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Die Metro als Schauplatz im französischen Film. - Philosophische ...

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MAGISTERARBEIT<br />

Universität zu Köln<br />

<strong>Philosophische</strong> Fakultät<br />

<strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> <strong>Schauplatz</strong> <strong>im</strong> <strong>französischen</strong> <strong>Film</strong>.<br />

Verfolgungsjagden <strong>im</strong> Untergrund von Paris<br />

Vorgelegt von<br />

Franziska Bergthaller


INHALTSVERZEICHNIS<br />

1. EINLEITUNG........................................................................................................................... 3<br />

2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN ...................................................................................... 6<br />

2.1 DER FILMISCHE RAUM UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE ERZÄHLTE HANDLUNG ................... 6<br />

2.1.1 Zur Unterscheidung von lieu und espace ...................................................................... 7<br />

2.1.2 Der narrative Status des Raumes................................................................................... 8<br />

2.1.3 Mittel der Raumkonstruktion <strong>im</strong> <strong>Film</strong>........................................................................... 9<br />

2.2 "PRENDRE LE MÉTRO" – EIN PARISER RITUAL ..................................................................... 11<br />

2.2.1 <strong>Die</strong> Stadt unter der Stadt.............................................................................................. 14<br />

2.2.2 Zur Ästhetik der <strong>Metro</strong>: le style métro ........................................................................ 15<br />

2.2.3 Mythos <strong>Metro</strong> .............................................................................................................. 17<br />

2.2.4 <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>....................................................................................................... 20<br />

2.3 ZUR VERFOLGUNGSJAGD IM FILM........................................................................................ 23<br />

2.3.1 <strong>Die</strong> „Lust am rasenden Tempo“ .................................................................................. 24<br />

2.3.2 <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>als</strong> erzählerische Konvention .................................................... 25<br />

2.3.3 <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> – ein ideales Setting?.................................................................................. 25<br />

3. FILMISCHE VERFOLGUNGSJAGDEN IN DER METRO............................................ 28<br />

3.1 LE SAMOURAÏ von Jean-Pierre Melville........................................................................... 29<br />

3.2 PEUR SUR LA VILLE von Henri Verneuil ......................................................................... 40<br />

3.3 DIVA von Jean-Jacques Beineix ......................................................................................... 49<br />

3.4 SUBWAY von Luc Besson .................................................................................................. 57<br />

3.5 LES AMANTS DU PONT-NEUF von Leos Carax .............................................................. 64<br />

4. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE.................................................................... 74<br />

LITERATURVERZEICHNIS .................................................................................................. 78<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS................................................................................................ 81<br />

2


1. EINLEITUNG<br />

<strong>Die</strong> Pariser <strong>Metro</strong> kann zweifellos ebenso wie der Eiffelturm <strong>als</strong> ein Wahrzeichen der<br />

<strong>französischen</strong> Hauptstadt bezeichnet werden. Als beliebtes Postkartenmotiv repräsentieren ihre<br />

charakteristischen, von Hector Gu<strong>im</strong>ard gestalteten Art-Nouveau-Eingänge Paris in ähnlich<br />

metonymischer Weise wie die berühmte Stahlkonstruktion des Ingenieurs Gustave Eiffel. Wie<br />

kaum ein anderes Verkehrsmittel prägt die <strong>Metro</strong> nicht nur den Alltag der Pariser, sondern stellt<br />

sogar, wie der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé postuliert, ein konstitutives<br />

Element ihrer kulturellen Identität dar. Zahlreiche Mythen ranken sich um diesen Ort, der seit<br />

der Einweihung der ersten <strong>Metro</strong>linie <strong>im</strong> Jahr 1900 eine bis heute ungebrochene Faszination<br />

ausübt. So verwundert es nicht, dass die <strong>Metro</strong> auch für das französische Kino, das um die<br />

Jahrhundertwende ebenfalls noch in den Kinderschuhen steckte, fast von Beginn an eine<br />

wichtige Rolle spielte. Seit JUVE CONTRE FANTÔMAS (1913), einem der frühen séri<strong>als</strong> von<br />

Louis Feuillade, und verstärkt seit dem Ende der 30er Jahre ist die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> <strong>Schauplatz</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>französischen</strong> <strong>Film</strong> überaus präsent. Bis heute kommt kaum ein Parisfilm ohne eine Referenz auf<br />

die Pariser U-Bahn aus, und sei sie auch lediglich verbaler Art wie etwa in François Truffauts LE<br />

DERNIER MÉTRO (1980). <strong>Die</strong> Bedeutung dieses Ortes für das französische Kino findet ihren<br />

Ausdruck nicht zuletzt in der Tatsache, dass in Paris eine für die Öffentlichkeit unzugängliche<br />

„Geister-<strong>Metro</strong>station“ existiert, die seit ihrer Schließung <strong>im</strong> Jahr 1939 ausschließlich dem<br />

Drehen von <strong>Film</strong>aufnahmen dient („Porte des Lilas – Cinéma“).<br />

Umso erstaunlicher ist, dass es bisher kaum filmwissenschaftliche Untersuchungen gibt, die<br />

die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> <strong>Schauplatz</strong> in den Fokus nehmen. Ihr Status <strong>als</strong> zentrales Setting <strong>im</strong> <strong>französischen</strong><br />

Kino wird zwar <strong>im</strong>mer wieder vielsagend angedeutet 1 , jedoch nie näher ausgeführt oder gar <strong>im</strong><br />

Detail untersucht. Eine Ausnahme stellt der Aufsatz „Underground Cinema: French Visions of<br />

the <strong>Metro</strong>“ von David Berry 2 dar, der einen guten Überblick über die Präsenz der <strong>Metro</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>französischen</strong> Kino gibt. Allerdings handelt es sich auch hierbei um eine zwar aufschlussreiche,<br />

jedoch noch <strong>im</strong>mer vergleichsweise oberflächliche Darstellung. Berry beschränkt sich <strong>im</strong><br />

Rahmen seiner Untersuchung auf die knappe Analyse einiger Beispielfilme und gibt dabei<br />

interessante Deutungsansätze vor, von denen ich einige in meiner Arbeit aufgreifen und vertiefen<br />

oder ergänzen werde. Allerdings möchte ich mich auf eine besondere Fragestellung<br />

konzentrieren, die sich <strong>im</strong> Zuge meiner Recherchen zur <strong>Metro</strong> <strong>im</strong> <strong>französischen</strong> <strong>Film</strong><br />

abzeichnete. Bei der Sichtung relevant erscheinender <strong>Film</strong>e fiel auf, dass die <strong>Metro</strong><br />

bemerkenswert häufig zum <strong>Schauplatz</strong> einer Verfolgungsjagd wird. Aus dieser Beobachtung<br />

1 So etwa bei Lise Grenier (Hrsg.): Cités-cinés, Paris: Éditions Ramsay et La Grande Halle 1987, S. 78 und 83,<br />

Günter Liehr/Olivier Faÿ: Der Untergrund von Paris: Ort der Schmuggler, Revolutionäre, Kataphilen, Berlin:<br />

Links 2000, S. 144 oder <strong>im</strong> umfangreichen Nachschlagewerk über Paris <strong>im</strong> <strong>Film</strong> von Rüdiger Dirk und Claudius<br />

Sowa (vgl. dies.: Paris <strong>im</strong> <strong>Film</strong> – <strong>Film</strong>ographie einer Stadt, München: Belleville 2003, S. 18).<br />

2 David Berry: „Underground Cinema: French Visions of the <strong>Metro</strong>“, in: Myrto Konstantarakos (Hrsg.): Spaces in<br />

European Cinema, Exeter [u.a.]: Intellect 2000, S. 8-22.<br />

3


ergab sich unweigerlich die Frage, worin die offensichtliche Attraktivität dieses Ortes – für das<br />

Kino <strong>im</strong> Allgemeinen und die filmische Verfolgungsjagd <strong>im</strong> Besonderen – besteht.<br />

Spontan lässt sich dies sicher mit einem Verweis auf die charakteristische Topologie der <strong>Metro</strong><br />

und ihrer Stationen beantworten: Ihre labyrinthische Struktur und die zahlreichen Rolltreppen,<br />

Tunnel und Gänge stellen ohne Frage eine ästhetisch ansprechende Kulisse für eine<br />

Verfolgungsjagd dar. Jedoch möchte ich <strong>im</strong> Rahmen dieser Arbeit zeigen, dass die <strong>Metro</strong> über<br />

eine rein „dekorative“ Funktion hinaus auch wichtiger Bedeutungsträger innerhalb der Handlung<br />

sein kann. Dabei werde ich meinen Überlegungen die folgenden fünf <strong>Film</strong>e zugrunde legen: LE<br />

SAMOURAÏ (Jean- Pierre Melville, 1967), PEUR SUR LA VILLE (Henri Verneuil, 1975), DIVA<br />

(Jean-Jacques Beineix, 1981), SUBWAY (Luc Besson, 1985) und LES AMANTS DU PONT-<br />

NEUF (Leos Carax, 1991). Im Hauptteil meiner Arbeit werde ich jeden dieser fünf <strong>Film</strong>e <strong>im</strong><br />

Detail untersuchen. Mein Hauptaugenmerk wird dabei auf der Frage liegen, welche Bedeutung<br />

jeweils der Verfolgungsjagd <strong>im</strong> Gesamtzusammenhang des <strong>Film</strong>s zukommt und welche<br />

symbolischen und metaphorischen Implikationen mit der Wahl dieses <strong>Schauplatz</strong>es einhergehen.<br />

Da die Verfolgungsjagd zudem eine besondere Form der Raumerfahrung darstellt, lautet eine<br />

weitere Fragestellung, auf welche Weise in den Verfolgungssequenzen Raum erschlossen wird<br />

und wie die hierfür gewählten Mittel (unter anderem Schnitt, Montage und Kamerafahrten) dabei<br />

auf die Darstellung der <strong>Metro</strong> zurückwirken.<br />

Der Analyse dieser konkreten <strong>Film</strong>beispiele soll jedoch ein theoretischer Teil vorausgehen, in<br />

dem ich die methodischen Grundlagen meiner Untersuchung darstellen werde. Da ich von der<br />

These ausgehe, dass ein Ort – und <strong>im</strong> Speziellen die <strong>Metro</strong> – <strong>im</strong> <strong>Film</strong> nicht nur den Hintergrund<br />

oder <strong>Schauplatz</strong> einer Handlung bildet (womit er letztlich austauschbar wäre), sondern stets auch<br />

Bedeutung erzeugt, möchte ich zunächst deutlich machen, auf welche Weise dies geschieht. Zum<br />

einen werde ich unter Rückgriff auf André Gardies’ Studie zum Raum <strong>im</strong> <strong>Film</strong> 3 sowie auf die<br />

Raumsemantik Jurij Lotmans darlegen, dass sich der Raum und die Figuren, die sich in ihm<br />

bewegen, in einem Verhältnis der Interdependenz zueinander befinden – dass <strong>als</strong>o weder die eine<br />

noch die andere Größe für sich allein Bedeutung erzeugt. Zum anderen werde ich verschiedene<br />

Mittel der Mise-en-scène beschreiben, die zur Semantisierung eines Ortes eingesetzt werden<br />

können. So kann etwa die Montage – die für gewöhnlich zur Erzeugung eines kohärenten<br />

Raumeindrucks (cognitive map) genutzt wird – auch bewusst zur Desorientierung des<br />

Zuschauers eingesetzt werden und damit die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> labyrinthischen Raum ausweisen (dies ist<br />

beispielsweise in Beineix’ DIVA der Fall).<br />

Allerdings ist es nicht einmal entscheidend, ob ein Regisseur diese oder jene Wirkung<br />

tatsächlich intendiert hat. Denn schließlich bringt jeder Zuschauer ein gewisses Vorwissen, eine<br />

3 André Gardies: L´espace au cinéma, Paris: Klincksieck 1993.<br />

4


angelesene oder kulturell vermittelte stereotype Vorstellung von einem Ort mit – und diese wirkt<br />

unweigerlich auf die Wahrnehmung eines filmischen Ortes zurück, ganz gleich, ob dies<br />

beabsichtigt ist oder nicht. Gerade die <strong>Metro</strong> ist <strong>im</strong> kollektiven Bewusstsein in besonderer Weise<br />

mit best<strong>im</strong>mten Assoziationen, Vorstellungen und mythischen Inhalten verknüpft, so dass sich<br />

ein weiterer Teil meiner theoretischen Ausführungen mit eben diesen beschäftigen wird. Dabei<br />

soll insbesondere nachgezeichnet werden, wie bereits in den ersten Jahren nach ihrer Eröffnung<br />

eine Ikonographie entstand, die die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> todbringenden, infernoähnlichen Ort zeigte und bis<br />

heute die Darstellungen der <strong>Metro</strong> entscheidend prägt (so werden wir etwa in LES AMANTS DU<br />

PONT-NEUF der geläufigen Assoziierung der <strong>Metro</strong> mit Feuer und Höllenvisionen begegnen).<br />

Des Weiteren wurde sie durch ihre unterirdische Lage seit jeher mit mythischen Vorstellungen<br />

der Unterwelt in Verbindung gebracht – und so können wir beispielsweise in LE SAMOURAÏ<br />

oder auch in SUBWAY visuelle Referenzen auf das traditionelle Motiv vom Abstieg des Orpheus<br />

in die Unterwelt entdecken. Auch die labyrinthische Anlage der <strong>Metro</strong> leistet einer mythischen<br />

Semantisierung zweifellos Vorschub; allerdings ist gerade das Labyrinth eine äußerst<br />

vielschichtige Figur, der mitunter sehr unterschiedliche Konnotate zugeordnet sein können, wie<br />

etwa „Tod“, „Vernichtung“ oder „Verbrechen“. Ebenso kann das Labyrinth zum Symbol einer<br />

Initiation, einer Entwicklung werden, die der Protagonist einer Erzählung durchläuft (so etwa in<br />

SUBWAY oder DIVA). Ein Überblick über die außerordentliche Bedeutungsfülle des Labyrinth-<br />

Motivs wird verdeutlichen, dass die <strong>Metro</strong> nicht zuletzt auch deshalb einen beliebten filmischen<br />

<strong>Schauplatz</strong> darstellt: Als labyrinthischer Raum hat auch sie ein hohes Potenzial, mit<br />

unterschiedlichsten Bedeutungen und Konnotationen aufgeladen zu werden. Einen Einblick in<br />

die semantische Vielseitigkeit der <strong>Metro</strong> wird daher das Kapitel „<strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong>“ geben.<br />

Mit einem kurzen Exkurs zur Funktion der Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong> möchte ich den<br />

theoretischen Teil meiner Arbeit abschließen. Dabei soll insbesondere die Frage <strong>im</strong> Zentrum<br />

stehen, was die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> besonders attraktives Setting für filmische Verfolgungsjagden<br />

auszeichnet. Denn mit ihrer spezifischen Topologie, die zuweilen geradezu den Charakter eines<br />

„Hindernisparcours“ annehmen kann, befördert sie nicht nur das für Verfolgungsjagden<br />

konstitutive Element der Bewegung, sondern ebenso den Zufall – unvorhergesehene Ereignisse,<br />

die in der <strong>Metro</strong> geradezu „an der Tagesordnung“ sind, tragen dazu bei, eine Verfolgungsjagd in<br />

diesem Terrain besonders abwechslungsreich und spannend zu inszenieren.<br />

5


2. THEORETISCHE GRUNDLAGEN<br />

2.1 DER FILMISCHE RAUM UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE ERZÄHLTE HANDLUNG<br />

Unsere Gespräche über <strong>Film</strong>e handeln hauptsächlich von den Geschichten, die sie erzählen. [...] Doch ein<br />

<strong>Film</strong> besteht ebenso aus Bildern von best<strong>im</strong>mtem Aussehen (look). Und über deren Aussehen wie über deren<br />

Gestaltung – die Art, wie sie Raum erschließen und sich in der Zeit entfalten – sprechen wir ziemlich selten. 4<br />

Lange Zeit wurde dem Raum <strong>im</strong> <strong>Film</strong> keine oder nur wenig Bedeutung beigemessen, was – wie<br />

das oben stehende Zitat David Bordwells verdeutlicht – insbesondere daran liegt, dass wir <strong>als</strong><br />

Zuschauer dazu neigen, einen <strong>Film</strong> auf seine Handlung zu reduzieren. Wie Andreas Rost<br />

ausführt, beschränkt sich das, „[w]as wir von unserer Reise durch Raum und Zeit <strong>im</strong> Gedächtnis<br />

behalten“ zumeist auf „best<strong>im</strong>mte Ereignisse des Plots, Höhepunkte in der Darstellung einer<br />

Handlung oder Geschichte.“ 5 Auf diese Weise seien Orte und Räume nicht nur <strong>im</strong> Verständnis<br />

des unbedarften Kinogängers, sondern auch in der <strong>Film</strong>wissenschaft häufig zu bloßen<br />

Schauplätzen oder Hintergrundszenarien der Handlung herabgesetzt worden. 6 Doch<br />

insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten wurde der Raum zunehmend <strong>als</strong> wichtig, ja<br />

konstitutiv für das Medium <strong>Film</strong> anerkannt – ein Umdenken, das zweifellos in Zusammenhang<br />

mit dem um 1990 <strong>im</strong> angelsächsischen Raum proklamierten spatial oder topographical turn 7 zu<br />

sehen ist. So ist es auch zu erklären, dass ein Großteil der Texte, die sich ausdrücklich mit dem<br />

Raum <strong>im</strong> <strong>Film</strong> beschäftigen, aus den 90er Jahren und später datiert. Myrto Konstantarakos weist<br />

darauf hin, dass das Interesse an Räumen und Orten seitdem stetig gewachsen ist. Im Fokus<br />

standen nun etwa Fragen nach dem Gegensatz zwischen konträren Räumen wie Stadt und Land<br />

oder dem städtischen Zentrum und der Peripherie oder auch nach der Mythologie urbaner<br />

Landschaften. 8<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung des Raumes für den <strong>Film</strong> wird nunmehr kaum noch ernsthaft in Frage gestellt,<br />

vielmehr wird er nach heutigem Standpunkt <strong>als</strong> das eigentlich Spezifische des <strong>Film</strong>s begriffen,<br />

<strong>als</strong> das, was ihn insbesondere auch von der Literatur fundamental unterscheidet. So erklärt ihn<br />

Rayd Khouloki <strong>im</strong> Grunde zum sine qua non des <strong>Film</strong>s wenn er sagt: „<strong>Die</strong> zeitliche Ausdehnung<br />

[einer] Handlung hat nicht auch eine räumliche Ausdehnung, sondern der Raum stellt den<br />

Urgrund oder die Voraussetzung dar, damit die zeitliche Ausdehnung einer Handlung, oder<br />

vielmehr: Handlung überhaupt stattfinden kann.“ 9 Zwar gilt dies zweifellos auch für den Raum<br />

4 David Bordwell: „Modelle der Rauminszenierung <strong>im</strong> zeitgenössischen europäischen Kino“, in: David Bordwell/<br />

Andreas Rost [u.a.]: Zeit, Schnitt, Raum. Herausgegeben und eingeleitet von Andreas Rost, Frankfurt a.M.:<br />

Verlag der Autoren 1997, S. 17.<br />

5 Andreas Rost: „Schnittstellen auf der Reise durch Raum und Zeit“, in: Bordwell/Rost: Zeit, Schnitt, Raum, S. 10.<br />

6 Vgl. Rost „Schnittstellen auf der Reise durch Raum und Zeit“, S. 10.<br />

7 Siehe hierzu das Vorwort zu Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus<br />

Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 13f.<br />

8 Vgl. die Einleitung zu Konstantarakos (Hrsg.): Spaces in European Cinema, S. 1.<br />

9 Rayd Khouloki: Der filmische Raum. Konstruktion, Wahrnehmung, Bedeutung, Berlin: Bertz+Fischer GbR<br />

2007, S. 14.<br />

6


in der Literatur – während er dort jedoch häufig lediglich <strong>im</strong>plizit präsent ist, wird er uns <strong>im</strong><br />

visuellen Medium <strong>Film</strong> unablässig <strong>im</strong> wahrsten Sinne des Wortes „vor Augen geführt“.<br />

2.1.1 Zur Unterscheidung von lieu und espace<br />

Es empfiehlt sich an dieser Stelle, zunächst die Begrifflichkeiten „Raum“ (espace) und „Ort“<br />

(lieu) zu klären, die nicht nur <strong>im</strong> Zusammenhang mit <strong>Film</strong> oftm<strong>als</strong> synonym gebraucht werden<br />

und tatsächlich schwer voneinander abzugrenzen sind. André Gardies schlägt hierfür eine<br />

Unterscheidung nach Saussure vor, der zufolge der Raum dem übergeordneten System der<br />

langue entspreche, der Ort hingegen ihrer individuellen und konkreten Realisierung (parole). 10<br />

Laut Gardies lässt sich das Verhältnis von Ort zu Raum folgendermaßen charakterisieren: „[L]e<br />

lieu est un fragment d’espace et l’espace un ensemble de lieux.“ 11 Der Ort stelle demnach <strong>als</strong>o<br />

eine Art Teilmenge des Raumes dar. Davon ausgehend stellt Gardies nun die These auf, dass die<br />

Kategorie des Raumes dem <strong>Film</strong> eigentlich fremd sei, dass dieser hier vielmehr ausschließlich in<br />

Form seiner konkreten Manifestationen, das heißt: der Orte präsent sei. Dass diese Definition<br />

jedoch nur bedingt praktikabel ist, wird dadurch deutlich, dass es selbst Gardies nicht gelingt, sie<br />

konsequent anzuwenden. Auch er gebraucht die Begriffe lieu und espace weiterhin – zumindest<br />

gelegentlich – synonym.<br />

Einen Ausweg aus dem terminologischen Dilemma scheint die Definition nach Michel de<br />

Certeau zu bieten. Laut Certeau sind Raum und Ort keine starren Kategorien, sondern solche, die<br />

situationsbedingt anzuwenden sind. Während ein Ort <strong>als</strong> „configuration instantanée de<br />

positions“ 12 , <strong>als</strong>o <strong>als</strong> eine momentane Konstellation von festen Punkten best<strong>im</strong>mt werden kann,<br />

entsteht ein Raum in dem Moment, in dem man etwas mit diesem Ort macht: „En somme,<br />

l’espace est un lieu pratiqué.“ 13 Er stellt <strong>als</strong>o gewissermaßen die aktualisierte Form eines Ortes<br />

dar und entspricht somit, um es mit Saussure zu sagen, der parole. Damit verhält es sich nach der<br />

Auffassung Certeaus <strong>als</strong>o genau anders herum <strong>als</strong> bei Gardies. Der Certeausche Ansatz scheint<br />

in unserem Fall der eher einleuchtende zu sein, da sich so die Frage erübrigt, ob es sich bei der<br />

<strong>Metro</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong> nun um einen Raum oder um einen Ort handelt: Als fest gefügtes Ensemble<br />

unbeweglicher, „toter“ Elemente ist sie zweifelsfrei ein lieu <strong>im</strong> Sinne Certeaus, der eben dann<br />

zum espace wird, wenn Aktivität und Bewegung hier stattfinden 14 – wobei eine Verfolgungsjagd<br />

sicherlich <strong>als</strong> eine solche Aktivität par excellence aufgefasst werden darf.<br />

10 Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 71f.<br />

11 Gardies: L´espace au cinéma, S. 69.<br />

12 Michel de Certeau: L´invention du quotidien. Vol. 1 [Arts de faire], Paris: Union Générale d´Éditions 1980,<br />

S. 208.<br />

13 Certeau: L´invention du quotidien, S. 208.<br />

14 Vgl. Certeau: L´invention du quotidien, S. 209.<br />

7


2.1.2 Der narrative Status des Raumes<br />

Ebenfalls unter Bezugnahme auf Saussure führt Gardies einen weiteren Punkt an, der nun für<br />

unsere <strong>Film</strong>analyse konkret von Nutzen sein kann. Wenn man die Orte <strong>als</strong> Zeichen <strong>im</strong><br />

übergeordneten System „Raum“ auffasst, so Gardies, so folgt daraus, dass ein Ort seine<br />

Bedeutung (<strong>im</strong> <strong>Film</strong>) nur in seiner Abgrenzung von anderen Orten erhält. Sinnstiftende<br />

Oppositionen könnten beispielsweise sein: geschlossen/offen, privat/öffentlich, weltlich/sakral<br />

etc. 15 Bei dieser These stützt sich Gardies neben Saussure namentlich auf die Raumsemantik<br />

Jurij Lotmans, der postuliert, dass die räumliche Organisation einer Erzählung zumeist auf der<br />

Gegenüberstellung zweier getrennter semantischer Räume beruht. Zwischen diesen getrennten<br />

Räumen n<strong>im</strong>mt Lotman eine Grenze an, die nur für den Helden der Erzählung permeabel ist. 16<br />

Exemplarisch kann dies an einem unserer Beispielfilme, Luc Bessons SUBWAY, erläutert<br />

werden. Hier bildet die <strong>Metro</strong> eine Art Widerlager zum oberirdischen Paris, einen Gegenort, an<br />

dem sich eine Parallelgesellschaft aus Gaunern und Anarchisten eingerichtet hat. Der Protagonist<br />

Fred vollzieht mit seinem Abstieg in diese „Unterwelt“ eine bewusste Abkehr von der<br />

Gesellschaft – ebenso wie Héléna, die die gesellschaftlichen Zwänge sowie die Abhängigkeit<br />

von ihrem besitzergreifenden Ehemann nicht länger erträgt und in der <strong>Metro</strong> zum ersten Mal<br />

wieder ein Gefühl der Freiheit erfährt. <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> erhält ihre Bedeutung in diesem Fall <strong>als</strong>o in<br />

erster Linie dadurch, dass sie <strong>im</strong> Kontrast zum oberirdischen Teil der Stadt steht. <strong>Die</strong>ses Beispiel<br />

illustriert zudem, dass ein Raum auch und vor allem durch die Personen charakterisiert wird, die<br />

sich dort aufhalten. Gardies beschreibt in diesem Zusammenhang ein Phänomen, das er <strong>als</strong><br />

„Dornröschen-Effekt“ (l’effet „Belle au bois dormant“) bezeichnet. 17 Gemeint ist die Tatsache,<br />

dass ein Ort <strong>im</strong> <strong>Film</strong> erst durch das Auftauchen einer Person „zum Leben erweckt wird“ (und zu<br />

einem Raum <strong>im</strong> Sinne Certeaus wird), <strong>als</strong>o Bedeutung erhält – wie das Schloss, dessen<br />

Bewohner erst durch die Ankunft des Prinzen aus ihrem hundertjährigem Schlaf erwachen. 18<br />

Gardies’ zentrale These besagt nun, dass dem Raum <strong>im</strong> <strong>Film</strong> eine mindestens ebenso große<br />

Bedeutung zukommt wie den Figuren. Um seine These zu belegen, untern<strong>im</strong>mt Gardies zunächst<br />

den Versuch, das Aktantenmodell nach Gre<strong>im</strong>as auf den Raum anzuwenden. Im Zentrum steht<br />

dabei die Frage, ob auch ein Ort (beziehungsweise Raum) ähnlich wie eine Figur alle sechs der<br />

von Gre<strong>im</strong>as definierten Rollen (destinateur, sujet, objet, destinataire, adjuvant und opposant)<br />

einnehmen kann. Seine Argumentation soll an dieser Stelle nicht <strong>im</strong> Detail rekapituliert<br />

werden. 19 Das Entscheidende ist, dass er zu dem Schluss kommt, dass eine Anwendung des<br />

Aktantenmodells in fünf der Fälle möglich sei und lediglich die Rolle des sujet Schwierigkeiten<br />

15<br />

Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 82f.<br />

16<br />

Vgl. Jurij Lotman: „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“, in: Dünne/Günzel (Hrsg.): Raumtheorie, S. 539.<br />

17<br />

Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 131ff.<br />

18<br />

Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 136.<br />

19<br />

Siehe hierzu Gardies: L´espace au cinéma, S. 136ff.<br />

8


ereite. Denn was ein sujet nach der Definition von Gre<strong>im</strong>as ausmacht, sind die Modalitäten des<br />

Wissens, des Könnens, des Müssens und vor allem die des Wollens – Fähigkeiten, die in der<br />

Regel ausschließlich Menschen zugeschrieben werden. Denkbar sei zwar, dass ein Ort<br />

personifiziert, beziehungsweise an<strong>im</strong>alisiert werde (wie etwa der Schacht „Le Voreux“ in Zolas<br />

Germinal), in diesem Fall stelle er aber allenfalls <strong>im</strong> metaphorischen Sinne ein sujet dar. 20<br />

Um dieses Problem zu lösen, zieht Gardies nun die Aktanten-Definition nach Tesnière heran.<br />

Laut Tesnière (auf dessen Dependenzgrammatik sich auch Gre<strong>im</strong>as stützt) sind Aktanten<br />

folgendermaßen best<strong>im</strong>mt: „[L]es actants sont les êtres ou les choses [...] qui, à un titre<br />

quelconque et de quelque façon que ce soit, même au titre de s<strong>im</strong>ples figurants et de la façon la<br />

plus passive, participent au procès.“ 21 <strong>Die</strong>ser Definition zufolge ist die Rolle des Raumes<br />

nunmehr eindeutig. Wie bereits anhand des Dornröschen-Effekts anschaulich wurde, muss von<br />

einer Interdependenz zwischen Figur und Raum ausgegangen werden. Der Raum stellt die<br />

notwendige Voraussetzung für das Stattfinden einer Handlung dar; die Figuren, die sich in ihm<br />

bewegen, rechtfertigen wiederum überhaupt erst seine Präsenz in der Erzählung. Damit sind laut<br />

Gardies beide Größen gleichermaßen Bedeutungsträger: „Si l’espace ne peut acquérir les<br />

diverses modalisations propres au sujet (vouloir, savoir, devoir, pouvoir), il se constitue<br />

néanmoins en être de valeurs, tout comme le sujet.“ 22<br />

2.1.3 Mittel der Raumkonstruktion <strong>im</strong> <strong>Film</strong><br />

Der Raum <strong>im</strong> <strong>Film</strong> existiert nicht a priori – er muss erst geschaffen werden. Dabei ist die<br />

Raumkonstruktion zu einem großen Teil eine Leistung des Regisseurs, dem hierzu verschiedene<br />

Mittel zur Verfügung stehen. <strong>Die</strong>ser Prozess der räumlichen Strukturierung durch den Regisseur<br />

ist für Henri Agel derart grundlegend, dass er ihn gar mit dem göttlichen Akt der Schöpfung<br />

vergleicht: „Un film n’accède à sa plénitude que dans la mesure où le metteur en scène,<br />

perpétuant et prolongeant le geste créateur de Iaweh dans la Genèse, tire un monde organisé du<br />

chaos.“ 23 Der Raumeindruck <strong>im</strong> Kino beruht jedoch, und das ist ganz entscheidend, <strong>im</strong><br />

Wesentlichen auch auf einer „Konstruktionsleistung des Zuschauers“ 24 .<br />

Eines der wichtigsten Instrumente zur Erzeugung eines kohärenten Raumeindrucks ist<br />

sicherlich die Montage, die es dem Zuschauer ermöglicht, sich ein Bild von den räumlichen<br />

Gegebenheiten zu machen. <strong>Die</strong> einzelnen Einstellungen werden (zumindest <strong>im</strong> Rahmen der<br />

klassischen Montage) nach dem so genannten Kontinuitätsprinzip dergestalt aneinander<br />

montiert, dass sich aus den gezeigten Raumausschnitten ein Gesamtbild zusammenfügt. David<br />

20<br />

Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 139.<br />

21<br />

Lucien Tesnière: Éléments de syntaxe structurale, Paris: Klincksieck 1959, S. 102, zitiert nach Gardies:<br />

L´espace au cinéma, S. 140.<br />

22<br />

Gardies: L´espace au cinéma S. 142.<br />

23<br />

Henri Agel: L´espace cinématographique (Encyclopédie universitaire), Paris: Delarge 1978, S. 11.<br />

24 Khouloki: Der filmische Raum, S. 10.<br />

9


Bordwell spricht hier prägnant von einer cognitive map, die sich nach und nach <strong>im</strong> Bewusstsein<br />

des Zuschauers zusammensetzt. 25 Zur Konstruktion eines solchen „mentalen Lageplans“ tragen<br />

laut Rayd Khouloki in besonderem Maße aber auch die Kamerafahrten bei, die „die stärkste<br />

physiologische Raumillusion“ erzeugen und den Raum „[d]urch die illusionierte Eigenbewegung<br />

des Zuschauers [...] plastischer und intensiver erfahrbar“ 26 machen. Dabei spielt stets auch das<br />

Off, das hors-champ eine wichtige Rolle. Da es <strong>als</strong> Verlängerung des Bildrahmens stets vom<br />

Zuschauer mitgedacht und ergänzt wird, trägt es wesentlich zur Geschlossenheit des filmischen<br />

Raumes bei. 27<br />

<strong>Die</strong>ser Eindruck kann dabei nur durch die aktive Rezeption eines Zuschauers zustande<br />

kommen, der kontinuierlich das, was ihm präsentiert wird, mit dem Vorangegangenen abgleicht<br />

und es (bewusst oder unbewusst) auf Kohärenz und St<strong>im</strong>migkeit hin überprüft: „Perception<br />

becomes a process of active hypothesis-testing. The organism is tuned to pick up data from the<br />

environment. Perception tends to be anticipatory, framing more or less likely expectations about<br />

what is out there.“ 28 Es gibt jedoch Fälle, in denen diese Erwartung des Zuschauers absichtlich<br />

fehlgeleitet wird, indem zum Beispiel die Montage bewusst zur Desorientierung des Zuschauers<br />

eingesetzt wird. <strong>Die</strong>s ist etwa bei der Verfolgungsjagd durch die <strong>Metro</strong>schächte in DIVA der<br />

Fall. Durch eine Abfolge von Einstellungen, die zunehmend disparat erscheinen, wird das<br />

labyrinthische Moment der <strong>Metro</strong> in Szene gesetzt – auf welche Weise dies genau geschieht,<br />

werde ich <strong>im</strong> Rahmen einer detaillierten Analyse in Kapitel 3.3 behandeln.<br />

<strong>Die</strong> Erwartungshaltung des Zuschauers ist jedoch auch in anderer Hinsicht von großer<br />

Bedeutung für die Darstellung von Orten <strong>im</strong> <strong>Film</strong>. Jeder Zuschauer bringt ein gewisses<br />

Vorwissen mit – sei es durch unmittelbare Erfahrung, durch angelesene Kenntnisse oder durch<br />

eine kulturell vermittelte stereotype Vorstellung davon, wie es an einem best<strong>im</strong>mten Ort<br />

zuzugehen habe –, welches <strong>im</strong>mer unweigerlich in die Wahrnehmung eines filmischen Ortes mit<br />

hineinspielt. 29 Welche Deutungen, Vorstellungen und Mythen über die Pariser <strong>Metro</strong> <strong>im</strong><br />

kollektiven Bewusstsein verankert sind, soll daher Gegenstand des folgenden Kapitels sein.<br />

25<br />

Vgl. David Bordwell: Narration in the Fiction <strong>Film</strong>, Wisconsin: University of Wisconsin Press 1985, S. 117,<br />

zitiert nach Khouloki: Der filmische Raum, S. 87.<br />

26<br />

Khouloki: Der filmische Raum, S. 65.<br />

27<br />

Vgl. Khouloki: Der filmische Raum, S. 12. Siehe auch Tina Hedwig Kaiser: Aufnahmen der Durchquerung: Das<br />

Transitorische <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, Bielefeld: Transcript 2008, S. 10: „Der <strong>Film</strong> existiert nur mit seinem Off, mit dem horschamp,<br />

mit dem, was er nicht zeigt. Und genau dieses Nicht-Sehen kann er gleichzeitig mit und in seinen<br />

Sichtweisen transportieren. Sie enthalten einander, das Sichtbare und das Unsichtbare, in einem maßvollen und<br />

gegenseitig bedingten Verhältnis.“<br />

28<br />

Bordwell: Narration in the Fiction <strong>Film</strong>, S. 31, zitiert nach Khouloki: Der filmische Raum, S. 36f.<br />

29 Vgl. Gardies: L´espace au cinéma, S. 75.<br />

10


2.2 „PRENDRE LE MÉTRO“ – EIN PARISER RITUAL<br />

Wer das Wesen von Paris begreifen wolle, der fahre am besten ganz einfach mit der <strong>Metro</strong> – so<br />

schrieb Franz Kafka, <strong>als</strong> er <strong>im</strong> Jahr 1911 die französische Hauptstadt bereiste. <strong>Die</strong>se biete „für<br />

einen erwartungsvollen und schwächlichen Fremden [...] die beste Gelegenheit, sich den<br />

Glauben zu verschaffen, richtig und rasch <strong>im</strong> ersten Anlauf in das Wesen von Paris<br />

eingedrungen zu sein.“ 30 Und wenn der Anthropologe Marc Augé sagt „Je n’ai jamais cessé de<br />

prendre le métro, jamais cessé d’être un Parisien“ 31 , so <strong>im</strong>pliziert dies einen ähnlichen<br />

Gedanken, nämlich: Pariser sein, das bedeutet mit der <strong>Metro</strong> zu fahren.<br />

Marc Augé widmete der Pariser Untergrundbahn zwei Untersuchungen. Im Jahr 1986, sechs<br />

Jahre vor seinen vielbeachteten Betrachtungen über die Non-lieux, erschien der erste Band Un<br />

éthnologue dans le métro. Hierin beschrieb er die Fahrt in der <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> einen ritualisierten<br />

Vorgang, der sich durch seinen <strong>im</strong>mer gleichen Ablauf, die <strong>im</strong>mer gleiche Abfolge der Stationen<br />

wie ein Gebet in das Gedächtnis des Fahrgasts einpräge. Der routinierte <strong>Metro</strong>passagier erkenne<br />

schon anhand der Geräusche eines herannahenden Zuges, wann es sich zu beeilen lohnt, er kenne<br />

die Stelle <strong>im</strong> Waggon, von der aus er am schnellsten den nächsten Bahnsteig erreicht und<br />

bewege sich auf diese Weise mit größter Virtuosität durch das ihm vertraute Terrain. 32 „Métro,<br />

boulot, dodo“: In dieser geläufigen Formel, die David L. Pike <strong>als</strong> Mantra des modernen<br />

Großstädters bezeichnet 33 , drücken sich exemplarisch der ritualisierte Charakter des<br />

<strong>Metro</strong>fahrens und seine Bedeutung für den Alltag der Bewohner von Paris aus. Ein Großteil der<br />

Einwohner von Paris nutzt die Untergrundbahn täglich, unabhängig von sozialer Herkunft und<br />

gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Indem sie die Menschen auf diese Weise in gewisser Hinsicht<br />

„gleich macht“, uniformiert, stiftet die <strong>Metro</strong> einerseits eine Form von kollektiver Identität.<br />

Andererseits jedoch – und dies ist ein Paradox, auf dem Marc Augé besonders besteht – schafft<br />

sie Anonymität und Einsamkeit.<br />

Ihre identitäts- und kollektivitätsstiftende Funktion besteht laut Augé allerdings nicht vorrangig<br />

in ihrem vereinheitlichenden Charakter, sondern vielmehr darin, dass durch einen<br />

<strong>im</strong>merwährenden Verweis auf bedeutende Persönlichkeiten und Momente der <strong>französischen</strong><br />

Geschichte und Kultur – insbesondere durch <strong>Metro</strong>stationen wie „Charles de Gaulle - Étoile“,<br />

„Victor Hugo“ oder „Bastille“ – eine Art Ahnenkult praktiziert werde. 34 Augé spricht in diesem<br />

Zusammenhang von einer historischen „Aufladung“ der <strong>Metro</strong>strecken („la ,charge‘ historique<br />

30<br />

Franz Kafka: „Reisetagebücher“, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden (Band 12). Herausgegeben von Hans-<br />

Gerd Koch, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 73.<br />

31<br />

Marc Augé: Le métro revisité, Paris: Éditions du Seuil 2008, S. 7.<br />

32<br />

Vgl. Marc Augé: Un ethnologue dans le métro, Paris: Hachette 1986, S. 13ff.<br />

33<br />

Vgl. David L Pike.: Subterranean Cities. The World beneath Paris and London, 1800-1945, Ithaca/London:<br />

Cornell University Press 2005, S. 16.<br />

34<br />

„Prendre le métro, ce serait donc en quelque sorte célébrer le culte des ancêtres“, Augé: Un ethnologue dans le<br />

métro, S. 33f.<br />

11


évidente du parcours du métro“ 35 ), die wohl auch einer der Gründe dafür sein mag, dass Kafka<br />

hier das „Wesen von Paris“ unmittelbar zu erkennen glaubte. Im Leben der Bewohner von Paris<br />

nehme die <strong>Metro</strong> zudem auch dadurch einen ganz besonderen Stellenwert ein, dass sie nicht nur<br />

mit einem kollektiven Geschichtsbewusstsein, sondern ebenso mit individuellen Erinnerungen<br />

und Erfahrungen eng verknüpft sei. Von seinen persönlichen Erfahrungen ausgehend, beschreibt<br />

Marc Augé, wie etwa best<strong>im</strong>mte <strong>Metro</strong>linien untrennbar mit Erinnerungen an frühere<br />

Lebensabschnitte oder an Personen verbunden sein können. 36 Ebenso würden manche Wege und<br />

Stationen stets mit best<strong>im</strong>mten Lebensbereichen assoziiert: „Chacun de ces itinéraires, à une<br />

époque donnée, a articulé quotidiennement les différents aspects de ma vie professionelle et<br />

familiale et m’a <strong>im</strong>posé ses répères et ses rhythmes.“ 37<br />

Gerade dies hat nun zur Folge, dass die Fahrt in der <strong>Metro</strong> wiederum auch zu einer sehr<br />

subjektiven, persönlichen Erfahrung wird 38 , dass sie eben keineswegs nur Kollektivität stiftet,<br />

sondern vielmehr den einzelnen auf sich selbst verweist. Er mag täglich mit den gleichen<br />

Menschen die gleiche Strecke zur gleichen Zeit <strong>im</strong> gleichen Waggon fahren – er bleibt doch<br />

letztlich <strong>im</strong>mer allein mit sich. In den oft überfüllten Zügen, in denen einem nicht selten die<br />

Nähe zu anderen Mitreisenden aufgezwungen wird, findet keine Kommunikation statt. <strong>Die</strong><br />

meisten versenken sich in ein Buch oder Kreuzworträtsel, hören Musik oder blicken starr aus<br />

dem Fenster, <strong>als</strong> gäbe es <strong>im</strong> Dunkel der Tunnel etwas zu sehen; das Gespräch sucht hier<br />

niemand. Im Gegenteil: Je voller die <strong>Metro</strong> ist, desto eher vermeidet ein jeder, den anderen<br />

anzusehen und desto weniger erträgt man selbst die Blicke der anderen. Und so kommt der<br />

Aufenthalt in der <strong>Metro</strong> einer „solitude sans isolement“ 39 , einer Einsamkeit inmitten der<br />

Gemeinschaft gleich. <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> kann auf diese Weise <strong>als</strong> eine „Großstadt <strong>im</strong> Kleinen“<br />

beschrieben werden, verdichtet sich doch hier die moderne Großstadterfahrung eines Poeschen<br />

„man of the crowd“.<br />

Eben diese Beobachtung veranlasste Augé etwa zwanzig Jahre nach Un éthnologue dans le<br />

métro zu einer erneuten Untersuchung der <strong>Metro</strong>. In Le métro revisité (2008) betrachtet er sie<br />

nun vor dem Hintergrund seines in den 90er Jahren entwickelten Konzeptes der non-lieux. 40<br />

Nicht-Orte sind laut Marc Augé dadurch gekennzeichnet, dass sie weder Identität noch Relation,<br />

35 Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 33.<br />

36 Vgl. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 10ff.<br />

37 Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 13.<br />

38 Vgl. Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 54f.<br />

39 Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 55.<br />

40 Zu den Nicht-Orten zählt Augé unter anderem Verkehrsmittel wie Flugzeuge, Eisenbahnen, Automobile, ebenso<br />

Flughäfen, Bahnhöfe und Autobahnen bis hin zu Einkaufszentren, Tankstellen, Hotelketten und Freizeitparks.<br />

Vgl. Marc Augé: Non-lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité, Paris: Éditions du Seuil 1992,<br />

S. 48.<br />

12


sondern vielmehr Einsamkeit und Ähnlichkeit schaffen 41 – kurz: das Individuum in der Masse<br />

verschwinden lassen. Es handelt sich um Orte, die, „promis à l’individualité solitaire, au passage,<br />

au provisoire et à l’éphémère“ 42 , meist ausschließlich auf best<strong>im</strong>mte Zwecke ausgerichtet sind,<br />

wie etwa Verkehr, Freizeit, Handel und Konsum. 43 Augé zufolge bringt nun unsere, von ihm <strong>als</strong><br />

„Übermoderne“ beschriebene, Zeit zunehmend solche Nicht-Orte hervor, an denen sich die<br />

Menschen entfremden, identitäts- und beziehungslos erscheinen. Es liegt nahe, die Kategorie des<br />

Nicht-Ortes auf die <strong>Metro</strong> anzuwenden, stellt doch auch sie einen solchen Ort der Durchreise,<br />

der kurzen Aufenthalte und der anonymen, flüchtigen Begegnungen dar, in den nun zunehmend<br />

auch Funktionen wie Konsum und Freizeit verlegt werden. 44<br />

Dennoch ist die Klassifizierung der <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> Nicht-Ort keineswegs so eindeutig, wie es auf<br />

den ersten Blick scheinen mag. Denn für Marc Augé trägt die <strong>Metro</strong> vielmehr überwiegend Züge<br />

des „anthropologischen Ortes“, den er <strong>als</strong> das Gegenstück zum Nicht-Ort definiert.<br />

Anthropologische Orte (lieux anthropologiques) sind unter anderem dadurch gekennzeichnet,<br />

dass sie in symbolischer Weise die kulturelle Identität einer Gesellschaft repräsentieren und <strong>im</strong><br />

Zuge dessen mit Sinn aufgeladen werden können 45 – oder eben, wie wir es in Bezug auf die<br />

<strong>Metro</strong> bereits sagten, mit Geschichte. Indem Augé die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> einen Ort charakterisiert, dem<br />

die Historie und Kultur Frankreichs eingeschrieben sind und der überdies auch den einzelnen<br />

stets mit seinen individuellen Erinnerungen und Erfahrungen in Beziehung setzt (so nennt er es<br />

ein „privilège parisien que de pouvoir utiliser le plan du métro comme un aide-mémoire, un<br />

déclencheur de souvenirs“ 46 ), schreibt er ihr alle Eigenschaften des anthropologischen Ortes zu.<br />

Somit ist es nicht verwunderlich, dass er zu dem Schluss kommt: „[L]e métro n’est pas un non-<br />

lieu.“ 47 Allerdings, so schränkt er zugleich ein, gelte dies nur bedingt – nämlich dann, wenn man<br />

wie er persönliche Erinnerungen mit der <strong>Metro</strong> verbinde und sie <strong>als</strong> einen Teil der eigenen<br />

geographischen und sozialen Identität betrachte. 48<br />

41<br />

„L´espace du non-lieu ne crée ni identité singulière, ni relation, mais solitude et s<strong>im</strong>ilitude“, Augé: Non-lieux,<br />

S. 130.<br />

42<br />

Augé: Non-lieux, S. 101.<br />

43<br />

Vgl. Augé: Non-lieux, S. 18f.<br />

44<br />

Man denke etwa an das am Untergrundbahnhof „Châtelet – Les Halles“ gelegene Einkaufszentrum „Forum des<br />

Halles“, das <strong>als</strong> größtes unterirdisches Kaufhaus Europas nicht nur zahlreiche Geschäfte beherbergt, sondern<br />

ebenso Möglichkeiten der Freizeitgestaltung wie etwa ein Kino, ein Schw<strong>im</strong>mbad und eine Billardhalle.<br />

45<br />

Vgl. Augé: Non-lieux, S. 68f. <strong>Die</strong> Entdeckung der Symbolträchtigkeit der <strong>Metro</strong> bezeichnet Marc Augé <strong>als</strong> eine<br />

der wichtigsten Erkenntnisse aus Un éthnologue dans le métro. Er sieht in ihr eine Metapher für den Fluss des<br />

Lebens und vergleicht sie mit dem Blutkreislauf des Menschen oder dem Schlagen des Herzens. Somit ist die<br />

<strong>Metro</strong> für ihn schlussendlich eine Metapher für das (individuelle und soziale) Leben selbst. Vgl. Augé: Le métro<br />

revisité, S. 27f.<br />

46<br />

Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 8.<br />

47 Augé: Le métro revisité, S. 33.<br />

48 Vgl. Augé: Le métro revisité, S. 33f.<br />

13


2.2.1 <strong>Die</strong> Stadt unter der Stadt<br />

Bis auf wenige oberirdische Stationen (métro aérien) erstreckt sich die <strong>Metro</strong> zum größten Teil<br />

<strong>im</strong> Untergrund von Paris. Mit seinem labyrinthischen Netz aus Tunneln, Gängen, Höhlen und<br />

Schächten erschien dieser seit jeher <strong>als</strong> die dunkle, verborgene Seite der Stadt. Bis heute erzeugt<br />

der „schreckliche Keller“ 49 ein leises Unbehagen, welches die Pariser allerdings gerne mit<br />

vorgetäuschtem Gleichmut zu überspielen pflegen. Dabei ist ihnen die Tatsache, dass Paris<br />

tatsächlich zu großen Teilen unterhöhlt ist, weniger geheuer <strong>als</strong> sie gemeinhin zugeben, wie<br />

Alain Schifres in seinem humoristischen Porträt über Les Parisiens zum Ausdruck bringt. Wenn<br />

sie damit kokettierten, ihre Stadt sei auf Luft gebaut, so Schifres, „[c]’est pour éviter de nommer<br />

le grand céphalopode sous [leurs] pieds.“ 50 Nicht zuletzt ist diese he<strong>im</strong>liche Abneigung gegen<br />

den Untergrund von Paris auch darauf zurückzuführen, dass dieser schon <strong>im</strong>mer auch <strong>als</strong> Lager<br />

für „Überreste“ jeglicher Art diente.<br />

Vage weiß man, daß <strong>im</strong> Gedärm des großen Stadttieres, unter dem Asphalt, jenseits der präsentablen gut<br />

beleuchteten Zonen allerlei Funktionales stattfindet, womit der gewöhnliche Alltag nicht behelligt werden<br />

soll. Dort unten wird Störendes und Unappetitliches entsorgt, manches auch diskret abgelegt. Aber gerade<br />

was sich der Beobachtung entzieht, fordert die Phantasie heraus. 51<br />

Zu solcherlei „störenden“ und „unappetitlichen“ Dingen zählen etwa die unzähligen Leichen, die<br />

gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach und nach vom „C<strong>im</strong>etière des Innocents“ in die heutigen<br />

Katakomben umgebettet wurden. Jedoch gehören die Pariser „Leichen <strong>im</strong> Keller“, ähnlich wie<br />

die Kanalisation, trotz oder gerade wegen ihres morbiden Charmes zu den meistbesuchten<br />

Attraktionen der Stadt, was David L. Pike <strong>als</strong> Symptom einer generellen Faszination für alles<br />

Unterirdische deutet: „Contemporary Western culture seems obsessed by all things<br />

underground.“ 52 <strong>Die</strong> sonderbare Mischung aus Unbehagen und Faszination ist es auch, die schon<br />

<strong>im</strong>mer einen gewissen Reiz auf widerständische Gruppen jeglicher Art auszuüben schien. Man<br />

denke etwa an die Résistance, die sich während des Zweiten Weltkriegs <strong>im</strong> Untergrund von Paris<br />

organisierte. Aber auch die – trotz Verbot bis heute regelmäßig stattfindenden – illegalen Partys<br />

in den „Carrières“, den ehemaligen Steinbrüchen der Stadt, zeugen von der offenkundigen<br />

Attraktivität des Pariser Untergrunds.<br />

Bei aller Faszination ist und bleibt der Untergrund allerdings überwiegend negativ konnotiert<br />

und oft auch angstbesetzt – ein Phänomen, das Pike zufolge seinen Ursprung <strong>im</strong> 19. Jahrhundert<br />

hat. Mit dem fortschreitenden Bau unterirdischer Tunnel und komplexer Systeme wie den<br />

Katakomben oder der Kanalisation bildete sich in dieser Zeit allmählich eine neue<br />

Konzeptualisierung der Stadt heraus, die nunmehr <strong>als</strong> vertikaler Raum wahrgenommen wurde. 53<br />

Mit diesem neuen Konzept der „vertikalen Stadt“ verbanden und verbinden sich traditionelle, bis<br />

49<br />

Victor Hugo beschreibt die Kanalisation <strong>im</strong> Untergrund von Paris in Les Misérables (1862) <strong>als</strong> „cave terrible“.<br />

50<br />

Alain Schifres: Les Parisiens, Paris: Éditions Jean-Claude Lattès 1990, S. 19.<br />

51<br />

Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 8.<br />

52<br />

Pike: Subterranean Cities, S. 1.<br />

53<br />

Vgl. Pike: Subterranean Cities, S. 1, sowie S. 5ff.<br />

14


auf die Antike zurückverweisende Vorstellungen, die das Gute oben und das Böse unten<br />

lokalisieren (wie es sich etwa in Darstellungen von H<strong>im</strong>mel und Hölle widerspiegelt). 54 Und so<br />

ist auch die geläufige Assoziierung von Prostituierten und Zuhältern, Drogendealern und<br />

Junkies, Mafiosi, <strong>Die</strong>ben und anderen Delinquenten mit dem Untergrund (Pike spricht<br />

bezeichnenderweise auch von „underground beings“ 55 ) ein Ergebnis dieser vertikalen<br />

Konzeptualisierung und dem damit verbundenen Antagonismus. Wenngleich sicher nicht von<br />

der Hand zu weisen ist, dass die Ansiedlung kr<strong>im</strong>ineller Milieus <strong>im</strong> Untergrund oftm<strong>als</strong> Realität<br />

ist – organisierter Taschendiebstahl und Drogenhandel in der Pariser <strong>Metro</strong> können hier <strong>als</strong><br />

Beispiele angeführt werden –, so muss doch einschränkend bemerkt werden, dass konventionelle<br />

Denkweisen diesen Eindruck durchaus verstärken. So verweisen Liehr/Faÿ darauf, dass die<br />

<strong>Metro</strong> laut Statistik tatsächlich nicht gefährlicher ist <strong>als</strong> andere Orte in Paris. Jedoch werde<br />

generell das, „was unter der Erde geschieht, <strong>als</strong> doppelt bedrohlich empfunden.“ 56<br />

2.2.2 Zur Ästhetik der <strong>Metro</strong>: le style métro<br />

Der Angst vor Kr<strong>im</strong>inalität in der <strong>Metro</strong> begegnet man heute mit einer gezielten Imagepflege.<br />

Videoüberwachung und demonstrative Polizeipräsenz sollen ein Gefühl der Sicherheit<br />

vermitteln, ein klinisch-hygienisches Erscheinungsbild dafür sorgen, dass „[d]em schleichenden<br />

Unbehagen des Fahrgasts an seinem täglichen Zwangsaufenthalt in den unteren Zonen der Stadt<br />

[...] keine Gelegenheit zur Entfaltung gegeben“ 57 wird. Wird heutzutage ein modernes<br />

Erscheinungsbild <strong>als</strong>o durchaus begrüßt, fürchtete man um die Jahrhundertwende, die <strong>Metro</strong><br />

würde durch ein industrielles Aussehen das Stadtbild zerstören. So schrieb Charles Garnier,<br />

Architekt der Opéra Garnier, <strong>im</strong> Jahr 1886:<br />

Le métro, aux yeux de la plus grande partie des Parisiens, n’aura guère d’excuse que s’il repousse<br />

absolument tout caractère industriel pour devenir complètement œuvre d’art. Paris ne doit pas se transformer<br />

en usine; il doit rester un musée. 58<br />

Um <strong>als</strong>o einem allzu nüchternen, technischen Erscheinungsbild der <strong>Metro</strong> entgegenzuwirken,<br />

beauftragte man den Künstler Hector Gu<strong>im</strong>ard mit dem Entwurf der édicules. Mit der speziellen,<br />

neuartigen Ästhetik seiner <strong>Metro</strong>eingänge machte er den Stil des Art Nouveau, lange Zeit<br />

schlicht <strong>als</strong> style métro bezeichnet, in der ganzen Welt bekannt. 59 <strong>Die</strong> geschwungenen, an<br />

Formen aus der Natur angelehnten Entwürfe Gu<strong>im</strong>ards sollten dem Eintritt in den Untergrund<br />

der Stadt den Schrecken nehmen und den industriellen Charakter der <strong>Metro</strong> verschleiern.<br />

54<br />

Vgl. Pike: Subterranean Cities, S. 5. Wie Jean-Pierre Bayard ausführt, ist die Lokalisierung der Hölle <strong>im</strong><br />

Untergrund eine Universalie, die selbstverständlich keineswegs nur <strong>im</strong> Christentum zu finden ist: „Il est curieux<br />

de constater que toutes les formes religieuses situent l´enfer dans le monde souterrain, qui ne peut que<br />

représenter l´état inférieur de l´homme, la terre étant l´état humain corporel“, Jean-Pierre Bayard: La symbolique<br />

du monde souterrain, Paris: Payot 1973, S. 65.<br />

55<br />

Pike: Subterranean Cities, S. 1.<br />

56<br />

Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 141.<br />

57<br />

Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 140.<br />

58<br />

Zitiert nach Roger Henri Guerrand: L´aventure du métropolitain, Paris: Éditions la Découverte 1986, S. 64.<br />

59 1<br />

Vgl. Benson Bobrick: Labyrinths of Iron: A History of the World´s Subways ( 1981), New York: Newsweek<br />

Books 3 1982, S. 155 sowie S. 165.<br />

15


Allerdings waren die Bewohner von Paris <strong>im</strong> Hinblick auf Gu<strong>im</strong>ards édicules durchaus geteilter<br />

Meinung. Während einige die floralen und verspielten Formen der graugrünen Eisenträger<br />

feierten, lehnte ein Großteil die édicules vehement ab. Manche fühlten sich durch die<br />

stängelartig aufragenden Eisenträger an ein Dinosaurierskelett („fragments d’un squelette<br />

d’ichtyosaure“ 60 ) erinnert, andere wiederum verglichen die Beschriftung der Emailleschilder mit<br />

Hieroglyphen und empfanden diese <strong>als</strong> schlichtweg lächerlich. 61<br />

<strong>Die</strong> Diskussionen um die Stationseingänge zogen zunächst einen Großteil der öffentlichen<br />

Aufmerksamkeit auf sich. Dass bereits innerhalb des ersten Jahres über sieben Millionen<br />

Besucher mit der Linie 1 gefahren waren – die erste <strong>Metro</strong>linie wurde am 19. Juli 1900<br />

eingeweiht –, war nicht unwesentlich dem Interesse an den Gu<strong>im</strong>ardschen édicules geschuldet<br />

und auch die Exposition Universelle trug sicherlich ihren Teil zu diesem großen Andrang bei.<br />

Allerdings gelangte die <strong>Metro</strong> bald zu eher zweifelhaftem Ruhm, <strong>als</strong> sich in den ersten Jahren<br />

nach der Inbetriebnahme Schlagzeilen über Unfälle häuften, die sich in der <strong>Metro</strong> ereigneten.<br />

Insbesondere mit der Explosionskatastrophe an der Station „Couronnes“ <strong>im</strong> August des Jahres<br />

1903, bei der 84 Menschen in einem <strong>Metro</strong>waggon ums Leben kamen, verkehrte sich die<br />

anfängliche Faszination schließlich in Unbehagen und Angst. 62 Das Ereignis zog eine Welle von<br />

sarkastischer Kritik und angstmacherischer Berichterstattung nach sich. Hatte man schon vor<br />

Eröffnung der <strong>Metro</strong> die Angst vor unhygienischen Zuständen, Krankheiten, schädlichen<br />

Dämpfen und Bakterien, denen man <strong>im</strong> Untergrund ausgesetzt sei, geschürt 63 , überschlugen sich<br />

die Zeitungen nun förmlich mit mahnenden Ratschlägen. 64 In einer Sonderausgabe der<br />

Zeitschrift L’Assiette au beurre vom 22. August 1903 wurden <strong>als</strong> direkte Reaktion auf die<br />

Explosionskatastrophe gleich mehrere Illustrationen abgedruckt, die die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> todbringenden<br />

Ort darstellten.<br />

60 Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 67.<br />

61 Vgl. Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 67.<br />

62 Vgl. Pike: Subterranean Cities, S. 52f, sowie Michel Dansel: Paris-métro, Paris: Éditions du Dauphin 1975,<br />

S. 49ff. Das Ereignis hatte einen starken Einbruch der Beförderungszahlen zur Folge und in den kommenden<br />

Jahren sollte die Zahl der jährlich transportierten <strong>Metro</strong>passagiere nur allmählich wieder ansteigen. Größere<br />

Entwicklungssprünge waren dann insbesondere während der Weltkriege festzustellen. Im Zweiten Weltkrieg<br />

entwickelte sich die <strong>Metro</strong> schließlich endgültig zum Hauptverkehrsmittel in Paris und beförderte über eine<br />

Millionen Passagiere jährlich. Damit lag sie schon knapp unter den heutigen Beförderungszahlen. Vgl. Dansel:<br />

Paris-métro, S. 51ff sowie S. 154.<br />

63 Vgl. Liehr/Faÿ: Der Untergrund von Paris, S. 139 sowie Bobrick: Labyrinths of Iron, S. 143.<br />

64 Ein Redakteur der Zeitschrift La Nature etwa warnte eindringlich vor dem Temperaturunterschied, der zwischen<br />

überirdischem und unterirdischem Terrain herrsche: „Gare aux fluxions de poitrine! [...] nous ne saurions trop<br />

recommander à ceux qui liront ces lignes d´éviter une entrée trop brusque dans les stations; il est certain qu´une<br />

personne pressée de prendre son train, qui arrive en courant et qui se précipite en nage dans cette atmosphère<br />

refroidie, s´expose aux plus graves dangers“, zitiert nach Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 55.<br />

16


Das Unbehagen, das man der <strong>Metro</strong> entgegenbrachte, wandte sich nun auch zunehmend gegen<br />

die édicules von Gu<strong>im</strong>ard. <strong>Die</strong>se schienen nun selbst den ehemaligen Befürwortern nicht mehr<br />

den Eintritt in eine abenteuerliche, gehe<strong>im</strong>nisvolle Welt zu eröffnen, sondern vielmehr die<br />

Schwelle zur Unterwelt zu symbolisieren. Ab etwa 1914 wurden die Gu<strong>im</strong>ardschen édicules<br />

schließlich nach und nach ersetzt, sodass heute nur noch einige wenige Stationseingänge mit den<br />

Art-Nouveau-Eisenträgern erhalten sind.<br />

2.2.3 Mythos <strong>Metro</strong><br />

Noch lange Zeit blieb die Ikonographie der <strong>Metro</strong> durch angstvolle Höllen- und<br />

Unterweltsvisionen geprägt, wie sie die obigen Illustrationen zeigen. <strong>Die</strong>se Darstellungen<br />

entfalten bis heute ihre Nachwirkung, wie auch eine Lithographie jüngeren Datums des<br />

Künstlers Jan Balet (1913-2009) veranschaulicht (siehe Abb. 3). Indem sie die „jenseitige<br />

Ästhetik“ 65 der Gu<strong>im</strong>ardschen Stationseingänge betont und diese <strong>als</strong> Pforten zur Hölle inszeniert,<br />

verweist diese Darstellung von Balet außerdem auf die mythische D<strong>im</strong>ension der <strong>Metro</strong>. Sie<br />

zeigt einen modernen Orpheus, der aus der Unterwelt aufsteigt. Das am <strong>Metro</strong>eingang<br />

angebrachte Schild spielt mit der Zweideutigkeit der Aufschrift, die entweder <strong>als</strong> „En fer“ oder<br />

„Enfer“ gelesen werden kann.<br />

65 David L. Pike spricht wiederholt von der „otherworldly aesthetic“ oder dem „otherworldly character“ der<br />

édicules, die den Menschen den Übergang zu einer urbanen Unterwelt zu markieren schienen. Vgl. Pike:<br />

Subterranean Cities, S. 25 sowie S. 53.<br />

17<br />

Abb. 1 (links): Théophile Steinlens sarkastischer<br />

Kommentar zur Explosionskatastrophe an der<br />

Station „Couronnes“: Am Ticketschalter einer<br />

<strong>Metro</strong>station sitzt der Tod persönlich und<br />

verkauft Fahrkarten für „Le Métro-Nécro“.<br />

Abb. 2 (oben): D<strong>im</strong>itrios Galanis zeichnete die<br />

<strong>Metro</strong> <strong>als</strong> moderne Nekropole.


Wenn sich Realität und Mythos in der gesamten Paris-Darstellung <strong>im</strong>mer wieder durchdringen,<br />

so ist dies auch und in besonderer Weise bei der <strong>Metro</strong> der Fall: <strong>Die</strong> Lithographie von Balet<br />

veranschaulicht, wie eng sie <strong>im</strong> kollektiven Bewusstsein mit mythischen Inhalten verknüpft ist.<br />

Schon Walter Benjamin beschrieb die <strong>Metro</strong> in<br />

seinem Passagen-Fragment <strong>als</strong> besonders bedeutungs-<br />

trächtigen Teil der „mythologischen Topographie von<br />

Paris“ 66 :<br />

Aber [es gibt noch] ein anderes System von Galerien, die<br />

unterirdisch durch Paris sich hinziehen: die Métro, wo am Abend<br />

rot die Lichter aufglühen, die den Weg in den Hades der Namen<br />

zeigen. Combat – Elysée – Georges V – Etienne Marcel –<br />

Solférino – Invalides – Vaugirard haben die schmachvollen<br />

Ketten der rue, der place von sich abgeworfen, sind hier <strong>im</strong><br />

blitzdurchzuckten, pfiffdurchgellten Dunkel zu ungestalten<br />

Kloakengöttern, Katakombenfeen geworden. <strong>Die</strong>s Labyrinth<br />

beherbergt in seinem Innern nicht einen sondern Dutzende<br />

blinder, rasender Stiere, in deren Rachen [...] allmorgendlich<br />

tausende bleichsüchtiger Midinetten, unausgeschlafener Kommis<br />

sich werfen müssen. 67<br />

Walter Benjamin n<strong>im</strong>mt hier auf unterschiedliche<br />

mythologische Stoffe Bezug, die <strong>im</strong>mer wieder in<br />

Z Abb. 3: <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> Unterwelt: Jan Balets Zusammenhang mit dem Untergrund von Paris und<br />

gehe<strong>im</strong>nisvoller Orpheus (was versteckt er in<br />

seinem Geigenkasten?) steigt aus dem Unter-<br />

grund von Paris auf.<br />

insbesondere der <strong>Metro</strong> gebracht werden. Zum einen<br />

spielt auch er, wenn er vom „Hades der Namen“<br />

spricht, auf die Unterwelt, den Aufenthaltsort der Toten an 68 , zum anderen referiert er auf das<br />

Labyrinth, das <strong>im</strong> griechischen Mythos den Minotaurus beherbergt – beide Topoi werden uns <strong>im</strong><br />

Rahmen der <strong>Film</strong>analysen beschäftigen. Insbesondere das labyrinthische Moment der <strong>Metro</strong><br />

wird in vielen <strong>Film</strong>en in Szene gesetzt, was mit der ausgeprägten Bedeutungsfülle<br />

zusammenhängen mag, die das Motiv des Labyrinths auszeichnet. 69 Es kann zwar mitunter<br />

völlig unterschiedliche, oft widersprüchliche Semantisierungen einschließen, jedoch sind seine<br />

„semantischen und strukturellen Konstituenten [...] in unserer Kultur derart verwurzelt“ 70 , dass<br />

seine jeweilige Bedeutung laut Manfred Schmeling in den meisten Fällen von den Rezipienten<br />

problemlos dechiffriert werden kann:<br />

<strong>Die</strong> Evokationen von labyrinthischen Höhlen, Bäuchen, Eingeweiden, unterirdischen Konstruktionen oder <strong>im</strong><br />

engeren Sinne mythischen, inferno-ähnlichen Aufenthaltsräumen bestätigen das Vorhandensein eines<br />

66<br />

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band V,1 [Das Passagen-Werk]. Herausgegeben von Rolf Tiedemann,<br />

Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 139.<br />

67<br />

Benjamin: Das Passagen-Werk, S. 135f.<br />

68<br />

Zudem beschreibt Walter Benjamin hier – wenn auch mit einer völlig unterschiedlichen Rhetorik – <strong>im</strong> Grunde<br />

das, was Augé später <strong>als</strong> „historische Aufladung“ der <strong>Metro</strong> bezeichnen wird: <strong>Die</strong> großen Namen der<br />

<strong>französischen</strong> Geschichte scheinen in diesem „Hades der Namen“ <strong>als</strong> „Kloakengötter“ und „Katakombenfeen“<br />

fortzuleben.<br />

69<br />

Vgl. Manfred Schmeling: Der labyrinthische Diskurs: Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt a.M.:<br />

Athenäum Verlag 1987, S. 13.<br />

70 Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 13.<br />

18


kulturellen, diachronisch wie synchronisch wirksamen ,sensus communis‘, eines gemeinsamen kulturellen<br />

Erfahrungshorizontes. 71<br />

Schmeling beschäftigt sich in seinem Werk Der labyrinthische Diskurs vorrangig mit der<br />

Erzählliteratur der Moderne, die häufig labyrinthische Imaginationsräume zur Aufarbeitung der<br />

unterschiedlichsten Themen entwarf. Schmeling beschreibt unter anderem anhand von Zolas<br />

Germinal, mittels welcher Metaphern und Vergleiche das Bergwerk hier <strong>als</strong> Labyrinth inszeniert<br />

wird (gleichwohl an keiner Stelle explizit von einem Labyrinth die Rede ist) und inwiefern Zola<br />

sich hierfür kulturell vermittelter und verinnerlichter Konzepte bedient. 72 Beispielhaft ist<br />

insbesondere die Darstellung der Grube „Le Voreux“, die in einer Personifizierung<br />

(beziehungsweise An<strong>im</strong>alisierung) <strong>als</strong> Menschen verschlingendes Wesen in Erscheinung tritt 73<br />

und so an den Minotaurus aus dem griechischen Mythos erinnert. Bemerkenswerterweise kann<br />

man beinahe identische Schilderungen auch über die Pariser <strong>Metro</strong> finden. Henri Calet etwa<br />

nannte die <strong>Metro</strong> 1948 in Le Tout sur le tout „[une] espèce de grand serpent souterrain qui se<br />

nourrit d’hommes, de femmes et d’enfants.“ 74 Und noch heute spricht man von der „bouche du<br />

métro“, ein Ausdruck, der ebenfalls das Bild eines Menschen verschlingenden Ungeheuers<br />

evoziert. Genauso beschwört Zola in Bezug auf das unterirdische Bergwerk wiederholt<br />

Unterwelts- oder Höllenvisionen herauf 75 – ebenfalls Konnotationen, die uns bereits <strong>im</strong> Falle der<br />

<strong>Metro</strong> begegneten. Dass sich die Schilderungen der <strong>Metro</strong> und des Schachtes „Le Voreux“ in<br />

Germinal in so auffälliger Weise ähneln, hängt damit zusammen, dass sie gleichermaßen mit<br />

dem Konzept eines „labyrinthus subterraneus“ verknüpft sind, welchem laut Schmeling unter<br />

anderem typische Konnotate wie „Tod“, „Vernichtung“ und „Verbrechen“ zugeordnet sind. 76<br />

Nach Jean-Pierre Bayard kann das unterirdische Labyrinth aber ebenso zum Symbol eines<br />

„couloir initiatique“ werden, <strong>als</strong>o eines Prozesses, der den Helden einer Erzählung schließlich<br />

zur Überschreitung einer entscheidenden Schwelle in seiner persönlichen Entwicklung führen<br />

soll. 77 Doch es wäre irreführend, das Motiv des Labyrinths auf einige wenige semantische Felder<br />

reduzieren zu wollen. Tatsächlich ist es so vielgestaltig und komplex, dass laut Schmeling kaum<br />

ein Thema denkbar ist, das „sich nicht – denotativ oder konnotativ – in Kategorien des<br />

,Labyrinthischen‘ wiedergeben [ließe].“ 78<br />

71 Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 70.<br />

72 Vgl. Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 69f.<br />

73 „Et Le Voreux, au fond de son trou, avec son tassement de bête méchante, s´écrasant d´avantage, respirait d´une<br />

haleine plus grosse et plus longue, l´air gêné par sa digestion pénible de chair humaine“, Émile Zola: Germinal,<br />

Paris: Fasquelle 1966, S. 17, zitiert nach Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 74.<br />

74 Zitiert nach Guerrand: L´aventure du métropolitain, S. 168.<br />

75 „Autant valait-il crever tout de suite que de redescendre au fond de cet enfer“; „Lorsqu´ils parlaient de cette<br />

région de la fosse, les mineurs du pays pâlissaient et baissaient la voix comme s´ils avaient parlé de l´enfer“,<br />

Zola: Germinal, S. 63 und 291, zitiert nach Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 74.<br />

76 Vgl. Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 75.<br />

77 Vgl. Bayard: La symbolique du monde souterrain, S. 103ff..<br />

78 Schmeling: Der labyrinthische Diskurs, S. 15.<br />

19


2.2.4 <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong><br />

<strong>Die</strong> eigentliche „filmische Existenz“ der <strong>Metro</strong> <strong>im</strong> <strong>französischen</strong> Kino beginnt – abgesehen von<br />

wenigen frühen, eher unbedeutenden „Auftritten“ in <strong>Film</strong>en des ersten Jahrzehnts des 20.<br />

Jahrhunderts 79 – erst <strong>im</strong> Jahr 1913. Mit JUVE CONTRE FANTÔMAS, einem der frühen séri<strong>als</strong><br />

von Louis Feuillade, offenbart die <strong>Metro</strong>, „dass sie mit dem Kino auf eine merkwürdige Weise<br />

verwandt ist. Ebenso wie das Medium <strong>Film</strong> lebt ,das sicherste Verkehrsmittel der Welt‘ von der<br />

Lust an der Bewegung und führt kleine Dramen in abgedunkelten Räumen auf.“ 80 Mehr noch<br />

aber scheint sich ihre Gemeinsamkeit in der Tatsache zu offenbaren, dass beide zu Beginn des<br />

20. Jahrhunderts eine neue Art der Raumerfahrung mit sich brachten: das Kino, indem es den<br />

Zuschauer in geschlossene Erzählwelten und -räume auf der Leinwand versetzte, wobei es den<br />

Raum durch das konstituierende Prinzip der Montage fragmentierte und zu einer neuen Ordnung<br />

(dem diegetischen Raum) wieder zusammenfügte; die <strong>Metro</strong>, indem sie die Stadterfahrung in<br />

ganz ähnlicher Weise fragmentierte und ebenfalls eine neue Kontinuität schuf. Anders <strong>als</strong> zu<br />

Fuß oder mit der Tramway konnte man sich nun innerhalb kurzer Zeit unterirdisch von einem<br />

Ende der Stadt zum anderen begeben. Entfernte Orte rückten auf diese Weise in der<br />

Wahrnehmung näher zusammen und die unterirdische Fahrt in der <strong>Metro</strong> machte – dem<br />

filmischen Schnitt vergleichbar – das „Dazwischen“ unsichtbar.<br />

Trotz dieser subtilen Affinität zwischen Kino und <strong>Metro</strong> sollte es nach JUVE CONTRE<br />

FANTÔMAS noch weitere 25 Jahre dauern, bis die Pariser Untergrundbahn endgültig Einzug in<br />

den <strong>Film</strong> hielt. Seit dem Ende der 1930er Jahre ist die <strong>Metro</strong> jedoch nicht mehr aus dem<br />

<strong>französischen</strong> Kino wegzudenken: 1938 dreht Maurice Cam mit MÉTROPOLITAIN den ersten<br />

<strong>Film</strong> nach Feuillade, der die <strong>Metro</strong> wieder zum <strong>Schauplatz</strong> macht. 81 In den nächsten Jahrzehnten<br />

folgen unzählige <strong>Film</strong>e, unter anderem von Regisseuren wie Marcel Carné (LES PORTES DE LA<br />

NUIT, 1946), René Clair (PORTE DES LILAS, 1957) oder Jean-Luc Godard (MASCULIN,<br />

FÉMININ: 15 FAITS PRÉCIS, 1966), um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Bis heute<br />

kommt kaum ein Parisfilm noch ohne eine kleine Bezugnahme auf die <strong>Metro</strong> aus (sei es auch,<br />

dass sie lediglich in einigen verbalen und visuellen Referenzen präsent ist wie etwa in Truffauts<br />

79 Roger Guerrand verweist auf einen kurzen, „dokumentarisch“ anmutenden <strong>Film</strong> von Georges Mendel von 1903,<br />

für den der bereits erwähnte Unfall an der Station „Couronnes“ <strong>im</strong> Studio rekonstruiert wurde, sowie auf einen<br />

<strong>Film</strong> aus der Serie „Boireau“ von André Deed (BOIREAU MANGE DE L´AIL) von 1910. Vgl. Guerrand:<br />

L´aventure du métropolitain, S. 99f.<br />

80 Dirk/Sowa: Paris <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 18.<br />

81 Sicherlich kann nicht mit letzter Best<strong>im</strong>mtheit ausgeschlossen werden, dass in der Zwischenzeit nicht doch der<br />

ein oder andere <strong>Film</strong> entstanden sein mag, der eine Szene in der <strong>Metro</strong> aufweist. Jedoch ist die Tatsache, dass in<br />

keiner Quelle der Sekundärliteratur ein Hinweis auf einen entsprechenden <strong>Film</strong> aus der Zeit von 1913 bis 1938<br />

zu finden ist, trotz allem bemerkenswert – umso mehr, <strong>als</strong> die Zahl der bekannten <strong>Film</strong>e ab dem Ende der 30er<br />

Jahre so signifikant steigt. Eine Erklärung könnte die Schließung der Station „Porte des Lilas – Cinéma“ <strong>im</strong> Jahr<br />

1939 liefern. Seit diese der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich ist und nur noch für Dreharbeiten zur<br />

Verfügung steht, ist es für <strong>Film</strong>emacher ungleich leichter geworden, <strong>Metro</strong>szenen zu drehen, da aufwendige<br />

Nachbauten entfallen.<br />

20


LE DERNIER MÉTRO oder Louis Malles ZAZIE DANS LE MÉTRO 82 ), steht sie doch geradezu<br />

metonymisch für die gesamte Stadt oder, wie Kafka sagte, „das Wesen von Paris“. Ihr<br />

prototypischer Charakter und ihr Verweisen auf Pariser Monumente und die französische Kultur<br />

insgesamt sind, wie Cornelia Ruhe darlegt, auch für das cinéma beur von besonderer Bedeutung.<br />

In den <strong>Film</strong>en dieses relativ jungen Genres, deren Regisseure der so genannten génération Beur<br />

angehören (die <strong>als</strong>o maghrebinischer Herkunft, aber in Frankreich aufgewachsen sind), spielt die<br />

<strong>Metro</strong> eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung dieser zerrissenen Generation mit der<br />

<strong>französischen</strong> Kultur. <strong>Die</strong> von Augé postulierte identitätsstiftende Funktion der <strong>Metro</strong>, die in<br />

ihrer historischen und kulturellen „Aufladung“ begründet ist, wird für die Protagonisten des<br />

cinéma beur zu einer „Folie, vor der ihre Andersartigkeit besonders deutlich hervortritt: Sie<br />

fühlen sich <strong>als</strong> Fremdkörper in dieser ihnen nicht vertrauten Umgebung, zu deren musealen<br />

Repräsentationsobjekten sich für sie kein Bezug etablieren lässt.“ 83 In Mehdi Charefs LE THÉ<br />

AU HAREM D’ARCHIMÈDE (1985) machen die beiden Protagonisten Pat und Madjid<br />

regelmäßig Ausflüge in das Zentrum von Paris – dass sie sich in der Innenstadt befinden,<br />

verraten derweil allerdings nur die Namen der <strong>Metro</strong>stationen, die zitathaft auf das oberirdische<br />

Paris verweisen. Von der Stadt selbst bekommen wir, abgesehen vom Rotlichtviertel auf der Rue<br />

Saint-Denis, kaum einen Eindruck. 84 Auf diese Weise wird deutlich, dass sich Pat und Madjid<br />

„in einem gesichtslosen Paris“ 85 bewegen, zu dessen Kulturdenkmälern sie keinerlei Bezug<br />

haben und das ihnen folglich fremd bleibt.<br />

In vielen <strong>Film</strong> wird die <strong>Metro</strong> auch <strong>im</strong>mer wieder zu einem Ort der Begegnung stilisiert. In<br />

Carnés LES PORTES DE LA NUIT etwa fungiert sie <strong>als</strong> <strong>Schauplatz</strong> eines buchstäblich<br />

schicksalhaften Aufeinandertreffens. Der Protagonist <strong>Die</strong>go (Yves Montand) trifft zu Beginn des<br />

<strong>Film</strong>s in einem überfüllten <strong>Metro</strong>waggon auf einen rätselhaften Clochard, der sich <strong>als</strong> „le<br />

Destin“ vorstellt und ihm eine schicksalhafte Begegnung mit einer Frau voraussagt, die ihm<br />

schon bald in Gestalt von Malou (Nathalie Nattier) über den Weg laufen wird. <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> Ort<br />

der Begegnung ist ein wiederkehrender Topos <strong>im</strong> <strong>französischen</strong> <strong>Film</strong> – man denke<br />

beispielsweise auch an Jean-Pierre Jeunets LE FABULEUX DESTIN D’AMÉLIE POULAIN<br />

(2001), wo die Protagonistin Amélie an der <strong>Metro</strong>station „Abbesses“ zum ersten Mal ihrem<br />

„Seelenverwandten“ Nino Quincampoix begegnet und sich auf der Stelle in ihn verliebt. Nicht<br />

<strong>im</strong>mer aber sind die filmischen Begegnungen in der <strong>Metro</strong> positiver Art. In der<br />

Eröffnungssequenz zu Bertrand Bliers <strong>Film</strong> BUFFET FROID (1979) wird die kühle, klinische<br />

Atmosphäre an der <strong>Metro</strong>station „La Défense“ zum Hintergrund für ein alptraumhaftes<br />

82 Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 9.<br />

83 Cornelia Ruhe: Cinéma beur: Analysen zu einem neuen Genre des <strong>französischen</strong> <strong>Film</strong>s, Konstanz: UVK<br />

Verlagsgesellschaft 2006, S. 82.<br />

84 Vgl. Ruhe: Cinéma beur, S. 82f.<br />

85 Ruhe: Cinéma beur, S. 82.<br />

21


Szenario. 86 An einem verlassenen Bahnsteig wird ein anonymer Buchhalter von Alphonse Tram<br />

(Gérard Dépardieu), einem ihm fremden Mann, angesprochen und gegen seinen Willen in ein<br />

zunächst absurdes, schließlich zunehmend makabres Gespräch verwickelt („Je vous demande si<br />

ça vous arrive parfois d’avoir envie de tuer quelqu’un.“ – „Qui?“ – „N’<strong>im</strong>porte qui.“ – „Et<br />

pourquoi?“ – „Comme ça, sans raison. Une <strong>im</strong>pulsion.“ – „Non.“ – „Jamais?“ –„Non.“ – „Même<br />

pas dans le métro?“ etc.). Schließlich zieht Tram ein Messer aus der Tasche. Als der Buchhalter<br />

ihn sichtlich beunruhigt auffordert, es wieder einzustecken, drängt Tram ihn, es <strong>als</strong> Geschenk<br />

anzunehmen. Er weigert sich, reißt es Tram schließlich aus der Hand und legt es auf die Bank<br />

hinter ihnen. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung – Tram erzählt dem Buchhalter von seinen<br />

wiederkehrenden Alpträumen, in denen er von der Polizei wegen Mordes gesucht wird – stellen<br />

sie plötzlich fest, dass das Messer verschwunden ist. In diesem Moment trifft die <strong>Metro</strong> ein, der<br />

Buchhalter steigt eilig ein, Tram bleibt allein am Bahnsteig zurück. In der folgenden Szene sehen<br />

wir ihn den Korridor einer <strong>Metro</strong>station entlanggehen, an dessen Rand zwei Clochards schlafend<br />

auf dem Boden liegen – und der Buchhalter, mit besagtem Messer <strong>im</strong> Bauch. In der Szene zuvor<br />

schienen Tram und er die einzigen am Bahnsteig zu sein. Doch ein genauer Blick macht<br />

erkennbar, dass vor einem <strong>Metro</strong>fahrplan, fast vollständig von einer Säule verdeckt, eine weitere<br />

Person steht. Der <strong>Film</strong> löst nicht auf, ob der mysteriöse dritte Mann der Mörder des Buchhalters<br />

ist oder ob sich Trams alptraumhafte Visionen bewahrheitet haben. Fest steht nur, dass sich der<br />

zukünftige Mörder des Buchhalters ebenfalls am Bahnsteig befunden haben muss.<br />

Bertrand Bliers BUFFET FROID, ein <strong>Film</strong>, den David Berry aufgrund seiner bizarren, mit<br />

Ungere<strong>im</strong>theiten und logischen Brüchen gespickten Handlung <strong>als</strong> Reminiszenz an das absurde<br />

Theater eines Beckett oder Ionesco verstanden wissen will 87 , ist ein besonders eindrückliches,<br />

jedoch bei weitem nicht das einzige Beispiel für die filmische Inszenierung von Gewalt und<br />

Verbrechen in der <strong>Metro</strong>. In Jean-Luc Godards MASCULIN, FÉMININ: 15 FAITS PRÉCIS etwa<br />

werden die Hauptperson Paul (Jean-Pierre Léaud) und sein Freund Robert während einer Fahrt<br />

in der <strong>Metro</strong> Zeugen einer Diskussion zwischen zwei farbigen Männern und einer weißen Frau<br />

(Streitpunkt ist die Musik schwarzer Künstler), die unerwartet eskaliert, <strong>als</strong> die Frau plötzlich<br />

eine Waffe zieht und einen der Männer erschießt. In PICKPOCKET (1959) von Robert Bresson<br />

begleiten wir einen professionellen Taschendieb (Martin LaSalle) bei seinen Raubzügen durch<br />

die <strong>Metro</strong>, ähnlich wie auch in Luc Bessons SUBWAY, wo der Rollschuhfahrer Jean-Louis <strong>als</strong><br />

Handtaschenräuber in den Gängen der <strong>Metro</strong> sein Unwesen treibt.<br />

86 Wie Michel Chlastacz in seiner Untersuchung Trains du mystère: 150 ans de trains et de polars darlegt, sind<br />

Untergrundbahnen und andere Verkehrsmittel von jeher auch beliebte Schauplätze des Kr<strong>im</strong>inalromans<br />

gewesen. Und so wird die <strong>Metro</strong> (genauso wie zum Beispiel die Londoner Tube), auch dort <strong>im</strong>mer wieder zum<br />

<strong>Schauplatz</strong> verhängnisvoller Begegnungen: „[L]es métros, les tramways et les bus sont des lieux de brèves<br />

rencontres... même si il peut s´agir parfois de celles qui réunissent des cr<strong>im</strong>inels et leurs vict<strong>im</strong>es!“, Michel<br />

Chlastacz: Trains du mystère: 150 ans de trains et de polars, Paris: L´Harmattan 2009, S. 241.<br />

87 Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 12.<br />

22


<strong>Die</strong> traditionelle Assoziation von <strong>Metro</strong> und Verbrechen (oder Illegalität <strong>im</strong> weitesten Sinne) 88<br />

spielt auch in allen in dieser Arbeit untersuchten <strong>Film</strong>en eine Rolle. Wenngleich nicht <strong>im</strong>mer<br />

eine tatsächliche Straftat in der <strong>Metro</strong> stattfindet (so handelt es sich beispielsweise in LES<br />

AMANTS DU PONT-NEUF, wenn Michèle in einem Tagtraum ihren früheren Geliebten Julien<br />

erschießt, lediglich um eine <strong>im</strong>aginierte Straftat), so ist sie doch zumindest <strong>im</strong>mer ein<br />

Anlaufpunkt für Personen aus kr<strong>im</strong>inellen, zwielichtigen Milieus. In DIVA sucht Jules eine<br />

Prostituierte auf, die mit ihren Kolleginnen vor einem <strong>Metro</strong>eingang auf Kundschaft wartet, in<br />

SUBWAY verdienen sich die Mitglieder der „Untergrund-Kommune“ ihren Lebensunterhalt<br />

überwiegend mit illegalen Tätigkeiten. Nicht zuletzt wird die <strong>Metro</strong> in allen der fünf <strong>Film</strong>e zum<br />

<strong>Schauplatz</strong> einer Verfolgungsjagd, die schließlich in den meisten Fällen Teil der Fahndung nach<br />

einem mutmaßlichen Verbrecher ist. In LE SAMOURAÏ etwa nutzt der Profikiller Jef Costello<br />

die <strong>Metro</strong> bewusst, um die Polizei in die Irre zu führen. Welche Funktionen die Verfolgungsjagd<br />

in einem <strong>Film</strong> einnehmen kann und welche Charakteristika einer „typischen“ Verfolgungsjagd<br />

zugrunde liegen, werde ich <strong>im</strong> nun folgenden Kapitel darlegen.<br />

2.3 ZUR VERFOLGUNGSJAGD IM FILM<br />

<strong>Film</strong>ische Verfolgungsjagden sind so alt wie das Kino selbst. Schon die frühesten Stummfilme<br />

inszenierten Verfolgungsjagden, die nicht selten in ein „wildes Drüber und Drunter“ 89 mündeten<br />

und das Publikum gerne mit möglichst kuriosen Verfolgungssituationen unterhielten. So jagen<br />

etwa in COURSE DES SERGEANTS DE VILLE (1906) Polizisten einem Hund hinterher, bis sie<br />

schließlich von diesem selbst verfolgt werden; in LA COURSE AUX POTIRONS (1907) n<strong>im</strong>mt<br />

ein Gemüsehändler mitsamt seinem Esel und einigen Straßenpassanten die abenteuerliche<br />

Verfolgung einer Ladung Kürbisse auf, die sie durch die Gassen und über die Dächer der Stadt<br />

führt. 90 Als eine der grundlegendsten filmischen Konventionen hat die Verfolgungsjagd<br />

heutzutage überwiegend <strong>im</strong> Kr<strong>im</strong>inal- und Actionfilm sowie in verwandten Subgenres ihren<br />

Platz. <strong>Die</strong>s überrascht wenig, ist es doch geradezu „unvermeidlich, daß Detektivarbeit die Form<br />

einer Jagd ann<strong>im</strong>mt.“ 91 Dabei stellen physische Verfolgungsjagden <strong>im</strong>mer eine Verdichtung des<br />

übergreifenden Themas (Jagd auf einen Verbrecher) dar. Sie „erhöhen [...] den Reiz ihres<br />

88 <strong>Die</strong> Assoziation der <strong>Metro</strong> mit Kr<strong>im</strong>inalität findet sich genauso in der Literatur. So ist die Pariser<br />

Untergrundbahn ganz besonders in der zwischen 1911 und 1913 erschienenen Fantômas-Reihe von Marcel<br />

Allain und Pierre Souvestre <strong>im</strong>mer wieder präsent. Hier erscheint sie vor allem <strong>als</strong> Symbol des technischen<br />

Fortschritts, der sich – in den <strong>Die</strong>nst des Verbrechens gestellt – gegen die Menschen richtet. Vgl. Chlastacz:<br />

Trains du mystère, S. 119. Für Chlastacz wird diese Liaison der <strong>Metro</strong> mit dem Vebrechen überhaupt erst durch<br />

die Abenteuer des mysteriösen Schurken etabliert: „[C]´est incontestablement Fantômas qui introduit le nouveau<br />

mode de transport parisien dans la ,geste cr<strong>im</strong>inelle‘“, Chlastacz: Trains du mystère, S. 247.<br />

89 Siegfried Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s. <strong>Die</strong> Errettung der äußeren Wirklichkeit ( 1 1964). Vom Verfasser<br />

revidierte Übersetzung von Friedrich Walter und Ruth Zellschan. Herausgegeben von Karsten Witte, Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp 1985, S. 72.<br />

90 <strong>Die</strong>s sind zwei besonders prominente Beispiele früher Verfolgungsjagden, die auch von Siegfried Kracauer<br />

genannt werden. Letzteren <strong>Film</strong> führt Kracauer allerdings irrtümlicherweise unter dem Titel LA COURSE DES<br />

POTIRONS an. Vgl. Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 72.<br />

91 Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 360.<br />

23


filmischen Motivs“ 92 , so Kracauer, indem sie es in die spezifische Sprache des <strong>Film</strong>s, die<br />

Bewegung, übersetzen.<br />

2.3.1 <strong>Die</strong> „Lust am rasenden Tempo“ 93<br />

Frühe Verfolgungsjagden wie COURSE DES SERGEANTS DE VILLE oder LA COURSE AUX<br />

POTIRONS sollten nicht vorrangig Spannung erzeugen, sondern vielmehr das Publikum mit<br />

skurrilen Einfällen überraschen und zum Lachen bringen. Charlie Chaplin perfektionierte diese<br />

Kunst und ließ seine Verfolgungsjagden häufig in grotesk übersteigerten, „sinnlosen Kreis- und<br />

Vor-und-zurück-Bewegungen“ 94 kumulieren. Ein großer Teil des Reizes lag dabei schlicht darin,<br />

Bewegung abzubilden, war doch gerade dies das Neue und Einzigartige, was der <strong>Film</strong><br />

insbesondere dem Medium der Fotografie voraushatte. Siegfried Kracauer unterscheidet in<br />

seiner Theorie des <strong>Film</strong>s zwischen „registrierenden“ und „enthüllenden Funktionen“ des <strong>Film</strong>s.<br />

Während die enthüllenden Funktionen stets dem Zuschauer etwas zeigen, was sich<br />

normalerweise seinem Blick entzieht – sei es, dass eine Nahaufnahme etwas sichtbar macht, was<br />

mit bloßen Auge nicht zu erkennen wäre, oder dass eine Handlung, die für die menschliche<br />

Wahrnehmung normalerweise zu schnell (etwa der Bewegungsablauf eines Pferdes <strong>im</strong> Galopp)<br />

oder zu langsam (wie das Wachsen einer Pflanze) abläuft, mittels Zeitlupe beziehungsweise<br />

Zeitraffer plötzlich nachvollziehbar wird 95 –, haben die registrierenden Funktionen des <strong>Film</strong>s den<br />

schlichten, aber genuin filmischen Zweck, Bewegung zu erfassen. Zu ihnen zählt Kracauer<br />

neben der Verfolgungsjagd auch den Tanz sowie die „Bewegung <strong>im</strong> Entstehen“ (gemeint ist jede<br />

Form von Bewegung, die bewusst „<strong>im</strong> Gegensatz zur Reglosigkeit“ 96 in Szene gesetzt wird). 97<br />

Aus diesem Grund, da sie die physische Aktion zum dramatischen Gegenstand erhebt, erscheint<br />

Alfred Hitchcock die Verfolgungsjagd <strong>als</strong> „der endgültige Ausdruck des filmischen Mediums“ 98<br />

– eine Ansicht, die auch Kracauer teilt. Für ihn stellt „[d]ieser Komplex aufeinander bezogener<br />

Bewegungen [...] Bewegung <strong>im</strong> Höchstmaß dar, Bewegung an und für sich.“ 99 Im<br />

vorangegangenen Kapitel war bereits davon die Rede, dass <strong>Metro</strong> und Kino die „Lust an der<br />

Bewegung“ gemeinsam ist. Wenn sich diese mit der Verfolgungsjagd nun zu einer „Lust am<br />

rasenden Tempo“ 100 steigert, so scheint sich die Affinität von <strong>Metro</strong> und Kino genau dann am<br />

reinsten zu entfalten: wenn die <strong>Metro</strong> zum <strong>Schauplatz</strong> einer filmischen Verfolgungsjagd wird.<br />

92<br />

Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 360.<br />

93<br />

Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 72.<br />

94<br />

Georg Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: Eine filmästhetische Untersuchung, Alfeld/Leine: Coppi-Verlag<br />

1996, S. 142.<br />

95<br />

Vgl. Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 77ff.<br />

96<br />

Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 74.<br />

97<br />

Vgl. Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 71ff.<br />

98<br />

„Core of the Movie – the Chase“, The New York T<strong>im</strong>es Magazine, 29. Oktober 1950 (ein Interview mit Alfred<br />

Hitchcock), zitiert nach Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 72.<br />

99<br />

Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 72.<br />

100 Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 72.<br />

24


2.3.2 <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>als</strong> erzählerische Konvention<br />

Wenn es sich bei filmischen Verfolgungsjagden vorrangig um die Dramatisierung physischer<br />

Bewegung handelt, wie Kracauer postulierte, so tut sich eben hierin ein wesentliches Problem<br />

auf. Wenn Verfolgungsjagden dem Zweck dienen sollen, Spannung zu erzeugen (und dies ist,<br />

wenngleich auch die komische Verfolgungsjagd noch <strong>im</strong>mer ihren Platz <strong>im</strong> Kino hat, heutzutage<br />

ihre Hauptaufgabe), so reicht das Kriterium der reinen Bewegung kaum noch aus. Tempo allein<br />

genügt längst nicht mehr, um eine Verfolgungsjagd packend zu inszenieren – zumindest dann<br />

nicht, wenn sie mehr sein soll <strong>als</strong> actionreiches Beiwerk. <strong>Die</strong>se Problematik formuliert Georg<br />

Hoefer in seiner Untersuchung <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>: „Oft wird eine Verfolgungsjagd<br />

dem <strong>Film</strong> aufgepfropft, weil sie Tempo und Action bringt. In solchen Fällen hat sie für die<br />

Handlung und die Darstellung der Charaktere kaum Bedeutung.“ 101 Ein zu reibungsloser<br />

Verlauf, der auf strategische Elemente gänzlich verzichtet und bei dem die Beteiligten lediglich<br />

wie ferngesteuert hintereinander herjagen, wird kaum Spannung erzeugen. Ein großer Teil<br />

konventioneller Verfolgungsjagden – meist handelt es sich um Autojagden 102 – folgt einem<br />

stereotypen Schema, bei dem insbesondere Rollenklischees von großer Bedeutung sind. Meist<br />

enden sie vorhersehbar mit dem Tod des „Schurken“ (der in den meisten Fällen der Gejagte ist),<br />

während der Held, indem er das Böse aus der Welt schafft, <strong>als</strong> „Richter und Henker in einer<br />

Person“ 103 für die Aufrechterhaltung und Bestätigung der moralischen Ordnung sorgt. Doch auch<br />

dann, wenn sich die Jagd lediglich <strong>im</strong> Abspulen eines leeren Ritu<strong>als</strong> erschöpft, wenn sie nicht<br />

Spannung erzeugt, sondern lediglich altbekannte Erzählkonventionen wiederholt, sieht der<br />

Zuschauer gerne zu – denn selbst eine „besonders schlechte Jagd [das heißt eine <strong>im</strong> oben<br />

beschriebenen Sinne sinnentleerte oder stereotype Jagd, Anm. von mir] gibt <strong>im</strong>mer noch einen<br />

guten Ritus ab.“ 104<br />

2.3.3 <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> – ein ideales Setting?<br />

Um nicht inhaltsleer und stereotyp, sondern spannend und, wie Hoefer es formuliert,<br />

„ambitioniert“ zu sein, braucht die filmische Verfolgungsjagd ein gewisses Maß an<br />

Unvorhersehbarkeit. .105 Entscheidend ist zum Beispiel, dass das gejagte Individuum und der<br />

Verfolger in etwa gleiche Voraussetzungen aufweisen, was ihre körperliche, geistige und<br />

technische Ausstattung betrifft. Es muss zumindest theoretisch sowohl die Möglichkeit bestehen,<br />

101<br />

Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 50.<br />

102<br />

Zur besonderen Rolle des Autos für die Verfolgungsjagd (etwa <strong>als</strong> Männlichkeitssymbol und Ausdruck von<br />

Stärke und „Erfahrung“ <strong>im</strong> buchstäblichen Sinne), siehe Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 127ff.<br />

103<br />

Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 165.<br />

104<br />

Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 141f.<br />

105<br />

Hoefer spricht dann von „ambitionierten Verfolgungsjagden“, wenn diese durch die Handlung motiviert sind<br />

und zudem ein gewisses Maß an Komplexität aufweisen: wenn die Charaktere (insbesondere die Heldenfigur)<br />

<strong>als</strong>o nicht starr und stereotyp, sondern differenziert sind und wenn sie taktierend vorgehen müssen, um den<br />

jeweiligen Kontrahenten zu irritieren.Vgl. Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 112 sowie S. 151.<br />

25


dass „das Opfer“ entkommt <strong>als</strong> auch, dass es gefangen wird. 106 Zum anderen, und damit<br />

kommen wir auf die Eignung der <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> <strong>Schauplatz</strong> für Verfolgungsjagden zu sprechen, spielt<br />

das Element des Zufalls eine wichtige Rolle. Wie Kracauer betont, liebt der <strong>Film</strong> – und wir<br />

gehen davon aus, dass dies auch und besonders für die Verfolgungsjagd gilt, die Hitchcock<br />

zufolge ja <strong>als</strong> „der endgültige Ausdruck des filmischen Mediums“ zu betrachten ist – <strong>im</strong><br />

Allgemeinen die Orte, an denen „das Zufällige übers Planmäßige siegt und unerwartete<br />

Zwischenfälle fast die Regel sind.“ 107 Daher rühre auch die Hinwendung des Kinos zu<br />

Bahnhöfen, Bars, Hotelhallen und Flughäfen. <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> fügt sich nun bestens in diese Prämisse,<br />

bietet sie doch die ideale Kulisse für abwechslungsreiche Szenarien und unvorhergesehene<br />

Ereignisse: So schneidet etwa in SUBWAY ein einfahrender <strong>Metro</strong>zug den Polizeibeamten<br />

plötzlich den Weg ab und verhindert so die weitere Verfolgung des Rollschuhfahrers, in DIVA<br />

schließt sich die <strong>Metro</strong>tür buchstäblich vor der Nase des verfolgenden Polizeiermittlers, sodass<br />

diesem nur noch die Möglichkeit bleibt, sich von außen an den Waggon zu klammern. In<br />

Verneuils PEUR SUR LA VILLE wird das zufällige Moment sicherlich auf die Spitze getrieben,<br />

<strong>als</strong> der Fahrer des <strong>Metro</strong>zuges, auf dessen Dach sich Kommissar Letellier befindet, unerwartet<br />

die Anweisung erhält, an den nächsten Stationen nicht anzuhalten – und sich der riskante Ritt auf<br />

dem <strong>Metro</strong>waggon somit unverhofft um einiges verlängert.<br />

Sicherlich spielen die besonderen topologischen Gegebenheiten in der <strong>Metro</strong> eine wichtige<br />

Rolle, wenn sie <strong>als</strong> Setting für eine Verfolgungsjagd ausgewählt wird. Durch ihre<br />

labyrinthischen Gänge, ihre zahlreichen Ein- und Ausgänge, Schranken, Treppen und<br />

Rollteppiche kann sie geradezu den Charakter eines „Hindernisparcours“ annehmen – ideale<br />

Voraussetzungen <strong>als</strong>o, um eine Verfolgungsjagd voller überraschender Wendungen zu<br />

inszenieren. Verfolgungsjagden in der <strong>Metro</strong> fordern den Beteiligten oft geradezu akrobatisches<br />

Geschick ab, wenn es heißt, über elektronische Eingangsschranken oder die Handläufe von<br />

Rollteppichen zu springen, Rolltreppen entgegen der Laufrichtung hinaufzuhasten oder in letzter<br />

Minute in einen Waggon hineinzuspringen. Dabei ist meist derjenige, der sich hier auskennt,<br />

deutlich <strong>im</strong> Vorteil und kann seine Kenntnis des Terrains gezielt nutzen, um seine(n) Verfolger<br />

in die Irre zu führen. So schafft es Jef Costello in LE SAMOURAÏ ausgerechnet in der <strong>Metro</strong>, die<br />

Polizei abzuschütteln – denn diese kennt er, wie der Polizeikommissar anerkennen muss,<br />

„comme sa poche“. 108<br />

In den Szenen, in denen sich die Verfolgung nicht in den Gängen einer <strong>Metro</strong>station abspielt,<br />

sondern in (oder sogar, wie <strong>im</strong> Falle von PEUR SUR LA VILLE, auf) einem <strong>Metro</strong>zug, kommt<br />

106 Vgl. Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 15 und 151.<br />

107 Kracauer: Theorie des <strong>Film</strong>s, S. 98.<br />

108 Auch der Rollschuhfahrer in SUBWAY behauptet von sich, die Gänge der <strong>Metro</strong> wie seine Westentasche zu<br />

kennen („Je connais les couloirs comme ma poche“). Im Gegensatz dazu entlarvt eine Äußerung des<br />

Polizeiinspektors dessen Orientierungslosigkeit <strong>im</strong> <strong>Metro</strong>labyrinth: „C´est grand ici; nous-même, on s´y perd des<br />

fois.“<br />

26


ein weiteres spannungserzeugendes Detail hinzu. Dadurch, dass der Weg für Verfolger und<br />

Gejagten vorgezeichnet ist und beide während der Fahrt (meist in unterschiedlichen Waggons)<br />

„feststecken“, ergibt sich eine Situation, die <strong>im</strong> Rahmen einer Verfolgungsjagd <strong>im</strong> Grunde<br />

absurd ist: Das, was eine Verfolgungsjagd <strong>im</strong> Allgemeinen ausmacht – dass der Gejagte einen<br />

für den Verfolger unvermuteten Weg wählen und ihn so abhängen kann –, entfällt hier<br />

gänzlich. 109 Zudem schränkt eine solche Situation auch den Verfolger in seiner<br />

Handlungsfähigkeit ein; <strong>im</strong> Grunde bleibt ihm nur abzuwarten, bis der Verfolgte die <strong>Metro</strong><br />

verlässt und die Verfolgung fortgesetzt werden kann. Es sei denn, er entscheidet sich, wie<br />

Kommissar Letellier in PEUR SUR LA VILLE, die Verfolgung in aberwitziger Weise auf dem<br />

Dach der <strong>Metro</strong> fortzuführen: Der Kommissar arbeitet sich bei voller Fahrt Stück für Stück vor,<br />

um zu dem Waggon zu gelangen, in dem sich sein Widersacher Marcucci befindet – eine<br />

Strategie, mit der der Verbrecher nicht rechnet. Auf diese Weise kann sich <strong>als</strong>o die <strong>im</strong> Grunde<br />

absurde Situation der Verfolgungsjagd auf dem Gleis auch <strong>als</strong> Vorteil für einen der Beteiligten<br />

erweisen. Nicht zuletzt trägt eine Szene wie diese, die Tempo mit Strategie und Nervenkitzel<br />

verbindet, auch wesentlich zur Dramatik der Verfolgungsjagd bei.<br />

109 Vgl. Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 46f. Das Kino hat einige solcher kuriosen Verfolgungsjagden<br />

hervorgebracht, wie zum Beispiel die Verfolgungsjagd in einem unterirdischen Tunnelsystem (!) mittels kleiner<br />

Loren in Spielbergs INDIANA JONES AND THE TEMPLE OF DOOM (1984) oder die berühmte<br />

Verfolgungssequenz aus Buster Keatons THE GENERAL (1926), in welcher der Protagonist Johnnie zunächst zu<br />

Fuß und schließlich auf den Gleisen die Verfolgung der feindlichen Nordstaatler aufn<strong>im</strong>mt, die seine geliebte<br />

Lok „General“ entführt haben. Vgl. Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 38ff. Als frühestes Beispiel für<br />

eine Verfolgungsjagd auf dem Gleis kann wohl Edwin S. Porters THE GREAT TRAIN ROBBERY (1903)<br />

angeführt werden, der <strong>als</strong> Vorläufer des Spielfilms und insbesondere des Westerns gilt.<br />

27


3. FILMISCHE VERFOLGUNGSJAGDEN IN DER METRO<br />

Im folgenden Teil sollen nun exemplarisch die Verfolgungsjagden der <strong>Film</strong>e LE SAMOURAÏ,<br />

PEUR SUR LA VILLE, DIVA, SUBWAY und LES AMANTS DU PONT-NEUF untersucht<br />

werden, wobei die bisher besprochenen semantischen und topologischen Aspekte der <strong>Metro</strong> in<br />

die Analyse einbezogen werden. Im Fokus soll die Überprüfung der eingangs formulierten These<br />

stehen, dass die <strong>Metro</strong> in diesen Verfolgungsjagden mehr ist <strong>als</strong> nur ein optisch ansprechendes<br />

Setting. Wie in den unter 2.1 aufgeführten Kapiteln dargelegt wurde, ist der Raum, der mit den<br />

Figuren in einem Verhältnis der Interdependenz steht (siehe „Dornröschen-Effekt“), stets an der<br />

Erzeugung von Bedeutung beteiligt und n<strong>im</strong>mt daher einen mitunter ebenso wichtigen Status ein<br />

wie die Figuren; inwiefern dies auf unsere Beispielfilme zutrifft, sollen die Einzelanalysen<br />

zeigen. Da die Verfolgungsjagd zudem eine besondere Form der (buchstäblichen)<br />

Raumerfahrung darstellt, werde ich zudem untersuchen, auf welche Weise in den<br />

Verfolgungssequenzen Raum erschlossen wird und wie die hierfür gewählten Mittel (unter<br />

anderem Schnitt, Montage und Kamerafahrten) dabei auf die Darstellung der <strong>Metro</strong><br />

zurückwirken – wobei sicherlich nicht <strong>im</strong>mer klar zu trennen ist, ob hier jeweils die Wahl der<br />

filmischen Mittel auf die Wahrnehmung dieses Ortes zurückwirkt, oder ob vielmehr traditionelle<br />

Vorstellungen von der <strong>Metro</strong> die Wahl der filmischen Mittel beeinflussen. Wie wir sahen, ist die<br />

<strong>Metro</strong> wie nur wenige andere Orte in besonders hohem Maße mit kollektiven, kulturell<br />

verankerten Vorstellungen, Konnotationen und Mythen verknüpft. Da ein Zuschauer einen <strong>Film</strong><br />

niem<strong>als</strong> „<strong>im</strong> luftleeren Raum“ sieht, sondern stets ein gewisses Vorwissen und best<strong>im</strong>mte<br />

Erwartungen mitbringt, fließen diese unweigerlich in die Rezeption mit ein. Doch auch wenn wir<br />

davon ausgehen, dass die <strong>Metro</strong> in den ausgewählten <strong>Film</strong>en mehr ist <strong>als</strong> „nur“ <strong>Schauplatz</strong>, soll<br />

nicht außer Acht gelassen werden, dass sie zweifelsohne auch aus ästhetischen Erwägungen <strong>als</strong><br />

Austragungsort für Verfolgungsjagden gewählt wird. Das Kapitel zur Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong><br />

hat gezeigt, dass Verfolgungsjagden zu einem guten Teil auch dem Ausleben einer puren „Lust<br />

am rasenden Tempo“, wie Kracauer es ausdrückte, dienen. Auf welche Weise das so<br />

ursprüngliche Moment des <strong>Film</strong>s, die Bewegung, herausgestellt wird und wie dabei die<br />

topologischen Gegebenheiten des Terrains ausgenutzt werden, soll uns daher nicht weniger<br />

beschäftigen.<br />

28


3.1 LE SAMOURAÏ von Jean-Pierre Melville<br />

Mit LE SAMOURAÏ führte Jean-Pierre Melville (1917-1973) nicht nur seine eigene spezifische<br />

<strong>Film</strong>sprache, sondern die gesamte Gattung des <strong>französischen</strong> polar auf ihren vorläufigen<br />

ästhetischen Höhepunkt. Als erster „auteur complet“, <strong>als</strong>o Regisseur, Drehbuchautor und<br />

Produzent in Personalunion, entwickelte er insbesondere in den letzten zehn Jahren seines<br />

Schaffens eine streng stilisierte, unverwechselbare Ästhetik, die sich <strong>im</strong> SAMOURAÏ (1967)<br />

besonders beispielhaft umgesetzt findet. 110 <strong>Die</strong>se äußerte sich zum einen in einer stark vom<br />

amerikanischen gangster thriller der 30er und 40er Jahre beeinflussten Ikonographie 111 , die laut<br />

Colin McArthur vor allem durch die exzessive Inszenierung von stereotypen Attributen und<br />

Szenerien gekennzeichnet ist: „cars, guns, telephones, rain-soaked streets at night, art deco<br />

nightclubs in which progressive jazz is played and [...] the particular shape made on the screen<br />

by a certain kind of hat and raincoat.“ 112 Gerade Letzteres, die typische Silhouette aus<br />

obligatorischem Trenchcoat und Hut, wird in LE SAMOURAÏ geradezu fetischisiert, indem sich<br />

das Ankleiden des Protagonisten Jef Costello (Alain Delon) jedes Mal wie eine rituelle<br />

Handlung gestaltet. In diesem Ankleideritual offenbart sich zudem eine weitere Eigenheit von<br />

Melvilles <strong>Film</strong>en, deren Protagonisten häufig „den Zwängen traumhafter Rituale unterworfen“ 113<br />

sind und eine einsame, isolierte und ausweglose Existenz führen, die <strong>im</strong>mer tragisch mit dem<br />

Tod (mindestens) des Protagonisten endet. 114<br />

Alain Delon verkörpert in der Rolle des Auftragskillers Jef Costello 115 diesen Melvilleschen<br />

Helden par excellence, er ist, wie McArthur es ausdrückt, der „Melvillian hero taken to its<br />

furthest point.“ 116 Gleichzeitig stellt er unter den typischen Protagonisten Melvilles, die meist<br />

Teil einer Gruppe von Kr<strong>im</strong>inellen sind, eine Ausnahme dar – „Jef is a gangster without a<br />

gang.“ 117 Seine Einsamkeit wird uns in der über zwe<strong>im</strong>inütigen, paradigmatischen<br />

Eröffnungssequenz zu LE SAMOURAÏ bereits vor Augen geführt: In einer Totalen sehen wir das<br />

110<br />

Vgl. Hans Gerhold: Kino der Blicke: Der französische Kr<strong>im</strong>inalfilm – Eine Sozialgeschichte, Frankfurt a.M.:<br />

Fischer Taschenbuch Verlag 1989, S. 162. Vgl. auch Richard Roud: Cinema: A Critical Dictionary (Band 2),<br />

London: Secker & Warburg 1980, S. 681 und 686.<br />

111<br />

Insgesamt stand Melville, der <strong>als</strong> Jean-Pierre Grumbach geboren wurde, der amerikanischen Kultur sehr nahe.<br />

Darauf weist bereits sein Pseudonym hin, das er in Anlehnung an den amerikanischen Schriftsteller Herman<br />

Melville wählte. Melvilles Hinwendung zur amerikanischen Kultur und insbesondere zum amerikanischen <strong>Film</strong><br />

bespricht Colin McArthur in seinem Aufsatz „Mise-en-scène degree zero: Jean-Pierre Melville´s Le Samouraï“<br />

und weist dabei auch auf seine Nähe zum Existenzialismus hin – Melville war nur zwölf Jahre jünger <strong>als</strong> Sartre<br />

(1905-80) und war ebenso wie die Existenzialisten „entranced by a particular kind of American hero driven to<br />

action in a meaningless universe“, dessen mustergültige Verkörperung Jef Costello ist. Colin McArthur: „Miseen-scène<br />

degree zero: Jean-Pierre Melville´s Le Samouraï“, in: Susan Hayward/GinetteVincendeau (Hrsg.):<br />

French <strong>Film</strong>: Texts and contexts ( 1 1990), London [u.a.]: Routledge 2 2000, S. 189ff.<br />

112<br />

McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 196.<br />

113<br />

Gerhold: Kino der Blicke, S. 167.<br />

114<br />

Vgl. Gerhold: Kino der Blicke, S. 162.<br />

115<br />

In den meisten Texten der Sekundärliteratur findet man die Schreibweise „Jeff“ mit zwei f. Ich orientiere mich<br />

<strong>im</strong> Folgenden jedoch an der Schreibweise aus dem Abspann, der zufolge „Jef“ lediglich mit einem f geschrieben<br />

wird.<br />

116<br />

McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 196.<br />

117<br />

Ginette Vincendeau: Jean-Pierre Melville. An American in Paris, London: British <strong>Film</strong> Institute 2003, S. 179.<br />

29


karge, düstere Appartement von Jef Costello. <strong>Die</strong>ser liegt, vor dem Hintergrund kaum sichtbar,<br />

wie aufgebahrt auf seinem Bett – erst der Rauch seiner Zigarette verrät seine Anwesenheit. Zu<br />

hören ist nur das Zwitschern eines Vogels <strong>im</strong> Käfig, der Regen vor dem Fenster und das<br />

Rauschen des vorüberfahrenden Verkehrs. Über eineinhalb Minuten lang geschieht nichts, bis<br />

schließlich folgendes Epigraph eingeblendet wird: „Il n’y a pas de plus profonde solitude que<br />

celle du samouraï si ce n’est celle d’un tigre dans la jungle... peut-être.... Le Bushido (Le livre<br />

des samouraï)“. <strong>Die</strong>ses vermeintliche Zitat aus dem Bushido (das tatsächlich jedoch schlicht<br />

eine Erfindung Melvilles ist 118 ) und die graue, trostlose Szenerie – Melville ließ für diese<br />

Sequenz die Etiketten der Wasserflaschen und der Zigaretten durch schwarzweiße Kopien<br />

ersetzen, die Wände und Möbel grau streichen und selbst der Vogel (ein Dompfaffweibchen)<br />

wurde aufgrund seines graubraunen Gefieders ausgewählt 119 – verdeutlichen die Isolation und<br />

Beziehungslosigkeit des Protagonisten, dessen einziger Gefährte ein Vogel in einem Käfig ist. 120<br />

In dieser Eingangssequenz, die bereits viel über den Protagonisten verrät, setzte Melville<br />

überdies eine ungewöhnliche Kameratechnik ein, um dessen Geisteszustand zu visualisieren.<br />

Indem er eine Kamerafahrt rückwärts mit einem gleichzeitigen Zoom vorwärts und mehreren<br />

kurzen Stops kombinierte, wird ein Gefühl des Schwindels, der geistigen Verwirrung erzeugt:<br />

„Mon intention était de montrer le désordre mental d’un homme atteint certainement d’une<br />

tendance à la schizophrénie. [...] Tout bouge, et en même temps tout reste à sa place“ 121 , so<br />

Melville.<br />

Erst nach dieser langen Eingangsszene beginnt die eigentliche Handlung des <strong>Film</strong>s. Der<br />

Auftragskiller Jef Costello ermordet Martey, den Besitzer eines Nachtclubs, und wird von nun an<br />

gleich von zwei Parteien verfolgt. Zum einen ist ihm die Polizei auf den Fersen, die trotz eines<br />

geschickt konstruierten, doppelten Alibis von seiner Schuld überzeugt ist. Von nun an lässt der<br />

leitende Kommissar der Ermittlungen (François Périer) Costello beschatten. Zudem sind nun<br />

auch Jefs Auftraggeber alarmiert. <strong>Die</strong> Festnahme und das Misstrauen der Polizei machen ihn zu<br />

einem Sicherheitsrisiko, das aus dem Weg geräumt werden muss. Ein Versuch, Jef durch einen<br />

Mittelsmann umbringen zu lassen, scheitert jedoch und schließlich wird ihm ein weiteres<br />

Angebot für einen Auftragsmord unterbreitet. Er n<strong>im</strong>mt den Auftrag an, erpresst vom<br />

Mittelsmann aber gewaltsam Name und Adresse des Auftraggebers, Olivier Rey. Auf dem Weg<br />

118 In einem Interview mit Rui Nogueira amüsiert sich Melville darüber, dass der <strong>Film</strong> selbst in Japan mit diesem<br />

Satz gezeigt wurde – ohne, dass jemand bemerkt hätte, dass Melville ihn sich selbst ausgedacht hatte. Vgl. Rui<br />

Nogueira: Le cinéma selon Melville: Entretiens avec Rui Noguiera ( 1 1973), Paris: Éditions de l´Étoile/Cahiers<br />

du Cinéma 2007 (Petite bibliothèque des Cahiers du cinéma), S. 152.<br />

119 Vgl. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 160.<br />

120 Eben dieser Vogel kann, wie Jörg Dünne ausführt, <strong>als</strong> metonymische Metapher für das Leben des Protagonisten<br />

selbst und die Unausweichlichkeit seines Schicks<strong>als</strong> gelesen werden. Vgl. Jörg Dünne: „Zwischen Kombinatorik<br />

und Kontrolle: Zur Funktion des Stadtplans in Jean-Pierre Melvilles Le Samouraï“, in: Ach<strong>im</strong> Hölter/Volker<br />

Pantenburg/Susanne Stemmler (Hrsg.): <strong>Metro</strong>polen <strong>im</strong> Maßstab: Der Stadtplan <strong>als</strong> Matrix des Erzählens in<br />

Literatur, <strong>Film</strong> und Kunst, Bielefeld: Transcript 2009, S. 88.<br />

121 Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 152f.<br />

30


zu Rey wird er in einer groß angelegten Aktion von der Polizei durch die Pariser <strong>Metro</strong> verfolgt,<br />

bei der er jedoch entkommen kann. Als er später in der Wohnung von Olivier Rey eintrifft, wird<br />

ihm klar, dass die Pianistin des Nachtclubs, die einzige Augenzeugin seines Mordes (die ihn bei<br />

der Gegenüberstellung aus unerfindlichen Gründen gedeckt und der er sich später anvertraut<br />

hatte), ihn hintergangen hat. Reys Wohnung ist die gleiche, in die er die Pianistin einmal<br />

begleitet hatte. Er erkennt, dass sie dessen Geliebte ist und sein zweiter Auftrag – die Ermordung<br />

der Pianistin – lediglich Teil eines Plans (an dem auch sie beteiligt ist), um ihn in den Nachtclub<br />

zu locken. Trotzdem begibt sich Jef, nachdem er Rey erschossen hat, ins „Martey’s“. Dort richtet<br />

er seine Pistole auf die Pianistin und wird <strong>im</strong> selben Moment von der Polizei erschossen. Als der<br />

Kommissar Jefs Waffe öffnet, stellt er fest, dass sie nicht geladen war. Jef hat seine Erschießung<br />

bewusst provoziert und somit Selbstmord begangen.<br />

<strong>Die</strong> rund achtminütige Szene der Verfolgung durch die Polizei, die ich <strong>im</strong> Folgenden<br />

untersuchen möchte, befindet sich <strong>im</strong> letzten Drittel des <strong>Film</strong>s. Sie beginnt zu dem Zeitpunkt, <strong>als</strong><br />

Jef sich mit der <strong>Metro</strong> auf den Weg zu Olivier Rey macht. Da seine Wohnung rund um die Uhr<br />

beschattet wird, wird der Kommissar sofort über seinen Aufbruch informiert und bereitet sich<br />

auf die nun beginnende Verfolgung vor. Auf einem speziellen Stadtplan in seinem Büro kann er<br />

von jetzt an den Weg, den Jef n<strong>im</strong>mt, nachvollziehen. 122<br />

Abb. 4: Der Kommissar verfolgt Jefs Bewegungsrichtung auf dem Stadtplan.<br />

In einer früheren Szene hat der Kommissar auf der Wache seine Mitarbeiter eingewiesen, wie<br />

vorzugehen ist, sobald Costello seine Wohnung verlässt 123 : Mehrere Polizisten in Zivilkleidung,<br />

die jeweils mit einem Sender ausgestattet sind, werden in den Gängen und Zügen der <strong>Metro</strong><br />

postiert. Sobald sich einer von ihnen in Jefs Nähe befindet, aktiviert er den Sender, der wiederum<br />

ein Signal überträgt. <strong>Die</strong>ses wird nun auf dem Stadtplan des Kommissars <strong>als</strong> kleines Licht<br />

angezeigt (siehe Abb. 4). Sobald die verdeckten Ermittler ihn aus den Augen verlieren,<br />

122 Wenn wir den Moment, <strong>als</strong> der Kommissar vor der Karte Platz n<strong>im</strong>mt, <strong>als</strong> Auftakt zur Verfolgungssequenz<br />

begreifen, so beginnt diese bei TC 1:20:55 und endet bei 1:28:55 mit dem Entkommen Jefs an der Station<br />

„Châtelet“. <strong>Die</strong>se und alle weiteren Zeitangaben (<strong>im</strong> Folgenden mit TC=T<strong>im</strong>ecode gekennzeichnet) in diesem<br />

Kapitel beziehen sich auf die folgende Edition: Jean-Pierre Melville: LE SAMOURAÏ. DVD, 100 Min., <strong>Film</strong>el<br />

Productions 2001 (Frankreich: 1967).<br />

123 TC 1:19:00 – 01:19:47.<br />

31


deaktivieren sie das Signal wieder und das Licht erlischt. Auf diese Weise weiß der Kommissar<br />

stets, an welcher Station sich Jef gerade befindet und kann Einsatztruppen zu den<br />

<strong>Metro</strong>ausgängen schicken, die dieser potenziell wählen kann. Der Kommissar weist während<br />

seiner Erläuterungen explizit auf Jefs ausgezeichnete Kenntnis des <strong>Metro</strong>netzes hin („Il connaît<br />

le métro comme sa poche“ 124 ), da diese sich schon einmal <strong>als</strong> Hindernis für eine erfolgreiche<br />

Verfolgung herausgestellt hat. Als Jef nach der Gegenüberstellung bei der Polizei freigelassen<br />

wurde, setzte der Kommissar einen Beamten auf ihn an – der jedoch den Anschluss verlor, <strong>als</strong><br />

Jef in eine <strong>Metro</strong> stieg und mit einer komplizierten Route in Richtung Pariser Süden seine<br />

Spuren verwischte. 125 Da die Verfolgung in dieser Szene bereits endet, sobald Jef in die erste<br />

<strong>Metro</strong> Richtung „Vincennes“ einsteigt, ist sie unter dem Gesichtspunkt einer <strong>Metro</strong>-<br />

Verfolgungsjagd für eine Analyse wenig ergiebig. Wie David Berry ausführt, verrät sie jedoch<br />

bereits einiges darüber, wie Jef das <strong>Metro</strong>netz für sich zu nutzen versteht:<br />

His utilisation of the métro network as a tool of his trade [...] shows his devious cast of mind. The métro<br />

becomes a vital escape route for confusing his enemies and throwing them off his tracks. It becomes a visual<br />

symbol of his mind, of his complex psychological processes, distinguished by elaborate complications and<br />

intentionally disorientating arrangements, just like the constructions of his alibi. The métro becomes a<br />

reflection of his psyche. 126<br />

Der Kommissar erkennt, dass Jef ihm <strong>im</strong>mer einen Schritt voraus sein wird und bedient sich für<br />

die zweite Verfolgung nun einer Methode, die „den Stadtplan <strong>als</strong> Dispositiv der panoptischen<br />

Überwachung und die drahtlose Sendetechnik <strong>als</strong> Werkzeug zur ortenden Kontrolle von<br />

Bewegung auf diesem Plan“ 127 miteinander verkoppelt. An die Stelle einer „herkömmlichen“<br />

Verfolgung tritt ein komplexes Überwachungs- und Ortungssystem, mit dem Jefs verschlungene<br />

Wege sichtbar gemacht werden. Der Kommissar hofft, auf diese Weise die Anzahl der<br />

potentiellen Fluchtwege Jefs einzugrenzen und so die Chance auf einen erfolgreichen Zugriff zu<br />

erhöhen. Dadurch kommt es zu einer für Verfolgungsjagden völlig untypischen Situation, denn<br />

der so grundlegende Aspekt der physischen Bewegung, des Tempos entfällt hier fast völlig. Nur<br />

Jef bewegt sich; der Polizeikommissar hingegen verharrt am selben Ort und „verfolgt“ seine<br />

Bewegungen lediglich optisch auf dem Stadtplan. Und auch die verdeckten Ermittler nehmen<br />

nicht die Verfolgung auf, sobald sie Jef aus den Augen verlieren, sondern senden lediglich das<br />

entsprechende Signal an den Kommissar. Erst am Ende kommt es zu einer tatsächlichen (<strong>im</strong><br />

Sinne einer physischen) Verfolgung durch eine junge Frau, der Jef jedoch schnell entkommen<br />

kann. 128 Bis zu diesem Zeitpunkt – indem sie Jef hinterher rennt, gibt die Polizistin ihr Inkognito<br />

auf und gibt sich eindeutig <strong>als</strong> Verfolgerin zu erkennen – spielt sich die Verfolgung mehr oder<br />

124 TC 1:19:15.<br />

125 TC 37:58 – 43:35. Jef steigt zunächst in die Linie Richtung „Vincennes“, steigt anschließend bei „Palais-Royal“<br />

um und fährt weiter zur Station „Porte d´Ivry“. Dort überquert er eine Straße und gelangt dann über einen<br />

verworrenen Weg, der ihn durch eine Unterführung und über mehrere Treppen führt, zu einem Bahnübergang.<br />

Dort ist er mit dem Mittelsmann seiner Auftraggeber zur Geldübergabe verabredet.<br />

126 Berry: „Underground Cinema“, S. 11.<br />

127 Dünne: „Zwischen Kombinatorik und Kontrolle“, S. 88.<br />

128 TC 1:28:20 – 1:28:33.<br />

32


weniger „versteckt“ ab: Weder weiß die Polizei mit Sicherheit, ob Jef ihre Verfolgungsabsichten<br />

erkannt hat, noch weiß Jef, vor wem er eigentlich fliehen muss. Abgesehen von dieser sehr<br />

kurzen, vergleichsweise temporeichen Szene am Ende wirkt die gesamte Verfolgungssequenz<br />

zumindest äußerlich sehr ruhig. <strong>Die</strong>s liegt zum einen daran, dass Jef – darauf bedacht,<br />

unauffällig zu bleiben – in jedem Moment kontrolliert und beherrscht agiert, scheinbar<br />

unbeteiligt die Lage sondiert und die Menschen um sich herum beobachtet. Zum anderen<br />

nehmen diese betont ruhigen Szenen einen ungleich größeren Stellenwert ein <strong>als</strong> die<br />

dynamischeren Szenen, die sich <strong>im</strong> Büro des Kommissars und bei den Einsatztruppen an den<br />

<strong>Metro</strong>ausgängen abspielen. Während die Einstellungen mit Jef oft bis zu einer Minute dauern,<br />

werden die Reaktionen des Kommissars (dessen emotionales Temperament deutlich mit Jefs<br />

stoischem Gesichtsausdruck kontrastiert) meist in kurzen Einstellungen von nur wenigen<br />

Sekunden alternierend zwischengeschaltet. 129 Dabei spielt sich die Verfolgungssequenz nahezu<br />

in Echtzeit, streng chronologisch und linear ab und kann damit <strong>als</strong> Musterbeispiel dessen<br />

angesehen werden, was Colin McArthur <strong>als</strong> Melvillesches „cinema of process“ bezeichnet hat. 130<br />

Lediglich an zwei Stellen überbrücken kurze zeitliche Ellipsen, markiert durch Überblendung<br />

anstelle eines Schnitts, die Fahrt zwischen zwei Stationen. 131<br />

Auf diese Weise entsteht ein Rhythmus, der sich von dem actionreicher Verfolgungsjagden in<br />

anderen <strong>Film</strong>en fundamental unterscheidet. Während dort mithilfe von kurzen Einstellungen und<br />

schnellen Schnitten oft regelrechte „Geschwindigkeitsorgien“ 132 inszeniert werden, wird hier der<br />

Fokus ganz auf das innere Erleben Jefs gelenkt. Mehrere point-of-view-shots vermitteln uns<br />

seine subjektive Perspektive – etwa <strong>als</strong> Jef eine verdächtige Frau beobachtet, die ihm in der<br />

<strong>Metro</strong> gegenübersitzt. Als sie in ihre Handtasche greift und vorgibt, ein Taschentuch zu suchen<br />

(ein kurzer Schnitt auf das aufblinkende Licht auf dem Plan des Kommissars verrät uns, dass sie<br />

gerade ihren Sender aktiviert hat), folgt die Kamera dem Blick von Jef, der die Handbewegung<br />

der Frau genauestens beobachtet. 133<br />

129 Für die insgesamt rund achtminütige Verfolgungsjagd beläuft sich die Gesamtlänge der Einstellungen, in denen<br />

Jef zu sehen ist, auf rund 340 Sekunden, wohingegen die Polizisten für kaum mehr <strong>als</strong> ein Drittel dieser Zeit<br />

(140 Sekunden) gezeigt werden.<br />

130 Vgl. McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 194ff.<br />

131 TC 1:26:03 und 1:27:20.<br />

132 Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 45.<br />

133 TC 1:23:01 – 1:23:20.<br />

33


Abb. 5: Nahaufnahmen von Jef vermitteln <strong>im</strong> Wechsel mit mehreren point-of-view-shots, wie er seine Umgebung<br />

auslotet.<br />

Dazwischen ruht die Kamera <strong>im</strong>mer wieder auf Jefs Gesicht und fängt jede noch so kleine<br />

Regung ein: Schon <strong>als</strong> die Frau zusteigt, sehen wir, wie Jef seinen Blick zur Tür hebt und ihn<br />

sogleich wieder senkt, um Blickkontakt zu vermeiden. Kurz darauf verwendet er eine Zeitung,<br />

um seinen beobachtenden Blick zu tarnen. 134<br />

Abb. 6: Wie seine Verfolger bedient sich Jef eines Accessoires, um unauffällig zu bleiben.<br />

Als Jef bei der Station „Jourdain“ schließlich aussteigt, beordert der Kommissar sofort einen<br />

Polizeibeamten dorthin, der hastig die Treppen zum Bahnsteig hinunter rennt. Jef, der dort<br />

bereits wartet, hört seine Schritte und wendet seinen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch<br />

kommt. <strong>Die</strong> Kamera folgt dabei seiner Blickrichtung mit einem Schwenk nach links und<br />

schließlich nach rechts, <strong>als</strong> die Schritte plötzlich verstummen. 135 Zwar haben wir es an dieser<br />

Stelle nicht mit einem point-of-view-shot <strong>im</strong> eigentlichen Sinne zu tun, da die Kamera gegenüber<br />

von Jef positioniert ist. Dennoch folgt sie genau der Wahrnehmung von Jef, indem sie sich<br />

134 TC 1:22:52 – 1:23:28.<br />

135 TC 1:24:11 – 1:24:25.<br />

34


ebenso wie er dem Geräusch zuwendet. Auffällig ist hierbei, dass der Richtungswechsel des<br />

Blicks nicht durch einen Schnitt getrennt wird, sondern in einem durchgehenden Schwenk von<br />

180° gezeigt wird. Auf diese Weise wird Jefs Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, auch<br />

für den Zuschauer besonders unmittelbar erlebbar.<br />

<strong>Die</strong> Fokussierung auf Jef und seine Perspektive wird zudem in solchen Einstellungen deutlich,<br />

in denen die Umgebung um ihn herum verschw<strong>im</strong>mt und nur er scharf gezeigt wird – so etwa<br />

gegen Ende der Verfolgung, <strong>als</strong> Jef ein Rollband betritt und hinter ihm nur schemenhaft die<br />

junge Frau zu erkennen ist 136 , die ihn schon über mehrere Stationen hinweg verfolgt hat (siehe<br />

Abb. 7). Durch diese Technik wird die Aufmerksamkeit auf Jefs Reaktionen gelenkt, die wir nun<br />

genau beobachten können; gleichzeitig wird durch die schemenhafte Silhouette <strong>im</strong> Hintergrund<br />

sein Gefühl des Verfolgtseins visualisiert. Tatsächlich befand sich die junge Frau die ganze Zeit<br />

über hinter ihm, sodass Jef sie nicht sehen konnte; dennoch scheint er ihre Anwesenheit intuitiv<br />

wahrzunehmen und setzt kurz danach zur Flucht an, indem er über den Handlauf springt und<br />

losrennt. 137<br />

Abb. 7: Spiel mit verschiedenen Schärfegraden: <strong>Die</strong> junge Frau ist zunächst nur schemenhaft <strong>im</strong> Hintergrund zu<br />

erkennen.<br />

Überhaupt scheint sich Jef während der gesamten Verfolgung von einem sicheren, geradezu<br />

„an<strong>im</strong>alischen“ Instinkt leiten zu lassen, der ihn zum einen von Anfang an durchschauen lässt,<br />

dass er verfolgt wird und ihm zum anderen erlaubt, die Polizisten in Zivil von gewöhnlichen<br />

Passagieren zu unterscheiden. Um die Reaktionen seiner vermeintlichen Beobachter auszutesten<br />

136 TC 1:28:06 – 1:28:21.<br />

137 TC 1:28:20.<br />

35


und sie zu verwirren, greift er zum Teil auf äußerst trickreiche Techniken zurück: Als ihm die<br />

alte Dame mit der Handtasche verdächtig erscheint, steht er bei der nächsten Station auf und<br />

erweckt zunächst den Eindruck, <strong>als</strong> wolle er aussteigen. Dann jedoch bleibt er stehen und lehnt<br />

sich demonstrativ an die Haltestange, so <strong>als</strong> wolle er doch weiterfahren. Erst <strong>als</strong> die Tür sich<br />

gerade schließt, springt er <strong>im</strong> letzten Moment blitzschnell aus dem Waggon. 138<br />

Abb. 8: Jef täuscht seine mutmaßlichen Verfolger mit einem geschickten Manöver.<br />

Bezeichnend ist auch die bereits beschriebene Szene am Ende der Verfolgungssequenz, <strong>als</strong> er die<br />

verdeckte Ermittlerin auf dem Rollband mit seinem plötzlichen Sprung über den Handlauf<br />

überrascht und auf diese Weise abhängen kann. Seine Instinktsicherheit, seine außerordentliche<br />

Beobachtungsgabe und seine geschmeidigen, effizienten Bewegungen lassen in Szenen wie<br />

diesen an die eines gejagten Tieres denken. 139 Wir erinnern uns an die Sentenz am Anfang des<br />

138 TC 1:23:29 – 1:23:43.<br />

139 Von seiner außerordentlichen Intuition zeugt auch die Szene, <strong>als</strong> Jef in seine Wohnung zurückkehrt, nachdem<br />

die Polizei dort eine Wanze installiert hat. <strong>Die</strong> <strong>im</strong> Vogelkäfig liegenden Federn verraten Jef sofort, dass jemand<br />

da gewesen sein muss und er findet daraufhin das Abhörgerät. TC 1:11:30 – 1:13:50.<br />

36


<strong>Film</strong>es, die Jef nicht nur <strong>als</strong> Samurai, sondern ebenso <strong>als</strong> einen Tiger <strong>im</strong> Dschungel auswies. 140<br />

An späterer Stelle nennen seine Auftraggeber ihn außerdem einen einsamen, verwundeten<br />

Wolf. 141 Tiger und Wolf ist gemeinsam, dass sie gleichermaßen Jäger sind – ebenso wie Jef, der<br />

<strong>als</strong> Auftragskiller gewohnt ist, andere zu jagen. Nun jedoch wird der Jäger selbst zum Gejagten,<br />

und zwar, wie wir sagten, von gleich zwei Parteien. Seine Rolle <strong>als</strong> „Tiger“ wird zu Beginn der<br />

Verfolgungsjagd <strong>im</strong> Übrigen eindeutig ins Bild gesetzt: Am Zeitungsladen, wo Jef vor Antritt<br />

der Fahrt seine Zeitung kauft, prangt gut sichtbar ein Tiger auf dem Titelbild einer Zeitschrift. 142<br />

Über die Bezeichnung von Jef <strong>als</strong> einsamen, verwundeten Wolf sagte Melville in einem<br />

Interview mit Rui Nogueira etwas, das in unserem Zusammenhang von Bedeutung ist: „À partir<br />

du moment où un loup solitaire devient un loup blessé, il devient plus dangereux, mais il est<br />

destiné à perdre“ 143 – denn mit „destiné à perdre“ meint Melville nichts anderes, <strong>als</strong> dass Jef zu<br />

diesem Zeitpunkt bereits dem Tode geweiht ist. Nachdem Jef nach dem gescheiterten<br />

Mordversuch durch den Mittelsmann eine Armverletzung davon getragen hat, wird sein Tod in<br />

zahlreichen Hinweisen angekündigt: Noch am gleichen Abend besucht er, von nun an in<br />

Schwarz statt in Grau gekleidet, die Pianistin, 144 die laut Melville den Tod symbolisiert: „Seule la<br />

mort pourra causer sa perte [...] et Jeff tombe amoureux de sa Mort. Cathy Rosier, la Mort noire<br />

habillée de blanc, possède le charme de capter, captiver...“ 145 Und auch <strong>als</strong> er unmittelbar vor der<br />

Verfolgung seine Wohnung verlässt, wird erkennbar, dass er nicht vorhat, dorthin<br />

zurückzukehren. Er wirft dem Vogel <strong>im</strong> Käfig einen langen Blick zu, so <strong>als</strong> wolle er sich<br />

verabschieden. Dabei erklingt die Variation eines bereits bekannten Mollthemas, das – nun<br />

bezeichnenderweise auf dem Klavier gespielt – in dem Moment auf einem düsteren Akkord<br />

endet, <strong>als</strong> Jef die Tür hinter sich zuwirft. 146 Dass er diese lediglich hinter sich ins Schloss wirft<br />

und sie nicht, wie sonst, sorgfältig mehrfach verriegelt, spricht ebenso dafür, dass er nicht<br />

wiederkehren wird. Auch nach der Verfolgungsjagd kündigen mehrere Details in eindeutiger<br />

Weise seinen unvermeidlichen Tod an. 147 In der Fülle unmissverständlicher Indizien wird nun<br />

manifest, was <strong>im</strong> Grunde bereits der Eröffnungssequenz (in der Jef wie aufgebahrt auf seinem<br />

140 Ginette Vincendeau weist auf die besondere Bedeutung von Tiermetaphern <strong>im</strong> SAMOURAÏ hin und stellt<br />

bezüglich der Tigermetapher fest, dass diese eng mit dem Image von Alain Delon verknüpft war, dessen Gestik<br />

häufig <strong>als</strong> „katzenhaft“ beschrieben wurde. Weiterhin führt er in diesem Zusammenhang auch den bereits<br />

erwähnten Vogel <strong>im</strong> Käfig an, der – gewissermaßen <strong>als</strong> mise en abyme – Jefs Situation widerspiegelt. Vgl.<br />

Vincendeau: Jean-Pierre Melville, S.182f.<br />

141 „C´est un loup solitaire.“ – „C´est un loup blessé“, TC 47:51.<br />

142 TC 1:21:12.<br />

143 Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 160.<br />

144 TC 51:04 – 53:43.<br />

145 Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 156.<br />

146 TC 1:20:16 – 1:20:30.<br />

147 So etwa der <strong>Die</strong>bstahl eines schwarzen Citroëns (TC 1:29:07), die Aussage des Mechanikers, der ihm ein<br />

f<strong>als</strong>ches Nummernschild anbringt und eine Waffe übergibt („Je te préviens, Jef. C´est la dernière fois“, TC<br />

1:31:12), der Abschied von seiner Verlobten Jane (TC 1:31:53 – 1:33:40), seine Bemerkung gegenüber Rey („Je<br />

m´en vais“, TC 1:34:42), oder der Coupon für seinen Mantel, den er an der Garderobe des „Martey´s“ einfach<br />

liegen lässt (TC 1:35:44).<br />

37


Bett liegt) eingeschrieben war: Jef hat den Entschluss zu sterben längst gefasst. Über Jefs<br />

Gründe für seinen Selbstmord wird in der Sekundärliteratur oft mit sehr unterschiedlichen<br />

Ergebnissen spekuliert, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass Melville ursprünglich<br />

vorgesehen hatte, Jef mit einem Lächeln auf den Lippen sterben zu lassen. Erst später hatte er<br />

sich für ein Ende mit stoischem Gesichtsausdruck entschieden. 148 Während Melville selbst sagte,<br />

dass Jef sich in den Tod in Gestalt der Pianistin verliebt und sich von da an nach dem Tode<br />

sehnt, interpretiert Colin McArthur Jefs Suizid <strong>als</strong> Reaktion auf den Verrat durch die Pianistin. 149<br />

Eine weitere Deutung bietet Gerhold an, der Jefs provozierte Erschießung <strong>als</strong> einen Akt der<br />

Ehrenrettung auffasst: Indem er seine einzige Augenzeugin, die Pianistin, am Leben ließ, sein<br />

Alibi gefährdete und später sogar zum Ort des Verbrechens zurückkehrte, um Kontakt mit ihr<br />

aufzunehmen, hat er seinen beruflichen Ehrenkodex verletzt. Aus der „Einsicht, Ehre nur <strong>im</strong> Tod<br />

gewinnen“ 150 zu können, begeht Jef harakiri, rituellen Selbstmord. 151<br />

Costello fährt <strong>als</strong>o mit der Intention zu Olivier Rey, erst diesen und dann sich selbst zu richten,<br />

und so kann die Verfolgung durch die <strong>Metro</strong> auch vor dem Hintergrund seines bevorstehenden<br />

Todes gelesen werden. Es scheint daher nahe liegend, Jefs Abstieg in die <strong>Metro</strong>stationen <strong>als</strong> eine<br />

descente aux enfers aufzufassen. Darauf deutet auch hin, dass sein Hinabsteigen der<br />

Stationstreppen vor beiden <strong>Metro</strong>szenen jeweils prominent in Szene gesetzt wird. 152<br />

Abb. 9: Jefs Abstieg in die Unterwelt von Paris.<br />

Vor allem aber scheint die <strong>Metro</strong> seine Einsamkeit, Isolation und Kommunikationslosigkeit zu<br />

verbildlichen. 153 So verweisen etwa die mehrfach gezeigten schwarzen <strong>Metro</strong>tunnel auf seine<br />

148 Vgl. Nogueira: Le cinéma selon Melville, S. 162.<br />

149 Vgl. McArthur: „Mise-en-scène degree zero“, S. 197.<br />

150 Gerhold: Kino der Blicke, S. 167.<br />

151 Zur Konzeption von Jef <strong>als</strong> Samurai und den damit verbundenen Implikationen (wie etwa dem Einhalten eines<br />

Ehrenkodex oder der Befürwortung des harakiris, <strong>als</strong>o der rituellen Selbstopferung etc.), siehe Vincendeau:<br />

Jean-Pierre Melville, S. 182f.<br />

152 TC 40:25 sowie 1:20:50.<br />

153 Sein Unvermögen, mit anderen Menschen zu kommunizieren wird besonders in einer Szene anschaulich, in der<br />

Jef <strong>im</strong> Auto von einer jungen Frau angelächelt wird. Statt ihr Lächeln zu erwidern, bleibt Jef regungslos und<br />

wendet sich brüsk ab (TC 05:23 – 05:45). Melville erklärt Jefs Reaktion folgendermaßen: „Les deux regards qui<br />

se croisent aident à mieux comprendre le schizophrène qu´est Jeff. Un homme normal aurait suivi cette fille ou<br />

tout au moins lui aurait souri. Jeff, lui, reste <strong>im</strong>passible car rien ne peut le détourner de la mission qu´il va<br />

accomplir ... Le vol rituel de la voiture est le premier acte de son cr<strong>im</strong>e“, Nogueira: Le cinéma selon Melville, S.<br />

154.<br />

38


innere Leere und Gefühlskälte – sie werden später noch einmal in Erinnerung gerufen, <strong>als</strong> der<br />

Kommissar nach Jefs Erschießung dessen Waffe öffnet: „We are left looking into six miniature<br />

tunnels which are not without subl<strong>im</strong>inal reminiscence of the tunnels of the métro but here are<br />

emblematic of emptiness and annihilation“ 154 , so David Berry.<br />

Abb. 10: <strong>Die</strong> schwarzen <strong>Metro</strong>tunnel und das leere Magazin <strong>als</strong> Sinnbild für Jefs innere Leere.<br />

Hinzu kommt, dass Jef in den meisten Einstellungen allein zu sehen ist. <strong>Die</strong>s gilt sicher für den<br />

gesamten <strong>Film</strong> – in zahlreichen Szenen sehen wir Jef einsam durch die Straßen von Paris<br />

streifen. Jedoch können wir dies auch und besonders in den Szenen beobachten, die in der <strong>Metro</strong><br />

spielen. Nicht nur wird Jef meist isoliert von den anderen gefilmt, auch beäugt er die Menschen<br />

um sich herum mit permanentem Misstrauen, wirkt verloren, meidet Blickkontakt. Seine<br />

Einsamkeit inmitten von vielen (die wir <strong>als</strong> typische Erfahrung des modernen<br />

Großstadtmenschen beschrieben haben) und sein Unvermögen, mit anderen Menschen in<br />

Kontakt zu treten, werden in diesen Szenen besonders anschaulich. Und so ist vielleicht auch<br />

seine Flucht vor der Polizistin – die Vincendeau <strong>als</strong> eine Flucht vor der Weiblichkeit <strong>als</strong> solcher<br />

begreift 155 – tatsächlich <strong>als</strong> eine Flucht vor menschlichen Beziehungen <strong>im</strong> Allgemeinen zu<br />

deuten.<br />

Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Analyse scheint mir diese Verfolgungsjagd durch<br />

die <strong>Metro</strong> pr<strong>im</strong>är zwei Zwecke zu verfolgen. Zum einen verdichtet sie – ganz <strong>im</strong> Sinne<br />

Kracauers – das übergreifende Sujet (der Auftragskiller/Jäger, der zum Gejagten wird und, in die<br />

Enge getrieben, keinen anderen Ausweg mehr sieht <strong>als</strong> den eigenen Tod). Zum anderen liegt<br />

154 Berry: „Underground Cinema“, S. 12.<br />

155 Vgl. Vincendeau: Jean-Pierre Melville, S. 184.<br />

39


nahe, dass Melville die Verfolgung von Jef bewusst in die <strong>Metro</strong> verlegte, da sie aufgrund ihrer<br />

semantischen Implikationen wie kaum ein anderer Ort dazu geeignet ist, Jefs Seelenleben<br />

widerzuspiegeln: Als ein Ort der Entfremdung par excellence versinnbildlicht sie die „Tristesse,<br />

Einsamkeit, Entfremdung und Kommunikationslosigkeit von Costellos Welt“ 156 und verkörpert<br />

gleichzeitig, <strong>als</strong> moderne Manifestation der Unterwelt, seine Sehnsucht nach dem Tod.<br />

3.2 PEUR SUR LA VILLE von Henri Verneuil<br />

Achod Malakian (1920-2002), besser bekannt <strong>als</strong> Henri Verneuil, wird gerne <strong>als</strong> „[le] plus<br />

américain de tous les réalisateurs français“ 157 bezeichnet. Sein Anspruch, das Publikum vor allen<br />

Dingen gut zu unterhalten und seine Tendenz zu kommerziellen <strong>Film</strong>en wurden ihm häufig zum<br />

Vorwurf gemacht. 158 Dabei mussten selbst die schärfsten Kritiker zugestehen, dass Verneuil, der<br />

<strong>als</strong> großer Perfektionist bekannt war, sein Handwerk beherrschte. Bezüglich PEUR SUR LA<br />

VILLE (1975) räumte Michel Mohrt, ein Rezensent, der Henri Verneuil nie besonders gewogen<br />

war, ein: „Moi qui a<strong>im</strong>e les films américains d’action, je dois reconnaître que ce film les vaut.<br />

Rien n’y manque: ni les poursuites en auto, ni le hold-up, ni le détraqué sexuel aux verres fumés<br />

et aux gants noirs. C’est du beau travail.“ 159 Ein anderer Journalist, Henry Chapier schrieb in Le<br />

Quotidien de Paris, dieser <strong>Film</strong> sei ein „spectacle conçu pour les foules. On peut en détester le<br />

ton, mais guère contester son brio.“ 160<br />

Für PEUR SUR LA VILLE hatte Verneuil die Rechte an einem amerikanischen Kr<strong>im</strong>i namens<br />

Night Calls gekauft – von dem allerdings nicht viel mehr übrig blieb <strong>als</strong> das Motiv des<br />

psychopathischen Täters, der seine weiblichen Opfer durch nächtliche Anrufe terrorisiert 161 –<br />

und entwarf um dieses Sujet herum ein Szenario, das perfekt auf Jean-Paul Belmondo<br />

zugeschnitten schien. Mit drei ausgedehnten, stets h<strong>als</strong>brecherischen und extrem riskanten<br />

Verfolgungsjagden sowie einem spektakulären Stunt, bei dem sich Belmondo von einem<br />

Helikopter aus in ein Hochhaus abseilen ließ, entsprach die Rolle des Kommissar Letellier genau<br />

dem draufgängerischen Image, das Belmondo verkörperte und auch bewusst pflegte. 162 In PEUR<br />

SUR LA VILLE war Belmondo erstm<strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Koproduzent beteiligt und hatte somit großen<br />

156<br />

Gerhold: Kino der Blicke, S. 170.<br />

157<br />

Roger Vignaud: Henri Verneuil: Les plus grands succès du cinéma (Temps Mémoire), Marseille: Éditions<br />

Autres Temps 2008, S. 11.<br />

158<br />

Vgl. Vignaud: Henri Verneuil, S. 11.<br />

159<br />

Le Figaro, Ausgabe vom 17. April 1975, zitiert nach Vignaud: Henri Verneuil, S. 222.<br />

160<br />

Le Quotidien de Paris, Ausgabe vom 9. April 1975, zitiert nach Vignaud: Henri Verneuil, S. 221.<br />

161<br />

Vgl. Philippe Durant: Belmondo, Paris: Éditions Robert Laffont 1993, S. 319.<br />

162<br />

<strong>Die</strong> beliebtesten Subgenres des polar der 70er und 80er Jahre (der stilisierte Gangsterthriller, eben jenes Genre,<br />

das Melville mit dem SAMOURAÏ maßgeblich prägte, sowie der actionlastige Kr<strong>im</strong>inalfilm mit vorrangig<br />

unterhaltendem Anspruch, dem auch PEUR SUR LA VILLE zuzurechnen ist) waren aufs Engste mit den beiden<br />

größten Stars der damaligen Zeit, Alain Delon und Jean-Paul Belmondo, verbunden. Während der makellose<br />

Delon nicht erst seit seiner Rolle <strong>als</strong> Jef Costello mit dem Image des „eiskalten Engels“ behaftet war, stellte<br />

Belmondo <strong>als</strong> draufgängerischer Actionheld seinen direkten Gegenpol dar. <strong>Die</strong> Assoziation von Image und<br />

Genre war dergestalt, dass Jean-Pierre Melville sogar postulierte, dass es <strong>im</strong> <strong>französischen</strong> polar dieser Zeit<br />

tatsächlich nur zwei Formate gegeben habe: Delon und Belmondo. Vgl. Guy Austin: Contemporary French<br />

Cinema: An Introduction, New York: Manchester University Press 1996 , S. 100.<br />

40


Einfluss auf die Gestaltung der Szenen. 163 Dabei wachte er durchaus sehr genau darüber, dass<br />

insbesondere die Stunt- und Verfolgungsszenen seinen Vorstellungen entsprachen, schließlich<br />

stellten diese zu einem Gutteil die Grundlage seines Erfolges dar. 164 Und so stammte der<br />

Vorschlag, die legendäre <strong>Metro</strong>-Verfolgungsjagd auf dem Waggon stattfinden zu lassen,<br />

bezeichnenderweise von Belmondo selbst – Verneuil hatte ursprünglich eine Verfolgungsjagd in<br />

der <strong>Metro</strong> vorgesehen. 165<br />

<strong>Die</strong> Handlung des <strong>Film</strong>s ist schnell zusammengefasst: Kommissar Letellier hat mit dem<br />

Drogenhändler Marcucci (Giovanni Cianfriglia) noch eine Rechnung zu begleichen. Durch eine<br />

Rückblende erfahren wir, dass Marcucci dem Kommissar nach einem Banküberfall entkommen<br />

ist und seitdem frei herumläuft. Bei der Verfolgungsjagd durch Paris war ein unbeteiligter<br />

Passant zu Tode gekommen; erst später fand man heraus, dass die Kugel aus Marcuccis Waffe<br />

stammte. Letellier, der sich zeitweise dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung ausgesetzt sah, will<br />

die Schande nicht auf sich sitzen lassen und wartet darauf, dass Marcucci nach Paris<br />

zurückkehrt. Be<strong>im</strong> nächsten Mal will er ihn keinesfalls entkommen lassen. Zwischenzeitlich<br />

wird ihm ein anderer Fall übertragen: Ein Psychopath terrorisiert per Telefon Frauen, deren<br />

freizügige Lebensweise er <strong>als</strong> lasterhaft und unmoralisch verurteilt. Er, der sich selbst – in<br />

Anlehnung an den Hadesrichter aus Dantes Göttlicher Komödie – Minos nennt, wendet sich mit<br />

regelmäßigen Briefen an Polizei und Presse und droht mit der Ermordung dieser Frauen. <strong>Die</strong><br />

Ermittlungen gehen nur schleppend voran und Letellier kann nicht verhindern, dass Minos<br />

(Adalberto Maria Merli) seine Drohung wahr macht und ein erstes Opfer tötet. Bei einer<br />

riskanten Verfolgungsjagd – die unter anderem in schwindelerregender Höhe über den Dächern<br />

von Paris stattfindet – steht Letellier kurz davor, Minos zu fassen. Doch dann erhält er die<br />

Meldung, dass Marcucci ganz in der Nähe ist und lässt von Minos ab, um sich an die Fersen<br />

seines Erzfeindes zu heften. Trotz der akuten Gefahr, die von Minos ausgeht, ist ihm in diesem<br />

Moment die Befriedigung seiner Rachegelüste wichtiger. Zwar bringt er Marcucci in der<br />

folgenden Verfolgungsjagd durch die <strong>Metro</strong> buchstäblich zur Strecke – der Gangster stürzt aus<br />

der Tür einer <strong>Metro</strong> und wird von einem entgegenkommenden Zug mitgerissen –, jedoch lässt<br />

Minos am nächsten Tag über die Presse verkünden, dass Letellier ihn hat entkommen lassen und<br />

163 Vgl. Durant: Belmondo, S. 319.<br />

164 So stellte sich Belmondo während der Dreharbeiten häufig <strong>als</strong> noch größerer Perfektionist heraus, <strong>als</strong> Verneuil<br />

es war. Immer wieder war er es, der zu noch spektakuläreren Szenen drängte und darauf bestand, alle<br />

gefährlichen Stunts selbst zu absolvieren. <strong>Die</strong> Szene auf der <strong>Metro</strong> beispielsweise wurde zunächst bei 15-20<br />

km/h gedreht, doch auf Belmondos Wunsch hin wurde die Geschwindigkeit Stück für Stück bis auf 60 km/h<br />

erhöht. Vgl. Durant: Belmondo, S. 319ff. Dass Imagepflege und auch ein gewisses Maß an Eitelkeit für<br />

Belmondo durchaus eine große Rolle spielten, wenn es um die Ausführung seiner <strong>Film</strong>stunts ging, verdeutlicht<br />

zudem ein Zitat, in dem er sich über die Zusammenarbeit mit Verneuil äußert: „Avec Verneuil, je fais des<br />

cascades en sachant qu´on me reconnaîtra. S´il me demande de me balancer de la tour Eiffel, on ne me verra pas<br />

comme une mouche au coin de l´écran“, Le film français (Nr. 1551), Ausgabe vom 5. Oktober 1974, zitiert nach<br />

Vignaud: Henri Verneuil, S. 218.<br />

165 Vgl. Durant: Belmondo, S. 319.<br />

41


somit verantwortlich sei, wenn er einen erneuten Mord begehen sollte. Und tatsächlich wird<br />

noch ein weiterer Mord geschehen, bevor Letellier Minos schließlich stellt. In der spektakulären<br />

Schlussszene lässt er sich aus einem Hubschrauber abseilen, springt durch ein Fenster in die<br />

Wohnung des Pornostars Pamela Sweet (Minos’ drittes geplantes Opfer) und überwältigt ihn<br />

unmittelbar vor seiner nächsten Tat.<br />

Wie bereits dargestellt wurde, löst die Verfolgung des Drogenhändlers Marcucci die von<br />

Minos ab. Zunächst liefert sich Letellier mit letzterem eine gefährliche Jagd über die Dächer von<br />

Paris, die durch die Lager- und Verkaufsräume der „Galéries Lafayette“ fortgesetzt wird und<br />

schließlich auf den Straßen von Paris endet. 166 Dort steigt Minos auf sein Motorrad und Letellier<br />

n<strong>im</strong>mt mit seinem Kollegen Moissac (Charles Denner) die Verfolgung per Auto auf. Plötzlich<br />

erhält er von zwei seiner Kollegen die Meldung, dass sie sich in der Nähe der Porte d’Auteuil<br />

befinden und Marcucci dicht auf den Fersen sind. Letellier überlässt zunächst seinen Kollegen<br />

dessen Verfolgung und konzentriert sich weiterhin auf Minos, lässt sich aber stets über<br />

Marcuccis momentanen Aufenthaltsort auf dem Laufenden halten. Als Minos an einer Kreuzung<br />

schließlich abbiegt, entschließt sich Letellier spontan zu einer Planänderung: Er lässt Minos<br />

entkommen und macht kehrt in Richtung Champs-Elysées, in deren Nähe sich Marcucci nun<br />

befinden soll. 167 <strong>Die</strong>ser hat inzwischen bemerkt, dass er verfolgt wird und versucht, die<br />

Polizisten abzuschütteln. Als er plötzlich unerwartet quer über die Champs-Elysées fährt und in<br />

eine Seitenstraße einbiegt, verlieren die Polizisten den Anschluss – Letellier jedoch befindet sich<br />

in eben dieser Seitenstraße, entdeckt Marcucci und übern<strong>im</strong>mt von jetzt an die Verfolgung durch<br />

den dichten Pariser Straßenverkehr. 168 An der <strong>Metro</strong>station „Auber“ hält Marcucci schließlich<br />

an, springt aus seinem Wagen und hastet die Rolltreppen hinunter, Letellier dicht hinter ihm. In<br />

der Stationshalle kommt es zu einem Schusswechsel, bei dem Marcucci entkommt und zum<br />

Gleis in Richtung „Saint-Germain-en-Laye“ läuft. Letellier folgt ihm und steigt am Bahnsteig in<br />

die <strong>Metro</strong> ein – erst an der nächsten Station macht er Marcucci wieder in der Menge aus, verliert<br />

dann aber erneut den Anschluss. Auf einem der Überwachungsmonitore bei der Stationsaufsicht<br />

sieht er ihn schließlich am Bahnsteig in Richtung „Nation“ auf die Ankunft der nächsten <strong>Metro</strong><br />

warten. Marcucci (<strong>im</strong> Glauben, Letellier nun abgehängt zu haben) atmet auf, <strong>als</strong> diese schließlich<br />

eintrifft. Letellier kommt jedoch <strong>im</strong> letzten Moment am Quai an und schafft es, sich noch an den<br />

bereits anfahrenden <strong>Metro</strong>wagen zu klammern. 169 Marcucci, der in den vordersten Waggon<br />

166 <strong>Die</strong> Verfolgung von Minos dauert bis zu dem Zeitpunkt, <strong>als</strong> Letellier entscheidet, sich an Marcucci zu hängen,<br />

bereits gute zwölf Minuten (TC 48:20 – 1:00:27). <strong>Die</strong> anschließende Jagd auf Marcucci dauert noch einmal rund<br />

neun Minuten (TC 1:00:27 – 1:09:06). Insgesamt wird die Spannung <strong>als</strong>o über eine ungewöhnlich lange<br />

Zeitspanne von mehr <strong>als</strong> zwanzig Minuten aufrechterhalten. <strong>Die</strong>se und alle weiteren Zeitangaben in diesem<br />

Kapitel beziehen sich auf die folgende Edition: Henri Verneuil: PEUR SUR LA VILLE. DVD, 120 Min., Issyles-Moulineaux:<br />

StudioCanal 2007 (Frankreich: 1975).<br />

167 TC 57:37 – 1:00:27.<br />

168 TC 1:01:30 – 1:01:49.<br />

169 TC 1:04:05 – 1:05:23.<br />

42


eingestiegen ist, bekommt hiervon nichts mit und wiegt sich in Sicherheit. Von jetzt an beginnt<br />

Letelliers riskanter Ritt auf der <strong>Metro</strong>, während dessen er sich bei voller Fahrt Stück für Stück zu<br />

Marcucci vorantastet.<br />

<strong>Die</strong> Fahrt führt zunächst durch mehrere unterirdische <strong>Metro</strong>stationen. Gleich zu Beginn erhält<br />

der Fahrer der <strong>Metro</strong> die Anweisung, die nächsten Stationen ohne Stopp zu passieren – ein (zwar<br />

wenig realistischer, aber wirkungsvoller) Einfall Verneuils, um den Schwierigkeitsgrad und die<br />

Spannung der Szene zu erhöhen. 170 Denn Letellier ist nun gezwungen, sich über mehrere<br />

Stationen hinweg auf dem Dach der <strong>Metro</strong> zu halten. Statt sich jedoch einfach nur<br />

festzuklammern und bis zum nächsten Halt der <strong>Metro</strong> abzuwarten, arbeitet er sich in höchst<br />

riskanter Weise vor: In den Tunneln legt er sich flach auf den Bauch und zieht sich Stück für<br />

Stück nach vorne; sobald der Zug in eine Station einfährt, richtet er sich auf und läuft bei voller<br />

Fahrt noch einmal mehrere Meter weiter, um sich dann vor Einfahrt in den nächsten Tunnel<br />

wieder auf den Bauch zu werfen.<br />

Abb. 11: Der gefährliche Stunt zwischen zwei <strong>Metro</strong>tunneln.<br />

Der Schwierigkeitsgrad wird noch einmal mehr gesteigert, indem Letellier, der auf den letzten<br />

Waggon der <strong>Metro</strong> aufsprang, erst <strong>im</strong> vordersten Waggon fündig werden wird. Zuvor sucht er<br />

die anderen Waggons ab, indem er sich, auf der <strong>Metro</strong> liegend, zur Seite dreht und kopfüber<br />

durch das Fenster späht 171 – eine auch nicht eben ungefährliche Aktion, da sich die Tunnelwände<br />

170 Vgl. Durant: Belmondo, S. 320.<br />

171 TC 1:07:02 – 1:07:15.<br />

43


in nur wenigen Zent<strong>im</strong>etern Abstand zum Fahrzeug befinden und zudem Hochspannungskabel<br />

hier verlaufen können. 172<br />

Der spektakuläre Stunt wurde aus mehreren Perspektiven aufgenommen, die in dieser Sequenz<br />

nun abwechselnd eingeblendet werden. Einige Kameras wurden direkt auf dem <strong>Metro</strong>waggon<br />

befestigt; zum einen, um Letellier frontal bei seinem gewagten Balanceakt einzufangen, zum<br />

anderen, um seine subjektive Perspektive wiederzugeben auf diese Weise die Erfahrung von<br />

Enge und Dunkelheit <strong>im</strong> Tunnel zu visualisieren (siehe Abb. 12). <strong>Die</strong>se beiden Einstellungen, die<br />

stets nur wenige Sekunden dauern, alternieren nun die meiste Zeit über 173 und werden durch<br />

schnelle Schnitte miteinander verbunden, wodurch der Eindruck von hoher Geschwindigkeit<br />

noch verstärkt wird. 174 Um die Bewegung des Zuges einzufangen und den Aspekt der<br />

Geschwindigkeit zu betonen, wurden zudem Kameras an den Stationen postiert, die die <strong>Metro</strong><br />

durchläuft.<br />

Abb. 12: Belmondos <strong>Metro</strong>ritt wurde aus verschiedenen Perspektiven aufgenommen.<br />

Im Übrigen bediente sich Verneuil, um der Szene noch mehr Rasanz zu verleihen, eines Tricks<br />

(wie er betont, „[l]a seule tricherie“ 175 ) und hinterlegte sie nachträglich mit dem Geräusch einer<br />

<strong>Metro</strong> bei 80 km/h, während sie tatsächlich nur 60 km/h fuhr. Schließlich führt der Weg über den<br />

Pont de Bir-Hake<strong>im</strong>, wo Wind und schwindelnde Höhe noch einmal erschwerte Bedingungen<br />

172 Vgl. Durant: Belmondo, S. 320.<br />

173 Sie werden nur vereinzelt von abweichenden Einstellungen (etwa der Perspektive vom Bahnsteig aus, der<br />

Ansicht vom Inneren des <strong>Metro</strong>zugs, in dem sich Marcucci befindet, sowie dem Blick in die Kabine des Fahrers<br />

und die Funkzentrale der Verkehrsbetriebe) unterbrochen.<br />

174 Etwa TC 1:05:39 – 1:07:50.<br />

175 Durant: Belmondo, S. 321.<br />

44


schaffen. 176 Henri Verneuil verwendete für diese Szene unter anderem eine Supertotale mit<br />

leichter Untersicht, wodurch Letellier zwar sehr klein, der Stunt hingegen umso monumentaler<br />

erscheint. <strong>Die</strong> unten stehenden Schaulustigen (die <strong>im</strong> Übrigen wohl keine Statisten, sondern<br />

tatsächlich Zaungäste waren 177 ) schauen <strong>im</strong> wahrsten Sinne des Wortes zu Belmondo auf tragen<br />

so zum heroisierenden Effekt dieser Szene bei.<br />

Abb. 13: <strong>Die</strong> Fahrt über den Pont de Bir-Hake<strong>im</strong>.<br />

Marcucci ist während der gesamten Stuntsequenz bisher kaum präsent gewesen. Lediglich<br />

zwei kurze Zwischenschnitte zeigen ihn <strong>im</strong> <strong>Metro</strong>waggon. 178 Erst in der letzten Szene, in der es<br />

zum Showdown kommt und Letellier ihn schließlich stellt, rückt der eigentliche „Zweck“ des<br />

gefährlichen Unterfangens wieder in den Blickpunkt, wird jedoch <strong>im</strong> Vergleich zur<br />

ausgedehnten Inszenierung des <strong>Metro</strong>ritts relativ schnell abgehandelt. Letellier, der nun<br />

mittlerweile am vordersten Waggon angekommen ist, lässt sich in den Spalt zwischen den ersten<br />

beiden Waggons gleiten und erblickt Marcucci durch die Scheibe. Der vermeintlich geschützte<br />

Innenraum des <strong>Metro</strong>waggons, in dem sich Marcucci zumindest vorübergehend vor einem<br />

Zugriff Letelliers sicher glaubte, gerät nun für ihn zur Falle. Als Letellier seine Waffe zückt und<br />

die Tür zum <strong>Metro</strong>waggon aufstößt, greift auch Marcucci blitzschnell zur Waffe und eröffnet das<br />

Feuer – ein weiteres Mal ohne Rücksicht auf die umstehenden Passagiere, die sich in Panik<br />

hinter den <strong>Metro</strong>sitzen verstecken oder auf den Boden kauern, um dem Kugelhagel zu<br />

176 TC 1:07:56 – 1:08:25.<br />

177 Dass während der Außendreharbeiten durchaus <strong>im</strong>mer wieder schaulustige Passanten anwesend waren, geht aus<br />

den Ausführungen Philippe Durants zur Verfolgungsjagd auf den Dächern der „Galéries Lafayette“ hervor. Vgl.<br />

Durant: Belmondo, S. 321.<br />

178 TC 1:06:25 sowie 1:06:52.<br />

45


entgehen. 179 Schließlich wird Marcucci von einer Kugel in die Brust getroffen, gerät ins<br />

Taumeln und fällt gegen die Waggontür. Auf diese Weise betätigt er den Öffnungsmechanismus,<br />

fällt rückwärts aus dem Waggon und wird von einem entgegenkommenden Zug mitgerissen. 180<br />

Wenn man sich nun die Frage stellt, welche Funktion dieser <strong>Metro</strong>sequenz <strong>im</strong><br />

Gesamtzusammenhang des <strong>Film</strong>s zukommt, so kann man leicht auf die Ansicht verfallen, dass<br />

sie einzig dem Zweck dient, auf möglichst spektakuläre Weise den Mythos Belmondo in Szene<br />

zu setzen. Und mit Sicherheit ist unsere Ausgangsfrage hiermit zumindest teilweise bereits<br />

beantwortet, lockten doch gerade Szenen wie diese die Menschen ins Kino. Nicht umsonst<br />

wurde der <strong>Film</strong> explizit damit beworben, dass „Bébel“ alle Stunts selbst absolviert hatte. 181 <strong>Die</strong><br />

Verfolgungsjagd auf dem Dach der <strong>Metro</strong> ist dabei mit Sicherheit der schwierigste und<br />

gefährlichste Stunt des gesamten <strong>Film</strong>s, wie auch Belmondo selbst befand. 182 Allerdings scheint<br />

sie über vordergründige „Effekthascherei“ hinaus durchaus noch einen anderen Zweck zu<br />

verfolgen. Wie insbesondere auch die Szene auf der Brücke veranschaulichte, dient der Ritt auf<br />

der <strong>Metro</strong> der Inszenierung einer Heldenfigur, deren Fähigkeiten über den üblichen héroïsme du<br />

quotidien weit hinaus gehen. Letellier ist nicht „nur“ besonders intelligent, gewitzt und stark,<br />

vielmehr wird er mit seinen ausgeprägten athletischen Fähigkeiten <strong>als</strong> regelrechter surhomme<br />

dargestellt. 183 Bezeichnenderweise beschwört der Anblick von Letellier auf dem Dach der <strong>Metro</strong><br />

ein Bild herauf, das seine Übermenschlichkeit geradezu ironisch verdeutlicht. Sam Ra<strong>im</strong>is<br />

Comicverfilmung SPIDER-MAN 2 aus dem Jahr 2004 enthält eine Szene, in der sich Spider-Man<br />

alias Peter Parker (Tobey Maguire) auf einem Waggon der New Yorker Subway einen Kampf<br />

mit Dr. Octavius liefert – eine Szene, die einem in diesem Zusammenhang fast unwillkürlich in<br />

den Sinn kommt:<br />

179<br />

TC 1:08:33 – 1:08:55.<br />

180<br />

TC 1:08:59.<br />

181<br />

Vgl. Olivier Philippe: La représentation de la police dans le cinéma français (1965-1992), Paris: L'Harmattan<br />

199, S. 199.<br />

182<br />

„Ce qui a été le plus dur pour moi, [...] c´est le metro. Non pas sur le pont de Bir-Hake<strong>im</strong> à cause du vent, mais<br />

surtout dans le souterrain“, so Belmondo. „J ´étais aplati dans le tunnel qui n´est qu´à dix ou vingt cent<strong>im</strong>ètres<br />

au-dessus de ma tête. Et quand le métro démarre [...] d´un coup vous êtes à 50 ou 60 à l´heure dans un tunnel<br />

tout noir. Je veux dire qu´on n´y voit rien. Il y a de petites lampes qui vous arrivent dans la figure et on a une<br />

sensation de vitesse encore plus grande“, Durant: Belmondo, S. 320.<br />

183<br />

Laut Olivier Philippe trifft man bei den meisten Heldenfiguren <strong>im</strong> polar auf einen „héroïsme du quotidien qui se<br />

manifeste par l´intelligence, l´astuce, la ténacité, la persévérace, et même, l´entêtement à remplir sa mission“,<br />

Philippe: La représentation de la police dans le cinéma français, S. 198. Nur in seltenen Fällen werde der<br />

Protagonist <strong>als</strong> surhomme mit außergewöhnlichen, fast übermenschlichen Eigenschaften dargestellt. <strong>Die</strong>s ist, so<br />

Philippe, in einigen wenigen <strong>Film</strong>en der Fall, die mit Jean-Paul Belmondo in der Hauptrolle besetzt sind, wie<br />

etwa FLIC OU VOYOU (Georges Lautner, 1979), LE MARGINAL (Jacques Deray, 1983) oder eben PEUR SUR<br />

LA VILLE. Allerdings möchte man an dieser Stelle einschränkend bemerken, dass sich Letelliers<br />

„übermenschliche“ Eigenschaften auf seine körperlichen Fähigkeiten beschränken. Denn der Kommissar hat<br />

charakterliche Schwächen – seine Eitelkeit und sein egozentrisches Verhalten –, die ihn wiederum zutiefst<br />

menschlich erscheinen lassen.<br />

46


Abb. 14: Spider-Man auf dem Dach der New Yorker U-Bahn.<br />

Natürlich entstand diese Szene rund 30 Jahre nach PEUR SUR LA VILLE und unter Rückgriff<br />

auf alle heute zur Verfügung stehenden tricktechnischen Mittel; dass Ra<strong>im</strong>i damit bewusst<br />

Bezug auf Verneuils <strong>Film</strong> nahm, ist äußerst unwahrscheinlich. Dennoch ist diese Parallele<br />

aufschlussreich, da sich hier zwei höchst unterschiedliche Regisseure in zwei ebenso<br />

unterschiedlichen <strong>Film</strong>en das ungewöhnliche Setting eines U-Bahn-Daches zunutze machen, um<br />

ihren Protagonisten zu heroisieren. Zwar besitzt Letellier <strong>im</strong> Gegensatz zu Spider-Man nicht<br />

buchstäblich übernatürliche Kräfte, aber auch er wird auf diese Weise <strong>als</strong> Mensch mit<br />

außergewöhnlichen Fähigkeiten inszeniert. Und damit gewinnt die <strong>Metro</strong>szene in PEUR SUR LA<br />

VILLE mit ihrer athletischen, ja regelrecht akrobatischen Anmutung insofern eine große<br />

Bedeutung, <strong>als</strong> sie auch und vor allem der Charakterisierung des Helden dient.<br />

Wir haben bereits darauf verwiesen, dass Letellier, mehr auf die Befriedigung persönlicher<br />

Rachegelüste <strong>als</strong> auf pflichtbewusstes Handeln bedacht, die Verfolgung von Minos aufgibt, um<br />

endlich seinen verhassten Widersacher Marcucci zur Strecke zu bringen. <strong>Die</strong> Szene direkt <strong>im</strong><br />

Anschluss an die <strong>Metro</strong>-Verfolgungsjagd verdeutlicht seine egozentrische Haltung äußerst<br />

beispielhaft. Letelliers Vorgesetzte konfrontieren ihn mit den Schlagzeilen am nächsten Morgen:<br />

Minos hat die Presse darüber informiert, dass der Kommissar ihn einfach entkommen ließ.<br />

Letellier, der sich für die schmachvollen Presseberichte jedoch wenig zu interessieren scheint<br />

(ganz anders <strong>als</strong> <strong>im</strong> Fall Marcucci), quittiert die Vorwürfe seiner Vorgesetzten mit demonstrativ<br />

gleichgültiger Miene und dreht sich betont gelangweilt auf seinem Stuhl hin und her. 184 Statt sich<br />

zu rechtfertigen, bittet er den Polizeidirektor nun rundheraus, ihn vom Fall Minos abzuziehen:<br />

Letellier: Minos est une affaire formidable. N’<strong>im</strong>porte quel flic supplierait à genoux qu’on la lui donne. Pas<br />

moi! Marcucci, dans un, cinq, dix ans, j’aurais fini par l’avoir. C’est ma catégorie. Mais le schizo-machin à<br />

tendances paranoïdes, c’est pas mon truc, ça. Je trouverais pas la distance. Alors, monsieur le directeur, je<br />

vous demande de me retirer de l’affaire. Voilà!<br />

184 TC 1:09:06 – 1:10:12.<br />

47


Polizeidirektor: Letellier! Vous ne trouvez pas que vous en faites un peu trop, dans le style petite tronche et<br />

gros bras, rien dans la tête, tout dans le muscles? [...] Letellier, vous êtes commissaire principal à la brigade<br />

cr<strong>im</strong>inelle, pas un videur dans une boîte de nuit! Que vous préfériez le western à l’explication psychologique,<br />

ça vous regarde. Mais on ne fait pas toujours ce qu’on a<strong>im</strong>e.“ 185<br />

In wenigen Sätzen wird in diesem Dialog auf den Punkt gebracht, was die Verfolgungsjagd<br />

bereits gezeigt hat: Letellier, „[qui préfère] le western à l’explication psychologique“, ist<br />

vielmehr ein „Großstadt-Sheriff“ <strong>als</strong> ein verantwortungsbewusster Kr<strong>im</strong>inalkommissar. <strong>Die</strong><br />

Psyche eines geisteskranken Gewalttäters zu ergründen, liegt ihm nicht – er versteht sich auf den<br />

„konventionellen“ Gangster <strong>im</strong> Stile Marcuccis, dem er <strong>im</strong> klassischen Duell Mann gegen Mann<br />

entgegen treten kann. Hierin offenbart sich zum einen eine sehr traditionelle Vorstellung<br />

männlichen Heldentums, zum anderen tritt hier auch die Ambivalenz seines Charakters zutage.<br />

Denn mit seiner selbstbezogenen Handlungsweise ist Letellier vom Idealbild des<br />

rechtschaffenen, vertrauenswürdigen Polizisten weit entfernt. Ist ihm ein Fall zu unbequem, wie<br />

bei Minos, so will er ihn abgeben. Hat er mit einem Kr<strong>im</strong>inellen noch eine persönliche<br />

Rechnung zu begleichen, wie <strong>im</strong> Falle von Marcucci, lässt er lieber einen gefährlichen<br />

Psychopathen wie Minos entkommen, <strong>als</strong> sich die einmalige Chance auf Vergeltung entgehen zu<br />

lassen. <strong>Die</strong> Folgen seines Alleingangs sind keineswegs geringfügig: Wäre er in diesem Moment<br />

nicht seinen privaten Rachegelüsten nachgegangen, hätte der zweite Mord möglicherweise<br />

verhindert werden können.<br />

<strong>Die</strong> spektakuläre Verfolgungsjagd auf dem Dach der <strong>Metro</strong>, welche die Physis<br />

Letelliers/Belmondos (das permanente Changieren zwischen Rolle und Star ist dabei durchaus<br />

kalkuliert) prominent in den Vordergrund stellt und den Fokus auf die körperlichen Fähigkeiten<br />

des Kommissars legt, stellt somit den verdichteten Ausdruck seines Wesens dar: „rien dans la<br />

tête, tout dans les muscles“. Wenngleich die drastische Formulierung des Polizeikommissars<br />

sehr plakativ und durchaus übertrieben ist – denn Letellier ist selbstverständlich keineswegs auf<br />

den Kopf gefallen und wird auch den Fall Minos am Ende erfolgreich lösen –, so benennt sie<br />

doch sehr deutlich eine charakterliche Tendenz eines Kommissars, der seine Fälle lieber mit den<br />

Fäusten statt mit dem Kopf löst und dabei, wenn es sein muss, sogar über Leichen geht. 186<br />

<strong>Die</strong> semantischen Implikationen der <strong>Metro</strong> scheinen in dieser Verfolgungsjagd keine oder<br />

zumindest keine große Rolle zu spielen, vielmehr wird sie in ihren topologischen Eigenschaften<br />

ausgenutzt und dient somit <strong>als</strong> „Vehikel“ für die Heroisierung Letelliers. Somit ist es auch<br />

185 TC 1:10:26 – 1:11:26.<br />

186 Im Übrigen wäre Belmondo in der Rolle eines integren Beamten auch wenig glaubwürdig gewesen. Seit seinem<br />

Durchbruch in Godards À BOUT DE SOUFFLE (1960) hatte er bisher stets Gauner und Ganoven verkörpert.<br />

Dass der Wechsel „ins andere Lager“ nun glaubhaft funktionierte, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der<br />

polar der 70er Jahre zunehmend begann, Kritik an den Methoden der Polizei zu üben und diese <strong>als</strong> unorthodox<br />

zu entlarven (vgl. Durant: Belmondo, S. 318) – eine Tendenz, die sich auch <strong>im</strong> SAMOURAÏ bereits ankündigt.<br />

Hier manifestiert sich „[d]ie Austauschbarkeit von Gangstern und Polizisten [...] in Details der Ikonographie: In<br />

beiden Welten werden lange schwere Mäntel getragen, breitkrempige Hüte, dunkle korrekte Anzüge oder<br />

emblematische helle Trenchcoats mit Gürtel und hochgeschlagenem Kragen“, Gerhold: Kino der Blicke, S. 167.<br />

48


weniger der Ort <strong>als</strong> solcher, der in dieser Szene Bedeutung erzeugt. Vielmehr ist es die riskante<br />

Verfolgung selbst, die allerdings durch die <strong>Metro</strong> durchaus eine besondere Qualität bekommt –<br />

denn sie erlaubt es, die Max<strong>im</strong>e der „Lust am rasenden Tempo“ ins äußerste Extrem zu steigern.<br />

3.3 DIVA von Jean-Jacques Beineix<br />

<strong>Die</strong> 80er Jahre brachten eine Wende <strong>im</strong> <strong>französischen</strong> Kino. Es waren vor allem drei Regisseure<br />

– Jean-Jacques Beineix, Luc Besson und Leos Carax –, die die <strong>Film</strong>produktion dieses Jahrzehnts<br />

prägten. Mit einem knappen Dutzend <strong>Film</strong>en (überwiegend aus dem Genre des polar) etablierten<br />

sie eine neuartige und individuelle Ästhetik, die von den Kritikern zunächst nahezu durchweg<br />

abgelehnt und mit dem pejorativen Etikett „esthétique publicitaire“ 187 belegt wurde. Man<br />

empfand die Ikonographie dieser neuen <strong>Film</strong>e <strong>als</strong> exzessiv, manieriert und überladen und fühlte<br />

sich an die Ästhetik von Videoclips und Werbespots erinnert. 188 Zudem waren die Kritiker der<br />

Auffassung, dass die Vorherrschaft des Bildes auf Kosten der „Botschaft“ ginge (wenn dem <strong>Film</strong><br />

eine solche nicht sogar rundweg abgesprochen wurde 189 ); so hieß es etwa in L’express über<br />

Beineix’ DIVA: „[L]e propos du film disparaît sous le fatras du décor.“ 190 <strong>Die</strong> besondere<br />

Hinwendung zum Visuellen brachte dieser Tendenz schließlich die sprechende – aber nicht ganz<br />

unproblematische – Bezeichnung cinéma du look ein. Fergus Daly weist darauf hin, dass der<br />

Begriff cinéma du look nicht von den Regisseuren selbst, sondern von der Presse geprägt wurde<br />

und <strong>als</strong> „umbrella term“ 191 für die besagten <strong>Film</strong>e herhalten musste. Es handelt sich <strong>als</strong>o<br />

wohlgemerkt nicht um eine Schule oder Ideengemeinschaft. <strong>Die</strong> <strong>Film</strong>e, die heute gemeinhin<br />

unter dem Begriff cinéma du look gehandelt werden, weisen zwar gestalterische Parallelen auf,<br />

etwa <strong>im</strong> Hinblick auf ästhetische oder thematische Gesichtspunkte, jedoch entsprangen diese<br />

Ähnlichkeiten vielmehr einem gemeinsamen Zeitgeist, der Beineix, Besson und Carax umgab,<br />

und keinem dezidierten ästhetischen Programm. 192<br />

187<br />

Marie-Thérèse Journot spricht stets von einem „courant de ,l´esthétique publicitaire‘“ und vermeidet den Begriff<br />

des cinéma du look, der <strong>als</strong> Oberbegriff für diese ästhetische Strömung jedoch weitaus geläufiger ist. Journot<br />

zählt insgesamt elf <strong>Film</strong>e zu dieser Tendenz, darunter INVITATION AU VOYAGE (1982) von Peter Del Monte,<br />

RUE BARBARE (1984) von Gilles Behat sowie STREET OF NO RETURN (1989) von Samuel Fuller. Als<br />

Schlüsselwerke des cinéma du look gelten allerdings nach wie vor die <strong>Film</strong>e von Beineix (DIVA, LA LUNE<br />

DANS LE CANIVEAU [1983], 37°2, LE MATIN [1986], ROSELYNE ET LES LIONS [1989]), Besson (SUBWAY,<br />

LE GRAND BLEU [1988], NIKITA [1990]) und Leos Carax (MAUVAIS SANG [1986]). Vgl. Marie-Thérèse<br />

Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“ dans le cinéma français des années 80: la modernité en crise.<br />

Beineix, Besson, Carax, Paris [u.a.]: L'Harmattan 2004.<br />

188<br />

Tatsächlich waren dam<strong>als</strong> zahlreiche <strong>Film</strong>regisseure auch in der Werbung tätig; Beineix etwa hatte unter<br />

anderem Spots für „Scotch“, „Stéfanel“ und eine AIDS-Kampagne gedreht. Vgl. Phil Powrie: French Cinema in<br />

the 1980s: Nostalgia and the Crisis of Masculinity, Oxford: Clarendon Press 1997, S. 80.<br />

189<br />

Vgl. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 15ff sowie Phil Powrie: French Cinema in the 1980s,<br />

S. 80.<br />

190<br />

L´express, Ausgabe vom 3.4.1981, zitiert nach Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 16.<br />

191<br />

Fergus Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, in: Fergus Daly/Garin<br />

Dowd: Leos Carax (French film directors), New York: Manchester University Press 2003, S. 105.<br />

192<br />

Vgl. Raphaël Bassan: „Three French neo-baroque directors: Beineix, Besson, Carax, from Diva to Le Grand<br />

Bleu“, in: Susan Hayward: Luc Besson (French film directors), New York: Manchester University Press 1998,<br />

S. 11.<br />

49


Vor allem Jean-Jacques Beineix (*1946), dessen erster Kinofilm DIVA aus dem Jahr 1981<br />

gemeinhin <strong>als</strong> Initialwerk des cinéma du look betrachtet wird, wurde für seinen Hang zur<br />

Stilisierung (wie sie sich etwa <strong>im</strong> systematischen Einsatz von Farben widerspiegelt) und zur<br />

Fetischisierung von Alltagsobjekten kritisiert. 193 Exemplarisch kann dies am Loft verdeutlicht<br />

werden, in dem Gorodish (Richard Bohringer), der Freund des Protagonisten Jules, lebt. In der<br />

weitläufigen, in blaues Licht getauchten Halle stehen vereinzelt einige wenige Objekte, die<br />

<strong>im</strong>mer wieder in langsamen, geradezu meditativen Kamerafahrten in Szene gesetzt werden:<br />

darunter ein rätselhaftes Glasobjekt, in dem eine blaue Flüssigkeit hin und her schaukelt, eine<br />

Badewanne, ein überd<strong>im</strong>ensionales Puzzle mit Wellenmotiv (<strong>im</strong> Übrigen eine direkte<br />

Anspielung auf Orson Welles’ CITIZEN KANE von 1941) und eine blaue Neonbeleuchtung. Im<br />

Vergleich zu Gorodishs kahlem Loft wirkt Jules’ Behausung, eine alte ungenutzte Garage,<br />

übervoll und chaotisch – dabei jedoch mindestens ebenso provisorisch. Inmitten schrottreifer<br />

Karosserien (die wohl noch von seinem Vorgänger stammen) und jeder Menge Gerümpel finden<br />

sich hier – abgesehen von Jules’ HiFi-Anlage, die er wie seinen Augapfel hütet – kaum<br />

persönliche Gegenstände.<br />

Typisch für die <strong>Film</strong>e des cinéma du look sind neben der Akzentuierung des Visuellen auch<br />

das Spiel mit intertextuellen Verweisen – das zweifellos plakativste <strong>Film</strong>zitat in DIVA erinnert<br />

an die berühmte Szene mit Marilyn Monroe über einem U-Bahn-Lüftungsschacht aus Billy<br />

Wilders THE SEVEN YEAR ITCH (1955) – sowie die Vermischung unterschiedlicher Genres.<br />

Ebenso findet sich häufig ein Nebeneinander von Elementen der so genannten „hohen“ Kultur<br />

(wie Malerei oder klassische Musik) und der häufig leichthin <strong>als</strong> minderwertig klassifizierten,<br />

„niederen“ Massen- beziehungsweise Popkultur (etwa Comics, Graffiti oder Werbung). <strong>Die</strong><br />

neuartige Gestaltung der Bildwelten, das intertextuelle Wechselspiel zwischen Altem und<br />

Neuem sowie die Durchmischung verschiedener kultureller Niveaus ließ Fredric Jameson bereits<br />

ein Jahr nach dem Erscheinen von DIVA von einer Stilwende („the emergence of a new kind of<br />

character“) sprechen und Beineix’ Kinodebüt <strong>als</strong> den ersten „French postmodernist film“ 194<br />

bezeichnen. Das Nebeneinander verschiedener kultureller Ausdrucksformen manifestiert sich<br />

bereits in der Handlung von DIVA 195 , da hier zwei Plots aus unterschiedlichen Genres<br />

miteinander verwoben werden: „[T]he culturally ‚low‘ thriller plot [...] meets the culturally<br />

‚high‘ opera film.“ 196 Der Protagonist des <strong>Film</strong>s, der junge Postbote Jules (Frédéric Andréi), ist<br />

193<br />

<strong>Die</strong> Polemik hat dem <strong>Film</strong> unterdessen nicht geschadet. Im Gegenteil: <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit, die ihm auf diese<br />

Weise innerhalb wie außerhalb Frankreichs zuteil wurde, sorgte dafür, dass DIVA innerhalb eines Jahres zu<br />

einem der meistgesehenen <strong>Film</strong>e avancierte und Kultstatus erlangte. Vgl. Journot: Le courant de „l´esthétique<br />

publicitaire“, S. 22.<br />

194 1<br />

Fredric Jameson: „Diva and French Socialism“ ( 1982), in: ders.: Signatures of the visible, New York: Routledge<br />

1992, S. 75.<br />

195<br />

Das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Delacorta (ein Pseudonym, hinter dem sich der<br />

Schriftsteller Daniel Odier verbirgt).<br />

196 Austin: Contemporary French Cinema, S. 120.<br />

50


glühender Opernfan und verehrt die Sängerin Cynthia Hawkins (Wilhelmenia Fernandez). Da<br />

diese jede Aufnahme und Reproduktion ihrer St<strong>im</strong>me kategorisch ablehnt, fertigt er während<br />

eines Konzerts einen illegalen Mitschnitt an. Zwar hat der naive, unbedarfte Jules keinerlei<br />

Absichten, aus der Aufnahme Profit zu schlagen, jedoch wird er während des Konzerts von zwei<br />

Taiwanern beobachtet, die es von nun an auf das wertvolle Tonband abgesehen haben. Kurz<br />

darauf gerät Jules, ohne es zu bemerken, in den Besitz eines weiteren Tonbandes, auf dem die<br />

inzwischen ermordete Prostituierte Nadia den Polizeihauptkommissar Jean Saporta bezichtigt,<br />

Kopf eines international agierenden Drogen- und Mädchenhändlerrings zu sein. Durch das<br />

brisante Tonband wird nun nicht nur die Polizei auf Jules aufmerksam, sondern auch Saporta,<br />

der seine beiden Handlanger auf ihn ansetzt, um das Band mit dem belastenden Material aus dem<br />

Verkehr zu ziehen. Unversehens gerät Jules zwischen die Fronten und wird in die<br />

Machenschaften der Pariser Unterwelt verstrickt.<br />

Etwa <strong>im</strong> zweiten Drittel des <strong>Film</strong>s kommt es zu einer Verfolgung durch die Polizei, die<br />

schließlich in die <strong>Metro</strong>station „Concorde“ führt. 197 Jules hat die Nacht und den darauf<br />

folgenden Morgen bei Cynthia Hawkins <strong>im</strong> Hotelz<strong>im</strong>mer verbracht. Später am Tag überbringt<br />

ihr Impressario der Diva nun die Nachricht, dass die beiden Taiwaner sie zu erpressen<br />

versuchen. Sie behaupten, <strong>im</strong> Besitz eines Mitschnitts ihres letzten Konzerts zu sein (tatsächlich<br />

hat Jules das Band bei Gorodish deponiert) und stellen sie vor die Wahl: Entweder die Sängerin<br />

willige in einen Exklusivvertrag mit ihnen ein oder sie würden ohne ihre Zust<strong>im</strong>mung<br />

produzieren. Cynthia ist verzweifelt, will sich jedoch unter keinen Umständen zu einem Vertrag<br />

zwingen lassen. Jules, der während des Gesprächs mit dem Impressario anwesend ist, plagen<br />

schwere Schuldgefühle. Da die Diva und er sich inzwischen näher gekommen sind und sie ihm<br />

großes Vertrauen schenkt, bringt er es jedoch nicht über sich, seinen Fehler zu beichten. Unter<br />

dem Vorwand, etwas besorgen zu müssen, verabschiedet er sich. Vor dem Hotel warten bereits<br />

die Polizeibeamten Paula und Zapoteck, die ihn observieren, in einem Auto auf ihn. Als Jules auf<br />

sein Moped aufsteigt und losfährt, nehmen sie seine Verfolgung auf. <strong>Die</strong> Jagd führt uns zunächst<br />

durch eine nächtliche „ville de lumières“, die mit ihren regennassen, reflektierenden Straßen und<br />

den gelben Lichtkegeln der Scheinwerfer ihrem Namen alle Ehre macht 198 , vorbei an der Kirche<br />

St. Madeleine bis zur Place de la Concorde, wo Jules schließlich mit seinem Moped in die<br />

<strong>Metro</strong>station einfährt. 199 Zapoteck, der gerade noch mit einer Vollbremsung an der Station zum<br />

Stehen kommt, springt aus dem Wagen und rennt ihm hinterher. David Berry hat darauf<br />

verwiesen, dass Jules’ nun folgende Fahrt mit dem Moped durch die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> Reminiszenz an<br />

die berühmte Mini-Verfolgungsjagd in Peter Collinsons THE ITALIAN JOB (1969) aufgefasst<br />

197 TC 1:05:00 – 1:08:35. <strong>Die</strong>se und alle weiteren Zeitangaben in diesem Kapitels beziehen sich auf die folgende<br />

Edition: Jean-Jacques Beineix: DIVA. DVD, 113 Min., München: Arthaus 2001 (Frankreich: 1 1981).<br />

198 Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 13.<br />

199 TC 1:06:00.<br />

51


werden kann (die unter anderem durch ein Einkaufszentrum und über die Dächer von Turin<br />

führt), nämlich insofern, <strong>als</strong> es sich auch hier um eine „penetration of the usual by the<br />

unusual“ 200 handelt. Berry vergleicht Jules, der auf seinem Moped in einer <strong>Metro</strong>station denkbar<br />

deplatziert wirkt, mit einem Außerirdischen und setzt hinzu, „[that h]is identity as an alien has<br />

already been underlined wh<strong>im</strong>sically by another character who says that his crash helmet makes<br />

h<strong>im</strong> look like an alien from outer space.“ 201<br />

Für die Jagd durch die Gänge der Station „Concorde“ setzte Beineix verschiedene filmische<br />

Mittel ein, um das labyrinthische Moment der <strong>Metro</strong> hervorzuheben. Zapoteck folgt Jules durch<br />

mehrere Gänge hindurch, wobei es dem Zuschauer anfangs noch gelingt, die räumlichen<br />

Zusammenhänge nachzuvollziehen. Ein lückenloser Anschluss – meist sehen wir Jules zunächst<br />

von hinten um eine Ecke biegen, woraufhin eine der folgenden Einstellung ihn von vorne um<br />

eben jene Ecke biegen zeigt 202 – und die auffälligen Plakate erlauben eine Orientierung <strong>im</strong><br />

Raum.<br />

Abb. 15: Eine exakt eingehaltene Kontinuitätsmontage ermöglicht dem Zuschauer die Orientierung <strong>im</strong> <strong>Metro</strong>labyrinth.<br />

In diesen ersten Einstellungen wird das Kontinuitätsprinzip somit noch (und sogar auf fast schon<br />

auffallend penible Weise) gewahrt. Doch mit jedem Gang, den Jules durchquert und mit jeder<br />

Treppe, über die er holpert, gerät unsere cognitive map mehr und mehr aus den Fugen. Nach<br />

einer vorübergehenden Atempause – die Verfolgungsjagd wird durch eine kurze Fahrt in der<br />

200 Berry: „Underground Cinema“, S. 13f.<br />

201 Berry: „Underground Cinema“, S. 14. In einer früheren Szene überreicht ihm Gorodishs Gefährtin Alba den<br />

Helm mit den Worten „Tiens, alien“, TC 49:05.<br />

202 TC 1:06:10 – 1:06:15.<br />

52


<strong>Metro</strong> 203 unterbrochen – gestaltet sich die Montage nun zunehmend elliptisch. Gleich nachdem<br />

Jules den <strong>Metro</strong>waggon verlässt (bezeichnenderweise an der Station „Opéra“) und die Treppe<br />

am Bahnsteig hinauf fährt, sehen wir ihn in der nächsten Einstellung plötzlich eine Rolltreppe<br />

hinunterfahren, die offensichtlich aus dem Freien in die Station führt. Weder kann der Zuschauer<br />

an dieser Stelle rekonstruieren, wie Jules nun vom Bahnsteig zu dieser Rolltreppe gelangt ist,<br />

noch weiß er, ob Jules sich überhaupt noch an der Station „Opéra“ befindet. Ebenso wenig<br />

erschließt sich, auf welchem Wege er anschließend wiederum in den langen roten Tunnel gerät.<br />

<strong>Die</strong> Einstellungen, die zu Beginn der Verfolgungsjagd noch logisch aneinander anschlossen,<br />

können an dieser Stelle nicht mehr sinnvoll miteinander verknüpft werden – der Zuschauer<br />

verliert sich in einem Nebeneinander und Durcheinander von disparaten Einstellungen, die Jules’<br />

Verstrickung in das unterirdische <strong>Metro</strong>labyrinth ins Bild setzen.<br />

Abb. 16 (oben): Jules´ Weg durch das <strong>Metro</strong>labyrinth wird zunehmend undurchsichtig.<br />

Abb. 17 (unten): <strong>Die</strong> schlingernde Fahrt durch den Tunnel erzeugt be<strong>im</strong> Zuschauer das Gefühl, in den Raum<br />

hineingezogen zu werden.<br />

53<br />

Es ist auffallend, dass Beineix vor allem<br />

Tunnel und Treppen in dieser Verfolgungsjagd<br />

prominent hervorhebt. Bei seiner ersten Fahrt<br />

durch einen Tunnel befindet sich die Kamera<br />

etwa auf Höhe der Reifen von Jules’ Moped –<br />

wahrscheinlich wurde sie für diese Aufnahmen<br />

am Fahrzeug befestigt, denn die Kamera-<br />

führung entspricht genau dem schlingernden Rhythmus der Fahrbewegung. <strong>Die</strong>se Perspektive<br />

203 TC 1:06:45 – 1:07:30.


führt zu einer Art Sogwirkung, einem Schwindelgefühl, welches dadurch verstärkt wird, dass der<br />

gesamte Tunnel mit den <strong>im</strong>mer gleichen Plakaten austapeziert ist und so optisch ins nahezu<br />

Unendliche verlängert scheint (siehe Abb. 17).<br />

<strong>Die</strong> Untersicht auf Beinhöhe setzt Beineix <strong>im</strong> gesamten <strong>Film</strong> mehrfach ein (so etwa zu Beginn<br />

des <strong>Film</strong>s, <strong>als</strong> die Prostituierte Nadia am Bahnhof von den Handlangern Saportas verfolgt<br />

wird 204 ); bei der Verfolgungsjagd durch die <strong>Metro</strong> nutzt er sie jedoch besonders exzessiv und<br />

zwar meist in Verbindung mit einer Imitation der Lauf- beziehungsweise Fahrbewegung. Als<br />

Jules beispielsweise eine lange Treppe hinunterfährt, folgt ihm die Kamera die meiste Zeit über<br />

parallel auf der anderen Seite des Treppengeländers und ahmt dabei das staccatoartige Holpern<br />

seines Mopeds nach (siehe Abb. 18). 205 Auf ähnliche Weise begleitet die Kamera auch Jules’<br />

Verfolger Zapoteck, diesmal mit einer Bewegung, die dessen Laufrhythmus nachempfunden ist.<br />

Bezeichnend an dieser Szene ist, dass auch hier wieder ein Eindruck von Unendlichkeit erzeugt<br />

wird. Zum einen geschieht dies erneut durch die Plakate an den Wänden, die sich mehrfach<br />

wiederholen, zum anderen durch einen Trick, mit dem Beineix die Fahrt auf der Treppe<br />

wesentlich länger erscheinen lässt, <strong>als</strong> sie tatsächlich ist: Er schneidet zwe<strong>im</strong>al die gleiche Szene<br />

aneinander, die jeweils nur aus einer min<strong>im</strong>al anderen Perspektive aufgenommen wurde.<br />

Abb. 18: Jules´ irritierende Fahrt über die Endlos-Treppe.<br />

Auf diese Weise fährt Jules an einem alten Mann, der ihm entgegen kommt, gleich zwe<strong>im</strong>al<br />

vorbei. Zwar mag dies bei einmaligem Hinsehen nicht unbedingt auffallen, jedoch beschleicht<br />

einen doch das Gefühl, das etwas mit dieser Treppe „nicht st<strong>im</strong>mt“. Denn dadurch, dass man<br />

204 TC 09:51 – 10:30.<br />

205 TC 1:06:25 – 1:06:43.<br />

54


sich mit einem Mal wieder an einem höheren Punkt der Treppe befindet, wo man glaubte, schon<br />

viel weiter unten zu sein, wird die instinktive Seherwartung unterlaufen und ein Gefühl der<br />

Desorientierung erzeugt. Noch dazu läuft anschließend auch Zapoteck noch einmal an dem alten<br />

Mann vorbei, was in diesem Moment zwar keinen logischen Bruch darstellt, jedoch ein<br />

befremdendes Déjà-vu-Erlebnis auslöst.<br />

Wie bereits angedeutet wurde, setzt Beineix in auffallender Weise die besondere Topologie der<br />

<strong>Metro</strong> – Treppen, Gänge, Tunnel – in Szene. Damit eröffnet sich hier eine beinahe schon<br />

klaustrophobische Raumqualität, die <strong>im</strong> Gegensatz zur Weitläufigkeit anderer Räume steht, die<br />

in DIVA eine Rolle spielen. David Berry zufolge stellt die Betonung dieses Kontrastes eine der<br />

Funktionen dieser <strong>Metro</strong>-Verfolgungsjagd dar:<br />

[I]t is a further episode in the exploration of metropolitan space and reinforces the element of claustration in<br />

a film that plays upon the contrast between open and closed spaces, a decor of lift shafts and underground<br />

parking lots juxtaposed with spacious lofts, empty stages and wide open vistas. 206<br />

Des Weiteren spiegelt sich in der deutlich ästhetisierenden Darstellungsweise eine Tendenz zur<br />

Fetischisierung wider, wie sie sich bereits an der Ausgestaltung der Lofts von Jules und<br />

Gorodish manifestierte. Jedoch erscheint es mir voreilig, daraus den Schluss zu ziehen, dass die<br />

Orte in DIVA dergestalt zu „non-functional emblems“ 207 herabgesetzt würden, wie Raphaël<br />

Bassan schlussfolgert. Meine Ausgangsthese lautete, dass die <strong>Metro</strong> in den ausgewählten <strong>Film</strong>en<br />

eben nicht nur <strong>als</strong> ästhetisch ansprechende, aber letztlich austauschbare Kulisse dient, sondern<br />

darüber hinaus Semantisierungen erfährt, die für den jeweiligen <strong>Film</strong> von Bedeutung sind. In<br />

DIVA scheint mir ihre Funktion unter anderem in der Zusammenführung der beiden<br />

Themenstränge des <strong>Film</strong>s zu liegen: Als moderner, urbaner Mythos vereint die <strong>Metro</strong> das<br />

musikalisch-poetische, „orphische“ Element (wie es durch die Diva verkörpert wird) und den<br />

durch Nadia repräsentierten Aspekt der kr<strong>im</strong>inellen Unterwelt. <strong>Die</strong> Gegenüberstellung dieser<br />

beiden Welten wurde bereits durch die Existenz der beiden Tonbänder deutlich, wie David Berry<br />

ausführt: „The two tapes [...] provide a striking contrast between the divine voice of the singer<br />

with the sordid earthly revelations of the prostitute, the orphic with the underworld.“ 208 In der<br />

Verfolgungsjagd wird nun dieses Gegensatzpaar durch den Polizisten und den lyrisch<br />

veranlagten Jules verkörpert.<br />

Zudem scheint mir auch der Aspekt der Initiation von Bedeutung zu sein, der in Kapitel 2.2.4<br />

angesprochen wurde. Laut Phil Powrie ist DIVA <strong>als</strong> eine typische Initiationserzählung zu<br />

betrachten, <strong>als</strong> ein rite de passage, der Jules durch eine Vielzahl von (konkreten wie figurativen)<br />

Labyrinthen führt. 209 Eine Deutung, die <strong>im</strong> Übrigen auch Jean-Jacques Beineix in einem<br />

Interview andeutete: „[C]’est un film labyrinthe, un film qui se répond, un film de<br />

206 Berry: „Underground Cinema“, S. 13.<br />

207 Bassan: „Three French neo-baroque directors“, S. 14.<br />

208 Berry: „Underground Cinema“, S. 13.<br />

209 Vgl. Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 118.<br />

55


correspondance et de connotations qui se déplacent; c’est comme un puzzle.“ 210 Das Motiv des<br />

Labyrinths wird <strong>im</strong> Laufe des <strong>Film</strong>s durch eine auffällige Häufung von Wiederholungen (wie<br />

etwa die soeben erwähnte Wiederholung ein und derselben Szene) und Verdopplungen<br />

aufgegriffen. Es scheint, <strong>als</strong> gäbe es in DIVA von allem zwei: zwei Erzählstränge, zwei Lofts,<br />

zwei Taiwaner, zwei Polizisten, zwei Kassetten... die Liste könnte beliebig weitergeführt<br />

werden. Insofern kann die <strong>Metro</strong> auch <strong>als</strong> übergreifende Metapher für die verworrene Handlung<br />

aufgefasst werden sowie für die unfreiwillige Verstrickung von Jules in die kr<strong>im</strong>inelle Pariser<br />

Unterwelt – ein Milieu, das ihm bis dahin völlig fremd war (wie erinnern uns an die<br />

Charakterisierung von Jules <strong>als</strong> „alien“, was schließlich nicht nur „Außerirdischer“, sondern<br />

auch „Fremder“ bedeuten kann).<br />

Aus dieser Verstrickung muss Jules sich befreien und seinen Fehler wieder gut machen. In der<br />

Schlussszene offenbart sich Jules: Er gesteht Cynthia, dass er hinter dem illegalen<br />

Konzertmitschnitt steckt und spielt ihr das Band vor. <strong>Die</strong>se hört sich in diesem Moment zum<br />

ersten Mal selbst singen. Indem er der Diva – die <strong>als</strong> genaues Gegenbild zur Prostituierten Nadia<br />

Reinheit und Unschuld verkörpert – ihre St<strong>im</strong>me zurückgibt und sie so vor dem Kommerz<br />

bewahrt, gibt Jules ihr auch eben jene Reinheit und Unschuld wieder, die sie durch die illegale<br />

Aufnahme beschädigt sah (nicht zufällig bezeichnete Cynthia in einer Pressekonferenz illegale<br />

Raubkopien gleichermaßen <strong>als</strong> „vol“ und „viol“ 211 ). Wie Phil Powrie ausführt, stellt die<br />

Schlussszene <strong>im</strong> Grunde eine symbolische Rückkehr zum Ausgangszustand dar: „The film ends<br />

where it began, in the Opera; at the beginning of the film, Jules stole the diva’s voice; here he<br />

returns it to her, giving her back what she always had anyway.“ 212 <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd durch<br />

die <strong>Metro</strong> wird in DIVA somit nicht nur zum visuellen Pendant einer labyrinthisch-verstrickten<br />

Handlung, sondern ebenso zum Symbol eines „couloir initiatique“: Am Ende des <strong>Film</strong>s stehen<br />

die Beichte, die Vergebung und der Neubeginn – was dies für Jules und Cynthia bedeutet, lässt<br />

das ambivalente Ende allerdings offen.<br />

210 Philippe Cornet: „Entretien avec Jean-Jacques Beineix“, in: Amis du film, cinéma et télévision Nr. 312 (1982),<br />

S. 6.<br />

211 TC 41:00.<br />

212 Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 119f.<br />

56


3.4 SUBWAY von Luc Besson<br />

Luc Besson (*1959) ist der zweite <strong>im</strong> Bunde der Regisseure des cinéma du look. Wie in DIVA<br />

sind auch in SUBWAY (1985) die von Fredric Jameson <strong>als</strong> postmodernistisch klassifizierten<br />

Merkmale (Intertextualität, Genremischung, Wechselspiel zwischen Elementen der Hoch- und<br />

Massenkultur etc.) besonders präsent. 213 Es verwundert daher kaum, dass sich die<br />

zeitgenössischen Beurteilungen von DIVA und SUBWAY auffallend gleichen. Wie bereits Jean-<br />

Jacques Beineix musste sich auch Besson den Vorwurf gefallen lassen, SUBWAY habe <strong>im</strong><br />

Grunde keine richtige Handlung aufzuweisen, die Charaktere seien stereotyp, das Szenario<br />

unglaubwürdig, die für das Geschehen mitunter völlig funktionslosen Szenen würden wie in<br />

einem Werbespot oder Musikvideo assoziativ aneinandergereiht. 214 Dass diese Sichtweisen zu<br />

kurz greifen und der Originalität dieser <strong>Film</strong>e in keiner Weise gerecht werden, ist mittlerweile<br />

von zahlreichen Autoren hinreichend dargestellt worden und soll daher an dieser Stelle nicht<br />

wiederholt werden. 215 Interessant sind diese kritischen St<strong>im</strong>men für uns dennoch, da sie <strong>im</strong>mer<br />

wieder nach dem gleichen Muster argumentieren. Sobald ein Regisseur merkbar Atmosphäre<br />

und Setting in den Vordergrund rückt, wird schnell angenommen, dass die Betonung des<br />

Visuellen weitgehend unmotiviert sei und <strong>als</strong> Symptom für inhaltliche Oberflächlichkeit<br />

genommen werden müsse – dass die <strong>Metro</strong> in SUBWAY allerdings durchaus in einem<br />

motivierten Zusammenhang mit der Handlung und insbesondere der zentralen Thematik von<br />

Suche, Flucht und Verfolgung steht, möchte ich in diesem Kapitel zeigen.<br />

Dabei machte Luc Besson keinen Hehl daraus, dass die Idee zum Setting tatsächlich zuerst da<br />

war und die geeignete Geschichte erst gefunden werden musste: „[J]’avais une idée forte: le<br />

métro. Mais je n’arrivais pas à trouver une histoire aussi forte que ce décor.“ 216 Mit der<br />

Umsetzung seiner Idee beauftragte er den Szenenbildner Alexandre Trauner, der insbesondere<br />

durch seine Zusammenarbeit mit Regisseuren des Poetischen Realismus in den 30er Jahren<br />

bekannt wurde und bereits für Marcel Carnés LES PORTES DE LA NUIT die <strong>Metro</strong>station<br />

„Barbès“ nachgebaut hatte (SUBWAY wurde zum Teil in Trauners originalgetreuer Nachbildung<br />

der Station „Billancourt“ und zum Teil am realen <strong>Schauplatz</strong> gedreht). Obenstehendes Zitat<br />

213<br />

Intertextualität äußert sich in SUBWAY durch zahlreiche Referenzen an <strong>Film</strong>e wie STAR WARS (George Lucas,<br />

1977), À BOUT DE SOUFFLE (Jean-Luc-Godard, 1960) oder ORPHÉE (Jean Cocteau, 1950). Vgl. hierzu<br />

insbesondere Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 122ff. <strong>Die</strong> Genremischung ist in SUBWAY besonders<br />

auffällig – Susan Hayward etwa beschreibt den <strong>Film</strong> <strong>als</strong> ein Genre-Hybrid aus (Comic-)Thriller, Fantasyfilm und<br />

Musical (aufgrund des prominenten Soundtracks). Vgl. Susan Hayward: Luc Besson (French film directors),<br />

New York: Manchester University Press 1998, S. 40. Das Wechselspiel zwischen unterschiedlichen kulturellen<br />

Niveaus wird beispielsweise <strong>im</strong> Finale des <strong>Film</strong>s besonders deutlich, „in which middle-aged ,high‘-culture – a<br />

Brahms recital – is replaced by the pop culture of the Anglophone rock band“, Austin: Contemporary French<br />

Cinema, S. 126.<br />

214<br />

Vgl. Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 19 sowie Austin: Contemporary French Cinema,<br />

S. 127.<br />

215<br />

Insbesondere Marie-Thérèse Journot hat in ihrer umfangreichen Untersuchung des <strong>französischen</strong> Kinos der 80er<br />

Jahre die zeitgenössische Kritik am cinéma du look <strong>im</strong> Detail untersucht und in weiten Teilen widerlegt. Vgl.<br />

Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, insbesondere S. 15-25 sowie S. 149-181.<br />

216<br />

Interview in <strong>Film</strong> français, Nr. 2029 vom 22. März 1985, S. 8, zitiert nach Hayward: Luc Besson, S. 35.<br />

57


zeugt nun aber nicht nur von Bessons besonderer Vorliebe für Atmosphäre und Setting, sondern<br />

auch von seinem Anspruch, diese in Einklang mit dem Szenario zu bringen. <strong>Die</strong> Suche nach<br />

einer geeigneten Geschichte muss dabei ein recht schwieriges Unterfangen gewesen sein, denn<br />

der endgültigen Fassung des Szenarios gingen elf vorläufige Versionen voran. 217 Schließlich<br />

entstand die Geschichte um den Aussteiger Fred (Christopher Lambert), der sich in der <strong>Metro</strong><br />

einer Parallelgesellschaft anschließt, die <strong>im</strong> Untergrund der Stadt nach eigenen Regeln und<br />

Konventionen lebt. Der <strong>Film</strong> beginnt mit einer Autoverfolgungsjagd durch die Straßen von Paris,<br />

bei welcher der Protagonist Fred – ein wasserstoffblonder Punk <strong>im</strong> Smoking – vor vier Männern<br />

flüchtet und schließlich durch die <strong>Metro</strong> entkommt. In den Tiefen des Pariser Untergrunds trifft<br />

er auf den Rollschuhfahrer Jean-Louis (Jean-Hugues Anglade), der ihm Unterschlupf gewährt<br />

und mit den anderen kuriosen Bewohnern der <strong>Metro</strong> bekannt macht. Mit einigen von ihnen wird<br />

Fred, der bei einem Autounfall in seiner Kindheit die Fähigkeit zu singen verlor, schließlich<br />

seinen großen Traum verwirklichen und eine Rockband gründen. Unterdessen erfahren wir,<br />

weshalb Fred auf der Flucht ist. Er hat auf der Party eines reichen Pariser Geschäftsmannes einen<br />

Safe gesprengt und wichtige (offenbar belastende) Dokumente gestohlen, mit denen er nun 50<br />

Millionen Franc erpressen will. Nachdem die Verfolgung durch die vier Assistenten des<br />

Geschäftsmannes gescheitert ist, soll dessen Ehefrau Héléna (Isabelle Adjani) Fred zur<br />

Herausgabe der Dokumente bewegen. Sie ersucht die <strong>Metro</strong>polizei um Hilfe, die bereits mit der<br />

Verfolgung des Rollschuhfahrers (der regelmäßig <strong>Metro</strong>passagiere beklaut und die Beamten seit<br />

Monaten an der Nase herumführt) alle Hände voll zu tun hat. Fred wird nun von zwei Parteien<br />

verfolgt: Jetzt sind nicht nur die Mitarbeiter von Hélénas Ehemann, sondern auch die Polizisten<br />

hinter ihm her. Héléna fühlt sich unterdessen von Fred und seiner Welt zunehmend angezogen.<br />

Nach einer Nacht, die sie mit Fred und seinen Freunden in der menschenleeren <strong>Metro</strong>station<br />

verbringt, wendet sie sich von ihrem Mann ab und kehrt in die <strong>Metro</strong> zurück. Sie will Fred vor<br />

den von ihm angeheuerten Killern schützen – doch sie kommt zu spät. Während die neu<br />

formierte Rockband ihr erstes Konzert gibt, wird Fred aus dem Hinterhalt angeschossen und<br />

sackt, vom tobenden Publikum unbemerkt, in sich zusammen.<br />

In SUBWAY finden insgesamt drei Verfolgungsjagden statt. <strong>Die</strong> erste wurde bereits erwähnt:<br />

Sie eröffnet den <strong>Film</strong> und besiegelt Freds „Abstieg in die Unterwelt“, aus der er für den Rest des<br />

<strong>Film</strong>s – und seines Lebens – nicht mehr zurückkehren wird. <strong>Die</strong>se, in weiten Teilen recht<br />

konventionelle, an amerikanische Vorbilder (insbesondere Friedkins FRENCH CONNECTION<br />

von 1971) angelehnte Verfolgungsjagd soll uns, trotz ihrer durchaus ungewöhnlichen visuellen<br />

Gestaltung (Verwendung von Weitwinkel, Aufnahmen mit extremer Untersicht, subjektive<br />

Kameraführung aus dem Fahrerraum heraus etc.) nicht weiter beschäftigen, da sie erst am Ende<br />

in die <strong>Metro</strong> führt. Eine weitere Verfolgungsjagd findet <strong>im</strong> zweiten Drittel des <strong>Film</strong>s statt – die<br />

217 Vgl. Hayward: Luc Besson, S. 34.<br />

58


<strong>Metro</strong>polizei versucht einmal mehr (und erneut vergeblich), den Rollschuhfahrer zu fangen 218 –,<br />

eine dritte gegen Ende des <strong>Film</strong>s: <strong>Die</strong>smal flieht Fred vor den Polizisten und entkommt auf<br />

wundersame Weise durch einen Aufzug, aus dem er spurlos verschwindet. 219 <strong>Die</strong>se beiden<br />

Verfolgungsjagden dienen vordergründig zunächst einmal dazu, die Ineffizienz der Polizei<br />

vorzuführen und ins Lächerliche zu ziehen. Insbesondere die beiden, von Kommissar Gesberg<br />

(Michel Galabru) ironischerweise <strong>als</strong> „Batman“ und „Robin“ angesprochenen Beamten, stellen<br />

in diesen Szenen ihre Unfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis. <strong>Die</strong> Szene mit dem<br />

Rollschuhfahrer beginnt damit, dass Batman (der eigentlich gerade auf der Suche nach Fred ist)<br />

den Rollschuhfahrer auf dem Bahnsteig entdeckt. Er wittert seine Chance, diesen nun endlich zu<br />

stellen und sich somit be<strong>im</strong> Kommissar – der seine inkompetenten Mitarbeiter regelmäßig<br />

Kaffee holen schickt – Respekt zu verschaffen. Jedoch stellt er sich bei der Verfolgung denkbar<br />

ungeschickt an. Der Rollschuhfahrer erkennt gleich, dass Batman zur Bahnhofspolizei gehören<br />

muss, da dieser unübersehbar mit seinem Funkgerät hantiert und „auffällig unauffällig“ den<br />

Blick abwendet, <strong>als</strong> der Rollschuhfahrer sich nach ihm umsieht. 220 Batman ruft über Funk eine<br />

Truppe von Polizisten zusammen, die dabei helfen sollen, dem Rollschuhfahrer den Weg zu<br />

versperren. Unter ihnen befindet sich auch der nicht weniger hemdsärmelige Robin, der mit<br />

seiner Nickelbrille, den Hochwasserhosen und seinen unbeholfenen Gesten den stereotypen<br />

Tollpatsch verkörpert und an dem Vorhaben, Autorität auszustrahlen, ebenso kläglich scheitert<br />

wie sein Kollege Batman. Ein Versuch, den Rollschuhfahrer in einem Gang abzufangen,<br />

missglückt prompt. Jean-Louis entwischt mit Leichtigkeit, indem er mit Anlauf durch die vier<br />

Polizisten hindurch fährt, die sich – dienstbeflissen, aber völlig ineffizient – in einer Reihe <strong>im</strong><br />

Gang postiert hatten. 221 Auch bei der weiteren Verfolgung machen die Polizisten, allen voran<br />

Batman und Robin, keine gute Figur. Während Jean-Louis geschickt über alle Hindernisse<br />

springt und virtuos auf dem Mittelteil zwischen zwei Rolltreppen hinunterrutscht, wirkt der<br />

Versuch von Batman und Robin, es ihm nachzutun, vielmehr ungeschickt und grotesk. 222 Schnell<br />

kann der Rollschuhfahrer sie schließlich abhängen, indem er auf einem Bahnsteig vor einer<br />

einfahrenden <strong>Metro</strong> über die Gleise springt und so seinen Verfolgern den Weg abschneidet. 223<br />

Ähnlich ergebnislos verläuft die Verfolgung von Fred. Auch er entkommt den Beamten nach<br />

einer kurzen Verfolgung mühelos und lässt Batman und seine Kollegen erneut erfolglos zurück<br />

(betont wird der blamable Missverfolg noch durch die Tatsache, dass der Kommissar derweil mit<br />

218 TC 36:28 – 39:00. <strong>Die</strong>se und alle weiteren Zeitangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die folgende<br />

Edition: Luc Besson: SUBWAY. DVD, 98 Min., München: Universum <strong>Film</strong> 2001 (Frankreich: 1985).<br />

219 TC 1:15:45 – 1:18:12.<br />

220 TC 37:10 – 37:30.<br />

221 TC 40:55 – 41:28.<br />

222 TC 38:17 – 38:34.<br />

223 TC 38:35 – 39:00.<br />

59


nonchalanter Souveränität den Rollschuhfahrer dingfest macht. 224 Was Batman und Robin mit<br />

der Hilfe einer ganzen Armada von Beamten nicht gelang, erledigt er <strong>im</strong> Alleingang und führt<br />

damit ein weiteres Mal die Unfähigkeit seiner Mitarbeiter vor). Batman begegnet Fred nun<br />

zufällig in den Gängen der <strong>Metro</strong> (wobei er dieses Mal eigentlich gerade auf der Suche nach dem<br />

Rollschuhfahrer ist – seine Inkompetenz wird umso deutlicher, <strong>als</strong> er <strong>im</strong>mer dann durch Zufall in<br />

Verfolgungsjagden „hineinstolpert“, wenn er eigentlich gerade jemand anderen sucht) und<br />

fordert ihn auf, sich auszuweisen. Fred gibt vor, seine Papiere zu suchen, versetzt Batman dann<br />

jedoch plötzlich einen unerwarteten Stoß und nutzt die Chance zur Flucht. Sein nun folgender<br />

Sprint durch die <strong>Metro</strong>station wird aus verschiedenen Perspektiven – vorwiegend mithilfe<br />

seitlicher Parallelkamerafahrten – gezeigt, welche die Dynamik und Geschwindigkeit der Szene<br />

betonen.<br />

Abb. 19: Freds Flucht durch die Gänge der <strong>Metro</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Weite des Raumes vermittelt in dieser Sequenz ein Gefühl von Freiheit, des Sich-Frei-<br />

Rennens, sodass sich hier das zentrale Motiv des <strong>Film</strong>s – die Flucht vor gesellschaftlichen<br />

Zwängen – verdichtet findet. 225 Wie bereits dargelegt, stellt die <strong>Metro</strong> in SUBWAY ein Refugium<br />

für „Gesellschaftsflüchtige“ jeglicher Art dar, die sich <strong>im</strong> Untergrund der Stadt eine Art Gegen-<br />

Paris geschaffen haben. In diesem Mikrokosmos mit eigenem Partykeller, eigenem Fitness-<br />

Raum und eigener Konzertbühne gibt es alles, was man zum Leben braucht – und was man nicht<br />

hat, das beschafft man sich durch Handtaschenraub. Und obwohl die <strong>Metro</strong> eigentlich ein wenig<br />

einladender Ort ist, fühlt Fred sich hier auf Anhieb wohl (<strong>als</strong> der Rollschuhfahrer ihn kurz nach<br />

seiner Ankunft in der <strong>Metro</strong> zu Gros Bill bringt, kommentiert Fred die dunkle und feucht-<br />

224 TC 1:13:29 – 1:15:36.<br />

225 Wie Susan Hayward ausführt, stellt der Ausbruch aus gesellschaftlichen Konventionen ein wiederkehrendes<br />

Thema in Bessons Werk dar: „All of Besson´s films have as a central theme escape from the constraints of the<br />

social world“, Hayward: Luc Besson, S. 18.<br />

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schmutzige Umgebung mit den Worten „Sympa chez vous“ 226 ). <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong>, die Besson in<br />

SUBWAY bewusst sowohl von ihrer schmutzigen <strong>als</strong> auch von ihrer sterilen und kalten Seite<br />

zeigt, wird für Fred paradoxerweise zu einem neuen, selbstgewählten Zuhause. Freiheit erfährt er<br />

hier insofern, <strong>als</strong> er nun tun und lassen kann, was er will – solange es ihm gelingt, sich seine<br />

Verfolger vom Leib zu halten – und endlich den Traum von einer eigenen Band verwirklichen<br />

kann. Und auch Héléna, die bei ihrem Mann in einem goldenen Käfig lebt, fühlt sich an diesem<br />

Ort erstm<strong>als</strong> wieder frei. Hier entfaltet sich somit ein bemerkenswertes Paradox: Der<br />

unterirdische, geschlossene Raum, der traditionell mit Gefühlen des Gefangenseins, der<br />

Beklemmung assoziiert ist, wird für Fred, Héléna und die anderen <strong>Metro</strong>bewohner zu einem Ort<br />

der Freiheit und Selbstbest<strong>im</strong>mung. Im Gegensatz dazu erscheint das oberirdische Paris, das in<br />

der Eingangsszene <strong>als</strong> weitläufiger, offener Raum gezeigt wurde und üblicherweise mit Freiheit<br />

verbunden ist (wie es sich auch in unserem Sprachgebrauch äußert: „à l’air libre“ 227 /“<strong>im</strong><br />

Freien“), <strong>als</strong> nahezu klaustrophobisch, hat doch Héléna das Gefühl, dort regelrecht zu ersticken,<br />

wie sie ihrem Mann gegenüber erklärt. 228<br />

In dieser Verfolgungsjagd wird nun dieses paradoxe Gefühl der Freiheit trotz räumlicher<br />

Beengtheit – Mark Orme spricht sehr treffend von „<strong>im</strong>prisoned freedom“ 229 – ins Bild gesetzt:<br />

[F]ar from being a claustrophobic setting, the Métro comes to represent a site of personal liberation, a cla<strong>im</strong><br />

which can be further verified with reference to [the] energetic tracking shot late in the film [...], structurally<br />

s<strong>im</strong>ilar to the opening sequence, showing how Fred takes advantage of his physical environment to effect his<br />

escape from the police, who are left stumbling in pursuit. 230<br />

Wie auch Abbildung 19 veranschaulicht, erscheint die <strong>Metro</strong> in dieser Sequenz nämlich<br />

keineswegs <strong>als</strong> klaustrophobischer Raum, vielmehr wird bewusst die Weitläufigkeit ihrer Gänge<br />

in den Vordergrund gerückt und Freds Flucht auf diese Weise <strong>als</strong> ein Akt der Befreiung<br />

inszeniert. Somit kann diese Verfolgungsjagd auch <strong>als</strong> wichtige, symbolische Etappe innerhalb<br />

seiner Entwicklung – die sich, ähnlich wie bei Jules in DIVA, <strong>als</strong> Initiation beschreiben lässt –<br />

aufgefasst werden. Im Vollzug dieses Übergangsritu<strong>als</strong> scheint Fred, wie David Berry anmerkt,<br />

geradezu magische Kräfte zu erlangen: „He becomes able to perform several vanishing tricks<br />

and to practise the art of escapology. [...] In Subway the whole métro becomes a vast cabinet of<br />

Dr Caligari, a gigantic box of tricks.“ 231 <strong>Die</strong>s zeigt sich besonders am Ende der Verfolgungsjagd,<br />

<strong>als</strong> Fred in einen Aufzug flüchtet: Als Batman und seine Kollegen ihn auf der nächsten Etage<br />

226 TC 22:31.<br />

227 „[L]e resserrement spatial conduit à l´angoisse que provoque la privation d´air et de liberté. On rapproche<br />

souvent ces deux mots en disant: ,à l´air libre‘“, Agel: L´espace cinématographique, S. 56.<br />

228 TC 59:44.<br />

229 Mark Orme: „Imprisoned freedoms: space and identity in Subway and Nikita“, in: Susan Hayward/Phil Powrie<br />

(Hrsg.): The films of Luc Besson: master of spectacle, Manchester [u.a.]: Manchester University Press 2009,<br />

S. 121.<br />

230 Orme: „Imprisoned freedoms“, S. 125.<br />

231 „[A]t the beginning, he escapes his pursuers by jumping under the wheels of the train and crawling along the<br />

tracks of the métro; he begins a science-fiction style journey down a series of corridors, armed with a tubular<br />

glass light, as if both a sword and a wand, like the famous laser weapon in Star Wars; he falls through a grill in<br />

the floor and, unharmed, dangles in space“, Berry: „Underground Cinema“, S. 16.<br />

61


abfangen wollen, fehlt von Fred jede Spur – er scheint sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu<br />

haben.<br />

Wenn wir Freds Flucht durch die <strong>Metro</strong> nun <strong>als</strong> Teil seiner Initiation auffassen, so gewinnt<br />

auch die Verfolgungsjagd zu Beginn des <strong>Film</strong>s insofern Bedeutung, <strong>als</strong> sie folglich die erste<br />

Stufe seines rite de passage darstellt. Sie führt Fred in die <strong>Metro</strong> und bildet damit den Auftakt<br />

für seine schrittweise Befreiung und die Erfüllung seiner Mission („escape his pursuers, win the<br />

woman and fulfil his musical ambition“ 232 ). Der hier bereits plakativ zitierte Mythos vom<br />

Abstieg in die Unterwelt wird, wie Journot darlegt, in SUBWAY in geradezu obsessiver Weise<br />

wiederholt: „Le schéma de la descente [...] est récurrent et obsédant, rituel aussi: Besson ne cesse<br />

de filmer longuement les descentes de ses héros, leur préparation et les étapes qu’ils<br />

accomplissent.“ 233 Man denke etwa an eine Szene, in der die Polizeibeamten eine schier endlos<br />

erscheinende Treppe hinuntersteigen – eine Szene, die Besson auf eine absurde Länge von über<br />

einer Minute ausdehnt. 234 Doch schon zuvor findet Freds Abstieg in die Unterwelt sein Echo, <strong>als</strong><br />

Héléna ihn in der <strong>Metro</strong> aufsucht. Ihr Abstieg wird ebenfalls in auffallender Weise inszeniert,<br />

wenn sie in teurer Abendgarderobe und mit kostbarem Schmuck behangen langsam die Treppen<br />

zum Quai hinabsteigt, wo Fred bereits auf sie wartet. 235 <strong>Die</strong> Anklänge an den Orpheusschen<br />

Mythos greift auch Susan Hayward auf und ergänzt, „[that] this film can be read as a counter-<br />

Orpheus narrative because it is Héléna, the woman, who goes down into the labyrinthine<br />

underground to find Fred (not as with the original myth, in which Orpheus the poet goes down<br />

into Hades to retrieve Eurydice).“ 236 Sowohl Fred <strong>als</strong> auch Héléna machen <strong>im</strong> Laufe des <strong>Film</strong>s<br />

eine Veränderung durch. Fred, indem er sich von der Gesellschaft abwendet, Héléna für sich<br />

gewinnt und schließlich seinen Traum von einer eigenen Band realisiert; Héléna, indem sie sich<br />

aus der Abhängigkeit von ihrem besitzergreifenden Mann und dessen Geld befreit und sich für<br />

Fred entscheidet. Auch für Héléna gleicht der Abstieg in die <strong>Metro</strong> einer Flucht vor<br />

gesellschaftlichen Zwängen und Verpflichtungen. 237 Somit entfaltet sich in SUBWAY <strong>als</strong>o eine<br />

doppelte Initiation, die durch den Abstieg in das unterirdische Labyrinth – das bereits in DIVA<br />

<strong>als</strong> Initiationsmetapher eingesetzt wurde – verbildlicht wird.<br />

<strong>Die</strong> Verfolgungsjagden in SUBWAY erfüllen demnach zwei Funktionen. Zum einen wird hier<br />

die Unbeholfenheit der Polizei, die während des gesamten <strong>Film</strong>s in zahlreichen Szenen<br />

offensichtlich wird, noch einmal extrem überzeichnet. Es wird nun auch optisch sichtbar, dass<br />

232<br />

Hayward: Luc Besson, S. 37f.<br />

233<br />

Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 54.<br />

234<br />

TC 11:25 – 12:37.<br />

235<br />

TC 07:48.<br />

236<br />

Hayward: Luc Besson, S. 35.<br />

237<br />

Emblematisch ist hier die Szene, in der Héléna mit einer Irokesen-Frisur bei einem edlen Abendessen erscheint,<br />

zu dem sie mit ihrem Mann eingeladen ist (TC 1:02:43 – 1:05:11). Abgestoßen von der heuchlerischen<br />

Freundlichkeit der Gastgeber verabschiedet sie sich schließlich mit den Worten „Monsieur le préfet, votre dîner<br />

est nul, votre baraque est nul, et je vous emmerde tous“ und kehrt zurück in die <strong>Metro</strong>.<br />

62


Fred und der Rollschuhfahrer der <strong>Metro</strong>polizei – buchstäblich – <strong>im</strong>mer einen Schritt voraus sind.<br />

Dabei kommt ihnen ihre ausgezeichnete Orientierung <strong>im</strong> <strong>Metro</strong>labyrinth zugute. Während der<br />

Kommissar einräumen muss, dass selbst die Polizei sich in den verschachtelten Gängen der<br />

<strong>Metro</strong> häufiger verirrt („C’est grand ici; nous-même, on s’y perd des fois“ 238 ), kennt der<br />

Rollschuhfahrer die Gänge laut eigener Aussage wie seine Westentasche („Je connais les<br />

couloirs comme ma poche“ 239 ) – und gleiches gilt für Fred, der sich von Anfang an mit großer<br />

Sicherheit durch das unterirdische Terrain bewegt. In der ersten Verfolgungsjagd sind es zwar<br />

nicht die Polizisten, sondern die Auftragskiller von Hélénas Ehemann, die hinter Fred her sind,<br />

jedoch werden auch sie deutlich karikiert. 240<br />

Zum anderen konzentriert sich hier – und insbesondere in der dritten Verfolgungsjagd – das<br />

übergreifende Sujet des <strong>Film</strong>s, welcher sich, trotz einiger Subplots, <strong>im</strong>mer wieder um Freds<br />

Flucht und sein Streben nach Freiheit und der Erfüllung seines Traums dreht. Seine Entwicklung<br />

während des <strong>Film</strong>s, die parallel zur Emanzipation Hélénas von ihrem Ehemann verläuft, entfaltet<br />

sich <strong>im</strong> unterirdischen <strong>Metro</strong>labyrinth, welches damit erneut zum <strong>Schauplatz</strong> einer Initiation<br />

wird. Mit der Überschreitung der Schwelle vom oberirdischen Paris zum unterirdischen Gegen-<br />

Paris (der ersten Verfolgungsjagd) vollzieht Fred den ersten Schritt seines rite de passage und<br />

seiner Befreiung. <strong>Die</strong>se wird besonders anschaulich, <strong>als</strong> Gros Bill, der wohlwollende<br />

„Minotaurus“ des <strong>Metro</strong>labyrinths 241 , ihn kurz nach seiner Ankunft in der <strong>Metro</strong> von seinen<br />

Handschellen und somit dem letzten Relikt sozialer Restriktion befreit. 242 <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> entwickelt<br />

sich für Fred <strong>als</strong>o zu einem Ort der Freiheit und Unabhängigkeit, wie es insbesondere durch die<br />

Akzentuierung räumlicher Weite in der dritten Verfolgungsjagd sinnfällig wird. Und doch ist<br />

Freds Befreiung lediglich eine vorläufige; denn am Ende des <strong>Film</strong>s wird er während des ersten<br />

Konzerts seiner Band von einem der Auftragskiller aus dem Hinterhalt erschossen. 243 Und damit<br />

ist seine Initiation, die Vollendung seines rite de passage schließlich in Frage gestellt, wie Susan<br />

Hayward darlegt:<br />

Fred’s mission in the film is to escape his pursuers, win the woman and fulfil his musical ambition. In effect<br />

he does all three – as the ambiguous ending of the film makes clear – but there is no more sense of<br />

permanence around his succesful trajectory [...]. Fred has won a moral victory, and the love of the woman he<br />

has pursued, but [...] there is great <strong>im</strong>probability that he will live to enjoy it. 244<br />

238<br />

TC 35:29.<br />

239<br />

TC 30:28.<br />

240<br />

So leidet einer von ihnen unter einem empfindlichen Magen, der turbulenten Verfolgungsjagden offensichtlich<br />

nicht gewachsen ist (TC 03:33), ein anderer schafft es, sich be<strong>im</strong> Sprung über ein Drehkreuz den gesamten<br />

Anzugärmel abzureißen (TC 04:00).<br />

241<br />

Vgl. Berry: „Underground Cinema“, S. 15.<br />

242<br />

TC 22:50.<br />

243<br />

<strong>Die</strong> Schlussszene von SUBWAY kann <strong>als</strong> direkte Referenz auf das Ende von Godards À BOUT DE SOUFFLE<br />

gelesen werden. Eine genauere Untersuchung der Parallelen zwischen diesen beiden Szenen findet sich bei<br />

Powrie: French Cinema in the 1980s, S. 122ff.<br />

244<br />

Hayward: Luc Besson, S. 37f.<br />

63


3.5 LES AMANTS DU PONT-NEUF von Leos Carax<br />

LES AMANTS DU PONT-NEUF (1991), der dritte Spielfilm des Regisseurs Leos Carax (*1960,<br />

eigentlich Alexandre Oscar Dupont), n<strong>im</strong>mt unter den ausgewählten Beispielen in dieser Arbeit<br />

einen gewissen Sonderstatus ein. Während die anderen vier <strong>Film</strong>e dem Genre des polar<br />

zugeordnet werden konnten oder zumindest polar-typische Elemente <strong>im</strong> Plot aufwiesen (wie<br />

bereits dargelegt, handelt es sich bei DIVA und SUBWAY um Genremischungen), steht in LES<br />

AMANTS DU PONT-NEUF nicht ein Verbrechen, sondern eine Liebesgeschichte <strong>im</strong> Zentrum<br />

der Handlung. Von den anderen in dieser Arbeit behandelten Verfolgungsjagden unterscheidet<br />

sie sich dementsprechend schon allein dadurch, dass sie nicht dem klassischen Rollengefüge aus<br />

Ordnungshüter und Verbrecher entspricht – es wird sogar zu überprüfen sein, ob wir in diesem<br />

Falle überhaupt von einer Verfolgungsjagd <strong>im</strong> eigentlichen Sinne sprechen können.<br />

Auch dieser <strong>Film</strong> wird gerne leichtfertig mit dem problematischen Etikett cinéma du look<br />

versehen, obwohl Carax selbst auf der Distanz zwischen ihm und Regisseuren wie Beineix oder<br />

Besson bestand 245 und seine filmische Ästhetik tatsächlich wenig mit der von <strong>Film</strong>en wie DIVA<br />

oder SUBWAY gemein hat. Carax erzählt in LES AMANTS DU PONT-NEUF – teils in<br />

dokumentarischem Duktus, teils mit traumhaft-surrealen Bildern – die Geschichte eines<br />

obdachlosen Pärchens, das auf dem wegen Renovierung geschlossenen Pont-Neuf, der ältesten<br />

Brücke von Paris, lebt. In Anbetracht dieses Sujets erschienen die enormen Produktionskosten<br />

(die allerdings das Ergebnis einer Verkettung unglücklicher Umstände und keineswegs von<br />

Carax geplant waren 246 ) vielen Kritikern <strong>als</strong> Taktlosigkeit. Ebenso empfand man die exzessive<br />

Bildsprache des <strong>Film</strong>s <strong>als</strong> unpassend und warf Carax vor, das Sujet der Obdachlosigkeit in<br />

geschmackloser Weise zu ästhetisieren. 247 So war etwa von einer „esthétique du misère et du<br />

désespoir“ 248 die Rede, womit wir erneut dem mittlerweile vertrauten Argwohn gegenüber dem<br />

effektvollen Bild begegnen. Dabei ist dieser Vorwurf gerade anhand von LES AMANTS DU<br />

PONT-NEUF nur schwer zu rechtfertigen, da Carax den visuell ausschweifenden Sequenzen<br />

245 Vgl. Fergus Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, in: Fergus Daly/<br />

Garin Dowd: Leos Carax (French film directors), New York: Manchester University Press 2003, S. 105.<br />

246 Während das ursprünglich geplante Budget bei 32 Mio. Franc lag, betrug das endgültige schließlich rund 150<br />

Mio. Franc. Vgl. Martine Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, in: dies.: Marginalité,<br />

sexualité, contrôle dans le cinéma français, Paris: L´Harmattan 2000, S. 157. Dabei war es insbesondere der<br />

teure Nachbau des Pont-Neuf, der die Produktionskosten in die Höhe trieb. Ursprünglich wollte Carax auf der<br />

Originalbrücke drehen, die tatsächlich gerade wegen Renovierungsarbeiten gesperrt war. Für die Dreharbeiten<br />

wurde ihm eine Genehmigung für gut einen Monat erteilt. Unglücklicherweise zog sich Hauptdarsteller Denis<br />

Lavant eine ernste Verletzung an der Hand zu, sodass die Dreharbeiten gerade in diesem Zeitraum unterbrochen<br />

werden mussten. <strong>Die</strong>s zwang Carax schließlich dazu, eine äußerst kostenintensive originalgetreue Kopie des<br />

Pont-Neuf (inklusive des umgebenden Stadtpanoramas von Paris) in der Nähe von Montpellier in Auftrag zu<br />

geben. Vgl. Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, S. 107.<br />

247 „Bien sûr, j´ai été accusé d´avoir réalisé un film à gros budget sur des gens qui n´ont rien, et de m´être détourné<br />

du réalisme au profit de la fiction. Pour moi, il s´agit d´essayer d´effacer les frontières qui séparent le fictionnel<br />

et le non fictionnel“, so Leos Carax in einem Interview mit David Thomson, in: Sight and Sound Nr. 5 (1992),<br />

S. 10, zitiert nach Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 158.<br />

248 Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 158.<br />

64


(namentlich der Feuerwerkszene, die in ihrer rauschhaften Inszenierung an die Ästhetik von<br />

Musikclips erinnert 249 ) solche <strong>im</strong> Stil eines Dokumentarfilms entgegenstellt. <strong>Die</strong> Anfangsszenen<br />

des <strong>Film</strong>s, die zunächst auf den Straßen von Paris und schließlich in einem Auffanglager für<br />

Obdachlose in Nanterre spielen, zeichnen ein schonungsloses Bild der Realität, wie sie sich für<br />

die SDF, die „sans domicile fixe“ von Paris darstellt:<br />

Carax integrates the expected elements of spectacle and fantasy with a portrayal of the harsh realities<br />

experienced by the Parisian homeless, achieving an intermittent documentary quality far removed from the<br />

usual concerns of the cinéma du look. 250<br />

Auch wenn sich Carax bewusst vom cinéma du look und von Regisseuren wie Beineix oder<br />

Besson abzugrenzen suchte, so hat er doch zumindest eines mit ihnen gemeinsam: Auch in<br />

seinem Werk spielen Orte eine Schlüsselrolle und werden, wie es <strong>im</strong> Falle von LES AMANTS<br />

DU PONT-NEUF bereits der Titel ankündigt, häufig zum Mittelpunkt einer Handlung. Der Pont-<br />

Neuf in Paris, der sich wie ein Leitmotiv durch mehrere <strong>Film</strong>e von Leos Carax zieht 251 , ist der<br />

symbolträchtige <strong>Schauplatz</strong> der Liebesgeschichte von Alex (Denis Lavant) und Michèle (Juliette<br />

Binoche). Der obdachlose Feuerschlucker Alex führt auf der Brücke eine trostlose Existenz;<br />

vorübergehendes Vergessen erlauben ihm nur der Alkohol und das Schlafmittel, mit dem ihn der<br />

ebenfalls obdachlose Hans (Klaus-Michael Grüber), der mit ihm auf der Brücke lebt, versorgt.<br />

Als eines Tages Michèle Stalens, eine junge Offizierstochter hier auftaucht, setzt Hans zunächst<br />

alles daran, sie wieder fortzujagen. Schließlich duldet er, wenn auch widerwillig, ihre<br />

Anwesenheit auf der Brücke. Michèle, die früher wie besessen malte, leidet an einer<br />

fortschreitenden Augenkrankheit, die ihr nach und nach das Augenlicht raubt. Zwischen ihr und<br />

Alex entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebe, die jedoch zunehmend zu einer gegenseitigen<br />

Abhängigkeit wird, je weiter Michèles Krankheit voranschreitet. Alex, der Angst hat, sie zu<br />

verlieren, versucht alles, um sie auf der Brücke zu halten. Er schenkt ihr sogar ein Radio, damit<br />

sie den Pont-Neuf nicht mehr verlassen muss – „Comme ça tu peux avoir les informations sans<br />

quitter le pont.“ 252 Doch eines Tages droht sein kleines Idyll zu zerbrechen, <strong>als</strong> Michèle von<br />

ihrer Familie über Vermisstenplakate in der ganzen Stadt gesucht wird. Mittlerweile gibt es eine<br />

Behandlungsmethode, mit der ihre Krankheit geheilt werden kann. Als Alex auf die zahllosen<br />

Poster mit Michèles Konterfei stößt, verliert er den Kopf. Nachdem er in einer <strong>Metro</strong>station alle<br />

Poster in Brand gesteckt hat, zündet er auch den Wagen des Plakatklebers an, der die Poster in<br />

der Stadt verteilt. Als der Wagen explodiert, gerät der Mann in die Flammen und verunglückt<br />

tödlich. Alex verbringt einen letzten Abend mit Michèle auf der Brücke – <strong>als</strong> er in der Nacht<br />

aufwacht, findet er eine Nachricht von ihr vor: „Alex, je t’ai pas a<strong>im</strong>é. Pas vra<strong>im</strong>ent. Oublie-moi.<br />

249 TC 42:16 – 47:03. <strong>Die</strong>se und alle weiteren Zeitangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf die folgende<br />

Edition: Leos Carax: DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF (LES AMANTS DU PONT-NEUF). DVD, 121 Min.,<br />

München: Kinowelt Home Entertainment 2003 (Frankreich: 1991).<br />

250 Austin: Contemporary French Cinema, S. 133.<br />

251 Vgl. Daly: „Feux d´artifice: Les Amants du Pont-Neuf and the spectacle of vagrancy“, S. 122.<br />

252 TC 31:15.<br />

65


Michèle“. Am nächsten Morgen wird Alex auf der Brücke festgenommen. Er wird zu drei Jahren<br />

Haft verurteilt. Gegen Ende seiner Haftstrafe besucht ihn Michèle, die mittlerweile wieder sehen<br />

kann und ihn während der ganzen Zeit nicht vergessen konnte; dass sie jetzt mit dem<br />

Augenchirurg Dr. Destouches zusammenlebt, der sie von ihrer Krankheit heilte, verschweigt sie.<br />

Sie verabreden sich für Heiligabend nach Alex’ Entlassung auf dem Pont-Neuf. Als Michèle sich<br />

bei ihrem Wiedersehen unerwartet frühzeitig verabschieden will, ahnt Alex, dass sie zu einem<br />

anderen Mann geht. Erneut kopflos vor Wut packt er Michèle und wirft sich mit ihr über die<br />

Brücke. Im Wasser der Seine werden sie von einem vorüberfahrenden Lastkahn aufgefischt, der<br />

auf dem Weg nach Le Havre ist. 253 Michèle und Alex beschließen, an Bord zu bleiben.<br />

Neben dem Pont-Neuf, dem Hauptschauplatz des <strong>Film</strong>es, spielt auch die <strong>Metro</strong> eine<br />

prominente Rolle und bildet den Hintergrund für mehrere bedeutsame Szenen. <strong>Die</strong><br />

Verfolgungsjagd durch die <strong>Metro</strong> findet zu einem relativ frühen Zeitpunkt statt, <strong>als</strong> Alex und<br />

Michèle noch kein Paar sind. Jedoch hat Alex bereits ein extremes, geradezu zwanghaftes<br />

Interesse an der jungen Frau entwickelt. Getrieben von dem Wunsch, etwas über sie zu erfahren,<br />

spioniert er sie aus. Aus einem Brief, den sie in einer alten Blechbox mit sich führt, entn<strong>im</strong>mt er<br />

die Adresse der Wohnung, in der sie offensichtlich früher lebte. Er bricht nachts durch das<br />

offene Fenster der Wohnung ein und findet dort unzählige Gemälde vor, auf denen Michèle<br />

ihren früheren Geliebten Julien, einen Cellisten, porträtiert hat. Ebenso findet er ein Heft mit der<br />

Aufschrift „Michèle et Julien ou L’Amour de la Fille et du Garçon“, welches er einsteckt und auf<br />

dem Weg zur Brücke liest. Von nun an beginnt er, Michèle zu verfolgen und zu beobachten. 254<br />

Ihn treibt die Frage um, was zwischen ihr und Julien geschah und warum sie ihn offensichtlich<br />

nicht vergessen kann. Ihre obsessive Liebe zu Julien erscheint Alex, der sie unter allen<br />

Umständen auf der Brücke halten will, <strong>als</strong> Bedrohung. Als er ihr schließlich in die <strong>Metro</strong> folgt,<br />

zeigt sich, dass seine Befürchtung, Michèle könnte Julien noch <strong>im</strong>mer verfallen sein, nicht<br />

unbegründet ist. Michèle fährt gedankenverloren auf einem Rollteppich, Alex folgt ihr mit nur<br />

wenigen Metern Abstand auf dem Parallelband. Als plötzlich wie aus dem Nichts ein Cello<br />

erklingt 255 , dreht Michèle sich unwillkürlich um (Alex kann sich gerade noch ducken und bleibt<br />

unbemerkt), erstarrt zunächst, springt dann jedoch blitzartig über den Handlauf und rennt in die<br />

Richtung, aus der die Musik kommt. Alex, der seit einem Unfall ein Gipsbein trägt und an<br />

Krücken geht – Beugnet nennt ihn einen „Quas<strong>im</strong>odo contemporain“ 256 –, eilt ihr hinterher.<br />

253<br />

In der Literatur wird <strong>im</strong>mer wieder darauf verwiesen, dass es sich bei dieser Schlussszene um eine Reminiszenz<br />

an Jean Vigos L´ATALANTE handelt. Vgl. Austin: Contemporary French Cinema, S. 134, sowie Beugnet:<br />

„<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 161 und Raynalle Udris: „Countryscape/Cityscape and<br />

Homelessness in Agnès Varda´s Sans toit ni loi and Leos Carax´s Les Amants du Pont-Neuf“, in: Konstantarakos<br />

(Hrsg.): Spaces in European Cinema, S. 48.<br />

254<br />

TC 26:40 – 30:00.<br />

255<br />

TC 33:32.<br />

256<br />

Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 161.<br />

66


Abb. 20: Michèle folgt dem Klang des Cellos.<br />

Allerdings zeigt sich schon kurz darauf, dass Michèle von jetzt an gar nicht mehr das<br />

eigentliche Objekt seiner Verfolgung ist. Als beide das Ende des Rollteppichs erreichen, teilt<br />

sich der Weg nun in vier Gänge. Michèle, augenscheinlich unschlüssig, in welcher Richtung sie<br />

den Ursprung der Musik lokalisieren soll, zögert zunächst, will erst den einen, dann den anderen<br />

Weg wählen. Als sie sich schließlich für einen der Gänge entscheidet, folgt Alex ihr jedoch<br />

wider Erwarten nicht, sondern wählt einen anderen Weg: Er will den Cellospieler (ist es Julien?)<br />

finden, bevor sie ihn findet.<br />

67


Abb. 21: Statt Michèle zu folgen, sucht Alex nun seinerseits nach dem Ursprung der Musik.<br />

Daraus ergibt sich nun eine grundlegende Umverteilung der Rollen und damit eine völlig neue,<br />

ungewöhnliche Konstellation: Michèle ist nicht mehr länger die verfolgte Person, sondern wird<br />

selbst zur Verfolgerin; Alex seinerseits bleibt zwar in seiner Rolle <strong>als</strong> Verfolger – seine<br />

Verfolgung richtet sich jedoch nicht mehr auf Michèle. Vielmehr werden nun beide zu<br />

Verfolgern von ein und derselben Person: Julien (wobei weder Michèle noch Alex zu diesem<br />

Zeitpunkt sicher wissen können, dass es sich tatsächlich um Julien handelt). <strong>Die</strong>ser wiederum ist<br />

kein Verfolgter <strong>im</strong> eigentlichen Sinne, da er zum einen nicht einmal weiß, dass er verfolgt (oder<br />

vielmehr: gesucht) wird und zum anderen bis auf weiteres unsichtbar bleibt. Julien ist vorerst nur<br />

<strong>als</strong> Klang präsent, welcher nun gewissermaßen „stellvertretend“ verfolgt wird. Genau genommen<br />

ist das eigentliche Objekt der Verfolgung somit die Musik. Konsequenterweise ist sie es daher<br />

auch, die die Bewegung von Michèle und Alex lenkt. So scheint insbesondere Michèle von<br />

Juliens Cellospiel 257 wie an einem unsichtbaren Faden durch den Raum gezogen zu werden,<br />

wobei sich ihre Bewegung an Tempo und Dynamik der Musik anpasst. Michèle rennt zunächst<br />

einen belebten Gang entlang und folgt dabei, fast wie in Trance, dem Klang des Cellos. Während<br />

die Kamera ihr aus einer schräg-seitlichen Perspektive vorauseilt (und damit, wenn man so will,<br />

Michèles „Angezogensein“ visualisiert), scheint die Welt um sie herum zu verschw<strong>im</strong>men. <strong>Die</strong><br />

Passanten, die <strong>im</strong>mer wieder <strong>als</strong> diffuse, unscharfe Gestalten ins Sichtfeld geraten, scheint sie<br />

überhaupt nicht wahrzunehmen. 258<br />

Abb. 22: Michèle erscheint in ihrer Suche nach Julien wie in Trance.<br />

257 Cellosonate op. 8 von Zoltán Kodály.<br />

258 TC 34:21 – 34:28.<br />

68


Schließlich gelangt Michèle erneut an eine Abzweigung. Hier wird besonders deutlich, wie die<br />

Musik ihre Bewegung lenkt. Denn <strong>als</strong> das Cello plötzlich verstummt, hält auch Michèle inne;<br />

und <strong>als</strong> es erneut einsetzt – zunächst leise, dann <strong>im</strong>mer drängender – setzt auch Michèle ihre<br />

fieberhafte Suche fort. 259 An dieser Stelle zeigt sich zudem noch etwas anderes: An der<br />

Abzweigung hat Michèle die Wahl zwischen drei weiterführenden Wegen. Doch statt sich für<br />

einen von ihnen zu entscheiden, läuft sie den gleichen Weg zurück, über den sie kam; denn mit<br />

einem Mal scheint der Klang des Cellos aus der genau entgegengesetzten Richtung zu kommen.<br />

Indem sie nicht eindeutig lokalisierbar, geradezu „überall und nirgendwo“ ist, entzieht sich die<br />

Musik auf diese Weise ihrer Verfolgung – Michèles Suche erweist sich somit <strong>als</strong> vergeblich.<br />

Alex wird währenddessen <strong>im</strong>mer wieder <strong>im</strong> Rahmen einer Parallelmontage eingeblendet.<br />

Obwohl er humpelt und seine Bewegung dadurch ungleich schwerfälliger wirkt, erscheint seine<br />

Suche aktiver und zielgerichteter <strong>als</strong> die von Michèle. Wie Martine Beugnet beschreibt, entsteht<br />

dieser Eindruck zum einen dadurch, dass er, anders <strong>als</strong> sie, von vorgezeichneten Wegen<br />

abweicht und bewusst Hindernisse wie Treppen und Bahngleise in Kauf n<strong>im</strong>mt 260 – er scheint<br />

keinerlei Zweifel daran zu haben, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet. Zum anderen<br />

setzt Carax die Kameraführung und Kadrierung gezielt ein, um diesen Eindruck zu erwecken:<br />

Alex apparaît dans le rôle du chasseur, traverse le cadre et les rails du métro, semble prendre le contrôle de<br />

l’espace, tandis qu’en comparaison, Michèle semble statique: sa course est filmée en plan moyen ou en plan<br />

rapproché, et accompagnée par la caméra en travelling arrière et en légère plongée, de sorte que le sent<strong>im</strong>ent<br />

d’<strong>im</strong>patience et d’<strong>im</strong>puissance se trouvent soulignés, mais qu’il semble aussi que la caméra ,l’épingle‘, la<br />

condamne à une course <strong>im</strong>mobile.“ 261<br />

<strong>Die</strong> Verfolgung kumuliert schließlich in einer kurzen, dynamischen Sequenz, in der nur noch das<br />

Cello zu hören ist. Hintergrundgeräusche und Schritte werden vorübergehend vollständig<br />

ausgeblendet. 262 Für einen kurzen Moment löst sich die Musik damit aus der filmischen <strong>Die</strong>gese<br />

und scheint nunmehr Teil des inneren Erlebens der Protagonisten zu werden, die – „entièrement<br />

absorbés, uniquement préoccupés de leur quête“ 263 – alles um sich herum vergessen.<br />

Mit dem plötzlichen Erscheinen des Cellospielers wird die Musik schließlich wieder<br />

intradiegetisch eingebunden. Von ihm sehen wir jedoch vorerst nur das Instrument, nicht aber<br />

sein Gesicht (siehe Abb. 23). Mit einer geringen Tiefenschärfe wird in dieser Einstellung ein<br />

besonderer Effekt erzielt: Während das Cello <strong>im</strong> Vordergrund scharf zu erkennen ist, bleibt der<br />

Hintergrund völlig verschwommen – so auch Alex, der sich allmählich dem Cellospieler<br />

nähert. 264 Auf diese Weise wird die Wahrnehmung des Cellospielers ins Bild übersetzt: Völlig<br />

259<br />

TC 34:35 – 34:57.<br />

260<br />

TC 34:57 – 35:11.<br />

261<br />

Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 180.<br />

262<br />

TC 35:11 – 35:32.<br />

263<br />

Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 169.<br />

264 TC 35:32 – 35:55.<br />

69


versunken in sein Spiel bemerkt er Alex erst, <strong>als</strong> dieser direkt vor ihm steht. Zudem bleibt er<br />

durch den gewählten Bildausschnitt buchstäblich gesichtslos und damit noch <strong>im</strong>mer anonym.<br />

Abb. 23: Durch eine geringe Tiefenschärfe bleibt Alex bis zum Schluss verschwommen.<br />

Alex, der mit einem Messer droht, die Saiten des Cellos durchzuschneiden, gelingt es, den<br />

Cellospieler zu verjagen. Als kurz darauf Michèle auftaucht, fragt sie ihn, ob er den Mann<br />

gesehen habe, der eben noch Cello gespielt hatte. Alex lügt sie an und behauptet, es sei gar kein<br />

Mann, sondern eine Frau gewesen – „une grosse dame“ 265 . Doch Michèle entdeckt die<br />

Zigarettenstummel, die der Cellospieler auf dem Boden hinterlassen hat und ist sich sicher, dass<br />

Julien da gewesen sein muss. Sie rennt zum Bahnsteig und sieht den Cellospieler gerade in die<br />

<strong>Metro</strong> einsteigen; <strong>im</strong> letzten Moment kann sie in den Waggon springen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Metro</strong>-Verfolgungsjagd in LES AMANTS DU PONT-NEUF ist, wie ich zuvor dargelegt<br />

habe, eine äußerst ungewöhnliche. Um genau zu sein, kann <strong>im</strong> strengen Sinne eigentlich nicht<br />

einmal von einer Verfolgungsjagd die Rede sein. Denn damit eine Verfolgungsjagd vom<br />

Zuschauer <strong>als</strong> eine solche erkannt werden kann, muss laut Hoefer zumindest ein Kriterium erfüllt<br />

sein: „[D]as filmische Opfer [muss] die Verfolgungsabsicht [...] erkannt haben“ 266 und infolge<br />

dessen eine Chance haben zu entkommen. Beides ist hier nicht der Fall. Mehr noch: Julien ist<br />

nicht nur ahnungslos, er bleibt noch dazu bis zum Ende der Sequenz unsichtbar. Doch auch,<br />

wenn es sich per definitionem <strong>als</strong>o nicht um eine „echte“ Verfolgungsjagd handelt, wird sie von<br />

Carax <strong>als</strong> eine solche inszeniert. So <strong>im</strong>pliziert insbesondere die Parallelmontage in der<br />

265 TC 36:32.<br />

266 Hoefer: <strong>Die</strong> Verfolgungsjagd <strong>im</strong> <strong>Film</strong>, S. 14.<br />

70


dramatischen Kl<strong>im</strong>ax der Verfolgungsjagd 267 , dass eine tatsächliche, physische Verfolgung<br />

stattfindet – wobei allerdings nicht Julien, sondern Michèle die gejagte Person zu sein scheint.<br />

Abb. 24: <strong>Die</strong> Kameraeinstellung suggeriert, dass sich Alex genau hinter Michèle befindet.<br />

Tatsächlich sind beide weiterhin getrennt voneinander auf der Suche nach Julien. Durch diesen<br />

Kunstgriff wird jedoch eines deutlich: In dieser Szene geht es nur vordergründig um eine<br />

physische „Jagd“. Tatsächlich nutzt Carax die Verfolgungsjagd durch die <strong>Metro</strong>, um psychische<br />

Abhängigkeiten und Obsessionen der Protagonisten zu versinnbildlichen. Während Alex hier<br />

bereits den besitzergreifenden Charakter seiner Liebe offenbart (indem er den Cellospieler mit<br />

den Worten „Ici, c’est mon couloir“ 268 aus der <strong>Metro</strong> vertreibt, macht er eindeutig klar, dass er<br />

Michèle von nun an für sich haben will), wird in Michèles verzweifelter Suche nach Julien<br />

deutlich, dass sie diesem noch <strong>im</strong>mer hoffnungslos verfallen ist. Der weitere Verlauf des <strong>Film</strong>s<br />

wird zeigen, dass Michèle sich <strong>im</strong>mer wieder – psychisch oder materiell – von Männern<br />

abhängig macht (zuerst von Julien, dann von Alex und schließlich von Dr. Destouches) und in<br />

Beziehungen passiv agiert. Wenn Michèle geradezu ohnmächtig dem Klang des Cellos folgt,<br />

findet eben diese Passivität hier ihren Ausdruck. Ebenso trägt, wie bereits beschrieben, die<br />

spezifische Mise-en-scène dazu bei, Michèle passiv und willenlos erscheinen zu lassen. In dieser<br />

Verfolgungsjagd – wenn wir denn von einer solchen sprechen möchten – zeichnet sich somit<br />

bereits die spätere Liebesbeziehung zwischen Alex und Michèle ab, die vor allem auf<br />

psychischer Abhängigkeit beruhen wird. Als Michèles Krankheit bereits sehr weit fortgeschritten<br />

ist und ihre vollständige Erblindung nur noch eine Frage der Zeit ist, wird sie Alex bei einem<br />

Spaziergang durch die Gänge einer <strong>Metro</strong>station fragen: „Tu seras ma canne blanche? Ma rampe<br />

d’escalier? Mon chien d’aveugle?“ 269 . Hierin wird sicherlich besonders deutlich, wie sehr sich<br />

Michèle zu diesem Zeitpunkt bereits mit der zunehmenden Abhängigkeit von Alex abgefunden<br />

hat.<br />

Das unterirdische <strong>Metro</strong>labyrinth wird in LES AMANTS DU PONT NEUF, wie David Berry<br />

argumentiert, zu einem „symbolic feature of her psychological confusion and of his mental<br />

267 TC 35:11 – 35:32.<br />

268 TC 35:51.<br />

269 TC 1:25:40.<br />

71


obsession.“ 270 <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> zeigt sich <strong>als</strong> ein Ort, an dem psychische Abhängigkeiten und heftige<br />

Emotionen der Protagonisten zutage treten, die in ihrer Intensität eine zerstörerische Kraft<br />

entfalten können. Letzteres wird etwa in der Szene <strong>im</strong> Anschluss an die Verfolgungsjagd<br />

erkennbar. Michèle springt <strong>im</strong> letzten Moment in die <strong>Metro</strong>, in die auch der Cellospieler<br />

eingestiegen ist. Während der Fahrt beobachtet sie ihn über die Spiegelung in einer Scheibe.<br />

Dann erfolgt ein abrupter Schnitt: Michèle klingelt bei Julien. Er blickt durch den Türspion (der<br />

Zuschauer erkennt in ihm nun den Cellospieler aus der <strong>Metro</strong>), sieht sie aber nicht, da Michèle<br />

den Spion mit ihrer Pistole verschlossen hält. Sie fleht Julien an, die Tür zu öffnen – <strong>als</strong> dieser<br />

sich weigert, schießt sie. Im nächsten Moment befindet sie sich wieder in der <strong>Metro</strong>. <strong>Die</strong>se<br />

Szene 271 – die sich <strong>als</strong> Tagtraum von Michèle erweist – ist ein besonders eindrückliches Beispiel<br />

dafür, wie Liebe in ungezügelte Aggression umschlagen kann. Michèle selbst ist der Heftigkeit<br />

ihrer Emotionen so ausgeliefert, dass sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden<br />

weiß: Später wird sie Alex bitten, die Anzahl der Kugeln in ihrer Pistole zu überprüfen. 272<br />

Auf besonders sinnfällige Weise zeigt sich die buchstäblich zerstörerische Kraft übersteigerter<br />

Emotionen zudem in der Szene, <strong>als</strong> Alex in einer <strong>Metro</strong>station die Vermisstenposter in Brand<br />

steckt. 273 In seiner Angst, Michèle könnte in ihr altes Leben zurückkehren und ihn verlassen,<br />

n<strong>im</strong>mt er sogar in Kauf, dass er ihr auf diese Weise die Chance auf Heilung n<strong>im</strong>mt. Er<br />

verwandelt die <strong>Metro</strong> in ein flammendes Inferno, in dem er alles auslöscht, was an Michèles<br />

Vergangenheit erinnert.<br />

Abb. 25: <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> flammendes Inferno.<br />

In LES AMANTS DU PONT-NEUF wird die <strong>Metro</strong> zu einem Hintergrund, vor dem sich die<br />

Emotionen, Wünsche und (Alp-)Träume der Protagonisten offenbaren. Insbesondere tritt hier,<br />

wie die oben beschriebene Brandstiftungsszene und die <strong>im</strong>aginierte Mordszene gezeigt haben,<br />

die destruktive Seite der Liebe zutage. <strong>Die</strong>se Thematik betrachte ich auch <strong>als</strong> den Kern der<br />

Verfolgungsjagd, die das verzweifelte Streben beider Protagonisten nach einem Halt in ihrem<br />

Leben vor Augen führt – ein Halt, den sie nur zu erreichen glauben, indem sie eine Person an<br />

270<br />

Berry: „Underground Cinema“, S. 17.<br />

271<br />

TC 37:41 – 38:53.<br />

272<br />

TC 42:55.<br />

273<br />

TC 1:27:18 – 1:28:48.<br />

72


sich binden. Wie Martine Beugnet in Zusammenhang mit der Verfolgungsszene ausführt, wird<br />

die <strong>Metro</strong> überdies zu einem Ort, an dem <strong>im</strong>mer wieder Erinnerungen an Vergangenes<br />

aufflammen:<br />

Lieu interlope, lieu de transit par excellence, le métro n’est pas seulement l’espace où circulent les gens, mais<br />

aussi les sons, la musique, et les souvenirs: tandis que les accords d’un violoncelle se propagent à travers les<br />

tunnels, le métro se transforme en une gigantesque mémoire où résonne le passé de Michèle. 274<br />

Wir erinnern uns, dass Marc Augé die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> einen „déclencheur de souvenirs“ 275 beschreibt<br />

– es scheint, <strong>als</strong> würde sie eine ebensolche Funktion auch in LES AMANTS DU PONT-NEUF<br />

erfüllen. So ist es nicht eben zufällig die Erinnerung an Julien (ausgelöst durch den Klang des<br />

Cellos), die schließlich zur rauschhaften Jagd durch die <strong>Metro</strong> führt.<br />

274 Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 169.<br />

275 Augé: Un ethnologue dans le métro, S. 8.<br />

73


4. ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE<br />

<strong>Die</strong> Analyse der Beispielfilme LE SAMOURAÏ, PEUR SUR LA VILLE, DIVA, SUBWAY und<br />

LES AMANTS DU PONT-NEUF hat die eingangs formulierte These, dass ein filmischer Ort – in<br />

unserem Falle die <strong>Metro</strong> – einen bedeutungstragenden Status einn<strong>im</strong>mt, zweifellos bestätigt. In<br />

fast allen <strong>Film</strong>en ist eine semantische Aufladung dieses <strong>Schauplatz</strong>es offenkundig intendiert; nur<br />

in PEUR SUR LA VILLE scheint der Ort <strong>als</strong> solcher lediglich sekundär von Bedeutung zu sein.<br />

Vielmehr wird der <strong>Schauplatz</strong> <strong>Metro</strong> hier einem best<strong>im</strong>mten Zweck untergeordnet: Er bildet den<br />

Hintergrund einer Verfolgung, bei der grundlegende Aspekte der filmischen Verfolgungsjagd –<br />

Bewegung und Geschwindigkeit – ins Extrem gesteigert werden. Wie wir sahen, n<strong>im</strong>mt die<br />

Verfolgung hier geradezu groteske Züge an, indem Letelliers h<strong>als</strong>brecherischer Ritt auf dem<br />

<strong>Metro</strong>waggon in keinem angemessenen Verhältnis zu seinem Vorhaben steht (hätte ihm doch die<br />

Verfolgung eines Serientäters ungleich dringlicher erscheinen müssen <strong>als</strong> die des<br />

Drogenhändlers Marcucci). <strong>Die</strong> prominente Inszenierung seiner außergewöhnlichen körperlichen<br />

Fähigkeiten, die ihn in die Nähe eines surhomme rücken, dient dabei nicht nur der Zementierung<br />

des Mythos Belmondo, sondern auch und vor allem seiner Charakterisierung <strong>als</strong><br />

unverantwortlicher und egozentrischer (und dabei trotz allem heldenhaft erscheinender) Polizist,<br />

der bei seiner Arbeit persönlichen Motiven den Vorrang gibt. <strong>Die</strong> <strong>Metro</strong> spielt für diese<br />

Verfolgungsjagd nur insofern eine Rolle, <strong>als</strong> sie die topologischen und, wenn man so will,<br />

„technischen“ Voraussetzungen für eine Verfolgungsjagd diesen Formats schafft.<br />

Während die <strong>Metro</strong> in PEUR SUR LA VILLE <strong>als</strong>o allenfalls durch ihre traditionelle Assoziation<br />

mit der kr<strong>im</strong>inellen Halbwelt inhaltlich motiviert zu sein scheint und vorrangig aufgrund ihrer<br />

charakteristischen „Ausstattung“ zum <strong>Schauplatz</strong> einer Verfolgungsjagd gewählt wird, stellt die<br />

entsprechende Szene in LE SAMOURAÏ hierzu den größtmöglichen Gegensatz dar. In Melvilles<br />

Gangsterklassiker ist die Verfolgungsjagd eine völlig andere: An die Stelle einer physischen<br />

Verfolgung des Protagonisten Jef Costello tritt die Überwachung seiner Bewegung auf dem<br />

Stadtplan des Kommissars. Nicht der Aspekt der Bewegung und des Tempos steht <strong>im</strong><br />

Vordergrund, sondern das innere Erleben Jef Costellos. Zwar ist auch die Topologie der <strong>Metro</strong> in<br />

LE SAMOURAÏ insofern von Bedeutung, <strong>als</strong> Jef diese gezielt für sich zu nutzen versteht (seine<br />

ausgezeichnete Kenntnis des <strong>Metro</strong>netzes erlaubt es ihm, seine Verfolger abzuschütteln). Jedoch<br />

spielt sie in diesem Fall nur eine untergeordnete Rolle für die Wahl des Settings. Wichtiger<br />

erscheint die Tatsache, dass die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> Sinnbild der Entfremdung des modernen<br />

Großstadtmenschen schlechthin wie kaum ein anderer Ort geeignet ist, die Einsamkeit und<br />

innere Leere Jef Costellos widerzuspiegeln. Ebenso kann sie, <strong>als</strong> moderne Manifestation der<br />

mythischen Unterwelt, <strong>als</strong> Hinweis auf den unausweichlichen Tod des Protagonisten gelesen<br />

werden.<br />

74


Anhand von LE SAMOURAÏ und PEUR SUR LA VILLE lässt sich Melvilles Aussage, <strong>im</strong><br />

<strong>französischen</strong> polar der 60er und 70er Jahre habe es <strong>im</strong> Grunde nur zwei Formate – Delon und<br />

Belmondo – gegeben 276 , geradezu beispielhaft darlegen. Während Alain Delon in LE<br />

SAMOURAÏ seinem Image <strong>als</strong> „eiskalter Engel“ gerecht wird, macht Belmondo mit PEUR SUR<br />

LA VILLE seiner typischen Rolle <strong>als</strong> moralisch fragwürdiger Draufgänger alle Ehre – zwei<br />

Charakterisierungen, die in den <strong>Metro</strong>verfolgungsjagden exemplarisch zum Ausdruck kommen.<br />

Auf der einen Seite ein kühl und berechnend agierender Jef Costello, auf der anderen Seite ein<br />

<strong>im</strong>pulsiv und fahrlässig handelnder Kommissar Letellier. Auf der einen Seite eine hoch<br />

strategische Verfolgung, die fast gänzlich ohne das für Verfolgungsjagden obligatorische<br />

„Wettrennen“ auskommt, auf der anderen Seite eine Verfolgung, deren Wirkung fast einzig und<br />

allein auf der Betonung von Bewegung und Geschwindigkeit beruht – wir erinnern uns, dass die<br />

eigentliche Überwältigung Marcuccis am Ende schon fast zur Nebensache gerät. Das eigentlich<br />

Wichtige an der Verfolgungsjagd in PEUR SUR LA VILLE ist der Weg dorthin, der Akt des<br />

Verfolgens <strong>als</strong> solcher, der durch den Ritt auf dem <strong>Metro</strong>waggon eine besondere – in erster Linie<br />

ästhetische – Qualität bekommt.<br />

Mit dem <strong>Film</strong> DIVA, der zu Beginn der 80er Jahre die von Jameson diagnostizierte Stilwende<br />

einläutete, wird die <strong>Metro</strong> Teil der „esthétique publicitaire“, wie sie von Marie-Thérèse Journot<br />

beschrieben wird. Doch entgegen der zeitgenössischen Kritik, die dem cinéma du look<br />

Oberflächlichkeit und Formalismus vorwarf, konnte gezeigt werden, dass die <strong>Metro</strong> weder bei<br />

Beineix noch bei Besson zum rein dekorativen Element herabgesetzt wird. Im Gegenteil: Gerade<br />

in diesen <strong>Film</strong>en – und genauso auch in Carax’ LES AMANTS DU PONT-NEUF – scheinen die<br />

Orte sogar stets eine besonders wichtige, symbolische Rolle zu spielen. Journot begreift die<br />

Regisseure des cinéma du look auch aus diesem Grund <strong>als</strong> Erben des Poetischen Realismus<br />

beziehungsweise des frühen Magischen Realismus, „[qui] tend à suggérer des sens seconds sous<br />

les sens propres, à se peupler d’univers invisibles évoqués par des objets-signes, des pays de<br />

nulle part et des lieux insolites.“ 277 Sowohl Beineix und Besson <strong>als</strong> auch Carax verleihen der<br />

<strong>Metro</strong> eine semantische D<strong>im</strong>ension, in der sich stets traditionelle Deutungsmuster, wie ich sie in<br />

den Kapiteln 2.2 bis 2.2.4 dargestellt habe, widerzuspiegeln scheinen. Zum einen finden wir<br />

wiederholt Anklänge an den Mythos vom Abstieg in die Unterwelt, die wohl nicht eben zufällig<br />

mit einer konstanten Assoziation der <strong>Metro</strong> mit Musik (dem „orphischen“ Element) einhergehen,<br />

wie wir an DIVA, SUBWAY und LES AMANTS DU PONT-NEUF gleichermaßen feststellen<br />

konnten. Außerdem ist in diesem Kontext der Tod <strong>im</strong>mer wieder gegenwärtig. Am plakativsten<br />

findet sich diese Thematik wohl in SUBWAY wieder, wo Freds Abstieg in die Unterwelt<br />

schließlich mit seinem Tod endet. Doch auch in LES AMANTS DU PONT-NEUF ist der Tod in<br />

276 Vgl. Austin: Contemporary French Cinema, S. 100.<br />

277 Journot: Le courant de „l´esthétique publicitaire“, S. 115.<br />

75


der <strong>Metro</strong> insofern präsent, <strong>als</strong> Michèle während einer Fahrt den Mord an ihrem früheren<br />

Geliebten Julien <strong>im</strong>aginiert. Im Übrigen scheint es auch durchaus plausibel, die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong><br />

todbringendes Symbol für Michèle und Alex zu lesen. Beugnet deutet beispielsweise die Brücke<br />

und den Fluss <strong>als</strong> Symbole für den Übergang in die Unterwelt und verweist zudem auf das<br />

ambivalente Ende des <strong>Film</strong>s (beschwört es doch das Bild der mythischen Fahrt über den Styx<br />

herauf). Carax lässt offen, ob das Paar tatsächlich in eine gemeinsame Zukunft schippert – oder<br />

ob ihr Ende bereits vorgezeichnet ist, „annoncé par le mât de la péniche qui repêche les jeunes<br />

gens, et qui se découpe sur le ciel nocturne comme un crucifix.“ 278 Vor diesem Hintergrund<br />

könnte auch die <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> Vorzeichen des Todes (oder – <strong>im</strong> übertragenen Sinne – der<br />

Endlichkeit ihrer Liebe) verstanden werden, wodurch auch das von Alex gelegte „Höllenfeuer“<br />

eine weitere Bedeutung bekäme. <strong>Die</strong>s ist sicher eine Lesart, die eine nähere Untersuchung wert<br />

wäre. Allerdings scheint sie mir, zumindest <strong>im</strong> Hinblick auf die Verfolgungsjagd, zweitrangig zu<br />

sein, weshalb ich sie in meiner Analyse außen vor gelassen habe. Denn in Zusammenhang mit<br />

der Verfolgungsszene fasse ich die <strong>Metro</strong> in erster Linie <strong>als</strong> Sinnbild für die von<br />

Abhängigkeiten, von Besitzdenken und zerstörerischen Tendenzen geprägte Liebe zwischen<br />

Michèle und Alex auf, die sich in der kopflosen Jagd durch das <strong>Metro</strong>labyrinth ausdrückt. Dabei<br />

offenbart sich die <strong>Metro</strong> auch <strong>als</strong> Erinnerungsraum (oder „déclencheur de souvenirs“ <strong>im</strong> Sinne<br />

Marc Augés) und damit <strong>als</strong> eine Metapher für emotionale Vorgänge – ähnlich wie bereits in LE<br />

SAMOURAÏ, wo die <strong>Metro</strong> ebenfalls zum Sinnbild für die Psyche Jef Costellos wird.<br />

Das labyrinthische Moment der <strong>Metro</strong> wird am eindrücklichsten in DIVA in Szene gesetzt,<br />

indem Beineix durch eine diskontinuierliche Montage dem Zuschauer eine Orientierung <strong>im</strong><br />

Raum unmöglich macht. Und es scheint, <strong>als</strong> stellte die <strong>Metro</strong> auch und gerade wegen ihrer<br />

labyrinthischen Struktur einen so beliebten <strong>Schauplatz</strong> für französische Regisseure dar. Als<br />

traditionelles Symbol für Übergangsriten kann das Labyrinth (wie in DIVA oder SUBWAY) zum<br />

<strong>Schauplatz</strong> einer Initiation werden. Doch nicht nur das: Durch seine extreme Bedeutungsfülle,<br />

die ich in Kapitel 2.2.3 nachzuzeichnen versucht habe, ist in der labyrinthischen Symbolik eine<br />

außerordentliche Vielzahl von Ausdrucksmöglichkeiten angelegt. Gleiches gilt für die <strong>Metro</strong>,<br />

die, selbst ein Labyrinth, semantisch fast ebenso „flexibel“ erscheint. Wie die <strong>Film</strong>analysen<br />

gezeigt haben, gibt es zwar thematische Konstanten, die <strong>im</strong>mer wiederkehren – Tod,<br />

Verbrechen, Zerstörung etc. –, jedoch werden diese in jedem der <strong>Film</strong>e auf ganz unterschiedliche<br />

Weise manifest. Zudem sind es fast <strong>im</strong>mer mehrere mit der <strong>Metro</strong> assoziierte Themenkomplexe,<br />

die in den <strong>Film</strong>en jeweils zum Ausdruck kommen und die untereinander <strong>im</strong>mer wieder<br />

278 Beugnet: „<strong>Film</strong>er l´exclusion: Les Amants du Pont-Neuf“, S. 162. Auch Raynalle Udris stellt fest, dass die<br />

Interpretation der Schlussszene keineswegs eindeutig ist: „The ambiguity of the last sequence [...] can<br />

symbolically be read as death or as rebirth [...]. The couple´s fall into the water and their <strong>im</strong>plausible rescue by a<br />

barge sailing towards Le Havre, a seaport whose name signifies ,haven‘, can be read as the final escape from city<br />

and a mythical rebirth into love, innocence and freedom.“ Udris: „Countryscape/Cityscape and Homelessness“,<br />

S. 48f.<br />

76


Querverbindungen aufweisen. Schlussendlich scheint mir hierin die besondere Attraktivität der<br />

<strong>Metro</strong> für das Kino <strong>im</strong> Allgemeinen und die filmische Verfolgungsjagd <strong>im</strong> Besonderen<br />

begründet zu sein: Sie bietet, neben einer ästhetisch eindrucksvollen Kulisse und ihrer<br />

parcoursartigen räumlichen Organisation, ein schier unbegrenztes Potential, mit Bedeutungen<br />

aufgeladen zu werden, und dient damit <strong>als</strong> nahezu universelle Projektionsfläche.<br />

Es bleibt abschließend festzuhalten, dass Verfolgungsjagden <strong>im</strong> Untergrund selbstverständlich<br />

keineswegs ein exklusives Phänomen des <strong>französischen</strong> <strong>Film</strong>s sind. Gerade <strong>im</strong> amerikanischen<br />

Kino sind Verfolgungsjagden in der Londoner Tube (siehe etwa Paul Greengrass’ THE<br />

BOURNE ULTIMATUM von 2007) oder der New Yorker Subway (beispielsweise in William<br />

Friedkins FRENCH CONNECTION von 1971) ein mindestens ebenso beliebtes wie<br />

konventionelles Motiv. Wie David L. Pike anmerkt, gehört die Hinwendung zum unterirdischen<br />

Teil von Städten mittlerweile zu den meist verbreiteten Topoi des Actionfilms und verwandter<br />

Genres: „No action movie is complete without a sensational cl<strong>im</strong>ax in a metropolitan subway,<br />

utility tunnel, or sewer, or a showdown in the arch-villain’s subterranean stronghold.“ 279 Da der<br />

Mythos, der die Pariser <strong>Metro</strong> umgibt, jedoch untrennbar mit der <strong>französischen</strong> Kultur und ihrem<br />

spezifischen Erfahrungshorizont verbunden ist, ergibt sich gerade aus dem Gegensatz<br />

„universeller Topos“ vs. „nationales Spezifikum“ eine weiterführende piste à suivre: Ein<br />

Vergleich mit U-Bahn-Verfolgungsjagden etwa des amerikanischen Kinos könnte Aufschluss<br />

darüber geben, inwieweit sich die Pariser <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> filmischer <strong>Schauplatz</strong> von anderen<br />

Untergrundbahnen <strong>im</strong> <strong>Film</strong> unterscheidet – letztendlich: ob sich eine ähnliche Bedeutungsfülle<br />

auch an anderen Untergrundbahnen feststellen ließe oder ob diese tatsächlich spezifisch für die<br />

Pariser <strong>Metro</strong> <strong>als</strong> <strong>Schauplatz</strong> <strong>im</strong> <strong>französischen</strong> <strong>Film</strong> ist.<br />

279 Pike: Subterranean Cities, S. 1.<br />

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RUHE, Cornelia: Cinéma beur: Analysen zu einem neuen Genre des <strong>französischen</strong> <strong>Film</strong>s,<br />

Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006<br />

SCHIFRES, Alain: Les Parisiens, Paris: Éditions Jean-Claude Lattès 1990<br />

SCHMELING, Manfred: Der labyrinthische Diskurs: Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt<br />

a.M.: Athenäum Verlag 1987<br />

UDRIS, Raynalle: „Countryscape/Cityscape and Homelessness in Agnès Varda’s Sans toit ni loi<br />

and Leos Carax’s Les Amants du Pont-Neuf“, in: Myrto KONSTANTARAKOS (Hrsg.): Spaces in<br />

European Cinema, Exeter [u.a.]: Intellect 2000, S. 42-51<br />

80


VIGNAUD, Roger: Henri Verneuil: Les plus grands succès du cinéma (Temps Mémoire),<br />

Marseille: Éditions Autres Temps 2008<br />

VINCENDEAU, Ginette: Jean-Pierre Melville. An American in Paris, London: British <strong>Film</strong><br />

Institute 2003<br />

FILME<br />

BEINEIX, Jean-Jacques: DIVA. DVD, 113 Min., München: Arthaus 2001 (Frankreich: 1981)<br />

BESSON, Luc: SUBWAY. DVD, 98 Min., München: Universum <strong>Film</strong> 2001 (Frankreich: 1985)<br />

CARAX, Leos: DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF (LES AMANTS DU PONT-NEUF). DVD,<br />

121 Min., München: Kinowelt Home Entertainment 2003 (Frankreich: 1991)<br />

MELVILLE, Jean-Pierre: LE SAMOURAÏ. DVD, 105 Min., [o.O.]: <strong>Film</strong>el Productions 2001<br />

(Frankreich: 1967)<br />

VERNEUIL, Henri: PEUR SUR LA VILLE. DVD, 120 Min., Issy-les-Moulineaux: StudioCanal<br />

2007 (Frankreich: 1975)<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />

Abb. 1<br />

Illustration von von Théophile Steinlen, erschienen in einer Sonderausgabe<br />

der Zeitschrift L’Assiette au beurre am 22. August 1903. Quelle: Benson<br />

BOBRICK: Labyrinths of Iron: A History of the World’s Subways ( 1 1981),<br />

New York: Newsweek Books 3 1982, S. 167<br />

Abb. 2 Illustration von D<strong>im</strong>itrios Galanis, erschienen in einer Sonderausgabe der<br />

Zeitschrift L’Assiette au beurre am 22. August 1903. Quelle: BOBRICK:<br />

Labyrinths of Iron, S. 166<br />

Abb. 3 Litographie „Orpheus Ascending“ von Jan Balet. Quelle: BOBRICK:<br />

Labyrinths of Iron, S. 168<br />

Abb. 4 Screenshot aus LE SAMOURAÏ<br />

Abb. 5 Screenshot aus LE SAMOURAÏ<br />

Abb. 6 Screenshot aus LE SAMOURAÏ<br />

Abb. 7 Screenshot aus LE SAMOURAÏ<br />

Abb. 8 Screenshot aus LE SAMOURAÏ<br />

Abb. 9 Screenshot aus LE SAMOURAÏ<br />

Abb. 10 Screenshot aus LE SAMOURAÏ<br />

Abb. 11 Screenshot aus PEUR SUR LA VILLE<br />

81<br />

S. 17<br />

S. 17<br />

S. 18<br />

S. 31<br />

S. 34<br />

S. 34<br />

S. 35<br />

S. 36<br />

S. 38<br />

S. 39<br />

S. 43


Abb. 12 Screenshot aus PEUR SUR LA VILLE<br />

Abb. 13 Screenshot aus PEUR SUR LA VILLE<br />

Abb. 14 Screenshot aus SPIDER-MAN 2. Quelle: Sam RAIMI: SPIDER-MAN 2.<br />

DVD, 122 Min., München: Columbia TriStar Home Entertainment 2004<br />

Abb. 15 Screenshot aus DIVA<br />

Abb. 16 Screenshot aus DIVA<br />

Abb. 17 Screenshot aus DIVA<br />

Abb. 18 Screenshot aus DIVA<br />

Abb. 19 Screenshot aus SUBWAY<br />

Abb. 20 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF<br />

Abb. 21 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF<br />

Abb. 22 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF<br />

Abb. 23 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF<br />

Abb. 24 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF<br />

Abb. 25 Screenshot aus LES AMANTS DU PONT-NEUF<br />

82<br />

S. 44<br />

S. 45<br />

S. 47<br />

S. 52<br />

S. 53<br />

S. 53<br />

S. 54<br />

S. 60<br />

S. 67<br />

S. 68<br />

S. 68<br />

S. 70<br />

S. 71<br />

S. 72

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