachse. Ohne Einschränkung<br />
sei dies die Achse mit dem Hauptträgheitsmoment Θ1, so daß q
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 116<br />
Aus der ersten Gleichung folgt, daß p = p0 als konstant angenommen werden kann.<br />
Aus den beiden anderen Gleichungen erhält man die Schwingungsgleichungen<br />
¨q + Hq = 0, ¨r + Hr = 0, H = (Θ1 − Θ3)(Θ1 − Θ2)<br />
p 2 0.<br />
Θ2Θ3<br />
Für H > 0 ist die Drehung um die Hauptträgheitsachse stabil, für H < 0 instabil.<br />
Stabile Drehungen erfolgen daher um die Hauptträgheitsachsen mit dem kleinsten<br />
und dem größten Trägheitsmoment. Die Drehung um die Hauptträgheitsachse mit<br />
dem mittleren Trägheitsmoment ist instabil.<br />
Symmetrischer Kreisel<br />
Gegeben sei nun ein symmetrischer Kreisel mit der Symmetrieachse x3. Die Symmetrieachse<br />
wird als Figurenachse bezeichnet. Setzt man<br />
Θ1 = Θ2, w = (Θ1 − Θ3)<br />
so reduzieren sich die Bewegungsgleichungen (5.101) auf die Form<br />
˙p − wqr = 0<br />
Θ1<br />
˙q + wpr = 0 (5.103)<br />
˙r = 0.<br />
Die Lösung bestimmt die Komponenten der Winkelgeschwindigkeit im körperfesten<br />
System,<br />
p = ˙ φ sin θ sin ψ + ˙ θ cos ψ = a sin(wt + ψ0),<br />
q = ˙ φ sin θ cos ψ − ˙ θ sin ψ = ˙p<br />
w = a cos(wt + ψ0), (5.104)<br />
r = ˙ φ cos θ + ˙ ψ = r0,<br />
mit Integrationskonstanten a, ψ0 und r0. Die Winkelgeschwindigkeit ω bildet einen<br />
festen Winkel γ mit der Figurenachse, der durch tan γ = a/r0 bestimmt ist. Dabei<br />
läuft sie auf einem Kegel, dem Polkegel, um die Figurenachse um.<br />
Im Inertialsystem ist der Drehimpuls erhalten. Wählt man die z- Achse des Inertialsystems<br />
in Richtung des Drehimpulsvektors, so gilt L = L0ez. Die Komponenten<br />
von L im körperfesten System sind dann<br />
⎛<br />
⎝<br />
L1<br />
L2<br />
L3<br />
⎞ ⎛ ⎞ ⎛<br />
ez·e1<br />
⎠ = L0 ⎝ ez·e2 ⎠ = L0 ⎝<br />
ez·e3<br />
sin θ sin ψ<br />
sin θ cos ψ<br />
cos θ<br />
⎞<br />
⎛<br />
⎠ = ⎝<br />
θ1p<br />
θ2q<br />
θ3r<br />
⎞<br />
⎠ . (5.105)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 117<br />
Abbildung 5.8: Präzession<br />
eines kräftefreien symmetrischen<br />
Kreisels.<br />
Wegen θ3r0 = const folgt aus der dritten Komponente L3 = L0 cos θ = θ3r0, daß der<br />
Eulerwinkel<br />
θ = θ0<br />
konstant ist. Daher läuft die Figurenachse auf einem Kegel mit Öffnungswinkel 2θ0<br />
um die raumfeste Drehimpulsachse um. Dieser Kegel wird als Präzessionskegel bezeichnet.<br />
Die Drehachse ω = ˙ φez + ˙ ψe3 bildet mit der Drehimpulsachse ebenfalls<br />
einen festen Winkel. Sie läuft auf dem sogenannten Spurkegel um die Drehimpulsachse<br />
um. Anschaulich ergibt sich die Präzession der Figurenachse, indem der Polkegel<br />
auf dem Spurkegel abrollt.<br />
Die restlichen beiden Eulerwinkel können durch die ersten beiden Gleichungen von<br />
(5.104) bestimmt werden. Man erhält<br />
˙φ 2 sin 2 θ0 = a 2<br />
=⇒ φ = φ0 + a<br />
t<br />
sin θ0<br />
˙φ sin θ0 sin ψ = a sin ψ =⇒ ψ = ψ0 + wt.
Kapitel 6<br />
Hamiltonsche <strong>Mechanik</strong><br />
Die mechanischen Bewegungsgleichungen können als ein 2f dimensionales Differentialgleichungssystem<br />
erster Ordnung für Bewegungen im Phasenraum dargestellt<br />
werden. An die Stelle der Lagrangefunktion tritt hier die Hamiltonfunktion. Die<br />
Hamiltonsche Theorie ist von besonderer Bedeutung, da der Übergang <strong>zur</strong> Quantenmechanik<br />
hier durch einfache Quantisierungsregeln vollzogen werden kann.<br />
6.1 Kanonische Gleichungen<br />
Die verallgemeinerten Impulse werden durch die partiellen Ableitungen der Lagrangefunktion<br />
nach den verallgemeinerten Geschwindigkeiten definiert,<br />
pn = pn(q, ˙q, t) = ∂L<br />
. (6.1)<br />
∂ ˙qn<br />
Wir suchen nun umgekehrt eine Funktion, deren partielle Ableitungen nach den verallgemeinerten<br />
Impulsen die verallgemeinerten Geschwindigkeiten bestimmen. Eine<br />
solche Umkehrung läßt sich mit einer Legendretransformation erreichen.<br />
Legendretransformation<br />
Das totale Differential der Lagrangefunktion<br />
dL = ∂L<br />
dqn +<br />
∂qn n<br />
∂L<br />
d ˙qn +<br />
∂ ˙qn<br />
∂L<br />
∂t dt<br />
= ∂L<br />
dqn + pnd ˙qn +<br />
∂qn<br />
∂L<br />
∂t dt<br />
n<br />
118
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 119<br />
drückt die Abhängigkeit dieser Funktion von den Variablen q, ˙q und t aus. In der<br />
zweiten Zeile wurde nur die Definition der verallgemeinerten Impulse (6.1) substituiert.<br />
Subtrahiert man davon das Differential<br />
d <br />
pn ˙qn = <br />
pnd ˙qn + ˙qndpn<br />
n<br />
n<br />
so erhält man das Differential einer Funktion, die von den Variablen q, p und t<br />
abhängt <br />
d L − <br />
<br />
pnqn = ∂L<br />
dqn − ˙qndpn +<br />
∂qn<br />
∂L<br />
dt.<br />
∂t<br />
(6.2)<br />
n<br />
n<br />
Man definiert die Hamiltonfunktion H = H(p, q, t) durch<br />
H = H(p, q, t) = <br />
pn ˙qn − L. (6.3)<br />
Dies ist die Energie des Systems, ausgedrückt durch die Variablen q, p und t. Die<br />
partiellen Ableitungen der Hamiltonfunktion nach diesen Variablen sind<br />
∂H<br />
∂pn<br />
= ˙qn,<br />
∂H<br />
∂qn<br />
n<br />
= − ∂L<br />
,<br />
∂qn<br />
H<br />
∂t<br />
= −∂L . (6.4)<br />
∂t<br />
Die partiellen Ableitungen der Hamiltonfunktion nach den verallgemeinerten Impulsen<br />
bestimmen somit die verallgemeinerten Geschwindigkeiten. Die restlichen<br />
partiellen Ableitungen sind bis auf das Vorzeichen unverändert.<br />
Bewegungsgleichungen<br />
Mit der Hamiltonfunktion lassen sich die Bewegungsgleichungen des Systems im<br />
Phasenraum (q, p) angeben. Aus (5.39) und (6.4) erhält man die kanonischen Gleichungen,<br />
˙qn = ∂H<br />
, ˙pn = −<br />
∂pn<br />
∂H<br />
∂qn<br />
. (6.5)<br />
Sie stellen ein Differentialgleichungessystem 1. Ordnung für die 2f Variablen (q, p)<br />
dar.<br />
Zyklische Variablen und Energieerhaltung<br />
Hängt die Hamiltonfunktion nicht explizit von einer Koordinate ab, so ist der zugehörige<br />
verallgemeinerte Impuls erhalten,<br />
∂H<br />
= 0 =⇒ pn = const.<br />
∂qn
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 120<br />
Ist die Hamiltonfunktion nicht explizit zeitabhängig, so ist die Energie erhalten,<br />
dH<br />
dt<br />
∂H<br />
= ˙pn +<br />
∂pn n<br />
∂H<br />
˙qn +<br />
∂qn<br />
∂H<br />
∂t<br />
= <br />
<br />
∂H<br />
−<br />
∂pn<br />
∂H<br />
<br />
+<br />
∂qn<br />
∂H ∂H<br />
+<br />
∂qn ∂pn<br />
∂H<br />
∂t<br />
n<br />
= ∂H<br />
∂t<br />
= 0. (6.6)<br />
Hamiltonfunktion einer Ladung im elektromagnetischen Feld<br />
Aus der Lagrangefunktion (5.65) findet man den kanonischen Impuls<br />
Damit erhält man die Hamiltonfunktion<br />
p = mv + q<br />
c A.<br />
H = p · v − L<br />
= p · v − 1<br />
2 mv2 + qφ − q<br />
=<br />
v · A<br />
c<br />
mv 2 − 1<br />
2 mv2 =<br />
+ qφ<br />
1<br />
2 mv2 + qφ<br />
= (p − q<br />
cA)2 + qφ.<br />
2m<br />
6.2 Modifiziertes Hamiltonsches Prinzip<br />
Die Hamiltonschen Gleichungen lassen sich aus einem Variationsprinzip ableiten. Sei<br />
LH(q, ˙q, p, t) =<br />
f<br />
pn ˙qn − H(p, q, t)<br />
n=1<br />
die Lagrangefunktion des Systems als Funktion der unabhängigen Variablen q, ˙q, p<br />
und<br />
S[p, q] =<br />
t2<br />
t1<br />
dtLH<br />
die Wirkung als Funktional der Bahn (p, q) im Phasenraum. Dann folgen die Hamiltonschen<br />
Gleichungen aus dem modifizierten Hamiltonschen Prinzip<br />
δS[q, p] = 0, mit δq(t1) = δq(t2) = δp(t1) = δp(t2) = 0. (6.7)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 121<br />
Die Variation nach den Funtionen q und p ergibt die Euler-Lagrangegleichungen,<br />
Mit<br />
∂LH<br />
∂ ˙qn<br />
∂LH<br />
∂ ˙pn<br />
d ∂LH<br />
dt ∂ ˙qn<br />
d ∂LH<br />
dt ∂ ˙pn<br />
= pn,<br />
= 0,<br />
= ∂LH<br />
∂qn<br />
= ∂LH<br />
.<br />
∂pn<br />
folgen daraus die kanonischen Gleichungen (6.5).<br />
6.3 Poisson-Klammern<br />
∂LH<br />
∂qn<br />
= − ∂H<br />
∂qn<br />
∂LH<br />
∂pn<br />
= ˙qn − ∂H<br />
∂pn<br />
Sei F (p, q, t) eine beliebige Funktion der Variablen p, q, t. Dann ist deren totale<br />
Zeitableitung<br />
dF<br />
dt<br />
∂F ∂F<br />
= + ˙qn +<br />
∂t ∂qn n<br />
∂F<br />
˙pn<br />
∂pn<br />
= ∂F ∂F ∂H<br />
+ −<br />
∂t ∂qn ∂pn<br />
∂F ∂H<br />
.<br />
∂pn ∂qn<br />
n<br />
Definiert man die Poissonklammern zweier Funktionen u(p, q) und v(p, q) durch<br />
so gilt<br />
u, v = <br />
dF<br />
dt<br />
n<br />
∂u<br />
∂v<br />
∂qn ∂pn<br />
− ∂u<br />
∂pn<br />
∂v<br />
, (6.8)<br />
∂qn<br />
= ∂F<br />
∂t + F, H . (6.9)<br />
Setzt man F = q bzw. F = p so erhält man die Bewegungsgleichungen in der<br />
symmetrischen Form<br />
˙qn = qn, H , ˙pn = pn, H . (6.10)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 122<br />
Eine Größe F , die nicht explizit von der Zeit abhängt, ist genau dann eine Erhaltungsgröße,<br />
wenn die mit F und der Hamiltonfunktion H gebildete Poissonklammer<br />
verschwindet:<br />
∂F<br />
∂t<br />
= dF<br />
dt<br />
= 0, ⇐⇒<br />
F, H = 0.<br />
Die Poissongleichungen zwischen Paaren von Koordinaten und Impulsen lauten,<br />
<br />
qn, qm = 0,<br />
<br />
pn, pm = 0,<br />
<br />
qn, pm = − pm, qn = δnm. (6.11)<br />
Die Poissongleichungen erfüllen folgende algebraische Identitäten:<br />
u, v = − v, u <br />
λu + µv, w = λ u, w + µ v, w <br />
uv, w = u, w v + u v, w <br />
u, v , w + w, u , v + v, w , u = 0.<br />
Die letzte Gleichung heißt Jacobi-Identität.<br />
In der Quantenmechanik werden die Variablen p und q zu Operatoren und die Poissonklammern<br />
zu Kommutatoren. Die Gleichungen (6.11) bilden die Grundlage für<br />
die Quantisierung eines mechanischen Systems.<br />
6.4 Kanonische Transformationen<br />
In der Lagrangetheorie können beliebige verallgemeinerte Koordinaten gewählt werden.<br />
Bei einer Koordinatentransformation q −→ Q = Q(q, t) bleibt die Form der<br />
Lagrangegleichungen erhalten.<br />
In der Hamiltonschen Theorie lassen sich Koordinaten und Impulse gemeinsam<br />
transformieren. Man nennt eine solche Transformation kanonisch, wenn dabei die<br />
Form der kanonischen Gleichungen erhalten bleibt. Eine kanonische Transformation<br />
besitzt demnach die Form<br />
q −→ Q = Q(p, q, t), p −→ P = P (p, q, t), H −→ K = K(P, Q, t). (6.12)<br />
Hierbei bezeichnen Q die neuen Koordinaten, P die neuen Impulse und K eine neue<br />
Hamiltonfunktion. Diese erfüllen die kanonischen Bewegungsgleichungen,<br />
˙Qn = ∂K<br />
,<br />
∂Pn<br />
Pn<br />
˙ = − ∂K<br />
. (6.13)<br />
∂Qn<br />
Kanonische Transformationen können durch Umeichungen der Larangefunktion erzeugt<br />
werden. Bei einer solchen Umeichung bleiben die Bewegungsgleichungen invariant.<br />
Wir fordern daher, daß sich die Lagrangefunktionen des modifizierten Hamiltonschen<br />
Prinzips in den alten und neuen Koordinaten nur durch eine totale<br />
Zeitableitung voneinander unterscheiden,
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 123<br />
<br />
pn ˙qn − H = <br />
Pn ˙ Qn − K + d<br />
F (q, p, Q, P, t) (6.14)<br />
dt<br />
n<br />
n<br />
Hierbei ist F (q, p, Q, P, t) eine beliebige Funktion, die man erzeugende Funktion<br />
der kanonischen Transformation nennt. Aufgrund der Transformationsgleichungen<br />
(6.12) sind nur zwei der vier Variablen unabhängig voneinander. Ohne Einschränkung<br />
können wir eine erzeugende Funktion F = F (q, Q, t) annehmen und<br />
(6.14) in der Form<br />
dF = <br />
pndqn − PndQn − (H − K)dt (6.15)<br />
schreiben. Daraus folgt<br />
n<br />
pn = ∂F<br />
, Pn = −<br />
∂qn<br />
∂F<br />
, K = H +<br />
∂Qn<br />
∂F<br />
. (6.16)<br />
∂t<br />
Für eine gegebene Funktion F = F (q, Q, t) bestimmen die ersten beiden Gleichungen<br />
die kanonische Transformation der Koordinaten und Impulse, die letzte Gleichung<br />
stellt die Transformation der Hamiltonfunktion dar. Die erste Gleichung hat die<br />
Form p = p(q, Q, t). Sie definiert implizit die neuen Koordinaten Q = Q(q, p, t). Die<br />
zweite Gleichung besitzt die Form P = P (q, Q). Zusammen mit der ersten Gleichung<br />
erhält man daraus die neuen Impulse.<br />
Man kann erzeugende Funktionen wählen, die von anderen Variablenpaaren<br />
abhängen, z.B. S = S(q, P, t). Durch Legendretransformation erhält man<br />
<br />
dS = d F + <br />
<br />
= <br />
pndqn + QndPn − (H − K)dt. (6.17)<br />
n<br />
PnQn<br />
n<br />
Damit lauten die Transformationsgleichungen für die erzeugende Funktion S<br />
pn = ∂S<br />
, Qn =<br />
∂qn<br />
∂S<br />
, K = H +<br />
∂Pn<br />
∂S<br />
. (6.18)<br />
∂t<br />
6.5 Hamilton-Jacobi-Differentialgleichung<br />
Sei S(q, P, t) eine kanonische Transformation, die so gewählt ist, daß für die neue<br />
Hamiltonfunktion K = 0 gilt. In diesem Fall sind die neuen Koordinaten und Impulse<br />
konstant und stellen 2f Integrationskonstanten des Differentialgleichungssystems<br />
dar.<br />
Die zugehörige kanonische Transformation genügt nach (6.18) der Hamilton-Jacobi-<br />
Differentialgleichung,<br />
∂S<br />
∂t<br />
∂S<br />
+ H(q, , t) = 0. (6.19)<br />
∂q
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 124<br />
Dies ist eine partielle Differentialgleichung, deren Lösung dem Auffinden der Teilchenbahnen<br />
äquivalent ist.
Kapitel 7<br />
Relativistische <strong>Mechanik</strong><br />
7.1 Relativitätsprinzip<br />
Erfahrungsgemäß ist die Lichtgeschwindigkeit in allen Inertialsystemen gleich groß:<br />
8 m<br />
c = 2.998 · 10<br />
s<br />
km<br />
≈ 300 000 . (7.1)<br />
s<br />
Dies wurde zuerst 1887 im Experiment von Michelson und Morley nachgewiesen.<br />
Die beobachtete Konstanz der Lichtgeschwindigkeit steht jedoch im Widerspruch<br />
zum Galileischen Relativitätsprinzip der Newtonschen <strong>Mechanik</strong>.<br />
Galileitransformation: Wir betrachten einen Vorschub des Koordinatensystems<br />
S ′ mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung:<br />
x ′ = x − vt, t ′ = t. (7.2)<br />
Die Phase Φ = kx − ωt einer Lichtwelle bestimmt die Anzahl der Wellenlängen<br />
125<br />
Abbildung 7.1: Bewegtes Koordinatensystem<br />
S ′ . Der Ursprung<br />
von S’ ist gegenüber S um vt verschoben.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 126<br />
eines Wellenzuges. Sie muß daher unabhängig vom Bezugssystem sein. Aus dieser<br />
Forderung ergibt sich<br />
k ′ x ′ − ω ′ t ′ = k ′ x − (ω ′ + k ′ v)t ! = kx − ωt<br />
k = k ′ , ω = ω ′ + k ′ v. (7.3)<br />
Im Vakuum breitet sich die Lichtwelle mit der Phasengeschwindigkeit ω ′ /k ′ = ω/k =<br />
c aus. Aufgrund der Galileitransformation (7.3) erhält man jedoch<br />
c = ω<br />
k = ω′ + k ′ v<br />
k ′<br />
= ω′<br />
k ′ + v = c′ + v (7.4)<br />
Dies widerspricht der Beobachtung c = c ′ . Einstein hat diesen Widerspruch dadurch<br />
gelöst, daß er die Forderung nach Galilei-Invarianz durch ein neues Relativitätsprinzip<br />
(Lorentz-Invarianz) ersetzt hat. Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wird<br />
dabei als physikalisches Grundprinzip eingeführt.<br />
Einsteinsches Relativitätsprinzip (ER):<br />
(E1) Alle Inertialsysteme sind gleichwertig.<br />
(E2) Die Lichtgeschwindigkeit ist in allen Inertialsystemen gleich groß.<br />
Die Transformation zwischen Inertialsystemen, die dem ER genügen, nennt<br />
man Lorentz-Transformationen. <strong>Physik</strong>alische Gesetze, die gegenüber Lorentz-<br />
Transformationen invariant sind, nennt man lorentzinvariant oder relativistisch.<br />
7.2 Lorentz-Transformation<br />
Als Verallgemeinerung der Galileitransformation wird eine allgemeine lineare Transformation<br />
der Koordinaten angenommen:<br />
0 x<br />
x1 ′ <br />
0 Λ 0 Λ<br />
=<br />
0 1<br />
Λ1 0 Λ1 0 x<br />
1 x1 <br />
(7.5)<br />
Koordinaten in S : (ct, x) ≡ (x 0 , x 1 )<br />
Koordinaten in S’ : (ct ′ , x ′ ) ≡ (x 0′<br />
, x 1′<br />
)<br />
Die 4 Konstanten Λ α β hängen nur von v ab. Sie werden durch folgende Forderungen<br />
bestimmt:<br />
1. Ursprung von S’: x 1′<br />
= 0; x 1 = vt = βx 0 ; β = v<br />
c<br />
x 1′<br />
= Λ 1 0x 0 + Λ 1 1x 1 = 0<br />
x 1<br />
x 0 = −Λ1 0<br />
Λ 1 1<br />
!<br />
= β (7.6)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 127<br />
2. Ursprung von S: x1 = 0; x1′ = −vt ′ = −βx0′ x 1′<br />
x 0′ = Λ1 0<br />
Λ 0 0<br />
3. Invarianz der Lichtgeschwindigkeit: x 1′<br />
x 1′<br />
x 0′ = Λ1 0 + Λ 1 1<br />
Λ 0 0 + Λ 0 1<br />
!<br />
= −β (7.7)<br />
= x0′ , x1 = x0 = 1 (7.8)<br />
Damit sind 3 der 4 Konstanten festgelegt. Setzt man γ(v) := Λ 0 0 für die<br />
verbleibende Konstante, so gilt<br />
x 0<br />
x 1<br />
′<br />
<br />
1 −β<br />
= γ(v)<br />
−β 1<br />
0 x<br />
x1 <br />
,<br />
Λ 1 1 = Λ 0 0 = γ; Λ 1 0 = Λ 0 1 = −βγ. (7.9)<br />
4. Raumspiegelung: Eine Raumspiegelung x 1 → −x 1 , x 1′<br />
→ −x1′ ist äquivalent<br />
zu einer Umkehr der Geschwindigkeit v → −v. Führt man gleichzeitig<br />
eine Raumspiegelung und eine Geschwindigkeitsumkehr durch, so muß sich das<br />
ursprüngliche Transformationsgesetz ergeben.<br />
Daraus folgt:<br />
0 x<br />
−x1 ′ <br />
1<br />
= γ(−v)<br />
β<br />
0<br />
β x<br />
1 −x1 <br />
0 x<br />
x1 ′ <br />
= γ(−v)<br />
1<br />
−β<br />
0<br />
−β x<br />
1 x1 <br />
γ(v) = γ(−v). (7.10)<br />
5. Inverse Transformation: Die inverse Transformation<br />
0 x<br />
x1 <br />
= 1 1<br />
γ(v) 1 − β2 <br />
1<br />
β<br />
0<br />
β x<br />
1 x1 ′<br />
(7.11)<br />
muß äquivalent sein zu einer Transformation mit der Geschwindigkeit −v.<br />
Daraus folgt:<br />
γ(−v) = 1 1<br />
. (7.12)<br />
γ(v) 1 − β2 Aus (7.10) und (7.12) folgt<br />
γ =<br />
1<br />
. (7.13)<br />
1 − β2
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 128<br />
Die gesuchte Lorentz-Transformation ist,<br />
x 0<br />
x 1<br />
′<br />
= γ<br />
1 −β<br />
−β 1<br />
In expliziter Form lautet sie:<br />
t ′ =<br />
0 x<br />
x1 <br />
; γ =<br />
t − vx/c2<br />
1 − v 2 /c 2 , x′ =<br />
1<br />
v<br />
; β =<br />
1 − β2 c<br />
(7.14)<br />
x − vt<br />
. (7.15)<br />
1 − v2 /c2 Für kleine Geschwindigkeiten, v 2 /c 2 ≪ 1, geht die Lorentz-Transformation (7.15) in<br />
die Galileitransformation (7.2) über.<br />
Die Koordinatenachsen (x 0′ = 0, x 1′ = 0) des bewegten Systems S’ erscheinen im<br />
Inertialsystem S gegeneinander verdreht (Abb. 7.2). Punkte t > 0, die in S am Ort<br />
x = 0 beobachtet werden, erscheinen in S’ entlang der negativen x’-Achse. Punkte<br />
x > 0, die in S <strong>zur</strong> Zeit t = 0 beobachtet werden, erscheinen in S’ zu früheren Zeiten<br />
t ′ < 0.<br />
Abbildung 7.2: Koordinatenlinien x 0′ = const, x 1′ = const eines bewegten Inertialsystems<br />
S’ (rechts) im Inertialsystem S (links).<br />
7.3 Der Abstand von Ereignissen<br />
7.3.1 Raumzeit<br />
Ereignis: Die Ortskoordinaten x 1 , x 2 , x 3 und die Zeitkoordinate x 0 = ct eines Inertialsystems<br />
bilden einen 4-dimensionalen Raum. Die Punkte (x 0 , x 1 , x 2 , x 3 ) dieses<br />
Raumes nennt man Ereignisse. Betrachtet man nur Relativbewegungen in einer Koordinatenrichtung<br />
(x 1 ), so können die Ereignisse (x 0 , x 1 ) in einer Ebene dargestellt<br />
werden.
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 129<br />
Weltlinien: Die Bahnkurve eines Teilchens im 4-dimensionalen Raum heißt Weltlinie<br />
(Abb. 7.3). Die Weltlinien eines Photons, welches sich <strong>zur</strong> Zeit t = 0 im Ursprung<br />
befindet, liegen auf dem Lichtkegel ct = r. Die Weltlinie x = vt eines Teilchens mit<br />
der Geschwindigkeit v < c liegt innerhalb des Lichtkegels. Ereignisse innerhalb des<br />
Lichtkegels können vom Ursprung aus durch ein Signal, welches sich mit einer Geschwindigkeit<br />
v < c ausbreitet, erreicht werden. Ereignisse außerhalb des Lichtkegels<br />
sind so weit vom Ursprung entfernt, daß sie durch kein Signal mit v ≤ c erreicht<br />
werden können.<br />
Abbildung 7.3: Die Weltlinie eines<br />
Teilchens mit der Geschwindigkeit<br />
v.<br />
Abstand: In Analogie zum 3-dimensionalen Abstandsquadrat r 2 = (x 1 ) 2 + (x 2 ) 2 +<br />
(x 3 ) 2 definiert man das 4-dimensionale Abstandsquadrat<br />
s 2 = (x 0 ) 2 − r 2 . (7.16)<br />
Im Unterschied <strong>zur</strong> euklidischen Geometrie ist das Vorzeichen beim räumlichen<br />
Abstand negativ. Damit wird das Abstandsquadrat unabhängig von der Wahl des<br />
Inertialsystems. Nach dem Relativitätsprinzip gilt für ein Photon r = x 0 und damit<br />
s 2 = 0 für alle Inertialsysteme. Aufgrund der Lorentz-Transformation sind auch<br />
Abstände s 2 = 0 unabhängig vom Inertialsystem:<br />
s ′2 = (x 0′<br />
) 2 − (x 1′<br />
) 2 = γ 2 [+(x 0 − βx 1 ) 2 − (x 1 − βx 0 ) 2 ]<br />
Nach dem Vorzeichen von s 2 unterscheidet man:<br />
= +(x 0 ) 2 − (x 1 ) 2 = s 2 . (7.17)<br />
s 2 = 0 : Lichtartiger Abstand<br />
s 2 < 0 : Raumartiger Abstand (7.18)<br />
s 2 > 0 : Zeitartiger Abstand<br />
Da s 2 invariant ist, ist diese Unterscheidung unabhängig vom Inertialsystem. Bei<br />
raumartigen Abständen kann ein Koordinatensystem gefunden werden, in dem das<br />
Ereignis (x 0 , x 1 ) gleichzeitig zum Ereignis (0, 0) stattfindet:<br />
x 0′ = γ(x 0 − βx 1 ) ! = 0 ⇒ β = x0<br />
< 1. (7.19)<br />
x1
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 130<br />
Bei zeitartigen Abständen kann ein Koordinatensystem gefunden werden, in dem<br />
das Ereignis (x 0 , x 1 ) am selben Ort wie das Ereignis (0, 0) stattfindet:<br />
7.3.2 Längenkontraktion<br />
x 1′ = γ(x 1 − βx 0 ) ! = 0 ⇒ β = x1<br />
< 1. (7.20)<br />
x0 Abbildung 7.4: Der Lichtkegel<br />
trennt raumartige von zeitartigen<br />
Abständen.<br />
Ein Stab bewege sich im Laborsystem S mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung<br />
(Abb.7.5a).<br />
Längenmessung in S: Die Positionen x1, x2 der Stabenden werden in S <strong>zur</strong> gleichen<br />
Zeit t1 = t2 gemessen:<br />
∆x = x2 − x1 = l, ∆t = t2 − t1 = 0 (7.21)<br />
Der Stab ruht in einem mit v bewegten Inertialsystem. Die Länge<br />
∆x ′ = x ′ 2 − x ′ 1 = l0<br />
im Ruhesystem ist die Eigenlänge des Stabes.<br />
Lorentz-Transformation:<br />
Mit ∆x ′ = l0, ∆x = l und ∆t = 0 folgt<br />
(7.22)<br />
∆x ′ = γ(∆x − v∆t) (7.23)<br />
l = 1 − v 2 /c 2 l0<br />
(7.24)<br />
Die Ereignisse der Messung der Stabenden finden in S ′ zu verschiedenen Zeiten statt<br />
∆t ′ = γ(∆t − v v<br />
∆x) = −<br />
c2 c<br />
2 l0<br />
(7.25)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 131<br />
Abbildung 7.5: a) bewegte Maßstäbe erscheinen verkürzt b) bewegte Uhren gehen<br />
langsamer.<br />
7.3.3 Zeitdilatation<br />
Eine Uhr bewege sich in S mit der Geschwindigkeit v in x-Richtung. Zu den Zeitpunkten<br />
t1 und t2 wird der Stand der Uhr mit Uhren in S an den Orten x1 bzw.<br />
x2 = x1 + v(t2 − t1) verglichen (Abb.7.5b).<br />
Zeitintervall im Ruhesystem S ′ der Uhr:<br />
Zeitmessung in S:<br />
Lorentz-Transformation<br />
Die Uhr wird in S an verschiedenen Orten abgelesen.<br />
∆t ′ = ∆τ, ∆x ′ = 0 (7.26)<br />
∆t; ∆x = v∆t (7.27)<br />
∆x ′ = γ(∆x − v∆t) (7.28)<br />
∆t ′ = γ(∆t − v<br />
∆x) (7.29)<br />
c2 ∆x ′ = 0 ⇒ ∆x = v∆t. (7.30)<br />
Damit gilt:<br />
∆τ = γ(1 − v2<br />
<br />
)∆t = 1 −<br />
c2 v2<br />
∆t. (7.31)<br />
c2 Die bewegte Uhr geht gegenüber den Uhren, die im Laborsystem ruhen nach (Zeitdehnung<br />
oder Zeitdilatation).
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 132<br />
7.3.4 Eigenzeit<br />
Die Eigenzeit τ einer Uhr wird definiert als die Zeit im Ruhesystem der Uhr:<br />
v = 0 ⇒ ds 2 = c 2 dτ 2 ; τ2 − τ1 = 1<br />
c (s2 − s1) (7.32)<br />
Die Eigenzeit ist unabhängig vom Inertialsystem, da der Abstand s2 − s1 lorentzinvariant<br />
ist.<br />
Zeit einer bewegten Uhr: Zur Zeit t bewege sich die Uhr in S mit Geschwindigkeit<br />
v(t). Im infinitesimalen Zeitintervall dt bewegt sie sich mit der momentanen<br />
Geschwindigkeit v(t) über eine Strecke dx = v(t)dt. In einem Inertialsystem S ′ , welches<br />
sich mit der konstanten Geschwindigkeit v0 = v(t) bewegt ist die Uhr momentan<br />
in Ruhe. Dem Zeitintervall dt entspricht das Eigenzeitintervall<br />
√ c 2 dt 2 − dx 2<br />
dτ = 1 1<br />
ds =<br />
c c<br />
= 1 − v2 (t)/c2dt (7.33)<br />
Für ein endliches Zeitintervall von t1 bis t2 gilt daher<br />
τ =<br />
t2<br />
t1<br />
<br />
1 − v2 (t)<br />
dt. (7.34)<br />
c2 Eine in S bewegte Uhr geht daher langsamer als eine in S ruhende Uhr.<br />
Um den Zeitvergleich der beiden Uhren <strong>zur</strong> Zeit t1 und t2 ausführen zu können,<br />
müssen sich die Uhren zu diesen Zeitpunkten am selben Ort befinden. Dies ist nur<br />
möglich, falls die bewegte Uhr im Zeitintervall zwischen t1 und t2 beschleunigt wurde.<br />
Da in beschleunigten Bezugssystemen andere Gesetze gelten, ist die angezeigte<br />
Zeitdifferenz der Uhren nicht im Widerspruch zum Relativitätsprinzip. Diejenige der<br />
beiden Uhren, die beschleunigt wurde, geht nach.<br />
(Zwillingsparadoxon, Lebensdauer schneller Myonen).<br />
7.3.5 Gleichzeitigkeit<br />
Nach dem Galileischen Relativitätsprinzip können sich die Zeiten t und t ′ in zwei<br />
Inertialsystemen nur durch eine Konstante t0 unterscheiden:<br />
t ′ = t + t0<br />
(7.35)<br />
Daher sind Zeitdifferenzen zwischen 2 Ereignissen in allen Inertialsystemen gleich<br />
groß:<br />
∆t ′ = ∆t (7.36)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 133<br />
Zwei Ereignissen, die in einem Inertialsystem gleichzeitig stattfinden, ∆t = 0, sind<br />
dann auch in jedem anderen Inertialsystem gleichzeitig: ∆t ′ = 0. Durch das Einsteinsche<br />
Relativitätsprinzip wird Gleichzeitigkeit zu einem relativen Begriff, der<br />
vom Inertialsystem des Beobachters abhängt.<br />
Zwei gleichzeitige Ereignisse (∆t = 0), die in S im Abstand ∆x voneinander stattfinden,<br />
treten in einem bewegten Inertialsystem S ′ im zeitlichen Abstand<br />
voneinander auf. Mit<br />
erhält man in S ′ die Zeitdifferenz<br />
∆t ′ = γ(∆t − v v<br />
∆x) = −γ ∆x (7.37)<br />
c2 c2 ∆x ′ = γ(∆x − v∆t) = γ∆x (7.38)<br />
∆t ′ = − v<br />
c<br />
∆x ′<br />
. (7.39)<br />
c<br />
Eine absolute Bedeutung hat nur das Abstandsquadrat ∆s 2 = c 2 ∆t 2 − ∆x 2 .<br />
7.4 Vierervektoren<br />
4-dimensionale Raumzeit: 3 Orts- und eine Zeitkoordinate.<br />
Ortsvektor:<br />
Wegelement:<br />
Lorentz-Metrik:<br />
x α ≡ (x 0 , x 1 , x 2 , x 3 ) = (ct, x, y, z) (7.40)<br />
ds 2 = (x 0 ) 2 − (x 1 ) 2 − (x 2 ) 2 − (x 3 ) 2 = −ηαβdx α dx β<br />
ηαβ =<br />
⎛<br />
⎜<br />
⎝<br />
−1 0 0 0<br />
0 1 0 0<br />
0 0 1 0<br />
0 0 0 1<br />
⎞<br />
⎟<br />
⎠<br />
(7.41)<br />
(7.42)<br />
Summenkonvention: Über paarweise auftretende obere und untere Indizes wird summiert:<br />
ηαβdx α dx β 3 3<br />
≡ ηαβdx α dx β<br />
(7.43)<br />
Lorentz-Transformation: x α → x α′<br />
α=0 β=0<br />
x α′<br />
= Λ α γx γ + b α<br />
(7.44)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 134<br />
b α = 0 : homogene Lorentz-Transformation<br />
b α = 0 : inhomogene Lorentz-Transformation<br />
Invarianz der Metrik gegenüber Lorentz-Transformation:<br />
ηαβdx α′<br />
dx β′<br />
= ηαβΛ α βΛ β δdx γ dx δ<br />
!<br />
= ηγδdx γ dx δ<br />
Da diese Bedingung für beliebige dx α gelten soll gilt:<br />
oder<br />
(7.45)<br />
ηγδ = ηαβΛ α γΛ β δ = (Λγ α ) T ηαβΛ β δ. (7.46)<br />
η = Λ T ηΛ (7.47)<br />
Vierervektoren: Koordinatendifferentiale transformieren sich bei Lorentztransformationen<br />
wie<br />
dx α′<br />
= Λ α βdx β . (7.48)<br />
Jede 4-komponentige Größe V α , die sich wie die Koordinatendifferentiale transformiert<br />
heißt 4-Vektor:<br />
V α′<br />
= Λ α βV β<br />
(7.49)<br />
Lorentz-Skalare: Größen, die invariant sind gegenüber Lorentz-Transformationen<br />
heißen Lorentz-Skalare:<br />
s ′ = s (7.50)<br />
Bsp.: s = ηαβV α V β , Eigenzeit, Eigenlänge<br />
Kovariante u. kontravariante Komponenten<br />
V α ≡ (V 0 , V 1 , V 2 , V 3 ) kontravariant<br />
Vα ≡ (V0, V1, V2, V3) kovariant<br />
Vα := ηαβV β = (−V 0 , V 1 , V 2 , V 3 ). (7.51)<br />
Skalarprodukte können damit in der üblichen Form geschrieben werden<br />
7.5 Relativistische <strong>Mechanik</strong><br />
s = ηαβV α V β = VαV α . (7.52)<br />
Kovarianz: Gleichungen zwischen Skalaren, Vektoren oder allgemeiner Tensoren in<br />
der 4-dimensionalen Raumzeit sind gegenüber Lorentz-Transformationen forminvariant.<br />
Man nennt solche Gleichungen auch kovariant. Eine kovariante Gleichung ist<br />
z.B.<br />
a µ = b µ . (7.53)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 135<br />
In einem anderen Inertialsystem S ′ gilt dann entsprechend<br />
für die transformierten Komponenten<br />
a µ′<br />
= b µ′<br />
(7.54)<br />
a µ′<br />
= Λ µ νa ν , b µ′<br />
= Λ µ νb ν . (7.55)<br />
Aus dem Einsteinschen Relativitätsprinzip ergibt sich die weitreichende Forderung,<br />
daß die Newtonsche Bewegungsgleichung revidiert und durch eine kovariante Bewegungsgleichung<br />
ersetzt werden muß.<br />
Geschwindigkeit: Die Geschwindigkeit eines Teilchens kann in naheliegender Weise<br />
als 4-Vektor verallgemeinert werden. Da das Koordinatendifferential dxα einen 4-<br />
dt einen Skalar darstellt, ist<br />
Vektor und das Eigenzeitintervall dτ = 1<br />
γ<br />
u α = dxα<br />
dτ<br />
(7.56)<br />
ein 4-Vektor, der als die 4-Geschwindigkeit bezeichnet wird. In einem Inertialsystem<br />
S, in dem das Teilchen die Koordinaten xα = (ct, vt) besitzt, sind die Komponenten<br />
der 4-Geschwindigkeit<br />
u α = γ dxα<br />
= γ(c, v). (7.57)<br />
dt<br />
Im Ruhesystem des Teilchens (v = 0) gilt<br />
Der Skalar<br />
u α = (c, 0, 0, 0). (7.58)<br />
uαu α = γ 2 (−c 2 + v 2 ) = −c 2<br />
ist eine durch die Lichtgeschwindigkeit bestimmte Invariante.<br />
Additionstheorem der Geschwindigkeiten:<br />
(7.59)<br />
Abbildung 7.6: Ein Teilchen bewege<br />
sich in dem Inertialsystem<br />
S ′ mit der Geschwindigkeit v ′ .
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 136<br />
Umkehrung:<br />
x ′ t<br />
= γ(x − ut)<br />
′ =<br />
<br />
γ t − ux<br />
c2 <br />
v ′ = x′ x − ut<br />
=<br />
t ′ t − ux<br />
x = γ(x ′ + ut ′ )<br />
t = γ<br />
c 2<br />
<br />
t ′ + ux′<br />
c2 <br />
v = x<br />
t = x′ + ut ′<br />
t ′ + ux′<br />
c 2<br />
= v − u<br />
1 − uv<br />
c 2<br />
= v′ + u<br />
1 + uv′<br />
c 2<br />
(7.60)<br />
(7.61)<br />
Impuls: Die im Ruhesystem des Teilchens definierte Masse m (Ruhemasse) ist ebenfalls<br />
ein Lorentz-Skalar. Der 4-Vektor<br />
p α = mu α<br />
(7.62)<br />
wird als 4-Impuls bezeichnet. Definiert man den relativistischen Impuls p = mγv<br />
und die relativistische Energie E = mγc2 so gilt<br />
p α <br />
E<br />
= , p<br />
(7.63)<br />
c<br />
Die Energie im Ruhesystem, ER = mc 2 , heißt Ruheenergie, E − ER = m(γ − 1)c 2<br />
heißt kinetische Energie. Zwischen Energie und Impuls besteht die relativistische<br />
Energie-Impulsbeziehung:<br />
pαp α = − E2<br />
c 2 + p2 = −m 2 c 2<br />
E = m2c4 + p2c2 <br />
2 p<br />
mc +<br />
→<br />
2<br />
; p ≪ m<br />
2m<br />
pc ; p ≫ m<br />
(7.64)<br />
Relativistische Bewegungsgleichung: Die kovariante Form der Bewegungsgleichung<br />
ist<br />
d<br />
dτ pα = f α . (7.65)<br />
Auf der linken Seite steht ein 4-Vektor. Die Kraft f α stellt daher ebenfalls einen<br />
4-Vektor dar, der als 4-Kraft bezeichnet wird. Im momentanen Ruhesystem (S ′ ) des<br />
Teilchens gilt:<br />
f 0′<br />
= dp0<br />
dt = 0, f ′ = dp<br />
dt<br />
= F , (7.66)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 137<br />
wobei F die Newtonsche Kraft darstellt. Im Laborsystem S bewegt sich das Ruhesystem<br />
mit der Geschwindigkeit v. Durch Lorentz-Transformation erhält man,<br />
f 0 = γ(f 0′<br />
f = γ(f ′<br />
f ⊥ = f ⊥′<br />
= F ⊥ .<br />
+ βf ′ v · F<br />
) = γ ,<br />
c<br />
+ βf 0′<br />
) = γF , (7.67)<br />
Hierbei bezeichnen bzw. ⊥ Vektorkomponenten parallel bzw. senkrecht zu v. Zusammen<br />
ergibt dies die 4-Kraft<br />
f α <br />
v · F<br />
v(v · F )<br />
= γ , F + (γ − 1)<br />
c<br />
v2 <br />
(7.68)<br />
Komponenten der Bewegungsgleichung:<br />
0-Komponente: (Energiesatz)<br />
Komponente v:<br />
γ d v · F<br />
(mγc) = γ ,<br />
dt c<br />
γ<br />
<br />
d<br />
dt (mγv)<br />
<br />
<br />
Komponente ⊥ v:<br />
<br />
d<br />
γ<br />
dt (mγv)<br />
<br />
⊥<br />
= γF,<br />
= F ⊥,<br />
d<br />
dt (mγc2 ) = v · F . (7.69)<br />
<br />
d<br />
dt (mγv)<br />
<br />
= F. (7.70)<br />
<br />
<br />
d<br />
dt (mγv)<br />
<br />
=<br />
⊥<br />
1<br />
γ F ⊥. (7.71)<br />
Man definiert die relativistische Energie E und den relativistischen Impuls p durch<br />
E = γmc 2 , p = γmv. (7.72)<br />
Die zeitliche Komponente der Bewegungsgleichung stellt den Energiesatz, die räumlichen<br />
Komponenten den Impulssatz dar.<br />
Lorentz-Kraft<br />
Die Bewegungsgleichung einer Ladung q im elektrischen Feld E und Magnetfeld B<br />
erhält man in folgender Weise. Das elektrische Feld im momentanen Ruhesystem<br />
sei E ′ . Die Kraft auf eine ruhende Ladung wird ausschließlich durch das elektrische<br />
Feld bestimmt,<br />
K = qE ′ . (7.73)
<strong>Theoretische</strong> <strong>Physik</strong>: <strong>Mechanik</strong> WS 02/03, H.-J. Kull 138<br />
In der Elektrodynamik wird gezeigt, dass sich elektrische Felder beim Übergang in<br />
ein bewegtes Bezugssystem ebenfalls transformieren. Die Transformation für den<br />
Übergang von S nach S ′ lautet<br />
v × B)<br />
c<br />
(7.74)<br />
Damit erhält man die Komponenten der 4er-Kraft<br />
⎛ 1qv<br />
· E c<br />
F = γ ⎝<br />
q(E + 1v<br />
× B)<br />
c<br />
Der Energie- und Impulssatz lautet in diesem Fall<br />
⎞<br />
⎠ . (7.75)<br />
Energie-Impulsbeziehung<br />
E ′ = E, E ′ ⊥ = γ(E⊥ + 1<br />
d<br />
dt (mγc2 ) = qE · v.<br />
d<br />
<br />
(mγv) = q E +<br />
dt v<br />
c ×B<br />
<br />
. (7.76)<br />
Der relativistische Impuls p = mγv und die relativistische Energie E = mγc2 sind<br />
Komponenten des 4er-Impulses,<br />
<br />
E<br />
<br />
p = c<br />
p<br />
. (7.77)<br />
Die Energie im Ruhesystem, ER = mc 2 , heißt Ruheenergie, E − ER = m(γ − 1)c 2<br />
heißt kinetische Energie. Zwischen Energie und Impuls besteht die relativistische<br />
Energie-Impulsbeziehung:<br />
p · p = − E2<br />
c2 + p2 = −m 2 c 2<br />
E = m2c4 + p2c2 <br />
2 p<br />
mc +<br />
→<br />
2<br />
; p ≪ m<br />
2m<br />
pc ; p ≫ m<br />
(7.78)<br />
Bei der Bewegung eines einzelnen Teilchens ist die Ruheenergie nur eine additive<br />
Konstante. Ihre wichtige Rolle erkennt man jedoch bei Reaktionen die <strong>zur</strong> Umwandlung<br />
von Teilchen führen. Als Beispiel betrachte man ein ruhendes Teilchen<br />
mit der Masse M, das in zwei Teilchen mit den Ruhemassen m1 und m2 zerfällt.<br />
Beim Zerfall ist die relativistische Energie erhalten,<br />
E = Mc 2 = m1c 2 + m1c 2 + m1(γ1 − 1)c 2 + m2(γ2 − 1)c 2 . (7.79)<br />
Die Ruhemasse ist dagegen keine Erhaltungsgröße,<br />
M = m1 + m2 + ∆m, ∆m = m1(γ1 − 1) + m2(γ2 − 1). (7.80)<br />
Der Massendefekt ∆m ist auf die unterschiedlich starken Bindungsenergien der einzelnen<br />
Teilchen <strong>zur</strong>ückzuführen (Kernspaltung).