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Galileo Galilei – Erfinder der modernen wissenschaftlichen Methode?

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<strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

<strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong>?<br />

Masterarbeit<br />

von<br />

Martin Sauser<br />

Eingereicht bei Prof. Dr. G. Grasshoff<br />

Dezember 2007<br />

Institut für Philosophie <strong>der</strong><br />

Universität Bern


Es überrascht daher kaum, dass <strong>der</strong> Ruhm dieses<br />

hervorragenden Mannes in <strong>der</strong> Hauptsache auf Entdeckungen<br />

beruht, die er nie machte, und auf Heldentaten,<br />

die er nie vollführte.<br />

Arthur Koestler in Die Nachtwandler<br />

1


Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung…………...............................................………..………………………... 4<br />

2 Die Heldenthese…………...……….....…………………...………………………... 5<br />

2.1 Die vermeintliche <strong>Methode</strong> <strong>Galilei</strong>s………….......………..……………………… 6<br />

2.1.1 Stillman Drake: die vierstufige <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> Beschreibung………...………. 6<br />

2.1.2 John Losee: induktiv-deduktive <strong>Methode</strong> nach Aristoteles………..………... 7<br />

2.1.3 Klaus Fischer: axiomatisch-deduktives Räsonnieren……….....…………….. 8<br />

2.1.4 Albrecht Fölsing: Empirie, Mathematik und Experiment………..………….. 9<br />

2.1.5 Weitere Vorschläge………..……………………………………………….... 9<br />

2.2 <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> „Empiriker“…………...........................…………………………….... 11<br />

2.3 <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> „Experimentator“……………………………………………………... 22<br />

2.4 <strong>Galilei</strong> und die quantitative Wende <strong>der</strong> Wissenschaft…………..………………... 31<br />

2.5 <strong>Galilei</strong> als Kämpfer für die Autonomie <strong>der</strong> Wissenschaft………….……..……... 36<br />

2.6 Abschliessende Beurteilung <strong>der</strong> Heldenthese…………...……………………….. 43<br />

3 <strong>Galilei</strong> als Rhetoriker……………..............……….........……….………………..... 46<br />

3.1 Die These von Paul Feyerabend………….………………………………………. 46<br />

3.2 Reaktionen auf die Rhetorikthese……………….………………………………... 48<br />

3.3 Biagiolis Untersuchung über <strong>Galilei</strong> als Höfling………………….……………... 52<br />

4 Das methodische Vorgehen <strong>Galilei</strong>s bei <strong>der</strong> Gezeitentheorie…………………... 61<br />

4.1 Die Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong>………….....................………….…………….... 62<br />

4.1.1 <strong>Galilei</strong>s Grundannahmen………...……..………………………………….. 63<br />

4.1.2 Ausschluss von Alternativerklärungen………..…...……………………….. 64<br />

4.1.3 Der Kopernikanismus kommt ins Spiel………..…………………………... 67<br />

4.1.4 <strong>Galilei</strong>s Umgang mit den Problemen <strong>der</strong> Gezeitentheorie.………..………. 68<br />

4.1.5 Formale Rekonstruktion von <strong>Galilei</strong>s Argument……………..……………. 76<br />

4.2 Aufnahme und Rezeption von <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie………….…….………... 77<br />

4.3 Bewertung von <strong>Galilei</strong>s methodischem Vorgehen………….....………..………... 81<br />

4.3.1 <strong>Galilei</strong>s falsche empirische Evidenz………….…..……………..………..… 81<br />

4.3.2 <strong>Galilei</strong>s falsches „Kausalgesetz…………...………………………………... 85<br />

4.3.3 Der Fehler des Ausschlusses von Alternativhypothesen…………..……….. 88<br />

2


4.3.4 Fehlende Hypothesenprüfung…………………………………………...….. 89<br />

4.3.5 <strong>Galilei</strong>s Bestätigungsdenken……………………………………………….. 91<br />

Literaturverzeichnis…………................................................................………….... 96<br />

3


1 Einleitung<br />

Über die Arbeit des Wissenschaftshistorikers schreibt Klaus Hentschel (2003): „Das Erkennen,<br />

Markieren und Vermeiden falscher Fährten ist ein unentbehrlicher Teil <strong>der</strong> täglichen<br />

Arbeit von Wissenschaftshistorikern, denn lei<strong>der</strong> steckt <strong>der</strong>en Arbeitsfeld voller Mythen“<br />

(S. 225). Mythen über berühmte Wissenschaftler zu wi<strong>der</strong>legen, sei aufwendig,<br />

meint Hentschel, aber noch schwieriger sei es, „sie aus dem Bewusstsein <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

zu löschen“ (S. 231). Das trifft mit Sicherheit auch auf den Mythos zu, den ich mir vornehmen<br />

will. Er ist ganz beson<strong>der</strong>s hartnäckig und er besitzt die spezielle Eigenschaft, dass<br />

er von Leuten erfunden und in Umlauf gebracht worden ist, die eigentlich dazu da wären,<br />

solche Mythen zu zerstören, nämlich von Wissenschaftshistorikern. Die meisten von ihnen<br />

halten ihn wacker aufrecht und er vermittelt ein Bild, von dem Teichmann (2001) schreibt,<br />

dass „auch heutige Arbeiten zeigen, wie schwer es ist, das Pathos dieses Bildes zurückzudrängen“<br />

(S. 31). Es handelt sich um den Mythos des <strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> als <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

<strong>Methode</strong>. Die Geschichtsschreibung hat aus ihm einen Heiligen und Märtyrer<br />

gemacht. Es scheint fast, dass zutreffen würde, „dass auch Menschen, die auf rationaler<br />

Grundlage Abstand von <strong>der</strong> Religion nehmen o<strong>der</strong> ihr zumindest vorwerfen, sich in<br />

Lebensbereiche einzumischen, die sie nichts angehen, möglicherweise ihre Heiligen und<br />

Märtyrer brauchen“ (Naess 2006, S. 219). Heilige haben es an sich, dass sie oft etwas zu<br />

unkritisch betrachtet werden: „Für manche seiner Verehrer ist <strong>Galilei</strong> über jede Kritik erhaben,<br />

er ist zu einer Ikone geworden, einer Gestalt, an <strong>der</strong> nicht gerüttelt werden darf.<br />

Eine solche Bewun<strong>der</strong>ung muss man Verehrung nennen“ (S. 219). 1 Diese Arbeit soll nicht<br />

in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Verehrung stehen, son<strong>der</strong>n ein Versuch sein, an diesem Mythos etwas<br />

zu rütteln; auch nicht ein Denkmalsturz soll sie sein, aber doch ein Versuch eines etwas<br />

realistischeren Bildes, das auf einer Staffelei entstanden ist, welche nicht zu nah beim Objekt,<br />

son<strong>der</strong>n in wohlwollend-kritischer Distanz aufgestellt war.<br />

Die klassische These dieses Mythos <strong>–</strong> ich werde sie die Heldenthese nennen <strong>–</strong> besagt<br />

kurz, dass <strong>Galilei</strong> die mo<strong>der</strong>ne wissenschaftliche <strong>Methode</strong> begründet und eingeführt<br />

habe. Diese These möchte ich kritisch auf ihre Haltbarkeit überprüfen. Methodisch habe<br />

ich ein Vorgehen in zwei Schritten gewählt. Zuerst werde ich mir die Heldenthese vornehmen<br />

und einige ihrer zentralen Behauptungen auf ihre Stichhaltigkeit überprüfen. Die<br />

erste kritische These zu <strong>Galilei</strong> als Methodiker stammt von Paul Karl Feyerabend. Ich werde<br />

sie und einige kritische Meinungen dazu kurz darstellen und untersuchen, wie weit sie<br />

mit <strong>der</strong> hier vertretenen These übereinstimmt. Der zweite Schritt besteht darin, dass ich<br />

anhand einer Mikrostudie zu analysieren versuche, wie <strong>Galilei</strong> in einem konkreten Fall<br />

vorgeht. Ich werde als passiver Beobachter dem grossen <strong>Galilei</strong> über die Schulter schauen<br />

und versuchen, zu verstehen, was er macht und wie er vorgeht. Das Resultat dieser kleinen<br />

wissenschaftshistorischen Feldstudie soll dann Aufschluss geben über das methodische<br />

Vorgehen und die Art des Argumentierens von <strong>Galilei</strong>. Auf <strong>der</strong> Basis dieser Analyse wird<br />

sich dann zeigen, ob die Heldenthese standzuhalten vermag o<strong>der</strong> nicht. Objekt <strong>der</strong> Mikrostudie<br />

ist die Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong>, die er in seinem ersten Hauptwerk <strong>–</strong> dem Dialog<br />

über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische <strong>–</strong><br />

nie<strong>der</strong>geschrieben hat. An dieser Gezeitentheorie und an einem weiteren Argument für die<br />

Erdrotation soll aufgezeigt werden, wie <strong>Galilei</strong> versucht hat, den Kopernikanismus zu<br />

rechtfertigen und ob die Art und Weise, wie er das getan hat, die Aussage rechtfertigt, er<br />

sei methodisch ein mo<strong>der</strong>ner Wissenschaftler gewesen.<br />

1 Einen kurzen Überblick über die bisherigen Ansichten in <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-Historiographie gibt Volker R. Rem-<br />

mert (1997), Kapitel 1.<br />

4


2 Die Heldenthese<br />

Die klassische o<strong>der</strong> traditionelle Sicht über <strong>Galilei</strong> als Wissenschaftler sieht <strong>Galilei</strong> als<br />

Held <strong>der</strong> Wissenschaft, <strong>der</strong> die mo<strong>der</strong>ne wissenschaftliche <strong>Methode</strong> begründet hat. Sie<br />

stellt ihn den aristotelischen Scholastikern gegenüber, welche als sture Dogmatiker und<br />

empirielose Spekulanten beschrieben werden. <strong>Galilei</strong> dagegen wird als Überwin<strong>der</strong> dieser<br />

veralteten Denkweise gepriesen, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft ihre heutige, mo<strong>der</strong>ne <strong>Methode</strong> verabreicht<br />

hat. 2 Ein Vertreter dieser Sicht ist Albrecht Fölsing (1996). In seiner <strong>Galilei</strong>-<br />

Biographie finden wir viele für diese Sicht kennzeichnende Aussagen. Er schreibt z. B.:<br />

Gestützt nur auf ‚sensate esperienze e necessarie demostrazioni’ <strong>–</strong> also auf Sinneserfahrung und<br />

notwendige Beweise <strong>–</strong>, entwickelte <strong>Galilei</strong> die <strong>Methode</strong> exakter Forschung im fruchtbaren Dreiklang<br />

von Empirie, mathematischer Spekulation o<strong>der</strong> Hypothesenbildung und experimenteller<br />

Überprüfung. Dieses Paradigma wird wohl gültig bleiben, solange Menschen Naturgesetze aufdecken<br />

wollen. (S. 14)<br />

Eine wahrhaft grossartige Tat muss <strong>Galilei</strong> da vollbracht haben. Und weiter schreibt<br />

Fölsing, die Erkenntnis <strong>der</strong> Bewegungsgesetze einfacher mechanischer Systeme, verkörpere<br />

in exemplarischer Weise „die Erfindung und theoretische Begründung jenes Verfahrens,<br />

mit dem man seither zu immer neuen Entdeckungen voranschreiten konnte: die mo<strong>der</strong>ne<br />

Naturwissenschaft“ (S. 13). Sie <strong>–</strong> die Bewegungsgesetze <strong>–</strong> verkörperten den rationalen<br />

Kern <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Revolution. Ein weiterer Topos, <strong>der</strong> aus dieser Sicht immer<br />

mit <strong>Galilei</strong> verbunden wird, ist die Einführung <strong>der</strong> Mathematik in die Wissenschaft. Dazu<br />

schreibt Fölsing:<br />

Das kopernikanische System als mathematische Hypothese zur „Rettung <strong>der</strong> Erscheinungen“ eine<br />

kaum beachtete, auch von <strong>der</strong> Kirche tolerierte Angelegenheit für einige Spezialisten, wurde von<br />

ihm in den Rang einer Wahrheit erhoben. Um diese aller gängigen Naturphilosophie und Theologie<br />

wi<strong>der</strong>sprechende Wahrheit plausibel zu machen, holte er die nur in <strong>der</strong> Astronomie als Erkenntnismittel<br />

angewandte Mathematik auf die Erde herab, schuf eine mathematische Theorie <strong>der</strong> Bewegung<br />

und wandte diese Theorie auf die Bewegung <strong>der</strong> Planeten am Himmel an. (S. 14)<br />

Die Hagiographik auf die Spitze treibend schreibt Fölsing weiter: „Es war in dieser<br />

tiefgreifenden Wende <strong>Galilei</strong>s historische Rolle, die methodischen Kriterien <strong>der</strong> Wahrheit<br />

<strong>der</strong> neuen Wissenschaft nicht nur zu entwickeln, son<strong>der</strong>n auch gegen vielfältigen akademischen<br />

und theologischen Obskurantismus zu behaupten“ (S. 14). 3<br />

Begleitet ist die Auffassung in <strong>der</strong> Regel von einer mehr o<strong>der</strong> weniger ausgeprägten<br />

Schwarz-Weiss-Sicht: Auf <strong>der</strong> einen Seite <strong>Galilei</strong>, Lichtgestalt <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Mo<strong>der</strong>ne,<br />

intelligent und brillant, mit keinem an<strong>der</strong>en Ziel vor Augen als <strong>der</strong> Wahrheit. Auf<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite seine Gegner, tumbe Scholastiker und dogmatisch sture Kleriker, ideologisch<br />

an alten Zöpfen hängend, dumm und einfältig an den Büchern klebend, unverbesserliche<br />

Spekulanten mit dem einzigen Ziel, ihre absurde Philosophie zu retten. <strong>Galilei</strong> wollte<br />

2 Sehr oft ist auch die Behauptung aufgestellt worden, <strong>Galilei</strong> sei auch <strong>der</strong> <strong>–</strong> o<strong>der</strong> mindestens einer <strong>der</strong> wichtigsten<br />

<strong>–</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft, wobei darunter wohl meistens die Wissenschaft <strong>der</strong> Mechanik<br />

gemeint ist. So schreibt z. B. Bertrand Russell (1975): „<strong>Galilei</strong> (1564-1642) ist die überragende Erscheinung<br />

unter den Begrün<strong>der</strong>n <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft, wenn man von Newton absehen will“ (S. 541).<br />

Diese Arbeit befasst sich nicht mit dieser These, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> Behauptung, <strong>Galilei</strong> habe die mo<strong>der</strong>ne wissenschaftliche<br />

<strong>Methode</strong> erfunden o<strong>der</strong> begründet.<br />

3 Die Königskrone <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-Hagiographik gebührt allerdings Krämer-Badoni (1985). Er ist jedoch nicht so<br />

platt wie etwa Drake (1982), <strong>der</strong> sich in seiner Apologetik schwer tut, anzuerkennen, dass die Gezeitentheorie<br />

von <strong>Galilei</strong> falsch ist, und zu denjenigen gehört, die verzweifelt nach einem Körnchen Wahrheit in dieser<br />

Theorie suchen.<br />

5


uns die mo<strong>der</strong>ne Wissenschaft bringen, die an<strong>der</strong>en versuchten, dies zu verhin<strong>der</strong>n und<br />

verschmähten dazu keine Gemeinheit <strong>–</strong> inklusive Anklage bei <strong>der</strong> Inquisition. Die Literatur<br />

über <strong>Galilei</strong>s angebliche Heldentaten ist enorm und es herrscht keine Einigkeit, worin genau<br />

<strong>Galilei</strong>s Grosstat besteht. Diese Meinungsvielfalt kann im Rahmen dieser Arbeit nicht<br />

bewältigt werden. Der Kern <strong>der</strong> Heldenthese ist aber unzweideutig die Behauptung, <strong>Galilei</strong><br />

sei <strong>der</strong> <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong>. Diese und weitere zentrale<br />

Behauptungen <strong>der</strong> Heldenthese werde ich in <strong>der</strong> Folge näher betrachten.<br />

2.1 Die vermeintliche <strong>Methode</strong> <strong>Galilei</strong>s<br />

Wer sich eingehen<strong>der</strong> mit <strong>Galilei</strong> beschäftigt, dem fällt bei <strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> Sekundärliteratur<br />

schnell auf, dass viele Autoren zwar <strong>Galilei</strong> als Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

<strong>Methode</strong> bezeichnen, aber den Leser durchwegs enttäuschen bei <strong>der</strong> Frage,<br />

worin denn <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> genau bestand. Die meisten Aussagen dazu sind gekennzeichnet<br />

durch Unschärfe, Gemeinplätze und Vagheiten. Man hat den Eindruck, die Autoren<br />

wüssten selbst nicht so recht, wovon sie sprechen. Es fällt auf, dass diese Autoren nicht<br />

in <strong>der</strong> Lage sind, auf einen Text von <strong>Galilei</strong> zu verweisen, welcher klare und dezidierte<br />

Aussagen über wissenschaftliche Methodik enthält. Auch im viel zitierten und diskutierten<br />

Brief <strong>Galilei</strong>s an die Grossherzogin-Mutter Christina von Lothringen aus dem Jahre 1615,<br />

in dem sich <strong>Galilei</strong> über das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft äussert, finden<br />

sich keine methodologischen Aussagen. Obwohl dieser Brief „von vielen Autoren zu den<br />

wissenschaftstheoretisch und <strong>–</strong>historisch erstrangigen Werken gezählt“ wird (Dorn 2000,<br />

S. 90), wird <strong>der</strong> Leser auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>Galilei</strong>s methodologischen Vorstellungen enttäuscht.<br />

4 Es erstaunt daher nicht, dass sich die verschiedenen Autoren in diesem Punkt<br />

nicht einig sind und <strong>Galilei</strong>s vermeintliche <strong>Methode</strong> ganz unterschiedlich beschreiben.<br />

Exemplarisch seien kurz die Meinungen einiger Autoren dargestellt.<br />

2.1.1 Stillman Drake: die vierstufige <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> Beschreibung<br />

Stillman Drake (1978) bestätigt die Uneinigkeit <strong>der</strong> Forscher in Bezug auf die <strong>Methode</strong><br />

<strong>Galilei</strong>s. Er verweist auf eine zweihun<strong>der</strong>tjährige Debatte über die wissenschaftliche<br />

<strong>Methode</strong> des <strong>Galilei</strong>: „Little agreement has been reached even among <strong>Galileo</strong> specialists“<br />

(S. 99). 5 Diese Erkenntnis hin<strong>der</strong>t Drake aber nicht daran, die Uneinigkeit durch eine weitere<br />

nicht überzeugende Ansicht zu vergrössern. <strong>Galilei</strong> hat zwar keine spezifische Schrift<br />

zur <strong>wissenschaftlichen</strong> Methodik hinterlassen, aber Drake hat in einem kaum beachteten<br />

Skript für die Privatschüler von <strong>Galilei</strong> aus dem Jahre 1602 einige Aussagen über das Vorgehen<br />

bei <strong>der</strong> astronomischen Forschung gefunden. <strong>Galilei</strong> lehnt sich in diesem Text stark<br />

an Ptolemäus an. Er beschreibt dabei eine vierstufige Vorgehensweise. In <strong>der</strong> Übersetzung<br />

von Drake schreibt <strong>Galilei</strong>:<br />

4 Zum Brief an die Grossherzogin-Mutter siehe z. B. Loretz (1966, S. 72-100), Wohlwill (1969, S. 542-555).<br />

5 Diese Uneinigkeit besteht nicht nur in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> <strong>Methode</strong>, son<strong>der</strong>n auch über <strong>Galilei</strong>s wissenschaftliches<br />

Werk. So schreibt Dijksterhuis (1983): „Es gibt in <strong>der</strong> gesamten Wissenschaftsgeschichte vielleicht<br />

keine einzige Gestalt, über welche die Meinungen so auseinan<strong>der</strong>gehen wie über <strong>Galilei</strong>“ (S. 371). Zwar<br />

wolle niemand <strong>Galilei</strong>s wissenschaftliche Grösse bezweifeln o<strong>der</strong> seinen grossen Beitrag zur Entstehung <strong>der</strong><br />

klassischen Wissenschaft, „aber man ist sich nicht einig darüber, worin seine Grösse eigentlich besteht und<br />

welches diese Beiträge eigentlich gewesen sind“ (S. 371). Loretz (1966) zitiert einige dieser verschiedenen<br />

Meinungen über <strong>Galilei</strong> und fügt hinzu: „Die Beispiele über den Wi<strong>der</strong>streit in <strong>der</strong> Beurteilung des Menschen<br />

<strong>Galilei</strong> und seines <strong>wissenschaftlichen</strong> Werkes könnten um viele vermehrt werden“ (S. 53).<br />

6


As to method the cosmographer customarily proceeds in his reflections in four ways, the first of<br />

which embraces the appearances or ‘phenomena’, and these are nothing but sensate observations<br />

[…]. In the second place are the hypotheses, and those are nothing but some suppositions relating to<br />

the structure of the celestial orbits so as to correspond with the appearances […]. Third there follow<br />

geometrical demonstrations in which, by means of some properties of circles and straight lines, the<br />

particular events which follow from the hypotheses are demonstrated. And finally, what had thus<br />

been demonstrated by lines being [them] calculated by arithmetical operations, this is reduced to tables<br />

from which, without labor, we may at our pleasure find the arrangement of the celestial bodies<br />

at any moment of time. (S. 102f.)<br />

Drake vertritt die Meinung, dass <strong>Galilei</strong> diese vierstufige <strong>Methode</strong> aus Beobachtung,<br />

(induktive) Hypothesenbildung, (mathematische) Voraussage und Überprüfung von<br />

<strong>der</strong> Astronomie auf die an<strong>der</strong>en Wissenschaften, die er betrieben hat, übertragen habe.<br />

Drake macht auf ein „striking thing“ über diese Wissenschaftsauffassung aufmerksam:<br />

„First it is to be noted that the science described was purely descriptive and quantitative,<br />

not explanatory, qualitative and causal” (S. 103). Drakes These mag zutreffen o<strong>der</strong><br />

nicht, das Bedauerliche daran ist nur, dass man z. B. bei <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie im Dialog<br />

nichts von einer solchen <strong>Methode</strong> bemerkt. Es wird dort we<strong>der</strong> aus Beobachtungen<br />

induktiv eine Hypothese erschlossen noch werden aus einer solchen Ableitungen vorgenommen<br />

und schon gar nicht geprüft. Wobei allerdings nicht klar ist, was denn Drake unter<br />

einer Prüfung versteht. Lediglich im Argument mit dem Ostwind prognostiziert <strong>Galilei</strong>,<br />

dass aus <strong>der</strong> Erddrehung ein Wind resultieren sollte. Dass das Argument <strong>–</strong> trotz Wind und<br />

Erddrehung <strong>–</strong> falsch ist, zeigt nur, dass diese <strong>Methode</strong> nichts taugt und nicht die <strong>Methode</strong><br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft sein kann. (Ich werde das Argument weiter unten ausführlicher<br />

behandeln). Somit hat Drake <strong>–</strong> wenn er denn recht hat <strong>–</strong> nur gezeigt, dass <strong>Galilei</strong> nicht <strong>der</strong><br />

Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong> ist. Das dürfte nicht seine Absicht gewesen<br />

sein; obwohl er selbst zugibt, dass <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> nur deskriptiv und we<strong>der</strong> erklärend<br />

noch kausalanalytisch war. Es fragt sich hier, was denn Drake unter „wissenschaftlicher<br />

<strong>Methode</strong>“ versteht.<br />

2.1.2 John Losee: induktiv-deduktive <strong>Methode</strong> nach Aristoteles<br />

John Losee (1977) gibt eine ähnliche Sicht über die <strong>Methode</strong> von <strong>Galilei</strong>. Losee<br />

spricht von <strong>der</strong> <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> „Auflösung und <strong>der</strong> Zusammensetzung“, worunter er die „induktiv-deduktive<br />

<strong>Methode</strong>“ des Aristoteles versteht. Dies sei auch die <strong>Methode</strong> <strong>Galilei</strong>s.<br />

Nach Losee erfolgt das Vorgehen in zwei Schritten: „nämlich von den Beobachtungen zu<br />

allgemeinen Prinzipien und dann zurück zu Beobachtungen“ (S. 58). <strong>Galilei</strong> sei <strong>der</strong> Meinung<br />

gewesen, dass erklärende Prinzipien induktiv aus Beobachtungen gewonnen werden<br />

müssten. <strong>Galilei</strong> habe die Reichweite <strong>der</strong> induktiven <strong>Methode</strong> ausgedehnt indem er aus<br />

Reihen von Phänomenen Abstraktionen und Idealisierungen wie „ideales Pendel“ o<strong>der</strong><br />

„freier Fall im Vakuum“ extrapoliert habe. Von Bacon und Grosseteste habe <strong>Galilei</strong> dann<br />

die erweiterte <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> Zusammensetzung übernommen, welche darin bestehe, neue<br />

Konsequenzen abzuleiten, die nicht zu jenen gehören, welche ursprünglich zur induktiven<br />

Gewinnung <strong>der</strong> erklärenden Prinzipien benutzt worden waren. <strong>Galilei</strong> habe diese Verfahren<br />

angewandt, „als er aus seiner Hypothese, dass Geschosse eine parabolische Bahn<br />

durchlaufen, ableitete, dass die maximale Reichweite bei einem Abschusswinkel von 45°<br />

erreicht wird“ (S. 59). Bacon und Grosseteste haben zusätzlich die For<strong>der</strong>ung aufgestellt,<br />

die aus <strong>der</strong> Hypothese abgeleiteten Konsequenzen experimentell zu überprüfen. <strong>Galilei</strong>s<br />

Haltung zu dieser For<strong>der</strong>ung sei ambivalent gewesen, schreibt Losee. <strong>Galilei</strong> habe sich<br />

mehrheitlich positiv zu Experimenten geäussert, es gebe aber auch Stellen, wo <strong>Galilei</strong> das<br />

Experiment als nicht so wichtig bezeichne; und die selbe Ambivalenz gegenüber dem Experiment<br />

finde sich auch in <strong>Galilei</strong>s wissenschaftlicher Praxis und er kommt zum Schluss:<br />

7


„Trotz <strong>der</strong> zahlreichen Beschreibungen von anscheinend durchgeführten Versuchen, kann<br />

man nicht sagen, dass <strong>Galilei</strong> sich vollständig an die <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> experimentellen Bestätigung<br />

gebunden fühlte“ (S. 61), denn es gebe Fälle, in denen <strong>Galilei</strong> Erfahrungsdaten verwarf,<br />

die gegen seine Theorie zu sprechen schienen.<br />

Im Gegensatz zu Drake meint Losee, dass es <strong>Galilei</strong> aber schon um Erklärungen<br />

gegangen sei. Mit Ausnahme dieses Unterschieds sind ihre Ansichten ähnlich. Die <strong>Methode</strong>,<br />

die sie beschreiben, ist eine Art von Bestätigungsverfahren. Solche Verfahren sind alle<br />

mit Unsicherheit verbunden. Ihre Beschreibungen von <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> sind vielleicht gar<br />

nicht so falsch. Man wird vermutlich an einigen Stellen in <strong>Galilei</strong>s Werk <strong>–</strong> etwa beim Ostwindargument<br />

<strong>–</strong> zeigen können, dass <strong>Galilei</strong> oft auf <strong>der</strong> Suche nach bestätigenden Daten<br />

für seine Hypothesen wie z. B. die Erdbewegung war und alles ins Feld führte, was er dazu<br />

finden konnte. Abgesehen davon, dass man diese vermeintliche <strong>Methode</strong> gerne genauer<br />

beschrieben hätte und dass es fraglich ist, ob man wirklich von ‚<strong>der</strong> <strong>Methode</strong> <strong>Galilei</strong>s’<br />

sprechen kann, wenn man zeigt, dass er einige Male auf diese Weise verfahren hat, dürfte<br />

es sich wohl kaum um die <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft handeln; dies schon in<br />

Anbetracht, dass Losee selbst schreibt, es handle sich hier im Grunde um die <strong>Methode</strong> des<br />

Aristoteles.<br />

2.1.3 Klaus Fischer: axiomatisch-deduktives Räsonnieren<br />

Für Klaus Fischer (1983) ist die frühe in De motu vertretene und erkenntnisoptimistische<br />

<strong>Methode</strong> von <strong>Galilei</strong>, das „konsequente deduktive Räsonnieren, das we<strong>der</strong> mit dem<br />

äusseren Anschein noch mit Autoritäten Kompromisse eingeht“ (S. 50) das hervorstechendste<br />

und für den Erfolg <strong>Galilei</strong>s verantwortliche Merkmal seiner Denkweise. Experimentelle<br />

Tests von Theorien waren „nach <strong>Galilei</strong>s methodischem Verständnis we<strong>der</strong> zur<br />

Stützung <strong>der</strong> Theorie notwendig noch zu ihrer Verwerfung. Seine Vorgehensweise war<br />

axiomatisch orientiert“ (S. 53). Für <strong>Galilei</strong> habe ein Physiker in seiner Beweisführung<br />

ebenso wie <strong>der</strong> Mathematiker davon auszugehen, was keines Beweises bedurfte, also eindeutig<br />

klar und evident war. Folgerungen, die aus solchen Axiomen logisch korrekt abgeleitet<br />

werden, sind dann wahr. Empirische Argumente seinen dann höchstens noch nötig,<br />

um Leute zu überzeugen, die die Axiome noch nicht begriffen hätten o<strong>der</strong> zur Kritik von<br />

gegnerischen Hypothesen. Später in den Discorsi sei <strong>Galilei</strong> dann vorsichtiger geworden.<br />

Die Gültigkeit von Naturgesetzen sei für <strong>Galilei</strong> jetzt<br />

we<strong>der</strong> rein mathematisch noch auf empirischem Weg im strikten Sinne überprüfbar. Nur durch vielfältige<br />

gedankliche o<strong>der</strong> experimentelle Variation <strong>der</strong> störenden Randbedingungen und durch gezielte<br />

Suche nach Konvergenzen zu bestimmten Grenzwerten hin lassen sich die wahren Gründe <strong>der</strong> beobachtbaren<br />

Phänomene indirekt erschliessen. (S. 86)<br />

Nach Fischer fand <strong>Galilei</strong> seine Axiome nicht durch das Experiment. Die Konstruktion<br />

des Theoriegebäudes, die Wahl <strong>der</strong> grundlegenden Axiome und die Beweise <strong>der</strong> Theoreme<br />

und Propositionen erfolgten auf analytischem Wege. Beobachtbare Konsequenzen<br />

aus <strong>der</strong> Theorie <strong>–</strong> real o<strong>der</strong> phantasiert <strong>–</strong> bildeten die unverzichtbaren Kontaktstellen des<br />

theoretischen Gebäudes mit <strong>der</strong> Wirklichkeit. <strong>Galilei</strong> sei nicht <strong>der</strong> Induktivist, den die Wissenschaftshistoriographie<br />

des 19. und des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts aus ihm machen wollte. Aber er<br />

sei auch kein nur aus den geometrischen Formen deduzieren<strong>der</strong> Platonist gewesen, wie<br />

viele ihn im Anschluss an Alexandre Koyré gesehen hätten. Wer <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> verstehen<br />

wolle, <strong>der</strong> habe „in den Labors <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Hochenergiephysik und in dem dort zu<br />

findenden Wechselspiel von hochabstrakter Quantentheorie und hochgradig interpretati-<br />

8


onsbedürftigen Experimentalergebnissen ein vorzügliches Paradigma“ (S. 91). Fischers<br />

„Erläuterungen“ klären in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> galileischen <strong>Methode</strong> nicht sehr viel.<br />

2.1.4 Albrecht Fölsing: Empirie, Mathematik und Experiment<br />

Eine weitere Ansicht über <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> findet sich bei Albrecht Fölsing<br />

(1996). Fölsing geht zunächst von <strong>der</strong> Basis aus, dass die meisten Wissenschaftshistoriker<br />

bestätigen, dass <strong>Galilei</strong>s neue Wissenschaft alle Brücken zur Vergangenheit hinter sich<br />

abgebrochen habe (S. 25). Die mo<strong>der</strong>ne Wissenschaft <strong>–</strong> so Fölsing <strong>–</strong> „basiert auf Forschungsmethoden<br />

und Wahrheitskriterien, wie sie <strong>Galilei</strong> ‚erfunden’ und zugleich als brillanter<br />

Popularisator seinem und allen späteren Zeitaltern vorgestellt hat“ (S. 29). Fölsings<br />

Erläuterungen dazu bleiben allerdings im Nebulösen: Er spricht von einer „Kombination<br />

aus induktiven Elementen <strong>der</strong> Beobachtung mit mathematisch-deduktiven Schlussweisen“<br />

o<strong>der</strong> vom produktiven „Dreiklang von Sinneserfahrungen, mathematischer Spekulation<br />

und experimenteller Überprüfung“ (S. 311). Was darunter genau zu verstehen ist, wird<br />

nicht näher erläutert. Nach Fölsing war <strong>Galilei</strong> aber auch ein erkenntnistheoretischer Opportunist<br />

im Sinne Einsteins: „<strong>Galilei</strong> war auch darin <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Physik, dass er<br />

diesem ‚erkenntnistheoretischen Opportunismus’ gehuldigt und ihn in fröhlicher Unbekümmertheit<br />

in einer späteren kaum wie<strong>der</strong> erreichten Vollkommenheit praktiziert hat“ (S.<br />

176). Da scheint <strong>Galilei</strong> ein wahres Zauberstück vollbracht zu haben; einerseits <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong><br />

und Anwen<strong>der</strong> einer exakten <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong> zu sein, was per definitionem<br />

einem erkenntnistheoretischen Opportunismus wi<strong>der</strong>spricht, und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite ein begnadeter methodischer Opportunist. <strong>Galilei</strong> ist also auch ein grosser Magier.<br />

Eine ähnliche, aber ebenso unklare Ansicht über <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> wie Fölsing hat Störig<br />

(2007). Für das Auszeichnende an <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> sei Dreierlei hervorzuheben: Einmal<br />

die Rolle, die <strong>der</strong> Mathematik zugewiesen sei. Der zweite hervorzuhebende Zug sei die<br />

Rolle des Experiments. Doch könne man nicht sagen,<br />

<strong>Galilei</strong> sei ein ‚reiner Empiriker’ o<strong>der</strong> blosser Experimentator. Vielmehr <strong>–</strong> und das ist das dritte<br />

Kennzeichen <strong>–</strong> zeichnet sich seine Forschungsweise gerade durch die eigenartige und fruchtbare<br />

Verbindung aus, welche Induktion aus dem Experiment und mathematische Deduktion bei ihm eingehen.<br />

(S. 213)<br />

„Eigenartig“ ist diese <strong>Methode</strong> sicher, fruchtbar wohl weniger. Und mit allen bisher<br />

genannten hat sie gemein, dass nicht klar ist, wie sie genau funktioniert.<br />

2.1.5 Weitere Vorschläge<br />

Die Breite <strong>der</strong> Palette von Meinungen über <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> geht schliesslich so<br />

weit, dass ihm alle möglichen <strong>Methode</strong>n zugeschrieben worden sind. Während Ernst Mach<br />

in <strong>Galilei</strong> einen Empiristen gesehen hat, und Karl Popper <strong>Galilei</strong> auf seine Seite zog und<br />

über die von ihm favorisierte „rationalistische Tradition“ schreibt: „In <strong>der</strong> Renaissance<br />

wurde sie dann wie<strong>der</strong>gefunden und bewusst wie<strong>der</strong>belebt, beson<strong>der</strong>s von <strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong>“<br />

(2000, S. 222), haben an<strong>der</strong>e sich in nichtsagenden Plattheiten darüber ergangen, dass<br />

„what he was trying to do was reform the methods of natural philosophy by bringing together<br />

reason and sensory experience in the un<strong>der</strong>standing of what we observe“ (Sharratt,<br />

1994, S. 157).<br />

Zwei weitere Meinungen sind z. B. Fehér (1982) und Mertz (1982). Nach Mertz<br />

besteht <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> in <strong>der</strong> Benutzung von Mathematik und Experiment zusammen<br />

9


mit strukturellen Erklärungen nach McMullin (1978). Einige Autoren sprechen zwar nicht<br />

von <strong>der</strong> „<strong>Methode</strong> <strong>Galilei</strong>s“, bezeichnen aber sein Vorgehen <strong>–</strong> selbst wenn es in die Irre<br />

geführt hat <strong>–</strong> als rational. Dazu gehören z. B. Lakatos und Zahar (1975), Machamer (1973),<br />

Pitt (1988) und Thomason (1994). Gemäss Lakatos und Zahar war <strong>Galilei</strong>s Eintreten für<br />

den Kopernikanismus rational, weil <strong>der</strong> Kopernikanismus gegenüber dem ptolemäischen<br />

Weltbild überlegen war, wenn man ihn als Forschungsprogramm im Sinne <strong>der</strong> Autoren<br />

betrachtet. Ähnlich argumentiert Machamer. Für Thomason war <strong>Galilei</strong>s Vorgehen <strong>–</strong> wie<br />

es von Feyerabend (1977) beschrieben wird <strong>–</strong> deshalb rational, weil es sich dabei um die<br />

korrekte Anwendung von Bayes Theorem handelt. Es sei erlaubt, zu bemerken, dass einem<br />

solche Argumentationen in Staunen versetzen. Finden sich wirklich keine besseren Argumente<br />

für <strong>Galilei</strong> als Methodiker? Nach Pitt (1991) besteht <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> darin, Aussagen<br />

zu akzeptieren, die von einer geometrisch gefassten Theorie erklärt werden können.<br />

Diese These muss er allerdings durch Voraussetzung einer an<strong>der</strong>en These teuer bezahlen,<br />

nämlich <strong>der</strong> Behauptung, es gehe <strong>Galilei</strong> im Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme<br />

nicht darum, den Kopernikanismus zu beweisen, son<strong>der</strong>n seine <strong>Methode</strong> an einem<br />

terrestrischen Phänomen <strong>–</strong> den Tiden <strong>–</strong> zu entwickeln und anzuwenden. Damit falle denn<br />

auch <strong>der</strong> Vorwurf <strong>der</strong> Zirkularität weg. Ob diese These allerdings viele Anhänger gewonnen<br />

hat, ist zu bezweifeln. Ein weiterer Vorschlag stammt von Naylor (1990). Die <strong>Methode</strong><br />

von Analyse und Synthese <strong>–</strong> die <strong>Galilei</strong> von Guidobaldo del Monte übernommen haben<br />

soll <strong>–</strong> bestehe aus drei Schritten: Erstens die experimentelle Herstellung eines untersuchten<br />

Phänomens zur exakten Beschreibung. Der zweite Schritt ist „to consi<strong>der</strong> the phenomena<br />

being analyzed from a purely mathematical viewpoint“ (S. 700). Und <strong>der</strong> dritte Schritt soll<br />

darin bestehen, ein physikalisches Prinzip zu suchen, welches das Phänomen erklären<br />

kann. Ein beson<strong>der</strong>s simpler Vorschlag stammt von M. A. Finocchiaro (1974). Für ihn ist<br />

<strong>Galilei</strong> einfach ein „purer Logiker“: „In fact, the most striking feature of <strong>Galileo</strong>’s writings<br />

is their logical sophistication, so much so that it would be no exaggeration to assert that he<br />

was first and foremost a logician” (S. 130). Und da für Finocchiaro die wissenschaftliche<br />

Rationalität in nichts an<strong>der</strong>em besteht als in “logical reasoning”, ist <strong>Galilei</strong>s Vorgehen als<br />

wissenschaftliche <strong>Methode</strong> erkannt und gerechtfertigt. So erstaunt es nicht, dass Finocchiaro<br />

zu folgendem Urteil über den Dialog kommt: „the Dialogue is a work full of intricate<br />

and rigorous reasoning about qualitative matters and natural phenomena, and hence a<br />

mathematical work by the mo<strong>der</strong>n view, and hence a logical work in the sense of logical<br />

practice“ (S. 133). Dass <strong>Galilei</strong> gerade im Dialog mit dem Ostwindargument einen kapitalen<br />

logischen Fehler begangen hat, scheint Finocchiaro nicht zu bemerken. Ich werde weiter<br />

untern darauf zurückkommen.<br />

Wie wir sehen, handelt es sich hier um einen veritablen Gallieo-Methodik-<br />

Supermarkt mit reichhaltigem Angebot, wobei nicht <strong>der</strong> Anspruch erhoben werden soll,<br />

das gesamte Angebot referiert zu haben. Allen Ansichten ist gemeinsam, dass sie vage und<br />

unklar sind; keine einzige erläutert klar und nachvollziehbar die vermeintliche wissenschaftliche<br />

<strong>Methode</strong> von <strong>Galilei</strong>. Sie bleiben alle im Nebulösen o<strong>der</strong> picken sich ein einzelnes<br />

Beispiel aus <strong>Galilei</strong>s Werk heraus und verallgemeinern dieses, ohne davon zu reden,<br />

dass es auch Gegenbeispiele dazu gibt. Dabei ist es schon fast überflüssig, zu erwähnen,<br />

dass sich die meisten Autoren untereinan<strong>der</strong> nicht einig sind und je<strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Meinung<br />

hat. Der Grund für diese Meinungsvielfalt liegt in <strong>der</strong> von allen Forschern verwendeten<br />

unbrauchbaren Bestätigungsmethode. Ein willkürlich aus <strong>Galilei</strong>s Werk herausgepflücktes<br />

Beispiel wird auf das methodische Vorgehen hin analysiert und das Gefundene<br />

als <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> präsentiert. Vergessen geht dabei, dass Bestätigung eine riskante <strong>Methode</strong><br />

ist, lässt sich doch bekanntlich mit Einzelbeispielen sehr vieles bestätigen. Daher<br />

verwun<strong>der</strong>t die Vielfalt <strong>der</strong> Meinungen nicht.<br />

10


Die Existenz dieser Meinungsvielfalt erlaubt zwei mögliche Interpretationen: die<br />

erste lautet, dass die bisherige <strong>Galilei</strong>-Forschung ihr Ziel noch nicht erreicht hat und weitere<br />

tiefschürfende <strong>Galilei</strong>-Exegese betrieben werden muss, um die eine wahre <strong>Methode</strong> von<br />

<strong>Galilei</strong> zu finden; die an<strong>der</strong>e geht davon aus, dass <strong>der</strong> Grund, warum bisher keine Einigkeit<br />

über <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> zustande kam, darin liegt, dass es eine solche <strong>Methode</strong> ganz einfach<br />

nicht gibt. Nach solch ausführlicher Beschäftigung so vieler Forscher mit dieser Frage,<br />

kann es kaum sein, dass diese <strong>Methode</strong> bis heute nicht gefunden worden wäre. Es gibt<br />

eben keine und das ist die These dieser Arbeit. Konzessionen seien höchstens an Aussagen<br />

wie die von Hall (1967) gemacht: „<strong>Galileo</strong>’s ideas on procedure and epistemology were, I<br />

am sure, confused and inconsistent“ (S. 71), aber eine konfuse und inkonsistente <strong>Methode</strong><br />

ist keine <strong>Methode</strong>. Natürlich hat <strong>der</strong> Vertreter dieser Position mit <strong>der</strong> prinzipiellen Schwierigkeit<br />

zu kämpfen, dass man die Nichtexistenz eines Gegenstandes nicht beweisen kann,<br />

denn die Behauptung, es gebe eine galileische <strong>Methode</strong> ist eine sogenannte existentielle<br />

Hypothese. Solche Hypothesen behaupten einen Sachverhalt über mindestens einen Gegenstand<br />

o<strong>der</strong> einen Fall. Aussagen wie „es gibt Neutrinos“, „es gibt einen Gott“ o<strong>der</strong> eben<br />

„es gibt eine galileische <strong>Methode</strong>“ gehören zu diesen Hypothesen. Existentielle Hypothesen<br />

sind aber nicht falsifizierbar, son<strong>der</strong>n nur verifizierbar (Huber 1987, S. 49). Das heisst,<br />

dass man nur nachweisen kann, dass es eine galileische <strong>Methode</strong> gibt, aber nicht, dass es<br />

keine gibt und dass man im Grunde nur darauf hoffen kann, dass nach lang andauern<strong>der</strong><br />

und erfolgloser Suche niemand mehr an das gesuchte Objekt glaubt. Es verhält sich ähnlich<br />

wie mit <strong>der</strong> Suche nach dem Schneemenschen; irgendwann nach verschiedenen erfolglosen<br />

Suchexpeditionen ist niemand mehr von seiner Existenz überzeugt, auch wenn seine Nichtexistenz<br />

nicht bewiesen wurde. Ein Beispiel aus <strong>der</strong> Physik wäre die Suche nach dem<br />

Äther. Dass es ihn nicht gibt, ist nicht <strong>–</strong> wie oft behauptet <strong>–</strong> bewiesen, aber seine Annahme<br />

wurde aufgegeben, weil einmal die Suche nach ihm erfolglos war und weil man mittlerweile<br />

ohne ihn auskommt. Der <strong>Galilei</strong>-<strong>Methode</strong> kann also höchstens das gleiche Schicksal<br />

wi<strong>der</strong>fahren wie <strong>der</strong> Existenz des Äthers. Der bisherige Misserfolg bei <strong>der</strong> Suche nach <strong>Galilei</strong>s<br />

<strong>Methode</strong> wäre vermutlich schon Grund genug, die Nichtexistenz dieser <strong>Methode</strong> anzunehmen<br />

und die Arbeit gleich hier zu beenden. Ich meine aber, dass man das Ende <strong>der</strong><br />

Diskussion ein für alle Mal besiegeln kann, nicht nur mit dem Hinweis auf die fehlende<br />

Unterstützung für das Pro, son<strong>der</strong>n auch mit einem gut begründeten Argument für das<br />

Kontra. Denn man sollte Eines nicht ausser acht lassen, nämlich, dass alle Behauptungen<br />

über die vermeintliche <strong>Methode</strong> <strong>Galilei</strong>s an einer Schwäche leiden: es lässt sich für jede<br />

These irgendein Beispiel aus dem Werk <strong>Galilei</strong>s anführen, wo <strong>Galilei</strong> genau im Sinne <strong>der</strong><br />

Behauptung vorgegangen ist. Bestätigungen lassen sich <strong>–</strong> wie Karl Popper sagte <strong>–</strong> immer<br />

finden. Es ist daher unerlässlich, auf Beispiele aus <strong>Galilei</strong>s Werk zu schauen, bei welchen<br />

er nicht in <strong>der</strong> selben Weise vorgegangen ist. Nur so erkennt man das Fehlen einer brauchbaren<br />

<strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong>. Am besten versucht man an einem Beispiel zu zeigen,<br />

dass <strong>Galilei</strong>s Vorgehen jede wissenschaftliche Methodik vermissen lässt. Bevor ich aber<br />

<strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-<strong>Methode</strong> den definitiven Todesstoss versetze, will ich mich noch mit einigen<br />

zentralen Behauptungen <strong>der</strong> Heldenthese auseinan<strong>der</strong>setzen.<br />

2.2 <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> „Empiriker“<br />

Eine häufig geäusserte Ansicht über <strong>Galilei</strong> als Wissenschaftler ist die Behauptung,<br />

<strong>Galilei</strong> unterscheide sich von früheren Wissenschaftlern und vor allem von den Scholastikern<br />

dadurch, dass er sich von <strong>der</strong>en reinem Spekulieren und Theoretisieren gelöst habe<br />

und Sinneswahrnehmung und Beobachtung den Vorrang gegeben habe. Ein klassisches<br />

Beispiel für diese Auffassung ist Alfred North Whitehead (1949). <strong>Galilei</strong>s „historische<br />

11


Revolte“, die Gründung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft gingen von „Tatsachen“ aus. Er<br />

schreibt über <strong>Galilei</strong>:<br />

<strong>Galilei</strong> beharrt auf ‚endgültigen und rohen Tatsachen’, und Simplizius, sein Gegner, bringt Gründe<br />

vor, die vollkommen befriedigend sind <strong>–</strong> wenigstens für ihn selbst. Es ist ein grosser Irrtum, diese<br />

historische Auflehnung als einen Appell an die Vernunft verstehen zu wollen. Im Gegenteil, es war<br />

eine durch und durch anti-intellektualistische Bewegung. Es war die Rückkehr zu <strong>der</strong> Betrachtung<br />

nackter Tatsachen; und ein Zurückschrecken vor <strong>der</strong> unbeugsamen strengen Rationalität des mittelalterlichen<br />

Denkens. (S. 11)<br />

Ein an<strong>der</strong>er Vertreter dieser Ansicht ist Johannes Hemleben (2002, erste Auflage<br />

1969). Er schreibt:<br />

<strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> war als Mensch und Forscher die repräsentative Persönlichkeit für den von <strong>der</strong><br />

natur<strong>wissenschaftlichen</strong> Forschungsmethode ergriffenen neuzeitlichen Menschen. Kopernikus hatte<br />

sein Weltbild noch primär durch Denken und nicht durch Beobachten gefunden. Seine Seelenhaltung,<br />

auch im Forschen, war <strong>der</strong> im Mittelalter geübten und herrschenden Scholastik verwandt. Erst<br />

in <strong>Galilei</strong> trat <strong>der</strong> Mensch auf den Plan, <strong>der</strong> dem Denken die Sinnesbeobachtung voraus gehen<br />

lässt. (S. 12)<br />

An die Stelle <strong>der</strong> Offenbarung durch die heiligen Schriften und die Lehre <strong>der</strong> Kirchenväter<br />

gelte für diesen neuen Menschentypus als Objekt <strong>der</strong> Erkenntnis die offenbare<br />

Natur, soweit sie den menschlichen Sinnesorganen und ihren Hilfsmitteln zugänglich seien.<br />

<strong>Galilei</strong> tritt an als Vertreter einer neuen Haltung, gegen die vor seiner Zeit herrschende<br />

un- o<strong>der</strong> sogar antiempirische spekulative Sicht von Wissenschaft, o<strong>der</strong> kurz gesagt, er ist<br />

<strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen empirischen Wissenschaft. So sehen es zumindest mo<strong>der</strong>ne<br />

Empiristen wie z. B. Ernst Mach (1920): „Eben indem er sich auf die Beobachtung stützt,<br />

wird <strong>Galilei</strong> zum Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Physik“ (S. 140). Auch für Rudolf Carnap<br />

(1966) ist <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen empirischen Wissenschaft: „Obwohl viele<br />

von <strong>Galilei</strong>s Begriffen vorher nur als theoretische Begriffe formuliert worden waren, war<br />

er <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> eine theoretische Physik auf eine feste empirische Grundlage stellte“ (S.<br />

244). In das selbe Horn bläst auch Stillman Drake (1967):<br />

It is probably to <strong>Galileo</strong>’s inherent capacity to observe that mo<strong>der</strong>n science owes his inception; for<br />

despite his extraordinary capacity for reasoning, he turned away from excessive speculation about<br />

the causes of things in the tradition of philosophers. His desire was to see precisely what things happen<br />

and how they happen, rather than to explain why they happen so. (S. 66)<br />

Diese Meinung wird auch heute noch verbreitet. So schreibt z. B. Bellone (2002):<br />

Als <strong>Galilei</strong> den Wert <strong>der</strong> „sinnlichen Wahrnehmung“ als Basis <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Erkenntnis<br />

betonte, ging es ihm nicht um die revolutionäre Entdeckung einer neuen experimentellen <strong>Methode</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n um traditionellen Empirismus im Sinne des Aristoteles. <strong>Galilei</strong> räumte <strong>der</strong> Beobachtung <strong>der</strong><br />

Phänomene eine vorrangige Stellung ein. (S. 20)<br />

<strong>Galilei</strong> habe auch im Dialog die „Welt <strong>der</strong> Bücher“ zugunsten <strong>der</strong> „Welt <strong>der</strong> Wahrnehmung“<br />

zurückgewiesen und damit auch den Dogmatismus <strong>der</strong> aristotelischen Gelehrten.<br />

Diese Philosophen würden in einem sterilen Universum <strong>der</strong> Bücher leben und die Augen<br />

vor einer sinnlichen Welt verschliessen, die selbst Aristoteles anerkannt hätte. <strong>Galilei</strong>s<br />

Dialog <strong>–</strong> so Bellone <strong>–</strong> sei dagegen das Resultat jahrzehntelanger Forschungen <strong>–</strong> Beobachtungen<br />

und Experimenten. Ähnlich sieht es Strong (1967). Für <strong>Galilei</strong> habe es nicht ausgereicht,<br />

die Wissenschaft mit <strong>der</strong> Mathematik zu verbinden. Die Aufgabe des Physikers sei<br />

nach <strong>Galilei</strong> „to stay as close to the empirical as he can“ (S. 357). Aus Aussagen <strong>Galilei</strong>s<br />

aus den Discorsi zieht Strong die Schlussfolgerung: „It is quite clear from these passages<br />

that the verification of a principle of physics involved, for <strong>Galileo</strong>, its testing in the empiri-<br />

12


cal or<strong>der</strong>” (S. 357). Für <strong>Galilei</strong> habe die neue Mechanik eines Mittels <strong>der</strong> Verifikation auf<br />

Basis exakter Messungen bedurft: „What had to be done, then, was to bring all the previous<br />

discussions in mechanics to the level of measurement and trial“ (S. 362). <strong>Galilei</strong>s Beitrag<br />

liege “in the new procedures that provided an empirical base for physics that it had<br />

never before possessed” (S. 362). In völligem Gegensatz dazu werden die Professoren beschrieben:<br />

“In ihren Vorlesungen kommentieren sie nur die Werke antiker Autoren, vor<br />

allem die des Aristoteles, <strong>der</strong> im 4. Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr. lebte“ (Maury 1990, S. 16).<br />

Dieser Auffassung möchte ich drei Einwände gegenüberstellen, welche die Unhaltbarkeit<br />

dieser These belegen sollen. Zuerst einmal ist nicht klar, was die These überhaupt<br />

sagt. Der zweite Einwand bestreitet schlicht und einfach, dass <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> erste Forscher<br />

war, <strong>der</strong> die Erfahrung in die Forschung miteinbezogen hat und <strong>der</strong> dritte lautet, dass <strong>Galilei</strong><br />

selbst nicht frei war von <strong>der</strong> vielfach kritisierten Spekulation und Dogmatik o<strong>der</strong> zumindest<br />

die Erfahrung nicht immer berücksichtigt hat.<br />

Als Erstes ist zu sagen, dass nicht klar ist, was hier unter „Empirismus“ verstanden<br />

wird. Wenn etwa Ernst Mach sagt, dass <strong>Galilei</strong> dadurch <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuen Physik<br />

sei, dass er sich auf die „Beobachtung“ stütze, ist das eine sehr unklare Aussage, die nicht<br />

sagt, was mit „Beobachtung“ gemeint ist und in welcher Weise sich <strong>Galilei</strong> auf diese stützt.<br />

Das selbe gilt für Carnaps Ausdruck „feste empirische Grundlage“. Unterstellen Mach und<br />

Carnap hier <strong>Galilei</strong> ihre eigene Form von Positivismus? Noch vager ist Hemlebens Aussage,<br />

<strong>Galilei</strong> habe „dem Denken die Sinneswahrnehmung vorausgehen lassen“; und auch<br />

Whiteheads „Rückkehr zu den nackten Tatsachen“ bleibt diffus. Diese Aussagen beziehen<br />

sich vermutlich nicht auf eine ganz bestimmte philosophische Richtung o<strong>der</strong> Variante des<br />

Empirismus, son<strong>der</strong>n eher auf eine diffuse Bedeutung von „Sinneswahrnehmung“. Es soll<br />

vermutlich ausgesagt werden, dass <strong>Galilei</strong> sich mehr als seine Vorgänger auf Beobachtung<br />

gestützt habe. Es wird aber nicht spezifiziert, was denn unter Beobachtung genau zu verstehen<br />

sei und welche Rolle sie wo im Prozess <strong>der</strong> Forschung spielen soll. Auch Drakes<br />

Beschreibung von <strong>Galilei</strong>s „Empirismus“ als “desire to see precisely what things happen<br />

and how they happen” ist nicht gerade sehr präzis; ebensowenig Bellones Hinweis auf den<br />

„traditionellen Empirismus im Sinne Aristoteles“. Alle diese Aussagen sind einfach zu<br />

vage, um <strong>Galilei</strong>s vermeintlichen Empirismus klar charakterisieren zu können.<br />

Für meinen zweiten Einwand sei die These noch einmal genannt: <strong>Galilei</strong> soll <strong>der</strong><br />

erste Wissenschaftler gewesen sein, welcher <strong>der</strong> Beobachtung in <strong>der</strong> Wissenschaft eine<br />

wichtige Rolle zugewiesen hat. Vor ihm hat es nur Spekulanten und Theoretiker gegeben,<br />

die bar jedes Naturbezugs geistige Luftschlösser errichtet haben sollen. Ein kurzer Blick in<br />

die Geschichte <strong>der</strong> Wissenschaft zeigt, dass hier die <strong>Galilei</strong>-Hagiographik buchstäblich auf<br />

die Spitze getrieben wird.<br />

Wenn es stimmt, dass vor <strong>Galilei</strong> nur spekuliert worden ist, dann ist die Spekulation<br />

eine recht erfolgreiche <strong>Methode</strong>, denn einige Denker haben es damit recht weit gebracht.<br />

Thales von Milet (ca. 640 - ca. 546 v. Chr.) z. B. konnte schon die Sonnenfinsternis von<br />

585 v. Chr voraussagen. Grosse Bewun<strong>der</strong>ung verdienen auch die antiken Astronomen, die<br />

aus ihrem Studierstübchen heraus immerhin eine Kosmologie ‚erspekuliert’ haben, die<br />

tausend Jahre Bestand hatte. So weit hat es <strong>der</strong> „Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft“<br />

nicht gebracht. Eine empirische Komponente in <strong>der</strong> Wissenschaft hat es schon in <strong>der</strong> Antike<br />

gegeben. Stückelberger (1988) schreibt über die antike Wissenschaft:<br />

Neben dieser theoretischen Tendenz, welche die ganze Zeit <strong>der</strong> Antike hindurch von eminenter Bedeutung<br />

blieb, ist auch eine auffallende Liebe zum gegenständlichen Detail, eine ausgesprochene<br />

Freude am Beobachten, Ausprobieren und sogar eigentlichen Experimentieren nicht zu übersehen. . .<br />

.. Schon in <strong>der</strong> ältesten Naturphilosophie finden sich Versuche, gewissermassen von <strong>der</strong> Theorie ei-<br />

13


ne Brücke zur sinnlich wahrnehmbaren Welt zu schlagen und Naturbeobachtungen heranzuziehen.<br />

(S. 135)<br />

Für empiristische Haltungen und für Richtungen und Schulen, die die Theorie zu<br />

Gunsten <strong>der</strong> Empirie vernachlässigt haben, lassen sich verschiedene Beispiele nennen. Es<br />

ist auch gar nicht vorstellbar, wie man z. B. Astronomie o<strong>der</strong> Geographie als reine theoretische<br />

Disziplin hätte betreiben wollen. An <strong>der</strong> Weltkarte des Ptolemaios (2. Jh. n. Chr.)<br />

lässt sich doch recht gut zeigen, welche Angaben empirischen und welche spekulativen<br />

Ursprungs sind. Und auch auf seinem zweiten Fachgebiet, <strong>der</strong> Astronomie, war Ptolemaios<br />

mitnichten ein Studierstübchenspekulant. Im ersten Buch des Handbuchs <strong>der</strong> Astronomie <strong>–</strong><br />

dem sogenannten Almagest <strong>–</strong> schreibt Ptolemaios (1963) über sein Vorgehen bei <strong>der</strong> Darstellung<br />

seiner Theorie:<br />

Jeden <strong>der</strong> hier vorgelegten Abschnitte werden wir dem Verständnis zugänglich zu machen suchen,<br />

indem wir als Ausgangspunkte und gewissermassen als Grundlagen für die Aufstellung <strong>der</strong> Theorien<br />

die augenfälligen Himmelserscheinungen heranzuziehen und ausschliesslich solche Beobachtungen<br />

benutzen, die mit zweifelloser Sicherheit sowohl von den Alten als auch zu unserer Zeit angestellt<br />

worden sind. (S. 5f.)<br />

Ptolemaios wusste sehr wohl, aus verschiedenen Beobachtungen clevere Schlüsse<br />

zu ziehen und es ist ein Lesevergnügen, wie er aus indirekten Beobachtungen die Kugelgestalt<br />

<strong>der</strong> Erde erschliesst, ja sogar erschliessen muss, weil ihm die Beobachtungen keine<br />

an<strong>der</strong>e Möglichkeit zulassen:<br />

So musste man für den ersten Anfang einzig durch <strong>der</strong>artige Wahrnehmungen auf den oben ausgesprochenen<br />

Gedanken <strong>der</strong> Kugelgestalt verfallen, nachgerade auch bei fortgesetzter Betrachtung<br />

auch die weiteren Konsequenzen aus diesen Beobachtungen ziehen. Denn schlechthin alle Himmelserscheinungen<br />

legen Zeugnis dafür ab, dass eine an<strong>der</strong>e Auffassung unzulässig ist. (S. 7)<br />

Dass es in <strong>der</strong> Antike nicht nur die idealistische Philosophie Platons (427/8-347/8<br />

v. Chr.) gab, son<strong>der</strong>n auch eine empiristische Philosophie, erwähnt auch Paul Lorenzen<br />

(1960). Bereits Aristoteles (384-322 v. Chr.) sei „unplatonisch“ gewesen, weil seine Bemühungen<br />

vor allem den empirischen Wissenschaften gegolten habe:<br />

Sicherlich machte sich hier <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong> hippokratischen Medizin bemerkbar <strong>–</strong> <strong>der</strong> Vater von<br />

Aristoteles war ja Leibarzt von Philipp von Mazedonien gewesen. Diese unplatonische Tendenz verstärkte<br />

sich bei dem Nachfolger von Aristoteles, Theophrast, und wurde bei dessen Nachfolger, Straton,<br />

geradezu zu einem metaphysik-feindlichen Empirismus. (S. 109) 6<br />

Neben <strong>der</strong> Astronomie zeigte auch die antike Medizin schon früh antispekulative<br />

Einstellungen. Sie war denn auch die erste Fachwissenschaft, die sich gegen Ende des 5.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts aus <strong>der</strong> Umklammerung <strong>der</strong> Philosophie löste. Stückelberger verweist auf<br />

eine Schrift aus dem Corpus Hippocraticum am Ende des 5. Jh., „die sich in polemischem<br />

Ton von aller philosophischen Spekulation lossagt und eine eigenständige pragmatische<br />

Medizinwissenschaft propagiert“ (1988, S. 40). Und unter den alexandrinischen Ärzten<br />

soll es eine Gruppe gegeben haben, die noch über die Hippokratiker hinausgegangen seien,<br />

und für die sich die Medizin hauptsächlich auf einem empirischen Fundament aufbaute.<br />

Mayer-Steineg und Sudhoff (2006) nennen sie denn auch „die Empiriker“:<br />

6 Straton (340-270 v. Chr.) hat bereits erkannt, dass fallende Gegenstände sich beschleunigen. Dieses Verdienst<br />

kommt daher nicht <strong>Galilei</strong> zu. Stratons Erkenntnis konnte sich lediglich nicht gegen die geistige<br />

Übermacht des Aristoteles durchsetzen, <strong>der</strong> eine konstante Fallgeschwindigkeit annahm.<br />

14


Sie setzten <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung einer <strong>wissenschaftlichen</strong> Behandlung <strong>der</strong> Medizin den Standpunkt <strong>der</strong> reinen<br />

Erfahrung entgegen. Sie erklärten sich durchaus unbefriedigt durch eine <strong>Methode</strong>, die zwar über<br />

mancherlei naturwissenschaftliche Probleme gewisse theoretische Aufschlüsse geben zu können<br />

versprach, aber <strong>–</strong> nach ihrer Meinung <strong>–</strong> damit keinerlei zuverlässige Unterlagen für die praktische<br />

Krankenbehandlung schuf. (S. 63)<br />

Der oben erwähnte Straton, meistens „<strong>der</strong> Physiker“ genannt, machte auch bereits<br />

Experimente, mit denen er gegen Aristoteles die Möglichkeit eines Vakuums belegen wollte.<br />

Empiristische Einstellungen finden sich auch in <strong>der</strong> arabischen Wissenschaft des<br />

Mittelalters, die sich wie die mo<strong>der</strong>ne abendländische Wissenschaft <strong>–</strong> die sie zudem beeinflusst<br />

hat <strong>–</strong> auch auf die Wissenschaft <strong>der</strong> Griechen stützt. 7 Als Beispiel seien zwei <strong>der</strong><br />

berühmtestem islamischen Wissenschaftler des Mittelalters genannt. Der irakische Naturforscher<br />

Abu Ali al-Hasan ibn al-Hasan ibn al-Haitam (ca. 965-1041) <strong>–</strong> latinisiert Alhazen<br />

<strong>–</strong> führte empirische Argumente gegen eine bestimmte optische Theorie ins Feld; er war<br />

sozusagen ein Falsifikationist avant la lettre. Alt (2002) schreibt über Alhazen, seine Optik<br />

zeige,<br />

dass kritische Argumente auch <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>legung von Theorien dienten. Er setzte sich mit zwei überlieferten<br />

Theorien des Sehens auseinan<strong>der</strong>. Eine davon behauptet, dass das menschliche Auge Strahlen<br />

o<strong>der</strong> Partikel <strong>–</strong> o<strong>der</strong> gar kleine Bil<strong>der</strong> <strong>–</strong> von den Gegenständen empfängt. Eine konkurrierende<br />

Theorie, die auf Euklid zurückgeht, nimmt an, das Auge leuchte die Welt aus. Die Augen bilden einen<br />

Lichtkegel, <strong>der</strong>, einem Scheinwerfer gleich, die Welt abtastet. Alhazen führte gegen diese Theorie<br />

empirische Indizien ins Feld. (S. 60)<br />

Alhazen wollte sich nicht auf die philosophische Spekulation allein verlassen und<br />

konsequent die sinnliche Erfahrung mit einbeziehen. Gotthard Strohmaier, ein Spezialist<br />

für arabische Wissenschaft, schreibt über den Forscher Alhazen: „Er bekannte, wie er sich<br />

von <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> religiösen Lehrmeinungen abgestossen fühlte und dass er die Wahrheit<br />

nur dort zu finden glaubte, wo sinnliche Erfahrung und ihre rationale Wi<strong>der</strong>spiegelung<br />

zusammengehen“ (2004, S. 90). Strohmaier weist zudem darauf hin, dass Alhazen als erster<br />

Forscher systematisch Experimente durchgeführt hat <strong>–</strong> 600 Jahre vor <strong>Galilei</strong>, <strong>der</strong> gemeinhin<br />

als Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Experimentalphysik gilt. Störig (2007) bestätigt diese Aussage:<br />

„Mit Alhazen beginnt die Wissenschaft <strong>der</strong> Optik ihre Gestalt als mo<strong>der</strong>ne Experimentalwissenschaft<br />

anzunehmen (also Jahrhun<strong>der</strong>te vor Bacon und <strong>Galilei</strong>, mit denen man gemeinhin<br />

das Zeitalter <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Experimentalwissenschaft beginnen lässt)“ (S. 133).<br />

Der persische Astronom und Übersetzer Abu ’r-Raihan Muhammad ibn Ahmad Al-<br />

Biruni (973-1048) kann gemäss Strohmaier (1988) als <strong>der</strong> bedeutendste islamische Wissenschaftler<br />

des Mittelalters betrachtet werden. Am 24. Mai 997 ermittelte Al-Biruni anhand<br />

einer Mondfinsternis den Längengrad mit 15 Grad zwischen Bagdad und Kath (Usbekistan),<br />

was einer Stunde entspricht. Der heutige Wert beträgt 1 h und 5 min. Er war<br />

auch <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> nach heutiger Kenntnis einen echten Erdglobus hergestellt hat. Mit einer<br />

damals neuen <strong>Methode</strong> ergab seine Messung des Erdumfangs einen Erdradius von 6340<br />

km, am Äquator, was dem heutigen Wert von 6378 erstaunlich nahe kommt. Lei<strong>der</strong>, o<strong>der</strong><br />

vielleicht zum Glück, kannte Kolumbus diesen Wert nicht, er hätte ihm den Mut zur Weltumsegelung<br />

gewiss genommen. Aus Al-Birunis Reisen in Indien resultierte ein Buch, „das<br />

in seiner Objektivität und seinem Materialreichtum we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Antike noch im Mittelalter<br />

und auch bis weit in die Neuzeit nicht seinesgleichen hat und als Quelle von <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>-<br />

7 Einen kurzen Überblick über die islamische Wissenschaft bieten z. B. Störig (2007, S. 124-143), Lindberg<br />

(2000, S. 169-189) o<strong>der</strong> Benoît und Micheau (1998).<br />

15


nen Indologie hoch geschätzt wird“ (Strohmaier 1988, S. 25). Wie mo<strong>der</strong>n Al-Biruni bereits<br />

dachte, zeigen seine Thesen, dass die Kühe in Indien wegen ihrer wirtschaftlichen<br />

Bedeutung heilig seien und dass das Kastenwesen eine Einrichtung sei, mit <strong>der</strong> sich die<br />

alten Könige die Beherrschung ihrer Untertanen erleichtern wollten. Auf solche elaborierte<br />

religionssoziologische Thesen musste man dann wie<strong>der</strong> 800 Jahre bis zu Marx und Engels<br />

warten. Sie übersteigen bei weitem den geistigen Horizont unseres Helden aus Florenz.<br />

Wie es unter den alexandrinischen Medizinern Empiristen gegeben hat, so auch<br />

unter den islamischen Ärzten des Mittelalters. Hervorgehoben sei hier <strong>der</strong> persische Arzt<br />

Abu Bakr Mohammad Ibn Zakariya al-Razi (um 864-930), latinisiert Rhazes. Mayer-<br />

Steineg und Sudhoff (2006) zählen ihn zu den bedeutendsten Ärzten aller Zeiten: „Neue<br />

Krankheiten haben die Araber erkannt, erfasst und geschil<strong>der</strong>t, die den Griechen entgangen<br />

waren, und das ist zweifellos ein Grosses, das sich an ihrem bedeutendsten Arzt Ar-Razi<br />

vor allem knüpft“ (S. 109). Als grosser Empiriker gilt er auch, weil er Experimente machte,<br />

um medizinische Aussagen zu überprüfen. Er soll auch die Alkoholdestillation aus<br />

Wein entdeckt haben und den Alkohol zur Desinfektion benutzt haben. Erwähnenswert ist<br />

noch, dass er nach Al-Kindi <strong>der</strong> zweite grosse Philosoph des Islam war. Er war kritisch<br />

gegenüber <strong>der</strong> Religion und trat als erster arabischer Philosoph für die Trennung von Religion<br />

und Philosophie ein. Er lehnte jegliches Wissen aus Offenbarung ab, weil <strong>der</strong> Mensch<br />

<strong>–</strong> eine von Gott geschenkte <strong>–</strong> natürliche Erkenntnisfähigkeit hat. Es gab für ihn daher keine<br />

Offenbarung und in <strong>der</strong> Folge auch keine Propheten. Moses, Jesus, Mohammed etc, die<br />

Propheten sein wollten, sind daher nur Scharlatane. Wo müssen wir im christlichen Abendland<br />

um diese Zeit eine solche Geistesgrösse suchen? Jedenfalls kann <strong>Galilei</strong> in dieser Angelegenheit<br />

<strong>–</strong> Trennung von Religion und Wissenschaft <strong>–</strong> für einmal nicht die Priorität für<br />

sich in Anspruch nehmen.<br />

Das muslimische Spanien hat ebenfalls grosse Denker und Wissenschaftler hervorgebracht:<br />

„Sie haben den tiefgreifendsten Einfluss auf die Zivilisation des Orients und des<br />

Okzidents ausgeübt“ schreibt André Clot (2004, S. 211). Diese Epoche habe auf allen Wissensgebieten<br />

bedeutende Gelehrte hervorgebracht, so auch in <strong>der</strong> Medizin. Einer von ihnen,<br />

Az Zahrawi, genannt Albucasis <strong>–</strong> geboren in <strong>der</strong> Nähe von Cordoba <strong>–</strong> gilt als <strong>der</strong><br />

grösste Kliniker <strong>der</strong> Epoche. Auch er war mitnichten ein Theoretiker ohne Bezug zur Erfahrung.<br />

Clot beschreibt seine Leistungen folgen<strong>der</strong>massen:<br />

In einem medizinischen Kompendium von dreissig Bänden, dem Tasrif, behandelt er die Krankheiten,<br />

ihre Symptome, ihre Behandlung sowie auch ihre operative Behandlung und wendet dabei das<br />

gesamte medizinische Wissen an, von Paulos von Aigina in <strong>der</strong> Antike bis zur arabischen Heilkunst<br />

<strong>der</strong> Gegenwart. Er beschreibt auch die Lepra, die Bluterkrankheit, Fisteloperationen, Trepanationen,<br />

chirurgische Nähte und befasst sich mit den Bissen <strong>der</strong> schwarzen Ameise. Er war <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> zu<br />

chirurgischen Behandlungen griff, er brannte Wunden aus, nähte Arterien zusammen, führte Operationen<br />

am Rücken und am Auge durch. Er befürwortete das Studium <strong>der</strong> Anatomie und das Sezieren<br />

von Leichen. Seine Diagnostik stützte er auf die Röte und die Blässe des Gesichts, auf Magerkeit,<br />

den Puls, den Urin etc. Die Medizin des Albucasis zeichnet sich somit durch klinische Beobachtungen<br />

aus, er betreibt eine konkrete empirische Heilkunde, während im Gegensatz dazu die Medizin<br />

<strong>der</strong> Griechen häufig einen allgemeinen, theoretischen Charakter hatte. (S. 213f.)<br />

Der Weg des Einbezugs <strong>der</strong> Erfahrung sei von <strong>der</strong> europäischen Wissenschaft immer<br />

konsequenter beschritten worden <strong>–</strong> nicht zuletzt auch wegen des Einflusses <strong>der</strong> arabischen<br />

Wissenschaft:<br />

In den Naturwissenschaften verän<strong>der</strong>ten die umfangreichen Kenntnisse <strong>der</strong> Muslime und die Systematik<br />

des Aristoteles den Charakter <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Erkenntnis. Nicht mehr ausschliesslich<br />

als Deduktion aus einem religiösen Weltbild, son<strong>der</strong>n induktiv und durch Erfahrungsnähe sollte die<br />

Welt erschlossen werden. (Hendrich, 2005, S. 137)<br />

16


Dieser Ausblick in die Wissenschaftsgeschichte könnte gewiss zu einer weitreichenden<br />

Darstellung erweitert werden. Wir wollen aber hier abbrechen, weil wir nämlich<br />

das Ziel bereits erreicht haben; Wir sehen, dass es bereits lange vor <strong>Galilei</strong> Denker und<br />

Forscher gegeben hat, welche die sinnliche Erfahrung als Erkenntnisquelle in die Forschung<br />

miteinbezogen haben. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass es auch Wissenschaftler<br />

gegeben hat <strong>–</strong> und dazu gehören sicher die scholastischen Aristoteliker zu <strong>Galilei</strong>s Zeit <strong>–</strong>,<br />

die Wissenschaft als rein theoretisches Fach betrachtet haben und die Erfahrung zuwenig<br />

gewürdigt haben. Wenn <strong>Galilei</strong> diese Leute kritisiert, so hat er gewiss unsere Unterstützung<br />

und unsere Sympathie. Das darf aber nicht dazu führen, die Tatsachen nicht zu sehen<br />

und aus <strong>Galilei</strong> einen Helden zu machen, <strong>der</strong> er nicht war. Es wäre zudem <strong>der</strong> Frage etwas<br />

tiefer nachzugehen, ob o<strong>der</strong> wie weit diese sogenannten peripatetischen Büchergelehrten<br />

wirklich allen empirischen Argumenten verschlossen waren. Denn auch das aristotelische<br />

Weltbild konnte sich auf gewisse Beobachtungen zu seinen Gunsten stützen.<br />

Mein dritter Einwand gegen die These, dass <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

empirischen Wissenschaft ist, stützt sich auf die Tatsache, dass gerade <strong>Galilei</strong> selbst in<br />

keiner Weise völlig frei war von <strong>der</strong> kritisierten Spekulation und Dogmatik <strong>der</strong> Aristoteliker<br />

und bei weitem nicht <strong>der</strong> reine Empiriker, wie er beschrieben wird. Es gibt Beispiele,<br />

die zeigen, dass <strong>Galilei</strong> durchaus einen selektiven Umgang mit empirischen Daten pflegte,<br />

vor allem dann, wenn sie nicht in seine Konzepte passten. Zudem vertrete ich die Ansicht,<br />

dass ein gewisses Mass an Spekulation zur Wissenschaft gehört. Albert Einstein z. B hat<br />

sich dazu wie folgt geäussert:<br />

Es ist oft behauptet worden, dass <strong>Galileo</strong> insofern <strong>der</strong> Vater <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft sei als<br />

er die empirische, experimentelle <strong>Methode</strong> gegenüber <strong>der</strong> spekulativen, deduktiven <strong>Methode</strong> durchgesetzt<br />

habe. Ich denke jedoch, dass diese Auffassung genauerer Überlegung nicht standhält. Es gibt<br />

keine empirische <strong>Methode</strong> ohne spekulative Begriffs- und System-Konstruktion; und es gibt kein<br />

spekulatives Denken, dessen Begriffe bei genauerem Hinsehen nicht das empirische Material verraten,<br />

dem sie ihren Ursprung verdanken. Solche scharfe Gegenüberstellung des empirischen und deduktiven<br />

Standpunktes ist irreleitend, und sie lag <strong>Galileo</strong> ganz ferne. (1982, S. XII)<br />

Es ist hinlänglich bekannt, dass <strong>Galilei</strong> bei bestimmten Themen ein Aristoteliker<br />

geblieben ist und dazu ein unkritischer. Nach Freiesleben (1968) hielt <strong>Galilei</strong> in verschiedenen<br />

Punkten an antiken Vorstellungen fest: Bei seinem Impulsbegriff, wo bis zuletzt<br />

ältere, ja peripatetische Vorstellungen mitwirken; Bei den Kreisbewegungen <strong>der</strong> himmlischen<br />

Körper <strong>–</strong> obwohl es in diesem Fall die Beobachtungen von Kepler gab, die das<br />

Dogma wi<strong>der</strong>legten <strong>–</strong> und bei <strong>der</strong> Vorstellung des endlichen Kosmos. <strong>Galilei</strong> hielt auch an<br />

<strong>der</strong> aristotelischen Vorstellung <strong>der</strong> inclinatio fest. Hans Blumenberg (2002) schreibt dazu:<br />

Aber an <strong>der</strong> Unterscheidung von natürlichen und gewaltsamen Bewegungen hielt <strong>Galilei</strong> fest; daraus<br />

ergab sich für die Theorie des freien Falles, dass die Fallbeschleunigung nicht als Wirkung einer<br />

äusseren Kraft erkannt werden konnte, son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> finalen Neigung zur Erdmasse hin gedeutet<br />

werden musste. (S. 40)<br />

Dass <strong>Galilei</strong> an <strong>der</strong> aristotelischen Bestimmung <strong>der</strong> Bewegung durch ihr Ziel festgehalten<br />

habe, sei einer <strong>der</strong> Gründe, dass er den Durchbruch zur mo<strong>der</strong>nen Vorstellung<br />

von Trägheit nicht geschafft habe. Ein Vordringen zur Ansicht Newtons hätte nach Blumenberg<br />

für <strong>Galilei</strong> bedeutet, dass die einem Körper innewohnende Inklination „auf immer<br />

vergeblich bliebe, und das wi<strong>der</strong>sprach zutiefst dem Grundprinzip seiner teleologischen<br />

Naturauffassung“ (S. 42). In Blumenbergs Urteil kommt auch die Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong><br />

nicht gut weg. Er bezeichnet sie als den „gröbsten Rückfall <strong>Galilei</strong>s in die aristotelische<br />

Physik“ (S. 66), ein Vorwurf, den schon Arthur Koestler erhoben hatte.<br />

17


Im Jahr 1618 erscheinen drei Kometen am Himmel. Über diese Kometen zettelt<br />

<strong>Galilei</strong> eine Polemik mit dem Jesuitenpater Oratio Grassi an, wobei er eine irrige peripatetische<br />

Ansicht vertritt. Im Rahmen dieses Streites veröffentlicht <strong>Galilei</strong> 1623 die Schrift<br />

Der Goldwäger. Mario Biagioli (1999) schreibt über den Goldwäger: „Im allgemeinen<br />

wird <strong>der</strong> Goldwäger als ein virtuoser Text dargestellt, an dem man sehr deutlich den Unterschied<br />

zwischen <strong>Galilei</strong>s mo<strong>der</strong>ner wissenschaftlicher <strong>Methode</strong> und Grassis halsstarrigem,<br />

aber hoffnungslos zerbröselndem traditionellen Diskurs erkennen könne“ (S. 287).<br />

Dieses Urteil stamme aber aus selektiver Lektüre, denn bei etwas aufmerksamerer Betrachtung<br />

des Textes, zeige sich, „dass dieser Text nicht zum Bild <strong>Galilei</strong>s als des mo<strong>der</strong>nen,<br />

zutiefst von <strong>der</strong> kopernikanischen Sache und <strong>der</strong> mathematischen <strong>Methode</strong> überzeugten<br />

Denkers passt, das zahlreiche Interpretationen seiner Laufbahn prägt“ (S. 287). <strong>Galilei</strong> erscheine<br />

hier nicht immer als <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Denker, <strong>der</strong> die traditionsverhafteten Jesuiten mit<br />

empirisch überzeugenden und logisch kohärenten Argumenten schlage. Er zeige zwar bemerkenswertes<br />

Geschick, wenn es um den Nachweis logischer Fehler in Grassis Argumentation<br />

gehe, begehe aber einige dieser Fehler selbst. Verwirrend sei auch <strong>der</strong> empirische<br />

Inhalt des Buches. Nach mo<strong>der</strong>nen Massstäben enthalte <strong>der</strong> Goldwäger „eine gute Dosis<br />

heuristischer Hypothesen, innerer Wi<strong>der</strong>sprüche und nicht gerechtfertigter Angriffe auf<br />

Grassis Positionen“ (S. 288). Im Rahmen dieses Streites um die Kometen vollzog sich im<br />

<strong>Galilei</strong>s Schrift Gespräch über Kometen eine Abschweifung über den Teilchencharakter<br />

<strong>der</strong> Wärme. Nachdem <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-Apologetik nicht gerade freundlich behandelte<br />

Grassi immerhin auch mit empirischen Argumenten versuchte, <strong>Galilei</strong>s Standpunkt zu kritisieren,<br />

griff <strong>Galilei</strong> erfolgreich zum vernichtenden Spott. Biagoli meint aber, wir sollten<br />

„darüber nicht vergessen, dass die Auffassung von Wärme, die <strong>Galilei</strong> hier vertritt, ebenso<br />

spekulativ (und nach heutigen Massstäben falsch) war wie die von Grassi vertretene aristotelische<br />

Auffassung“ (S. 320). Das Beispiel <strong>der</strong> Kometen von 1618 wird auch in einer sehr<br />

schönen Passage von Blumenberg (2002) erwähnt, die Bände spricht über den „Empiriker“<br />

<strong>Galilei</strong>:<br />

Für <strong>Galilei</strong> hatte es auch einen guten Grund gegeben, die drei Kometen, die 1618 am Himmel erschienen<br />

waren, nicht zu realisieren <strong>–</strong> die stark elliptischen Bahnen, die er ihnen hätte zuerkennen<br />

müssen, wenn er ihre Realität eingestanden hätte, wi<strong>der</strong>sprachen seinem beharrlichen Festhalten an<br />

dem traditionellen Dogma von <strong>der</strong> Kreisform <strong>der</strong> Bahnen aller Himmelskörper. <strong>Galilei</strong> unterwarf<br />

seine Optik seiner Dogmatik und behalf sich mit demselben Ausfluchtsmittel, das sein Gegner Magini<br />

gegen die Jupitermonde angewendet hatte, indem er sie als optische Täuschungen erklärte. (S.<br />

13)<br />

Und über <strong>Galilei</strong>s Argumentation gegen das tychonische System im Goldwäger<br />

schreibt Klaus Fischer (1983):<br />

Da es [das tychonische System] die Phänomene in gleicher Weise erklären konnte wie das kopernikanische<br />

System, <strong>Galilei</strong> folglich we<strong>der</strong> Beobachtungen noch eine physikalische Theorie zur Verfügung<br />

standen, die eine methodisch einwandfreie Entscheidung zwischen beiden erlaubt hätten, griff<br />

er zum Mittel <strong>der</strong> Polemik, Fehldarstellung, Vernebelung und Propaganda. Es ist unbestreitbar, dass<br />

er dieses Mittel mit wahrer Genialität einsetzte und schliesslich im Il Saggiatore ein herausragendes<br />

Dokument zur zweischneidigen Rolle von Rhetorik und argumentativen Strategien in <strong>der</strong> Wissenschaftsgeschichte<br />

schuf. (S. 133)<br />

Es kommt nicht <strong>der</strong> Eindruck auf, dass hier ein mo<strong>der</strong>ner empirischer Wissenschafter<br />

am Werk sei. Dass <strong>Galilei</strong> zwar äusserst versiert ist, wenn es darum geht, die Argumente<br />

seiner Gegner zu zerreissen, sei gewiss zugegeben, aber man muss auch zugeben, dass<br />

<strong>Galilei</strong> grosszügig über Unstimmigkeiten <strong>der</strong> eigenen Theorie hinweggehen konnte und<br />

sie mit windigen Argumenten salopp vom Tisch zu wischen, wenn er sich denn überhaupt<br />

dazu hergab, die Probleme zu besprechen und sie nicht einfach verschwieg. Und wenn es<br />

18


dann nötig ist, verschweigt er einfach Daten, damit die Sache aufgeht. Das gilt etwa bei<br />

den Ellipsen von Kepler. Diese passten nicht in sein Konzept, also wurden sie ignoriert. Er<br />

wusste genau Bescheid über Keplers Theorie, auch wenn einige Hagiographen <strong>Galilei</strong> damit<br />

entschuldigen wollen, in Keplers Büchern habe man vor lauter Mystizismus die Ellipsen<br />

gar nicht finden können. An<strong>der</strong>e haben sie dennoch gefunden, z. B. Cavalieri o<strong>der</strong><br />

Fürst Cesi, Freund <strong>Galilei</strong>s und Präsident <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Luchse, in <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong> auch<br />

Mitglied war. Cesi diskutierte die Sache mit <strong>Galilei</strong> und war „für die vollständige Abschaffung<br />

<strong>der</strong> Epizykel und für die elliptische Bewegung <strong>der</strong> Planeten und beruft sich auf Kepler,<br />

<strong>der</strong> ja auch Kopernikaner sei, aber in diesem Punkt eben den Kopernikanismus verbessert<br />

habe“ (Krämer-Badoni 1985, S. 62). <strong>Galilei</strong> blieb stur bei den Epizyklen. Das war<br />

nicht eine Frage von Interpretation o<strong>der</strong> Meinung, son<strong>der</strong>n eine klare Missachtung von<br />

Beobachtungsdaten. Denn die „besten Beobachtungsresultate, das wissen wir längst, sind<br />

die Messungen Tychos und die darauf aufbauende Keplersche Astronomie, in <strong>der</strong> es infolge<br />

<strong>der</strong> drei epochemachenden Gesetze keine Epizykel mehr gibt“ (S. 224). Hätte <strong>Galilei</strong><br />

nicht zufällig ein paar Dinge am Himmel entdeckt, wäre er vielleicht nie in die Geschichte<br />

<strong>der</strong> Astronomie eingegangen, denn er betätigte sich nicht als Fachastronom: „<strong>Galileo</strong><br />

taught spherical astronomy for many years, but even when he used his telescopes to make<br />

sustained series of observations he still showed little interest in the standard problems of<br />

astronomy“ (Field 1984, S. 213).<br />

Nach allem bisher Gesagten erstaunt es nicht, dass Fleckensteins Urteil über <strong>Galilei</strong><br />

als Astronom nicht gerade schmeichelhaft ist:<br />

Es darf aber <strong>der</strong> Historiker nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass <strong>der</strong> astronomische Teil des<br />

<strong>wissenschaftlichen</strong> Werkes von <strong>Galilei</strong> vielleicht überhaupt <strong>der</strong> schwächste ist, den auch die Märtyrerkrone<br />

nicht zu epochemachenden Leistungen zu adeln vermag. Nicht nur wird bei den Sonnenflecken<br />

<strong>Galilei</strong>s Priorität überhaupt bestritten, nicht nur erfor<strong>der</strong>n <strong>der</strong>artige erste Beobachtungen keinesfalls<br />

ein beson<strong>der</strong>es intellektuelles Genie <strong>–</strong> <strong>Galilei</strong> hatte in <strong>der</strong> Astronomie oftmals ganz verkehrte<br />

Ansichten. Wir erinnern nur an seine verunglückte Gezeitentheorie und seine böse Diskussion mit<br />

Pater Grassi über die Kometen, welche <strong>der</strong> Jesuit richtig für selbständige und mit den Planeten verwandte<br />

Himmelskörper hielt, während <strong>Galilei</strong> noch <strong>der</strong> aristotelischen Ansicht huldigte, dass die<br />

Kometen nichts an<strong>der</strong>es als Ausdünstungen <strong>der</strong> irdischen Atmosphäre seien. Ebenso hatte <strong>Galilei</strong><br />

auch die Nova von 1604 für einen Lichtreflex <strong>der</strong>artiger Ausdünstungen gehalten. (1964, S. 109f.)<br />

In Zusammenhang mit <strong>Galilei</strong>s astronomischen Entdeckungen kann noch Folgendes<br />

hinzugefügt werden: Es ist mittlerweile hinlänglich bekannt, dass <strong>Galilei</strong> bei <strong>der</strong> Entdeckung<br />

<strong>der</strong> Sonnenflecken keine Priorität für sich in Anspruch nehmen kann. We<strong>der</strong> er<br />

noch <strong>der</strong> Jesuitenpater Christoph Scheiner, mit dem sich <strong>Galilei</strong> um die Priorität stritt, haben<br />

das Verdienst <strong>der</strong> Entdeckung. Dieses kommt dem ostfriesischen Astronomen Johannes<br />

Fabricius (1587-1616) zu, <strong>der</strong> die Flecken richtig als <strong>der</strong> Sonne zugehörend erkannte<br />

und als erster darüber publizierte. 8 Dagegen wird weiterhin <strong>der</strong> Irrtum kolportiert, dass<br />

8 Zu Fabricius siehe Jahn (1953) und Biographisches Lexikon für Ostfriesland:<br />

www.ostfriesischelandschaft.de/ obio/detail.php?id=234.Nach Shea (1970b) entdeckten Fabricius, <strong>Galilei</strong>,<br />

Harriot, Passigniani und Scheiner unabhängig voneinan<strong>der</strong> die Sonnenflecken. Nach Zinner (1988, S. 346ff.)<br />

sind die exakten Daten: Harriot am 18. Dezember 1610, Scheiner und Cysat am 6. März 1611, Fabricius am<br />

9. März 1611. <strong>Galilei</strong> will nach eigenen Angaben die Sonnenflecken im April 1611 verschiedenen Prälaten in<br />

Rom gezeigt haben und beschuldigte Scheiner, durch Briefe davon gewusst zu haben. Nach Zinner ist diese<br />

Behauptung aber unwahrscheinlich, weil in Briefen aus Rom an deutsche Jesuiten nichts von Sonnenflecken<br />

steht, eine solche Sensation aber wohl kaum verschwiegen worden wäre. Wahrscheinlich habe <strong>Galilei</strong> die<br />

Sonnenflecken erst nach Erhalt von Scheiners Brief beobachtet. Die Sonnenflecken sind schon früher gesehen<br />

worden, so z. B. am 28. Mai 1607 von Johannes Kepler, <strong>der</strong> darüber 1609 einen Bericht publizierte. Er<br />

war aber <strong>der</strong> Meinung einen Merkurtransit gesehen zu haben (Lemcke 1995, S. 74f.). Als ersten Beobachter<br />

<strong>der</strong> Sonnenflecken nennt Läemmel (1942, S. 32) Nicolaus Cusanus. Viel weiter zurück liegen Beobachtun-<br />

19


<strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> erste gewesen sei, <strong>der</strong> systematisch den Mond mit dem Fernrohr beobachtet<br />

habe. Das trifft nicht zu. Der englische Astronom und Mathematiker Thomas Harriot<br />

(1560-1621) stellte vor <strong>Galilei</strong> (Sommer 1609) mit Hilfe des Teleskops Mondbeobachtungen<br />

an und verfertigte daraus als erster Karten <strong>der</strong> Mondoberfläche (Lohne 1981; Zinner<br />

1988, S. 337 u. 343). Und auch <strong>Galilei</strong>s Bau des Teleskops war nicht eine solche Grosstat,<br />

wie sie häufig dargestellt wird. „Sobald einmal das Prinzip bekannt war“, meint Arthur<br />

Koestler, „konnten selbst kleinere Geister als <strong>Galilei</strong> ähnliche Geräte herstellen und taten<br />

es auch“ (1980, S. 369). 9 Und es war nicht nur geniale Intuition, die <strong>Galilei</strong> zur Nachkonstruktion<br />

des Fernrohrs verhalf <strong>–</strong> wie oft behauptet wird; <strong>Galilei</strong> hatte von seinem Freund,<br />

dem Servitenpater Paolo Sarpi, eine grobe Darstellung <strong>der</strong> Konstruktionsprinzipien des<br />

Fernrohrs erhalten (Reston 1998, S. 157). 10 <strong>Galilei</strong> war we<strong>der</strong> <strong>der</strong> erste noch <strong>der</strong> einzige,<br />

<strong>der</strong> mit dem Fernrohr Himmelsbeobachtungen machte. Zinner (1988) schreibt dazu:<br />

<strong>Galilei</strong> war nicht <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> sein Fernrohr zum Himmel richtete und dort Wun<strong>der</strong>bares entdeckte.<br />

Es mag nicht wenige gegeben haben, die mit dem Fernrohr den Mond betrachteten und sich über<br />

seine Flecken Gedanken machten, wie Kaiser Rudolf gleichzeitig mit <strong>Galilei</strong>. Schon im Juli 1609<br />

machte Thomas Harriot (1560-1621) Zeichnungen dieses Gestirns. <strong>Galilei</strong>s Beobachtungen waren<br />

nicht die besten seiner Zeit. Den Orionnebel, <strong>der</strong> auf seiner Sternkarte nur aus Sternen besteht, sahen<br />

deutlich als Nebel Peiresce 1610 und Cysat vor 1619. Die Jesuiten vermochten den Gestaltwandel<br />

<strong>der</strong> Venus besser darzustellen als <strong>Galilei</strong>. Sie entdeckten diesen Gestaltwandel wohl im November<br />

1610, bevor sie etwas von <strong>Galilei</strong>s Entdeckung wussten. Ebenso war es mit Marius, <strong>der</strong> die Venus<br />

im Dezember 1610 mondförmig sah; er beobachtete auch Merkur im Winter 1610 bis 1611 und<br />

schloss aus seinen Helligkeitsän<strong>der</strong>ungen auf dessen Gestaltwandel, den er und die Jesuiten nicht<br />

feststellen und <strong>Galilei</strong> nicht nachweisen konnte. Allerdings teilte er dies sowie auch seine Entdeckung<br />

<strong>der</strong> Jupitermonde und <strong>der</strong> Venusphasen nicht sofort mit, wie <strong>Galilei</strong> getan hatte, son<strong>der</strong>n berichtete<br />

darüber in seiner nächsten Vorhersage, die mehr als ein Jahr später erschien. . . .. An<strong>der</strong>e<br />

wie Peiresce und Harriot, <strong>der</strong> vom 17. Oktober 1610 bis Februar 1612 die Jupitermonde beobachtete,<br />

haben ihre Beobachtungen nicht veröffentlich. Erst später wurden sie bekannt. (S. 343f.)<br />

Simon Marius (1573-1624), fürstlicher Hofastronom in Ansbach, beobachtete seit<br />

1595 intensiv den Himmel und das Wetter. Als ab dem Sommer 1609 die Möglichkeit bestand,<br />

gelegentlich ein Fernrohr zu benutzen, sah er vom November an Sternchen beim<br />

Jupiter, die in einer geraden Linie teils vor und teils hinter ihn standen. Anfangs Januar<br />

1610 beobachtete er sie an den selben Tagen wie<strong>der</strong> wie <strong>Galilei</strong> in Padua. Er beobachtete<br />

ebenso gut wie <strong>Galilei</strong> und seine Perioden waren z. T. genauer als die von <strong>Galilei</strong>.<br />

Für die <strong>Galilei</strong>-Hagiographik gibt es noch an<strong>der</strong>e Dogmatiker als die Ptolemäer.<br />

Vielleicht noch schlimmer als diese sind die Tychonianer, meist katholische/jesuitische<br />

Astronomen. Diese haben es gewagt, dem Helden mit <strong>der</strong> Hinwendung zum tychonischen<br />

Weltbild, welches die Probleme <strong>der</strong> ptolemäischen Kosmologie ebenso lösen konnte, wie<br />

das kopernikanische, einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Sie werden daher mit<br />

Vorliebe als ganz beson<strong>der</strong>s halsstarrige Dogmatiker dargestellt, währenddessen die Kopernikaner<br />

als <strong>wissenschaftlichen</strong> Lichtgestalten gelten. Ich erlaube mir, auch an dieser<br />

Betrachtungsweise ein wenig zu zweifeln. Zum Beispiel mit <strong>der</strong> Bemerkung, dass die Kopernikaner<br />

dogmatisch auf <strong>der</strong> Unbeweglichkeit <strong>der</strong> Fixsterne bestanden haben, obwohl es<br />

schon im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t Beobachtungen <strong>–</strong> von tychonischen Astronomen <strong>–</strong> gegeben hat,<br />

welche sowohl die Existenz von Doppel- und Mehrfachsternen sowie die Beweglichkeit<br />

<strong>der</strong> Fixsterne nahe legten. Dass die Kopernikaner daran keine Freude hatten, versteht sich,<br />

gen aus China. Nach Gernet (1979) wurden dort „vom Jahr <strong>–</strong>28 an die Sonnenflecken systematisch aufgezeichnet“<br />

(S. 141 u. 574).<br />

9 Van Helden (1984) sieht es ähnlich, weist aber darauf hin, dass es nur <strong>Galilei</strong> gelungen ist, herauszufinden,<br />

wie man die Vergrösserung verbessert.<br />

10 Zu diesem Thema siehe van Helden (1984).<br />

20


hätte das doch die Beweiskraft <strong>der</strong> Parallaxe für die Erdbewegung unterminiert. Das erklärt,<br />

so Siebert (2006) „warum es die Vorstellung von physischen Mehrfachsternen im 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t so schwer hatte“ (S. 48). Durch die Ablehnung des neuen Sternenbildes und<br />

das erneute Aufkommen solcher Vorstellungen im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t „gerieten die stellarastronomischen<br />

Anfänge des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis heute in Vergessenheit“ (S. 49). Auch waren<br />

die Kopernikaner beileibe nicht alles mo<strong>der</strong>ne Geister. So hat z. B. Rheticus numerologische<br />

Argumente für den Kopernikanismus vorgebracht und Christian Huygens (1629-<br />

1695) hat aus numerologischen Gründen nach <strong>der</strong> Entdeckung des ersten Saturnmondes<br />

die Suche nach weiteren Monden aufgegeben (Cohen 1978 und 1990).<br />

Nun soll auf keinen Fall abgestritten werden, dass <strong>Galilei</strong> gegenüber <strong>der</strong> scholastischen<br />

Naturphilosophie kritisch und ablehnend eingestellt war und ihre Fixierung auf das<br />

Bücherwissen als antiquiert und überholt betrachtete. <strong>Galilei</strong> war aber we<strong>der</strong> <strong>der</strong> einzige<br />

noch <strong>der</strong> erste Denker mit solcher Meinung. Bereits ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t vor <strong>Galilei</strong> hatte<br />

<strong>der</strong> berühmte flämische Anatom Andreas Vesalius (1514-1564) die gleichen Gedanken<br />

veröffentlicht. Seine berühmte Schrift De humani corporis fabrica erschien 1543 <strong>–</strong> im selben<br />

Jahr wie Kopernikus Buch De revolutionibus <strong>–</strong> in welcher er das gesamte traditionelle<br />

Wissen über den menschlichen Körper in Frage stellen wollte. Vesalius’ Ziel war es nach<br />

Bellone,<br />

die Wissenschaft <strong>der</strong> Anatomie radikal zu erneuern und die verbreiteten medizinischen Glaubensmeinungen<br />

zu revidieren, denen zufolge eine gewissenhafte Untersuchung <strong>der</strong> wirklichen Strukturen<br />

im menschlichen Körper nicht nötig sei und es statt dessen anstehe, Bücher zu lesen und zu kommentieren,<br />

die von an<strong>der</strong>en Forschern in lange vergangenen Epochen geschrieben worden waren.<br />

Das betrachtete Vesalius nicht als echte Wissenschaft. Für ihn war dies vielmehr nur ein Haufen alter<br />

Lehrmeinungen, auf <strong>der</strong>en Basis sich lei<strong>der</strong> falsches Wissen entwickelte, das die medizinische<br />

Kunst ruinierte. Diese Lehrmeinungen, schrieb Vesalius, müssten mitsamt ihren Wurzeln ausgerissen<br />

werden, weil sie die Erweiterung <strong>der</strong> Erkenntnisse sogar im Innersten <strong>der</strong> Universität verhin<strong>der</strong>ten,<br />

in <strong>der</strong> die Anatomie bereits einen erbärmlichen Zustand erreicht hatte. (2002, S. 49)<br />

Bellone schreibt auch, dass das 16. Jahrhun<strong>der</strong>t vor allem ausserhalb <strong>der</strong> Universitäten<br />

davon geprägt war, „dass man die Welt einer Analyse unterzog, die sich nicht auf<br />

Bücher, son<strong>der</strong>n auf Beobachtungen <strong>der</strong> Natur und <strong>der</strong> menschlichen Leistungen stützte“<br />

(S. 49). Die kritische Entwicklung zu mo<strong>der</strong>nen Einstellungen o<strong>der</strong> zu mo<strong>der</strong>nen <strong>Methode</strong>n<br />

in Beobachtungswissenschaften wie Astronomie, Anatomie, Botanik, Zoologie, Geologie<br />

und Mineralogie haben nach Hall (1963) bereits im sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t eingesetzt.<br />

Der erste Schritt sei gewesen, zu erkennen, dass in all diesen Wissenschaften „die ins<br />

einzelne gehende und genaue Beschreibung dessen, was ist, eine lohnende und notwendige<br />

Beschäftigung <strong>der</strong> Naturwissenschaften sei“ (S. 149f.). Mo<strong>der</strong>n gesprochen war das <strong>der</strong><br />

„Trend“ und dieser begann vor <strong>Galilei</strong>, <strong>der</strong> nur noch auf diesen Zug aufspringen musste<br />

und damit im mo<strong>der</strong>nen Slang „in“ war und auch „zu den Leuten gehörte“. Dass er dazu<br />

gehörte, wollen wir positiv vermerken, aber deswegen ist er nicht <strong>der</strong> von <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-<br />

Hagiographie hochstilisierte solitäre Held des antidogmatischen Kampfes.<br />

Nachgemerkt soll hier noch werden, dass es auch beim Thema <strong>Galilei</strong> und die Empirie<br />

<strong>–</strong> wie nicht an<strong>der</strong>s zu erwarten <strong>–</strong> unter den Forschern keine Einigkeit gibt. Während<br />

Ernst Mach <strong>Galilei</strong> als Empirist gesehen hat, vertrat Alexandre Koyré (1998a) die gegenteilige<br />

Meinung, denn „es ist Denken, reines, unverfälschtes Denken, und nicht <strong>–</strong> wie bisher<br />

<strong>–</strong> Erfahrung o<strong>der</strong> Sinneswahrnehmung, die den Grund <strong>der</strong> ‚neuen Wissenschaft’ des<br />

<strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> abgibt“ (S. 84). <strong>Galilei</strong> ist nicht <strong>der</strong> Schüler von Aristoteles, son<strong>der</strong>n von<br />

Platon (Koyré 1998b). Auch Gerhard Frey (1970b) fällt bei <strong>Galilei</strong> „das stark spekulative<br />

Element auf“ (S. 119). Es sei eine Fehlbeurteilung, dem Pisaner zuzuschreiben, er habe<br />

seine Gesetzmässigkeit gewissermassen aus <strong>der</strong> Natur abgelesen. Tatsächlich stünden bei<br />

<strong>Galilei</strong> am Anfang immer rein spekulative Überlegungen, wohl beeinflusst durch platoni-<br />

21


sches Denken, und erst hinterher habe er auch durch die Erfahrung gezeigt, dass seine Annahmen<br />

stimmten.<br />

<strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> als empiristischer Gegenpart zu einer rein spekulativen mittelalterlichen<br />

Schulwissenschaft ist ein Mythos. Carl Friedrich von Weizsäcker hat diesen Mythos<br />

in folgenden Worten beschrieben:<br />

Die neuzeitliche Naturwissenschaft hat ihren eigenen historischen Mythos. Es ist <strong>der</strong> Mythos von<br />

<strong>Galilei</strong>: Dieser Mythos versichert, man habe im dunklen Mittelalter die Spekulationen des Aristoteles<br />

hochgeschätzt, die sich um Beobachtungen nicht kümmerten, aber <strong>Galilei</strong> habe <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

die Bahn gebrochen, indem er die Welt so beschrieb, wie wir sie wirklich erfahren. Wie je<strong>der</strong> Mythos<br />

drückt auch dieser ein Stückchen Wahrheit aus; sicher hat er recht mit <strong>der</strong> hohen Schätzung <strong>Galilei</strong>s.<br />

Aber ich glaube, er entstellt vollkommen die Natur von <strong>Galilei</strong>s wahrer Leistung. Ich wäre bereit,<br />

diese Leistung zu charakterisieren, indem ich in jedem Punkt genau das Gegenteil des Mythos<br />

ausspräche. Daher sage ich: Das späte Mittelalter war in keiner Weise ein dunkles Zeitalter; es war<br />

eine Zeit hoher Kultur, von gedanklicher Energie sprühend. Jene Zeit übernahm die Philosophie des<br />

Aristoteles, weil er sich mehr als irgend ein An<strong>der</strong>er <strong>der</strong> sinnlichen Wirklichkeit annahm. Aber die<br />

Hauptschwäche des Aristoteles war, dass er zu empirisch war. Deshalb brachte er es nicht zu einer<br />

mathematischen Theorie <strong>der</strong> Natur. <strong>Galilei</strong> tat seinen grossen Schritt, indem er wagte, die Welt so zu<br />

beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. Er stellte Gesetze auf, die in <strong>der</strong> Form, in <strong>der</strong> er sie aussprach<br />

niemals in <strong>der</strong> wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgend eine einzelne<br />

Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind. (1962, S. 385f.)<br />

2.3 <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> „Experimentator“<br />

Eine weitere zentrale Behauptung <strong>der</strong> Heldenthese ist das verbreitete Bild von <strong>Galilei</strong><br />

als För<strong>der</strong>er o<strong>der</strong> sogar <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> des Experiments. „Aber erst zur Zeit des <strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong>,<br />

um 1600, wandte man sich in stärkerem Masse <strong>der</strong> experimentellen <strong>Methode</strong> zu und<br />

gab ihr den Vorzug gegenüber aprioristischen Denkweisen“ (Carnap, 1966, S. 244). Peter<br />

Janich (2004b) schreibt: „<strong>Galilei</strong> führt erstmals eine mathematische Betrachtungsweise<br />

sowie das Experiment in die Physik ein“ (S. 702). Morrison (1998) schreibt: „<strong>Galileo</strong>’s<br />

work on hydrostatics was perhaps the first instance of what we now think of as the experimental<br />

method“ (S. 514). Auch Klaus Fischer (1983) ist <strong>der</strong> Meinung, „dass <strong>Galilei</strong> ein<br />

echter Experimentator war“ (S. 91), was immer das auch heissen mag. Nach Drake (1999)<br />

ging es <strong>Galilei</strong> „eindeutig um tatsächliche Experimente und er hatte ein Geschick für das<br />

Erfinden geeigneter Anordnungen entwickelt“ (S. 59) und spätestens ab 1605 sei das Experimentieren<br />

neben dem Beobachten für <strong>Galilei</strong> zur soliden Grundlage seiner Wissenschaft<br />

geworden. Zusammengefasst in den Worten von Peter Janich (1997) lautet die These in<br />

etwa:<br />

Die neuzeitliche Wissenschaft, die in <strong>der</strong> klassischen Physik des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit den Fallversuchen<br />

von <strong>Galilei</strong> einen ihrer Anfänge nimmt, unterscheidet sich von <strong>der</strong> antiken Wissenschaft vor allem<br />

durch das Experimentieren und seine Anerkennung als Prüfungsinstanz für Behauptungen. (S.<br />

97)<br />

<strong>Galilei</strong> und Evangelista Torricelli 11 waren gemäss Janich (2004a) „wohl die ersten<br />

Experimentatoren im mo<strong>der</strong>nen Sinn. <strong>Galilei</strong> und Francis Bacon entwickelten mit ihren<br />

11 Evangelista Torricelli (1608-1647) war ein italienischer Mathematiker und Physiker. Er war Schüler und<br />

Sekretär von Benedetto Castelli (1577-1643), einem Schüler von <strong>Galilei</strong>. Er kannte <strong>Galilei</strong> persönlich und<br />

war während dessen letzten Lebensmonaten sein Mitarbeiter und Gehilfe. Nach <strong>Galilei</strong>s Tod 1642 wurde er<br />

<strong>Galilei</strong>s Nachfolger als Mathematiker am toskanischen Fürstenhof. Torricelli zählt zu den bedeutendsten<br />

Physikern und Mathematikern <strong>der</strong> Barockzeit. Seine wohl wichtigste Entdeckung war das Funktionsprinzip<br />

des Quecksilberbarometers (McLaughlin 2004b, Gliozzi 1981).<br />

22


Ansichten über das Zusammenwirken von Natur und menschlicher Kunst im Experiment<br />

die ersten theoretischen Ansätze“ (S. 622). Laemmel (1942) nennt <strong>Galilei</strong>s Fallversuch am<br />

schiefen Turm, den er für möglich hält, „das erste physikalische Experiment des Abendlandes“<br />

(S. 22). <strong>Galilei</strong> wird als „<strong>der</strong> Urvater des mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong> Experimentierens“<br />

(Hering 2007, S. 154 ) betrachtet. Und im Nachwort <strong>der</strong> historisch-kritischen Edition<br />

von Ernst Machs Buch „Die Mechanik in ihrer Entwicklung“ (1988) schreiben die<br />

Herausgeber: „Er [E. Mach] versäumt aber, auf das prinzipiell Neue zu verweisen, das mit<br />

<strong>der</strong> vornehmlich von <strong>Galilei</strong> begründeten experimentellen <strong>Methode</strong> in die Physik eingebracht<br />

wurde und die Naturwissenschaft <strong>der</strong> Neuzeit erst konstituierte“ (S. 529).<br />

Auch bei diesem Thema stellen sich noch einige Fragen. So ist beispielsweise nicht<br />

klar, was sich die verschiedenen Autoren denn genau unter einem Experiment vorstellen.<br />

Darin besteht denn auch gleich mein erster Einwand gegen diese These. Sie ist unklar.<br />

Welche Art von Experiment soll von <strong>Galilei</strong> erfundnen, propagiert und durchgeführt worden<br />

sein? Die Klärung dieser Frage ist schon aufgrund <strong>der</strong> Tatsache angebracht, dass zu<br />

<strong>Galilei</strong>s Zeiten unter „Experiment“ Unterschiedliches verstanden wurde. A. R. Hall (1963)<br />

schreibt dazu:<br />

Es ist deshalb nicht recht zutreffend, von dem „Entstehen <strong>der</strong> experimentellen Wissenschaft“ im<br />

siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>t zu sprechen, so als ob die eine Art <strong>der</strong> Experimente <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en völlig<br />

äquivalent wäre. Es ist eben nicht das gleiche, ob man versuchsweise in Norfolk Apfelplantagen zur<br />

Weinbereitung anlegt o<strong>der</strong> ob man durch Pendelexperimente die Beschleunigung durch die Schwerkraft<br />

bestimmt. Experimente nach dem Motto: „Wollen mal sehen, was passiert“ waren in den Naturwissenschaften<br />

des siebzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts verbreitet genug. (S. 44)<br />

Man kann den Ausdruck „Experiment“ mindestens für die vier folgenden Vorgehensweisen<br />

benutzen:<br />

1. Das Demonstrationsexperiment: Hierbei handelt es sich um einen Vorgang, mit<br />

dem ein Effekt, eine Reaktion o<strong>der</strong> die Auswirkung eines Naturgesetzes demonstriert<br />

werden soll. Es handelt sich dabei um die uns allen vertraute Art von Versuchsanordnungen,<br />

mit <strong>der</strong>en Aufbau Physiklehrer halbe Lektionen verstreichen<br />

lassen, mit <strong>der</strong> pädagogischen Begründung, danach sei dann alles viel klarer. Den<br />

Unterhaltungswert solcher Demonstrationen ist nicht zu bezweifeln, zischt, funkt,<br />

knallt und brodelt es dabei doch meistens, <strong>der</strong> wissenschaftliche Wert jedoch sehr.<br />

Die Effekte, die dabei erzeugt werden, begründen in den meisten Fällen nichts.<br />

2. Das Prüfexperiment: Diese Art von Experiment dient dazu, eine Hypothese „auf<br />

den Prüfstand <strong>der</strong> Empirie zu stellen“. Es wird dabei untersucht, ob eine Vermutung<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit standhält. Diese Form von Versuch ist stark mit <strong>der</strong> Methodologie<br />

des Kritischen Rationalismus verbunden, gemäss <strong>der</strong>er eine Hypothese nur<br />

falsifiziert, aber nicht verifiziert werden kann. Verifikationen kann denn ein Prüfexperiment<br />

auch nicht leisten. Es kann nur zeigen, dass eine Vermutung nicht mit<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit übereinstimmt, aber sagt uns nichts darüber, ob sie richtig ist. „Für<br />

Popper hat also das Experiment nur die negative Aufgabe zu versehen, uns vor unfruchtbaren<br />

theoretischen Wegen zu bewahren“ (Heidelberger 1998, S. 9). 12<br />

3. Das Massexperiment: Das Massexperiment dient zum Suchen und Auffinden von<br />

Zahlen von Parametern, welche schon in eine Theorie o<strong>der</strong> ein Gesetz passen. Sol-<br />

12 Eine kurze Beschreibung des praktischen Vorgehens innerhalb dieses Ansatzes gibt Eberhard (1987). Eine<br />

ausführliche Darstellung bieten Prim und Tilmann (1997).<br />

23


che Experimente dienen dazu, natürliche Grössen o<strong>der</strong> Konstanten zu bestimmen;<br />

es geht we<strong>der</strong> darum, eine Hypothese zu prüfen, noch eine kausale Aussage zu<br />

rechtfertigen, son<strong>der</strong>n um eine numerische o<strong>der</strong> mathematische Beschreibung von<br />

physikalischen Vorgängen. Ein typisches Beispiel wäre die Bestimmung <strong>der</strong> Lichtgeschwindigkeit.<br />

Viele dieser Grössen tragen das Suffix „Index“ o<strong>der</strong> „Koeffizient“.<br />

Ein typisches Massexperiment wären <strong>Galilei</strong>s Versuche mit <strong>der</strong> Fallrinne.<br />

4. Das Kausalexperiment: Bei dieser Form von Experiment geht es darum, eine Aussage<br />

über die kausale Relevanz von Faktoren zu machen. Nach Janich (1997) handelt<br />

es sich nur bei dieser Form von Versuch um ein echtes Experiment: „Entscheidend<br />

ist vielmehr, dass im Experiment eine beson<strong>der</strong>e Form von Erfahrung<br />

gewonnen wird, die für Kausalerklärungen, also für die Feststellung von Ursache<br />

und Wirkungsverhältnissen typisch ist“ (S. 97f.). Nach Baumgartner und<br />

Grasshoff (2004) sind die kausalen Schlussweisen und Prinzipien ohne weiteres auf<br />

die experimentelle Praxis übertragbar. Der Nachweis einer kausalen Relevanz eines<br />

Faktors für eine bestimmte Wirkung erfolgt dabei über einen sogenannten Differenztest.<br />

Hierbei werden zwei Situationen realisiert, die sich durch An- und Abwesenheit<br />

des zu untersuchenden Faktors unterscheiden. Wichtig dabei ist die Einhaltung<br />

<strong>der</strong> sogenannten Homogenitätsbedingung, d. h. <strong>der</strong> Konstanthaltung aller an<strong>der</strong>en<br />

für die Wirkung kausal relevanten Faktoren über beide Situationen hinweg:<br />

Homogenität ist für „den gesamten Aufbau, die Durchführung und die Auswertung<br />

von Experimenten erfor<strong>der</strong>lich. Ist die Homogenitätsbedingung in irgendeinem<br />

Teilprozess eines Experimentes verletzt, ist dieses für eine kausale Auswertung<br />

wertlos“ (S. 278). 13<br />

Es ist nicht immer klar, von welcher Art Experiment die verschiedenen Autoren<br />

sprechen und was <strong>Galilei</strong> genau propagiert o<strong>der</strong> durchgeführt haben soll. Die Aussagen<br />

dazu sind vage und uneinheitlich und es wird nicht exakt beschrieben, wie diese experimentelle<br />

Methodik ausgesehen hat. Hans Schimank (1965) sieht in <strong>Galilei</strong> jedenfalls we<strong>der</strong><br />

den Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> experimentellen <strong>Methode</strong> noch einen vollendeten Experimentator:<br />

Des Ruhmes des Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> experimentellen <strong>Methode</strong> in <strong>der</strong> Physik zu sein, müssen wir <strong>Galilei</strong><br />

gleichfalls berauben. Der messende Versuch entstammt ohnehin nicht dem Bereiche <strong>der</strong> philosophia<br />

naturalis, son<strong>der</strong>n dem <strong>der</strong> handwerklich-technischen Praxis. Gemessen und gewogen haben die<br />

agrimensores und livellatores, die Vermessungstechniker, die mit Senkel, Diopter, Quadrant und<br />

Wasserwaage arbeiteten, und die Juweliere, Hüttenleute und Münzwardeine, die sich <strong>der</strong> Waage bedienten.<br />

Die Versuche, die <strong>Galilei</strong> ausführte, um eine eigene Ansicht zu veranschaulichen o<strong>der</strong> eine<br />

gegnerische Meinung zu wi<strong>der</strong>legen, waren einfacher Art, Demonstrationsversuche, wie die mit <strong>der</strong><br />

Fallrinne angestellten, durch die eine, auf an<strong>der</strong>em Wege mit demonstrativer Gewissheit abgeleitete<br />

Folgerung bestätigt werden sollte. Von hier aus bis zum Forschungsversuch, wie ihn <strong>der</strong> junge Newton<br />

in seinen frühen Untersuchungen über das Licht und die Farben meisterhaft verwirklichte, war<br />

noch ein weiter Weg. Doch ist gewiss <strong>Galilei</strong> auch in dieser Beziehung ein Anreger und Wegbereiter<br />

gewesen. (S. 16)<br />

Auch Freiesleben (1968) meint, man könne nicht verschweigen, dass es deutliche<br />

Anzeichen in <strong>Galilei</strong>s Schriften gebe, „die sein Verhältnis zum Experiment noch als das<br />

eines Mannes an <strong>der</strong> Schwelle zu neuen Bettrachtungsweisen zeigen“ (S. 47f.). Und auch<br />

Alfred Rupert Hall (1967), sonst durchaus ein Bewun<strong>der</strong>er <strong>Galilei</strong>s, muss zugestehen, dass<br />

man bei <strong>Galilei</strong> als Experimentalwissenschaftler höchstens von einem Pionier sprechen<br />

kann und „we know very well that our mo<strong>der</strong>n traditions of laboratory science <strong>der</strong>ive from<br />

13 Eine ausführliche Beschreibung des Kausalexperimentes findet sich in Grasshoff, Casties und Nickelsen<br />

(2000).<br />

24


other and later sources“ (S. 73) und Hall glaubt nicht, dass <strong>Galilei</strong> „had a decisive formative<br />

influence upon the later evolution of experimental science“ (S 79). Für Fischer (1983)<br />

ist <strong>Galilei</strong> zwar ein „echter Experimentator“, er schreibt aber, einige <strong>der</strong> „von ihm berichteten<br />

Ergebnisse sind nicht Beschreibungen realer Messungen, son<strong>der</strong>n ideale Messwerte,<br />

wie sie die Theorie vorhersagt“ (S. 90). Abweichungen seien für <strong>Galilei</strong> kein Grund gewesen,<br />

die Theorie zu än<strong>der</strong>n. Majer (1978) spricht von einem „Mythos, dass <strong>Galilei</strong> hauptsächlich<br />

praktisch experimentiert habe, denn die tatsächlich ausgeführten Experimente (z.<br />

B. an <strong>der</strong> schiefen Ebene) stehen in verschwinden<strong>der</strong> Anzahl zu seinen anschaulichtheoretischen<br />

Überlegungen an modellartigen Beispielen“ (S. 186).<br />

Nach John Losee (1977) ist <strong>Galilei</strong>s Haltung zum Experiment sehr unterschiedlich<br />

beurteilt worden. Einerseits sei er als Vordenker <strong>der</strong> experimentellen <strong>Methode</strong> gefeiert<br />

worden, an<strong>der</strong>erseits kritisiert worden, er habe die Bedeutung des Experiments unterschätzt.<br />

Für beide Betrachtungen könne man sowohl in seinen Bemerkungen über wissenschaftliche<br />

<strong>Methode</strong> wie auch aus seiner <strong>wissenschaftlichen</strong> Praxis Bestätigung finden:<br />

„<strong>Galilei</strong> machte ambivalente Aussagen über den Wert experimenteller Bestätigung. Die<br />

positive Betonung herrschte jedoch vor“, aber „es triff jedoch auch zu, dass <strong>Galilei</strong> sich<br />

stellenweise so äussert, als wäre experimentelle Bestätigung gar nicht so wichtig“ (S. 60).<br />

Losee schreibt, dass <strong>Galilei</strong> einige <strong>der</strong> berichteten Experimente sicher gemacht habe, an<strong>der</strong>e<br />

aber nicht und dass er auch <strong>–</strong> z. B. bei seiner Gezeitentheorie <strong>–</strong> Daten vernachlässigt<br />

habe, die für seine Theorie ungünstig waren:<br />

Trotz <strong>der</strong> zahlreichen Beschreibungen von anscheinend durchgeführten Versuchen, kann man nicht<br />

sagen, dass <strong>Galilei</strong> sich vollständig an die <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> experimentellen Bestätigung gebunden fühlte.<br />

Es gibt Fälle in denen er Erfahrungsdaten verwarf, die gegen seine Theorien zu sprechen schienen.<br />

(S. 61)<br />

Was Losee hier anspricht, sind die sogenannten „Gedankenexperimente“ von <strong>Galilei</strong>.<br />

Wenn auch klar sein dürfte, dass je<strong>der</strong> Wissenschaftler für sich solche Gedankenexperimente<br />

macht, finden wir doch bei <strong>Galilei</strong> eine etwas eigenartige Verwendung dieser heuristischen<br />

Gedankenspiele: Für ihn waren sie oft schon ein genügen<strong>der</strong> Nachweis für die<br />

Wahrheit seiner Vermutungen und er gibt zuweilen sogar zu, dass er sie gar nicht gemacht<br />

hat, weil ja sowieso klar sei, was herauskomme. Dieses Vorgehen hat <strong>Galilei</strong> die Ehre verschafft,<br />

in Fe<strong>der</strong>ico Di Trocchios Buch (1999) über Fälschung und Betrug in den Wissenshaften<br />

zu erscheinen:<br />

<strong>Galilei</strong> dagegen wird vorgeworfen, einige <strong>der</strong> von ihm beschriebenen Experimente, die heute als<br />

Meilensteine <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft angesehen werden, gar nicht durchgeführt zu haben. Mit<br />

einer Überheblichkeit, die man nur mit <strong>der</strong> Arroganz seiner Feinde vergleichen kann, die ihn durch<br />

Prozesse zum Schweigen bringen wollten, behauptete <strong>Galilei</strong> gar, dass es überhaupt nicht wichtig<br />

sei, diese Experimente wirklich durchzuführen. (S. 17)<br />

Als eines <strong>der</strong> Experimente, die <strong>Galilei</strong> nicht durchgeführt hat <strong>–</strong> und das auch zugibt<br />

<strong>–</strong>, nennt Di Trocchio das Experiment mit dem Schiff, das dem galileischen Relativitätsprinzip<br />

zugrunde liegt. Danach vollziehen sich physikalische Phänomene in gleicher Weise<br />

auf dem Land wie auf einem fahrenden Schiff, das sich gradlinig und gleichförmig bewegt.<br />

Es findet sich im zweiten Kapitel (Tag) des Dialogs und spielt eine wichtige Rolle bei <strong>der</strong><br />

Verteidigung des Kopernikanismus. <strong>Galilei</strong> kann damit eines <strong>der</strong> zentralen Gegenargumente<br />

ausser Kraft setzen. Ohne nun näher auf die fiktive Versuchsanordnung einzugehen <strong>–</strong><br />

um sie geht es hier auch nicht <strong>–</strong>, will ich auf einen an<strong>der</strong>en Punkt hinweisen, den Di Trocchio<br />

hervorhebt:<br />

25


In Wirklichkeit hat <strong>Galilei</strong> das Experiment nie durchgeführt. Angesichts dessen mag die Arroganz<br />

überraschen, mit <strong>der</strong> er seinen skeptischen Gesprächspartner [im Dialog] zurechtweist: „Es ist nutzlos,<br />

das Experiment zu machen, wenn ich es Euch sage, dürft Ihr mir glauben.“ (S. 19)<br />

Ob man das nun als Betrug o<strong>der</strong> Fälschung bezeichnen will, sei dahingestellt, sicher<br />

ist nur, dass folgendem Kommentar von Di Trocchio zugestimmt werden muss:<br />

Es ist offensichtlich, dass diese Vorgehensweise nicht im mindesten <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> experimentellen<br />

<strong>Methode</strong> entspricht, wie wir sie in <strong>der</strong> Schule gelernt haben. Noch weniger entspricht sie dem Ideal<br />

<strong>der</strong> ethischen und methodologischen Redlichkeit, die den Wissenschaftler auszeichnen soll. (S.<br />

19) 14<br />

Die zitierten Autoren schreiben nicht klar, was sie unter dem Begriff „Experiment“<br />

verstehen und worin <strong>Galilei</strong>s experimentelle <strong>Methode</strong> genau bestanden haben soll, nicht<br />

zuletzt auch, weil <strong>Galilei</strong> sie selbst nirgends erläutert und nirgends erklärt, was er genau<br />

unter einem Experiment versteht und wie es zu verwenden ist. Wenn z. B. Drake von „tatsächlichen<br />

Experimenten“ spricht, kann er damit trotzdem nicht Kausalexperimente meinen,<br />

denn er hat vehement die Meinung vertreten, dass <strong>Galilei</strong> sich von <strong>der</strong> (veralteten)<br />

Ursachenfrage gelöst habe. Auch wenn <strong>Galilei</strong> Versuche durchgeführt hat, so war das Experiment<br />

trotzdem nicht die galileische <strong>Methode</strong>, denn die Versuche, die er machte, waren<br />

nicht mo<strong>der</strong>ne Kausalexperimente. So ist z. B. sein berühmtestes Experiment, die Versuche<br />

mit <strong>der</strong> Fallrinne eher das, was oben Massexperiment bezeichnet wurde als ein echtes<br />

Kausalexperiment. Der Versuch beinhaltet zwar verschiedene Situationen, die man als Differenzsituationen<br />

bezeichnen kann, aber es geht im Wesentlichen nicht um die Frage, welches<br />

Ereignis die Ursache für ein an<strong>der</strong>es Ereignis ist, was ja das Zentrale am Kausalexperiment<br />

ist. Die Fallversuche sollten nicht eine unbekannte Ursache enthüllen, son<strong>der</strong>n eine<br />

gesuchte Konstante, die Fallbeschleunigung; <strong>der</strong>en Beschreibung war gesucht, nicht <strong>der</strong>en<br />

Ursache. Mindestens in diesem Fall kann man Drake zustimmen, wenn er sagt, es gehe<br />

<strong>Galilei</strong> nicht um die Ursachen. 15<br />

Die Uneinigkeit <strong>der</strong> Forscher bezieht sich nicht nur auf die Frage, ob <strong>Galilei</strong> experimentiert<br />

hat, son<strong>der</strong>n auch darauf, welche Rolle das Experiment in <strong>Galilei</strong>s Wissenschaft<br />

gespielt hat. Thomas Settle (1967) schreibt: „What part did experiment play in <strong>Galileo</strong>’s<br />

investigations? In one form or another this question is involved in all the literature on Galilean<br />

science, and it has received various answers” (S. 315). Lei<strong>der</strong> klärt auch Settle diese<br />

Frage nicht und bleibt im Bereich <strong>der</strong> Vermutungen, dass <strong>Galilei</strong> vermutlich sowohl Fallexperimente<br />

auf einem Turm wie auch mit <strong>der</strong> schiefen Ebene gemacht habe. Über Art und<br />

Funktion dieser Experimente sagt auch er nichts genaues aus.<br />

<strong>Galilei</strong> fehlte es nicht nur an einem adäquaten Umgang mit Daten, er ist auch nicht<br />

<strong>–</strong> wie einige das glauben <strong>–</strong> <strong>der</strong> <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> des Experiments, we<strong>der</strong> praktisch noch theoretisch.<br />

<strong>Galilei</strong> war nicht <strong>der</strong> philosophische Kopf <strong>der</strong> experimentellen <strong>Methode</strong>. Ian Hacking<br />

(1996) schreibt über das Experiment in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Revolution des 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts:<br />

14 Interessant sind auch die Ausführungen Di Trocchios über das grösste Heiligtum <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-Hagiographe,<br />

nämlich <strong>Galilei</strong>s Experiment mit <strong>der</strong> schiefen Ebene. Er weist darauf hin, dass auch für dessen Durchführung<br />

erhebliche Zweifel bestehen.<br />

15 Zu <strong>Galilei</strong>s Fallversuchen siehe z. B. Drake (1973) und Settle (1961).<br />

26


Das Experiment wurde nun offiziell als Königsweg zur Erkenntnis hingestellt, während die Scholastiker<br />

verspottet wurden, weil sie sich auf Bücherwissen beriefen, anstatt ihre Umwelt zu beobachten.<br />

Der philosophische Kopf dieser revolutionären Zeit war Franzis Bacon. (S. 249) 16<br />

Zumindest die For<strong>der</strong>ung nach experimenteller Überprüfung hat lange vor <strong>Galilei</strong><br />

bestanden. Nach Detel (1974) stimmt es nicht, dass in <strong>der</strong> scholastischen Physik eine experimentelle<br />

Prüfung <strong>der</strong> Theoreme nicht vorgesehen war. „Die wissenschaftsgeschichtliche<br />

Forschung <strong>der</strong> letzten Zeit hat uns eines an<strong>der</strong>en belehrt. Nicht wenige scholastische Autoren<br />

haben ausdrücklich die experimentelle Überprüfung physikalischer Aussagen gefor<strong>der</strong>t,<br />

z. B. Robert Grosseteste und Roger Bacon“ (S. 235).<br />

Noch viel weniger als theoretisch ist <strong>Galilei</strong> für die experimentelle Praxis ein <strong>Erfin<strong>der</strong></strong><br />

o<strong>der</strong> ein Erneuerer. Es ist auch vor <strong>Galilei</strong> bereits experimentiert worden. Man kann<br />

für die frühe Neuzeit z. B. William Gilbert nennen, dessen Arbeiten <strong>Galilei</strong> kannte und<br />

schätzte. Gilberts Werk über den Magnetismus <strong>–</strong> das <strong>Galilei</strong> natürlich kannte <strong>–</strong> enthielt das<br />

Wort „Experiment“ bereits im Untertitel: Über den Magneten, auch von den magnetischen<br />

Körpern und dem grossen Magneten <strong>der</strong> Erde; die neue Physiologie mit vielen Argumenten<br />

und Experimenten demonstriert. Gilbert scheint wie <strong>Galilei</strong> ein kritischer Geist gewesen<br />

zu sein, denn er „stützte sich nicht auf bestimmte Autoritäten <strong>der</strong> Vergangenheit, wie<br />

dies Tradition <strong>der</strong> Gelehrten jener Zeit war, son<strong>der</strong>n weitgehend auf eigene Beobachtungen<br />

und Experimente“ (Ziffel 2004, S. 46). 17 Gilbert scheint dabei bereits an die Nachvollziehbarkeit<br />

und die Reproduzierbarkeit seiner Versuche gedacht zu haben, denn<br />

In seinem eigenen Buch präsentierte er eine Fülle subtil ausgeführter Experimente so detailliert, dass<br />

die Leser in die Lage versetzt wurden, die Apparaturen selbst nachzubauen und die Versuche zu<br />

wie<strong>der</strong>holen. (S. 46)<br />

Mindestens in diesem Punkt war Gilbert wohl bereits weiter als <strong>Galilei</strong>, <strong>der</strong> die Leser<br />

oft auf vermeintlich durchgeführte Experimente hinweist, <strong>der</strong>en Gewähr nicht gerade<br />

gross ist. Das ist erstaunlich, denn nach Drake (1981) ist sich die Forschung einig über<br />

Gilberts Einfluss auf <strong>Galilei</strong>, „The astronomy of Copernicus and the magnetic researches<br />

of William Gilbert were obvious and acknowledged sources of his work“ (S. 246). <strong>Galilei</strong><br />

war daher wohl nicht <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Experimentator, als den er betrachtet worden ist. „Die<br />

schon früh einsetzende Mythisierung“ schreibt Blumenberg (2002) habe „<strong>Galilei</strong> als den<br />

spektakulären Experimentator erscheinen lassen“ (S. 49), <strong>der</strong> die Theorie <strong>der</strong> empirischen<br />

Forschung aus eigenem Antrieb verwirklicht habe. Diese habe darin bestanden, aus <strong>der</strong><br />

Sammlung einer grossen Anzahl von Erfahrungsdaten die darin verborgenen Gesetzmässigkeiten<br />

herauszupräparieren. Aber, so Blumenberg:<br />

Mehr o<strong>der</strong> weniger gilt für <strong>Galilei</strong> immer noch, was schon für seinen grossen Vorgänger Nikolaus<br />

von Cues zutreffend ist, dass die beschriebenen und gefor<strong>der</strong>ten Experimente zumeist nur Gedankenexperimente<br />

waren, auch wenn die fast rhetorische Formel hinzugefügt ist: Das habe ich oft<br />

nachgeprüft. Jenes Mäuschen mit historischem Interesse, das <strong>Galilei</strong>s Forschertreiben aus seinem<br />

versteckten Winkel hätte beobachten können, wäre wohl sehr enttäuscht gewesen, was <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>tfachen<br />

Nachprüfung, die <strong>Galilei</strong> für sein Fallgesetz zusichert, an Realität entsprach, wie spärlich das<br />

Datenmaterial war und wie weit es tatsächlich infolge des Ungenügens <strong>der</strong> Versuchsbedingungen<br />

und <strong>der</strong> Messmethoden die angenommenen Gesetzlichkeiten in seinen Toleranzen versteckte. . . ..<br />

Hinter seinen Entdeckungen steht nicht die nüchterne Geschäftigkeit des besessenen Experimentators,<br />

<strong>der</strong> sein Datenmaterial so lange vermehrt, bis es ihn die verborgene Formel preisgibt, son<strong>der</strong>n<br />

die spekulative Antizipation des immer noch an den aristotelischen Prämissen hängenden Vertrauens<br />

auf die schlechthin einfachen Mittel <strong>der</strong> Natur zu ihren Wirkungen. (S. 49f.)<br />

16 Über Bacon gehen allerdings die Meinungen in diesem Punkt auseinan<strong>der</strong>. Siehe z. B. Hossfeld (1957).<br />

17 Über die experimentelle <strong>Methode</strong> von William Gilbert siehe Hossfeld (1957)<br />

27


So hätte <strong>Galilei</strong> nach Blumenberg beim sogenannten Fallexperiment am schiefen<br />

Turm bei einer Höhe von 55 Metern und einer Fallzeit von 3½ Sekunden mit den von ihm<br />

angegebenen <strong>Methode</strong>n <strong>der</strong> Zeitmessung analytisch gar nichts ausmachen können.<br />

Man findet aber nicht nur in <strong>der</strong> Renaissance Vorreiter von <strong>Galilei</strong>, son<strong>der</strong>n schon<br />

viel früher in <strong>der</strong> Antike. Die ältesten Experimente sind gemäss Ernst Mach (1988) „wohl<br />

jene <strong>der</strong> Pythagoräer, welche das Monochord mit verschiebbarem Steg zur Bestimmung<br />

<strong>der</strong> Seitenlängen [Saitenlängen?] bei harmonischem Verhältnis benutzten“ (S. 27). Ein<br />

intensiv diskutiertes Thema <strong>der</strong> antiken Naturphilosophie war das Thema des Vakuums.<br />

Die Atomisten vertraten die Existenz eines absolut leeren Raumes, während Aristoteles<br />

seinen ganzen Scharfsinn aufwendete, um die Unmöglichkeit eines Vakuums zu beweisen.<br />

Für die Naturwissenschaft sei von Belang <strong>–</strong> schreibt Stückelberger (1988), dass man „in<br />

hellenistischer Zeit darangeht, die Frage nicht mehr auf spekulativer Ebene zu debattieren,<br />

son<strong>der</strong>n mit Experimenten zu lösen“ (S. 97). In <strong>der</strong> Frage des Vakuums <strong>–</strong> und auch zu an<strong>der</strong>en<br />

Themen <strong>–</strong> soll viel früher schon Demokrit (um 460 <strong>–</strong> 370 v. Chr.) ein Experiment<br />

durchgeführt haben, um die Position <strong>der</strong> Atomisten gegenüber Aristoteles zu stützen. Bemerkenswert<br />

sei, so Stückelberger, „dass eben gerade dieses Demokritexperiment später<br />

<strong>Galilei</strong> in seiner Frühschrift von 1612 wie<strong>der</strong> aufgreift und Demokrit gegen die Polemik<br />

des Aristoteles verteidigt“ (S. 138f.). Etwa zur selben Zeit gegen Ende des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

führen die Pythagoreer akustische Experimente durch. Es ist anzunehmen, dass <strong>Galilei</strong><br />

bereits als Knabe davon Kenntnis hatte, denn er hat sehr wahrscheinlich seinem Vater Vincenzo<br />

bei seinen akustischen Versuchen zugeschaut. Noch im hohen Alter experimentierte<br />

Vincenzo <strong>Galilei</strong>, um seine These zu beweisen, dass Wohlklang entsteht, wenn Länge o<strong>der</strong><br />

Dicke <strong>der</strong> angeschlagenen Saiten in bestimmten Zahlenverhältnissen zueinan<strong>der</strong> stehen.<br />

Vincenzo „bat seinen Sohn, ihm dabei zu helfen. Zusammen führten sie eine Reihe von<br />

Experimenten mit Saiteninstrumenten durch“ (Strathern 1999a, S. 22). Glaubt man<br />

Strathern, so hatten diese Versuche und die Methodik seines Vaters einen nachhaltigen<br />

Einfluss auf <strong>Galileo</strong>: „Er lernte daraus, dass man mathematische Regeln mit physikalischen<br />

Beobachtungen testen musste. Hier erlebte er eine praktische Anwendung <strong>der</strong> Beweise des<br />

Euklid, die ihn so faszinierten“ (S. 23). Und selbst Stillman Drake (1981) muss eingestehen:<br />

„It is probable that <strong>Galileo</strong>’s interest in the testing of mathematical rules by physical<br />

observations began with the musical experiments devised by his father“ (S. 238). Trifft das<br />

zu, so erscheint uns <strong>Galilei</strong> in Sachen praktischem Experimentierens hier eher als Schüler<br />

denn als Lehrer o<strong>der</strong> Innovator. Ein weiterer persönlicher Bekannter von <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong><br />

beeinflusst haben dürfte <strong>–</strong> ist sein För<strong>der</strong>er Marchese Guidobaldo del Monte (1545-<br />

1607). Dieser war ein hervorragen<strong>der</strong> Mathematiker und Konstruktions-Theoretiker, dessen<br />

Traktate wie das „Mechanicorum liber“ auch <strong>Galilei</strong> beeinflussten. „Del Monte hatte<br />

sämtliche seiner Theoreme an kleinen Modellen von Maschinenelementen getestet, er erwähnte<br />

dies jedoch nur in seinem Briefwechsel <strong>–</strong> in seinen Traktaten dominierte die reine<br />

Wissenschaft“ (Popplow 2004, S. 87). Popplow merkt noch an: „Der Übergang vom technischen<br />

Herumexperimentieren zum <strong>wissenschaftlichen</strong> Experiment war hier aus heutiger<br />

Sicht durchaus fliessend“ (S. 87), was eher nicht zur Heldenthese passt.<br />

Bereits in einigen Schriften des Corpus Hippocraticum aus dem 5. Jh. v. Chr. tritt<br />

eine beson<strong>der</strong>e Vorliebe für das Experiment zutage. Es werden dort Experimente aus dem<br />

physikalischen Bereich herangezogen, um Vorgänge im physiologischen Bereich des<br />

menschlichen Körpers zu erklären; es handelt sich also um ein Analogieverfahren und es<br />

kommt ihnen daher aber noch nicht die Beweiskraft zu, die man von heutigen Experimenten<br />

erwartet. Plato und Aristoteles standen dem Experiment aus diesem Grund skeptisch<br />

gegenüber, was <strong>der</strong> Verwendung des Experiments als Mittel zur Erkenntnis nicht för<strong>der</strong>lich<br />

war. Der grosse Einfluss von Plato und Aristoteles auf die Naturphilosophie bis weit<br />

28


über das Mittelalter hinaus sei wohl „<strong>der</strong> Hauptgrund für das verbreitete Vorurteil, man<br />

habe in <strong>der</strong> Antike keine Experimente angestellt, das bei <strong>der</strong> Betrachtung beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong><br />

hellenistischen Wissenschaft einer näheren Prüfung nicht standhält“ (Stückelberger 1988,<br />

S. 146); denn in <strong>der</strong> hellenistischen Zeit sei das Experiment als Mittel zur <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

Beweisführung anerkannt worden und voll zur Geltung gelangt <strong>–</strong> und genügte nun<br />

an<strong>der</strong>s als die Modellexperimente früherer Epochen auch heutigen Ansprüchen an die Aussagekraft.<br />

„Neben den wenigen in Wortlaut überlieferten Beschreibungen von Experimenten<br />

aus hellenistischer Zeit lassen zahlreiche Ergebnisse vor allem in <strong>der</strong> Anatomie und<br />

Pharmakologie auf eine reiche Experimentiertätigkeit schliessen“ (S. 149). Auf eines <strong>der</strong><br />

vermutlich durchgeführten antiken Experimente sei hier verwiesen, weil es im Zusammenhang<br />

mit <strong>Galilei</strong> interessant ist. Johannes Philoponos (spätes 5. Jh. <strong>–</strong> 2. Hälfte des 6. Jh.),<br />

Philosoph, christl. Theologe und Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Impetustheorie, kritisierte das Fallgesetz<br />

des Aristoteles, wonach in einem Medium die Geschwindigkeiten von fallenden Körpern<br />

proportional zu ihren Gewichten und umgekehrt proportional zur Dichte des Mediums ist,<br />

in folgenden Worten: „Das ist aber vollkommen falsch, wie man durch unmittelbare Beobachtung<br />

viel besser erfahren kann als durch jeden an<strong>der</strong>n nur mit Worten geführter Beweis“<br />

(zitiert nach Toulmin & Goodfield 1970, S. 123). Hinter einer solchen Aussage muss<br />

mindestens eine einfache Art von durchgeführtem Versuch o<strong>der</strong> gezielte Beobachtung von<br />

Alltagserfahrung stecken. „Hier nimmt Philoponos das im allgemeinen <strong>Galilei</strong> zugeschriebene<br />

Experiment um eintausend Jahre voraus“ (S. 123). Wenn überhaupt jemand das Experiment<br />

des Philoponos und seine Argumentation später nach Europa gebracht habe, sei es<br />

wahrscheinlich Simon Stevin gewesen und nicht <strong>Galilei</strong>.<br />

Man scheint aber in <strong>der</strong> Antike nicht nur Experimente durchgeführt zu haben, son<strong>der</strong>n<br />

auch über die Möglichkeiten des Experiments nachgedacht zu haben: „Bedeutungsvoll<br />

für das naturwissenschaftliche Denken <strong>der</strong> hellenistischen Zeit ist nicht nur, dass man<br />

Experimente anstellte, son<strong>der</strong>n auch, dass man <strong>–</strong> mindestens in <strong>der</strong> Spätphase <strong>–</strong> über die<br />

Anwendungsmöglichkeiten des Experiments reflektierte“ (S. 150). Es ist sogar möglich,<br />

dass das Nachdenken über das Experiment noch älter ist als die griechische Antike und<br />

dass die Griechen von den Babyloniern gelernt haben. So schreibt z. B. Ritter (1998), über<br />

die „Pharmakologie“ im Mesopotamien des 17. Jh. v. Chr., “dass die Erprobung neuer<br />

Heilmittel eine Kontrolle <strong>der</strong> Randbedingung erfor<strong>der</strong>t, die man testet, ist eine damals bereits<br />

wohlbekannte Tatsache“ (S. 44). Die <strong>Galilei</strong>-Bewun<strong>der</strong>er werden nun einwenden,<br />

dass das schon stimmen möge, dass sich aber diese antike Experimentiertätigkeit nicht<br />

erhalten konnte und die endgültige Anerkennung des Experiments als wissenschaftliches<br />

Erkenntnismittel erst in <strong>der</strong> frühen Neuzeit bei und mit <strong>Galilei</strong> durchgesetzt habe und von<br />

<strong>der</strong> hellenistischen Epoche bis zu ihm durch das gesamte Mittelalter eine experimentierlose<br />

Wüste bestanden habe, <strong>der</strong>en Wie<strong>der</strong>begrünung man <strong>Galilei</strong> verdanke. Hierzu ist als Erstes<br />

zu bemerken, dass es ebensowenig die Schuld <strong>der</strong> hellenistischen Wissenschaftler ist,<br />

wenn ihre Experimentalmethode wie<strong>der</strong> verlorengegangen ist wie es <strong>Galilei</strong>s Verdienst ist,<br />

dass an<strong>der</strong>e Wissenschaftler zu seiner Zeit o<strong>der</strong> nach ihm die <strong>Methode</strong> aufgenommen und<br />

weitergeführt haben. Zweitens stimmt es nicht, dass in <strong>der</strong> über tausendjährigen Zeitspanne<br />

von den Hellenen bis in die frühe Neuzeit keine Experimente gemacht worden sind. Zumindest<br />

einige islamische Wissenschaftler haben die hellenistische Tradition übernommen.<br />

Die arabische Wissenschaft, die vorhandenes Wissen aus allen Kulturen übernommen<br />

hat, mit denen <strong>der</strong> Islam im Zuge seiner Ausbreitung in Kontakt gekommen ist o<strong>der</strong><br />

die er erobert hat, hat dieses Wissen nicht nur passiv rezipiert, son<strong>der</strong>n fügte existierende<br />

Bausteine zusammen und entwickelte sie durch eigene Arbeiten deutlich weiter. Die muslimische<br />

Gesellschaft brachte so zahlreiche Gelehrte hervor, „die wesentlich zum <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

Fortschritt beitrugen“ (Strohmaier 2001, S. 75). Einer dieser Gelehrten war<br />

<strong>der</strong> bereits erwähnte in Ägypten forschende Al-Hazen (um 965-1035). Er beschrieb die<br />

29


Wirkungsweise von optischen Linsen und konstruierte Hohlspiegel. In unserem Zusammenhang<br />

ist interessant, was Strohmaier über Al-Hazen schreibt: „Mit seinen optischen<br />

Versuchen <strong>–</strong> 600 Jahre vor <strong>Galilei</strong> und Kepler <strong>–</strong> ist er als <strong>der</strong> erste wirkliche Experimentalphysiker<br />

in <strong>der</strong> Geschichte anzusehen“ (S. 75). Ähnlich urteilt Störig (2007): „Mit Alhazen<br />

begann die Wissenschaft <strong>der</strong> Optik ihre Gestalt als mo<strong>der</strong>ne Experimentalwissenschaft<br />

anzunehmen“ (S. 133). Noch höher als Al-Hazen schätzt Strohmaier den „usbekischen“<br />

Wissenschaftler Al-Biruni (973-1048) ein, nämlich als den bedeutendsten Gelehrten des<br />

islamischen Mittelalters. Er hat zwar noch keine mo<strong>der</strong>nen Kausalexperimente gemacht,<br />

aber im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Avicenna, <strong>der</strong> <strong>–</strong> in <strong>der</strong> aristotelischen Denkweise<br />

verhaftet <strong>–</strong> mit seinen Experimenten vorgefasste Theorien bestätigen wollte, immerhin<br />

Versuche durchgeführt, die man laut Strohmaier „heute als Falsifikation bezeichnen<br />

würde“ (S. 79). So wollte Avicenna z. B. in seinem Kanon <strong>der</strong> Medizin die Giftigkeit des<br />

Diamanten theoretisch untermauern, während Al-Biruni berichtet, dass ein Hund, <strong>der</strong> in<br />

seiner Gegenwart mit Diamanten gefüttert wurde, auch nach längerer Zeit nicht starb.<br />

Auch <strong>der</strong> bereits erwähnte Al-Razi (865-925), Arzt und Philosoph aus Persien, hat viele<br />

Experimente gemacht und fast alle seine Aussagen in <strong>der</strong> Medizin erprobt. 18 Auch <strong>der</strong><br />

grösste Arzt des islamischen Mittelalters, <strong>der</strong> aus Buchara stammende Avicenna (980-<br />

1037) besass eine Ahnung von <strong>der</strong> Aussagekraft von Experimenten, empfahl er doch das<br />

Testen von neuen Medikamenten sowohl an Tieren wie auch an Menschen.<br />

Wir sehen, auch wenn die experimentelle Tradition im mittelalterlichen Europa<br />

nicht mehr lebendig war, hatte sie sich doch im islamischen Raum erhalten können. Eine<br />

interessante Frage ist in diesem Zusammenhang, inwieweit die Kenntnis <strong>der</strong> arabischen<br />

Wissenschaft in Europa den Wie<strong>der</strong>aufstieg des Experiments beeinflusst hat. Als sicher<br />

kann jedenfalls gelten, dass Araber für die Verbreitung <strong>der</strong> in Vergessenheit geratenen<br />

griechischen Wissenschaft in Europa eine zentrale Rolle als Vermittler spielten. Benoìt und<br />

Micheau (1998) schreiben dazu: „Vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhun<strong>der</strong>t dienten<br />

die Araber als Vermittler zwischen <strong>der</strong> griechischen Wissenschaft und dem Abendland“ (S.<br />

311). Die Araber vermittelten dem Abendland aber nicht nur griechische Texte, son<strong>der</strong>n<br />

auch Kenntnisse aus Indien und Persien. Der Araber sei aber mehr als nur ein Vermittler<br />

gewesen, er habe das von an<strong>der</strong>en Kulturen Übernommene auch verbessert: „Mit den Mitteln<br />

seiner eigenen Zivilisation verän<strong>der</strong>t, verbessert und verwandelt er die erworbenen<br />

Schätze, schöpft Neues aus ihnen“ (S. 312).<br />

Wir wollen hier die Erläuterungen zum Experiment abschliessen. Es sollte nun hinreichend<br />

klar geworden sein, dass dieser Aspekt <strong>der</strong> Heldenthese ein Mythos ist; <strong>Galilei</strong> ist<br />

we<strong>der</strong> theoretisch noch praktisch ein Inventor in Bezug auf das Experiment. Er ist allerhöchstens<br />

ein Propagandist o<strong>der</strong> För<strong>der</strong>er. Das schliesst natürlich nicht aus, dass er dadurch<br />

gedanklich vielleicht an<strong>der</strong>e Forscher beeinflusst hat. Diese Auffassung vertritt z. B.<br />

Dubarle (1963). So schreibt er über <strong>Galilei</strong>s Versuche mit <strong>der</strong> schiefen Ebene:<br />

If <strong>Galileo</strong> did, in fact, perform measurements of this sort in the way he said he did, their results<br />

would not have contributed very much to his quest, other than a somewhat vague assurance of the<br />

general compatibility between his thinking and his observing. But that would seem to have been all<br />

that he really expected from the kind of experiment he performed. (S. 310)<br />

<strong>Galilei</strong>s Versuche seien eindeutig unzulänglich gewesen, um Beweise zu erbringen.<br />

Er habe sich aber damit begnügt, eine grobe Bestätigung seiner Ideen zu erhalten: „All he<br />

wanted to know was whether he had given a good overall analysis of accelerated fall. And<br />

what he could see, without taking any elaborate experimental precautions, sufficed to reas-<br />

18 Zu Al-Razi siehe z. B. Pines (1975), Mainzer (2004) und (www.wikipedia.org/wiki/Al-Razi).<br />

30


sure him on that point.“ (S. 311). Es habe zu <strong>Galilei</strong>s Zeit noch kein lange erprobtes und<br />

standardisiertes Experimentalvorgehen existiert. Seine Versuche seien aber sehr gut<br />

beschrieben gewesen und „he did in fact lay down for his successors a better set of experimental<br />

protocols than were available to himself“ (S. 311). Es sei nicht so wichtig, ob und<br />

wieviel reine Vorstellung in den Beschreibungen enthalten seien, „what matters is that the<br />

scientific mind would not forget the model here held up to it“ (S. 311). Dubarles Auffassung<br />

dürfte den tatsächlicnen Verhältnissen recht nahe kommen, denn bereits die Idee,<br />

eine Person allein könnte eines Tages einfach so die Idee des mo<strong>der</strong>nen Kausalexperiments<br />

gehabt haben und dieses auch noch ein für allemal in die Wissenschaft eingeführt haben,<br />

erscheint als absurde Idee. Hugo Dingler (1928) schreibt dazu:<br />

Eine genaue Betrachtung seiner [des Experiments] Geschichte wird uns erkennen lassen, dass auch<br />

die Entwicklung des Experimentes nicht einfach darin bestand, dass irgend jemand den simplen Gedanken<br />

fasste, ‚die Natur zu befragen’, son<strong>der</strong>n dass diese Entwicklung in einem durch zweitausendfünfhun<strong>der</strong>t<br />

Jahren stetig fortgesetzten Ringen um diese Probleme bestand, das erst um die Mitte des<br />

neunzehnten Säkulums seinen vollen Abschluss fand. (S. 212)<br />

2.4 <strong>Galilei</strong> und die quantitative Wende <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

Eine weitere Behauptung aus <strong>der</strong> Heldenthese besagt in etwa, dass <strong>Galilei</strong> die mo<strong>der</strong>ne<br />

Wissenschaft dadurch begründet habe, dass er die Mathematik als wissenschaftliches<br />

Werkzeug etabliert habe. <strong>Galilei</strong> habe, wenn man so will, die „quantitative Wende“ vollzogen,<br />

die alte peripatetisch-qualitative Denkweise in <strong>der</strong> Naturphilosophie durch eine<br />

quantitative Sichtweise ersetzt, in welcher Messen und Rechnen die Hauptaufgaben sind.<br />

Stillman Drake (1977) schreibt: We have science, in <strong>Galileo</strong>’s sense, when mathematics<br />

can be applied to events attested to by our senses” (S. 109). Das Neue bei <strong>Galilei</strong> seien<br />

nicht die Experimente gewesen, “but the notion that science was possible only by joining<br />

them with mathematics was new, I believe” (S. 110). Ein Jahr später schon, in Drake<br />

(1978) schreibt er aber, dass <strong>Galilei</strong> diese <strong>Methode</strong> aus <strong>der</strong> Astronomie, genauer, von Ptolemaios<br />

übernommen habe. Er hatte also einen Vorläufer. Und wir erinnern uns an die Experimente,<br />

seines Vaters mit den Saiten; die dabei überprüften Sätze waren bereits mathematisch<br />

formuliert, und es „ist sehr wahrscheinlich, dass diese experimentelle Überprüfung<br />

mathematisch formulierter Sätze auf <strong>Galilei</strong> Einfluss ausübte“ (Janich 2004b, S. 700). Später<br />

habe <strong>Galilei</strong>s Methodologie „den entscheidenden Wendepunkt zur ‚Mathematisierung<br />

<strong>der</strong> Natur’, entsprechend <strong>der</strong> Metapher vom Buch <strong>der</strong> Natur, das in mathematischer Sprache<br />

geschrieben sei“ gebildet (S. 701). Und über die historische Wirkung von <strong>Galilei</strong><br />

schreibt Janich: „<strong>Galilei</strong> führt erstmals eine mathematische Betrachtungsweise sowie das<br />

Experiment in die Physik ein“ (S. 702). Und in einer neueren Publikation schreibt Drake:<br />

„Die neue Grundlage für <strong>Galilei</strong>s Wissenschaft von <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Körper war das<br />

sorgfältige Messen. Dadurch setzte er an die Stelle des althergebrachten Suchens nach Ursachen<br />

das mo<strong>der</strong>ne Suchen nach physikalischen Gesetzen“ (1999, S. 61).<br />

Auch dieser Teil <strong>der</strong> Heldenthese gerät bei näherer Betrachtung ins Wanken. Verschiedene<br />

Punkte gibt es hier anzumerken. Zuerst möchte ich die Meinung vertreten, dass<br />

<strong>Galilei</strong> nicht <strong>der</strong>jenige war, <strong>der</strong> die Wissenschaft „quantifiziert“ hat, also die Mathematik<br />

und das Messen eingeführt hat. Drake selbst gibt zu, dass <strong>Galilei</strong> das Messen aus <strong>der</strong> Astronomie<br />

übernommen hat. Man kommt aber <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Wissenschaft wesentlich<br />

näher, wenn man sagt, dass Rechnen und Messen schon lange vor <strong>Galilei</strong> ein Mittel <strong>der</strong><br />

Wissenschaft war. Ian Hacking (1996) schreibt dazu:<br />

31


Messungen haben wir, wie es scheint, immer schon vorgenommen. Waren die babylonischen Feldmesser<br />

nicht die Vorläufer <strong>der</strong> Geometrie? Planetenmessungen, die bis auf viele Sexagesimalstellen<br />

genau sind, lassen sich bis weit in die antike Welt zurückverfolgen. (S. 385)<br />

Auch Paul Lorenzen (1960) hält fest, „dass die exakte Naturwissenschaft mindestens<br />

2500 Jahre alt ist (Geometrie)“ (S. 1), wobei er unter „exakter Wissenschaft“ eine<br />

Wissenschaft meint, die ihr Endziel in einer mathematischen Theorie sieht, also eine mathematische<br />

Wissenschaft. <strong>Galilei</strong> hat also hier nichts Neues gebracht. Er hat die Praktik<br />

des Messens höchstens auf einen an<strong>der</strong>en Teil <strong>der</strong> Wissenschaft übertragen. Um diese Behauptung<br />

zu belegen, gehe ich zunächst kurz auf die Mathematik <strong>der</strong> Griechen ein. Als<br />

Beispiel <strong>der</strong> Anwendung von Mathematik sei dann auf den grössten Astronomen <strong>der</strong> Antike,<br />

auf Ptolemaios hingewiesen.<br />

„Über die Ursprünge <strong>der</strong> griechischen Mathematik wissen wir wenig“ schreibt<br />

Lindberg (2000, S. 93). Die Ursprünge scheinen in <strong>der</strong> Mathematik <strong>der</strong> Ägypter und Babylonier<br />

zu liegen. Aber die griechische Mathematik war von ihren Vorläufern verschieden,<br />

„<strong>der</strong> Unterschied lag hauptsächlich in <strong>der</strong> griechischen Geometrie, die abstrakte geometrische<br />

Erkenntnisse und die Erarbeitung formaler <strong>Methode</strong>n zu dessen Herleitung und Beweis<br />

anstrebte“ (S. 93). Die antiken geometrischen Kenntnisse sind von Euklid (um 295 v.<br />

Chr.) gesammelt und in seinem Buch Elemente nie<strong>der</strong>geschrieben worden. 19 Der bedeutendste<br />

Nachfolger von Euklid war Archimedes (ca. 287-212 v. Chr.). Er lieferte Beiträge<br />

zur theoretischen wie auch zur angewandten Mathematik und erwarb sich beson<strong>der</strong>en<br />

Ruhm „aufgrund seiner eleganten mathematischen Beweise“ (S. 95). Archimedes Werke<br />

sowie auch das Werk über die Kegelschnitte von Apollonius von Perge (um 220 v. Chr.),<br />

<strong>der</strong> im dritten Jh. v. Chr. auch ein mathematisches Modell für die Planetenbahnen entwickelte,<br />

hatten grossen Einfluss auf die frühe Neuzeit.<br />

Das Paradebeispiel <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> griechischen Geometrie ist die Astronomie.<br />

Bereits das erste griechische Weltbild <strong>–</strong> das Zweisphärenmodell des Platon (427-348/7 v.<br />

Chr.) und des Eudoxos (ca. 390 - ca. 337 v. Chr.) <strong>–</strong> war nach Lindberg so angelegt, „dass<br />

es die verwirrende Komplexität <strong>der</strong> beobachteten Planetenpositionen erklärt und ermöglichte<br />

es, in geometrischen Begriffen über Planetenerscheinungen nachzudenken und zu<br />

sprechen“ (S. 98). Das Modell des Eudoxos bestand aus konzentrisch ineinan<strong>der</strong>liegenden<br />

Kugelsphären für jeden Planeten, die dazu dienten, die unregelmässigen Bewegungen <strong>der</strong><br />

Planeten durch regelmässige Kreisbewegungen <strong>der</strong> verschiedenen Sphären zu erklären. Es<br />

war eine rein geometrische Hypothese, die keinen Anspruch auf physikalische Realität <strong>der</strong><br />

Sphären beanspruchte. Der Zweck des Modells war, „die Einzelkomponenten einer<br />

gleichmässigen Bewegung herauszustellen, die den komplizierten Planetenbahnen zugrunde<br />

liegen und ihnen eine Logik geben“ (S. 101). Eudoxos sucht nicht nach einer physikalischen<br />

Beschreibung o<strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Struktur, „son<strong>der</strong>n nach mathematischer Ordnung“<br />

(S. 110). In <strong>der</strong> hellenistischen Zeit hat Hipparch († nach 127 v. Chr.) die Astronomie weitergebracht;<br />

sein Ziel war, genaue quantitative Voraussagen zu treffen:<br />

Er war es, <strong>der</strong> als erster geometrischen Modellen numerische Werte zuordnete, und seinem Einfluss<br />

war es zu verdanken, dass die For<strong>der</strong>ung nach einer Übereinstimmung von Beobachtung und Theorie<br />

Eingang in die griechische Astronomie fand und diese radikal verän<strong>der</strong>te. (S. 105)<br />

19 Obwohl Euklid zu den bedeutendsten Mathematikern gehört, ist über sein Leben nur sehr wenig bekannt.<br />

Man weiss, dass er in Alexandrien lehrte. Vermutlich hat er an <strong>der</strong> athenischen Akademie die zeitgenössische<br />

Mathematik studiert. Die Sätze in seinem Lehrbuch scheinen aber nicht nur von ihm selbst zu stammen,<br />

son<strong>der</strong>n zum grössten Teil bereits vorhanden gewesen zu sein. Die Bedeutung seines Buches liegt weniger in<br />

<strong>der</strong> Originalität als vielmehr in <strong>der</strong> umfassenden didaktisch geschickten Präsentation durch einen strengen<br />

methodischen (axiomatischen) Aufbau. Zu Euklid siehe z. B. Wolters (2004).<br />

32


Wie hoch das Niveau dieser hellenistischen Astronomie bereits war, ist an <strong>der</strong> Tatsache<br />

zu ersehen, dass Hipparch mit dem im zweiten Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr. vorhandenen Datenmaterial<br />

die Länge des Mondmonats so genau berechnen konnte, dass er nur eine Sekunde<br />

neben dem heutigen Wert lag. Es wäre auch merkwürdig gewesen <strong>–</strong> schreibt Lindberg,<br />

„wenn das hohe Niveau <strong>der</strong> hellenistischen Mathematik sich nicht in <strong>der</strong> mathematischen<br />

Astronomie des Hellenismus wi<strong>der</strong>spiegeln würde“ (S. 106).<br />

Von den fünfhun<strong>der</strong>t Jahren mathematischer Astronomie seit Eudoxos konnte dann<br />

<strong>der</strong> grösste hellenische Astronom profitieren, Claudius Ptolemaios (ca. 85-165 n. Chr.). In<br />

unserem Zusammenhang ist interessant, dass <strong>der</strong> korrekte Titel seines Almagest in etwa<br />

lautet: Mathematische Ordnung <strong>der</strong> Astronomie. Toulmin und Goodfield (1970) schreiben<br />

über dieses Werk:<br />

Das Werk stellt hauptsächlich geometrische <strong>Methode</strong>n zur Berechnung <strong>der</strong> Bahnen von Sonne,<br />

Mond und Planeten am Himmelsgewölbe eingehend dar. Die Sonnen- und Mondberechnungen des<br />

Hipparch werden übernommen und erweitert, ausserdem wird die Bewegung <strong>der</strong> fünf an<strong>der</strong>en Planeten<br />

erschöpfend behandelt. Die von den Babyloniern auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Arithmetik begonnene<br />

Arbeit wurde so von Ptolemaios mit Hilfe <strong>der</strong> Geometrie vollendet. (S. 144)<br />

Zur verwendeten Mathematik schreiben sie: „Die mathematischen <strong>Methode</strong>n des<br />

Ptolemäus zeugen von grösstem Scharfsinn, doch muss hier wegen ihrer Komplexität auf<br />

die Wi<strong>der</strong>gabe verzichtet werden“ (S. 144). 20 Aufgrund seiner Modelle waren dann „genaue<br />

quantitative Vorhersagen zukünftiger Planetenpositionen möglich“ (Lindberg 2000,<br />

S. 106).<br />

Die Verbindung von Wissenschaft und Mathematik, die einige Autoren <strong>Galilei</strong> zuschreiben<br />

möchten, ist also schon fester Bestandteil <strong>der</strong> antiken Astronomie. Diese Verbindung<br />

von Fachdisziplin und Mathematik war we<strong>der</strong> willkürlich noch zufällig: Ptolemaios<br />

sah in ihr das einzige Mittel zur Erlangung von Gewissheit. Er äussert sich dazu im<br />

Vorwort des ersten Buches des Almagest. Ptolemäus (1963) greift dort die von Aristoteles<br />

getroffene Einteilung des theoretischen Teiles <strong>der</strong> Philosophie in Physik, Mathematik und<br />

Theologie auf und vergleicht diese drei Bereiche in Bezug auf die Beweiskraft ihrer Aussagen<br />

miteinan<strong>der</strong>. Der Theologie und <strong>der</strong> Physik weist Ptolemaios eine mehr spekulative<br />

als sichere Erkenntnis zu. Der Theologie „wegen <strong>der</strong> absoluten Unsichtbarkeit und Unfassbarkeit<br />

ihres Gegenstandes“, <strong>der</strong> Physik „wegen <strong>der</strong> Unbeständigkeit und Unklarheit <strong>der</strong><br />

Materie“ (S. 3), so dass „einzig und allein die Mathematik, wenn man auf dem Wege<br />

scharfer Prüfung an sie herantritt, ihren Jüngern ein zuverlässiges und unumstössliches<br />

Wissen“ (S. 3) darbietet. Die Mathematik ist nun einerseits das ideale Mittel, um die<br />

himmlischen Körper, die ja in einer Region sind, in <strong>der</strong> sich alles immer gleich bleibt, zu<br />

untersuchen und an<strong>der</strong>erseits ein Hilfsmittel sowohl für die an<strong>der</strong>en Wissenschaften <strong>–</strong> also<br />

Theologie und Physik, „die nicht weniger leistet als diese selbst“ (S. 3). Der Einbezug <strong>der</strong><br />

Mathematik führte nach Grasshoff (1990) zu einem deduktiven Aufbau <strong>der</strong> Theorie:<br />

The wish to deduce astronomical laws with mathematical rigor imposes a methodological or<strong>der</strong> on<br />

astronomy for Ptolemy that is reflected in the thematic structure of the Almagest. With the certainty<br />

of the deductive form of argumentation Ptolemy first of all develops the auxiliary mathematical and<br />

astronomical hypothesis in or<strong>der</strong> to formulate the astronomical theories in their logical or<strong>der</strong>. (S. 8)<br />

Sollte es also <strong>der</strong> Fall sein, dass die galileische Wissenschaft durch die Verbindung<br />

von Fachdisziplin mit Mathematik zu charakterisieren ist, sei hinzugefugt, dass es sich in<br />

20 Zur antiken mathematischen Astronomie siehe Otto Neugebauer (1957) und (1975). Das letztgenannte<br />

Buch ist ein dreibändiges umfassendes Werk über die antike mathematische Astronomie und ist für Nicht-<br />

Astronomen schwer verständlich.<br />

33


diesem Falle nicht um eine galileische, son<strong>der</strong>n um eine ptolemäische Wissenschaft handelt.<br />

Stillman Drake (1978) schreibt, <strong>Galilei</strong> habe die Mathematik von <strong>der</strong> Astronomie<br />

auf die Physik übertragen. Das legt den Gedanken nahe, die Alten hätten keine mathematische<br />

Physik betrieben. Das ist nicht <strong>der</strong> Fall. 21 „Ein weiteres Fachgebiet, auf das die Mathematik<br />

im Altertum erfolgreich angewendet wurde, war die Optik“ (Lindberg 2000, S.<br />

112). Und hier war es Euklid, <strong>der</strong> den ersten Versuch machte, eine mathematische Theorie<br />

des Sehens aufzustellen. Die beste hellenistische Schrift zur mathematischen Optik <strong>–</strong> so<br />

Lindberg <strong>–</strong> sei jedoch dem Ptolemaios zuzuschreiben. Es handle sich um „eines <strong>der</strong> bedeutendsten<br />

Werke zur Optik aus <strong>der</strong> Zeit vor Newton“ (S. 114). Im Gegensatz zur euklidischen<br />

Theorie sei sie nicht nur mathematisch gewesen, son<strong>der</strong>n auch eine gründliche Analyse<br />

<strong>der</strong> physikalischen und psychologischen Aspekte des Sehens. Der geometrische Teil<br />

dieses Textes „erwies sich als höchst bedeutend, denn er zeigt, wie man an die Themen<br />

Sehen und Licht mit geometrischen Begriffen herangehen konnte“ (S. 114). Zudem dachte<br />

sich Ptolemaios Experimente aus, mit denen sich seine Reflexionstheorie testen liess. Mit<br />

Experimenten versuchte er auch herauszufinden, ob es einen festen mathematischen Quotienten<br />

aus Einfalls- und Brechungswinkel gibt, fand aber in den Werten nur eine mathematische<br />

Regelmässigkeit. Als dritten Bereich nennt Lindberg die Wissenschaft vom Hebel<br />

und vom Waagbalken, „<strong>der</strong> in <strong>der</strong> hellenistischen Epoche mit den Mitteln <strong>der</strong> Mathematik<br />

analysiert wurde“ (S. 116). Beiträge dazu stammen von PseudoAristoteles, Euklid<br />

und Archimedes, <strong>der</strong> das Problem auf geometrische Prinzipien zurückführte. Archimedes<br />

hat mehrere Werke geschrieben, die sich mit <strong>der</strong> Lösung von Problemen aus dem Bereich<br />

<strong>der</strong> Mathematik befassten. Mit diesen Werken wurde er „zum Symbol für die Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Mathematik und zur Quelle <strong>der</strong> Inspiration für jene, die daran glaubten, dass die<br />

Mathematik sich immer mehr durchsetzen würde“ (S. 118). Davon war <strong>Galilei</strong> auch überzeugt,<br />

aber er war nicht <strong>der</strong> erste und nicht <strong>der</strong> einzige mit dieser Überzeugung. 22<br />

Man muss zweitens auch die Frage stellen, was denn <strong>Galilei</strong> unter „Mathematik“<br />

überhaupt verstanden hat und ob es sich um das selbe Verständnis von mathematischer<br />

Wissenschaft gehandelt hat wie das mo<strong>der</strong>ne. Nach Fleckenstein (1964) galten dem antiken<br />

Denken „die Figuren des Geometers und die Zahlen des Rechners als zueinan<strong>der</strong> wesensfremd“<br />

(S. 114). Der Meister aller astronomischen Rechner sei Kepler gewesen und<br />

seine Mathematik die des arithmetischen Empirismus. <strong>Galilei</strong>s Mathematik dagegen,<br />

„bleibt trotz aller Dialektik <strong>der</strong> Indivisibilen im Bannkreis <strong>der</strong> platonischen Geometrie“ (S.<br />

114). <strong>Galilei</strong> habe jede algebraische <strong>Methode</strong> „abhorresziert“ und seine Schüler verabscheuten<br />

„noch ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t später die Anwendung <strong>der</strong> algebraischen <strong>Methode</strong><br />

des Descartes auf die reinen Gestalten <strong>der</strong> griechischen Geometrie“ (S. 114). Koyré<br />

(1998b) spricht von <strong>der</strong> „mo<strong>der</strong>nen mathematischen, archimedischen [im Original nicht<br />

kursiv] Physik“ (S. 93). Aber gerade diese archimedische Geometrie war letztlich eine platonische<br />

Geometrie und diese sei, so Paul Strathern (1999b) mit einem mystischen Aberglauben<br />

verbunden gewesen: „Platon glaubte an Gott und die Geometrie. Er glaubte, dass<br />

Gott die Welt nach geometrischen Gesichtspunkten geschaffen habe“ (S. 42). Ob eine solche<br />

Ansicht wirklich fortschrittlich war, ist zu bezweifeln, denn „Platons mystischer Aberglauben<br />

behin<strong>der</strong>te die Geometrie zweitausend Jahre lang, bis <strong>der</strong> französische Philosoph<br />

und Mathematiker Descartes im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t mit <strong>der</strong> Tradition brach“ (S. 43). Auch<br />

21 Das erste mathematische Physikbuch scheint „Die Mechanik des Aristoteles“ (um 280 v. Chr.) gewesen zu<br />

sein. Toulmin und Goodfield (1970) schreiben über sie: „Sie ist <strong>der</strong> erste systematisch durchgeführte Versuch<br />

einer Übersetzung <strong>der</strong> verallgemeinernden Argumente des Aristoteles in die Sprache mathematischer Gleichungen“<br />

(S. 139).<br />

22 Zur Mathematik in den antiken Wissenschaften siehe z. B. O. Neugebauer (1957).<br />

34


Boyer (1967) weist ausdrücklich auf diese konservative Haltung <strong>Galilei</strong>s in <strong>der</strong> Mathematik<br />

hin: „in mathematics, his ideas were conservative and bound by local prejudices“ (S.<br />

241), wobei er oft auch über die lokalen Entwicklungen des Fachs nicht im Bilde gewesen<br />

sei, ganz zu schweigen von <strong>der</strong> lebhaften Entwicklung <strong>der</strong> Mathematik zu seiner Zeit.<br />

„<strong>Galileo</strong> appears to have lived through the stirring mathematical developments of his day<br />

without playing much attention to them“ (S. 241).<br />

Ob daher <strong>Galilei</strong> mit einer solchen Einstellung eine wichtige Rolle gespielt hat für<br />

die Entstehung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen mathematischen Wissenschaften, ist sehr fraglich. Fakt ist<br />

jedenfalls: <strong>Galilei</strong>s Mathematik hat mit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen algebraischen Mathematik nichts zu<br />

tun, sie ist reine Geometrie und zwar auch nicht mo<strong>der</strong>ne analytische Geometrie, son<strong>der</strong>n<br />

reine Verhältnisgeometrie. „For <strong>Galileo</strong>, mathematics meant geometry“ (Machamer 1998,<br />

S. 64) und “<strong>Galileo</strong> used a comparative, relativized geometry of ratios as the language of<br />

proof and mechanics . . .. This is very different from what will follow in the eighteenth<br />

century and from the way we think of science today” (S. 65).<br />

Es ist drittens aber auch fragwürdig, die Verwendung <strong>der</strong> Mathematik als eigentliches<br />

Zeichen <strong>der</strong> Wissenschaftlichkeit zu bezeichnen. Wie viele Wissenschaften gibt es in<br />

diesem Fall noch? Vermutlich nur noch die Naturwissenschaften. Was betreiben dann die<br />

an<strong>der</strong>en Fächer in den Kultur- und Geisteswissenschaften? Wer also behauptet, <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong><br />

o<strong>der</strong> wer auch immer <strong>–</strong> habe mit <strong>der</strong> Quantifizierung <strong>der</strong> Wissenschaft diese erst begründet,<br />

o<strong>der</strong> jedenfalls die mo<strong>der</strong>ne Wissenschaft begründet, schliesst alle Nicht-<br />

Naturwissenschaften aus dem Kanon <strong>der</strong> Wissenschaften aus. Ist das überzeugend?<br />

Viertens gibt es gerade in <strong>Galilei</strong>s Astronomie eine erstaunliche Tatsache zu konstatieren.<br />

Obwohl die antike Astronomie die mathematische Wissenschaft par excellence<br />

war, hat <strong>Galilei</strong> gerade dort die Mathematik vernachlässigt, indem er die mathematische<br />

Theorie <strong>der</strong> Planetenbahnen von Johannes Kepler nicht zur Kenntnis genommen hat. Das<br />

ist umso unverständlicher, da es <strong>Galilei</strong>s Herzensanliegen war, dem Kopernikanismus zum<br />

Durchbruch zu verhelfen. Diese Tatsache wi<strong>der</strong>spricht eklatant <strong>der</strong> Ansicht von <strong>der</strong> Wichtigkeit<br />

<strong>der</strong> Mathematik bei <strong>Galilei</strong>. Wie Boyer (1967) schreibt, fällt dieses Manko beson<strong>der</strong>s<br />

bei <strong>der</strong> Lektüre des Dialogs auf:<br />

In the Two chief systems, there is very little mathematical astronomy; and when during the discussion<br />

of the Third Day, some questions arise concerning stellar parallax, the exposition is quite elementary.<br />

(S. 245)<br />

Fünftens <strong>–</strong> und dies ist mein schärfster Einwand gegen diesen Teil <strong>der</strong> Heldenthese<br />

<strong>–</strong> ist die Einführung <strong>der</strong> Mathematik o<strong>der</strong> des Messens keine Frage <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

Methodologie. Wenn wir Wissenschaftstheoretiker von <strong>der</strong> „mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft“ reden,<br />

meinen wir in erster Linie ihre Begründungs- o<strong>der</strong> Rechtfertigungsverfahren. Uns<br />

interessiert in erster Linie, wie die Wissenschaftler ihre Aussagen rechtfertigen und <strong>–</strong> bei<br />

historischer Betrachtung <strong>–</strong> wie und wann diese Art <strong>der</strong> Rechtfertigung aufgekommen o<strong>der</strong><br />

entstanden ist. Die Hauptfrage <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Methodologie geht nach <strong>der</strong> Rechtfertigung<br />

<strong>der</strong> Erkenntnis, ist also eine philosophische Frage. Das fachwissenschaftliche<br />

Handwerkzeug wie z. B. die fachspezifischen Darstellungsmethoden sind dagegen von<br />

sekundärem Interesse. Die Mathematik gehört in diesen zweiten Bereich. Sie ist ein Darstellungsmittel<br />

und nicht ein Rechtfertigungsmittel. Mit ihrer Hilfe stellen die Naturwissenschaftler<br />

Zusammenhänge und Verhältnisse in <strong>der</strong> Natur dar. Zur Rechtfertigung dieser<br />

Zusammenhänge <strong>–</strong> also <strong>der</strong> postulierten Theorien <strong>–</strong> leistet die Mathematik nichts. Natürlich<br />

ist die Mathematik ein äusserst nützliches und potentes Hilfsmittel für die Wissenschaft,<br />

aber eben nicht als Mittel <strong>der</strong> Rechtfertigung. Eine Theorie ist durch ihre mathematische<br />

Ausarbeitung noch nicht gerechtfertigt, und vermutlich ist die Geschichte <strong>der</strong> wis-<br />

35


senschaftlichen Irrtümer voll von mathematischen Formeln. „By geometric proof alone“<br />

schreibt Pitt (1988) „nothing physical is shown” (S. 94). <strong>Galilei</strong>, so Pitt, habe das genau<br />

gewusst, darum habe er immer versucht, einen mathematischen Beweis auch physikalisch<br />

zu interpretieren. Selbst wenn also <strong>Galilei</strong> wirklich <strong>der</strong> erste gewesen wäre, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

die Mathematik verwendet hätte, wäre er vom philosophischen Standpunkt aus<br />

trotzdem nicht <strong>der</strong> „Begrün<strong>der</strong>“ <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong>, weil von wissenschaftstheoretischer<br />

Warte aus eben die Frage nach dem Entstehen und Aufkommen <strong>der</strong><br />

Rechtfertigungsmethode im Zentrum des Interesses steht und nicht in erster Linie die Frage<br />

nach einem Darstellungsmittel.<br />

Auf eine weitere bisher wohl nicht beachtete Konsequenz von <strong>Galilei</strong>s Naturphilosophie<br />

weist <strong>der</strong> Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (1997) hin. Wenn es stimmt,<br />

dass man <strong>–</strong> wie <strong>Galilei</strong> sagt <strong>–</strong> die Natur nur verstehen kann, wenn man vorher die Sprache<br />

und die Buchstaben gelernt hat, in denen sie „geschrieben ist“, also nur <strong>der</strong>jenige die Natur<br />

begreifen kann, welcher kein mathematischer Analphabet ist, „dann bedeutet dies doch,<br />

dass alle diejenigen, die nicht mit Formeln und geometrischen Gebilden umgehen können<br />

<strong>–</strong> und das sind sicher die meisten Menschen <strong>–</strong>, auch nicht verstehen, wie die Natur funktioniert“<br />

(S. 106f.). Fischer selbst lehnt diese Konsequenz ab, und meint, dass auch <strong>der</strong>jenige<br />

die Natur verstehen könne, <strong>der</strong> keine Mathematik kenne, denn es habe auch „grosse Naturforscher<br />

wie Michael Faraday, die keine Mathematik verstanden haben“ (S. 107) gegeben.<br />

Tatsächlich dürfte diese erkenntnistheoretische Behauptung von <strong>Galilei</strong> aus dem Saggiatore,<br />

<strong>der</strong> von vielen Autoren als grossartiger Gedanke besungen wird, ein philosophischer<br />

Missgriff gewesen sein. Denn es gilt zu berücksichtigen, dass es sich hier um schwierige<br />

philosophische Fragen handelt: Warum kann die Mathematik zur Beschreibung <strong>der</strong> Natur<br />

angewendet werden? Ist die Natur mathematischer Struktur o<strong>der</strong> ist die Mathematik nur ein<br />

kontingentes Hilfsmittel für die Wissenschaft? Solche Fragen erfor<strong>der</strong>n eine tiefgreifende<br />

philosophische Behandlung. Bei <strong>Galilei</strong> finden sich dazu lediglich einige unbegründete<br />

Behauptungen im Saggiatore. Eine ausführliche philosophische Reflexion dazu gibt es<br />

nicht.<br />

2.5 <strong>Galilei</strong> als Kämpfer für die Autonomie <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

Wenn es um das Verhältnis von Wissenschaft und Religion in <strong>der</strong> frühen Neuzeit<br />

geht, wird oft auf <strong>Galilei</strong>s heldenhafte Verteidigung des <strong>wissenschaftlichen</strong> Denkens gegenüber<br />

<strong>der</strong> Theologie und dem kirchlichen Anspruch auf den Vorrang ihrer Dogmen gegenüber<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft verwiesen. Aber dieser Punkt zeigt bei näherem Hinsehen nur,<br />

was bisher schon genannt wurde; <strong>Galilei</strong> ist nicht <strong>der</strong> einsame Vorkämpfer für den er<br />

gehalten wird. <strong>Galilei</strong> hat sich zu diesen Fragen in zwei Briefen geäussert; in einem ersten<br />

an seinen früheren Lieblingsschüler und Freund, den Benediktinermönch und Professor<br />

Pater Benedetto Castelli (1577-1643) und in einem zweiten an die Grossherzogin-Mutter<br />

Christine. 23 <strong>Galilei</strong> äussert sich dort für die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Wissenschaft von <strong>der</strong><br />

Theologie. Für <strong>Galilei</strong> gibt es zwei Bücher, das Buch <strong>der</strong> Natur und das Heilige Buch. 24 Im<br />

ersten steht geschrieben, wie die Natur beschaffen ist, das zweite handelt vom Lob Gottes<br />

23 Eine Übersicht über <strong>Galilei</strong>s wichtigste Schüler und <strong>der</strong>en Werk gibt Procissi (1967).<br />

24 Es scheint, dass sich <strong>Galilei</strong> bereits mit <strong>der</strong> Wahl dieses Ausdrucks verdächtig gemacht hat. Ursprünglich<br />

stammt <strong>der</strong> Begriff von Augustinus und war ein fester Bestandteil <strong>der</strong> christlichen Theologie geworden. Zu<br />

<strong>Galilei</strong>s Zeit ist <strong>der</strong> Begriff aber suspekt geworden, denn gemäss Redondi (1989, S. 41) wurde er mit <strong>der</strong><br />

1561 verfassten Confessio Belgica in Verbindung gebracht. Diese wurde 1566 auf <strong>der</strong> Synode von Antwerpen<br />

angenommen und <strong>der</strong> dort gegründeten calvinistischen Kirche als theologisches Fundament zu Grunde<br />

gelegt. <strong>Galilei</strong> hat sich damit in die Nähe <strong>der</strong> reformatorischen Bewegung gebracht.<br />

36


und <strong>der</strong> Rettung <strong>der</strong> Seelen. Die Heilige Schrift <strong>–</strong> so <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> ist dazu da, den Menschen<br />

den Weg ins Himmelreich zu zeigen, aber nicht, um Aussagen über die Sphären des Himmels<br />

und <strong>der</strong> Gestirne zu machen. Es sei unumwunden konzediert, dass <strong>Galilei</strong> hier einen<br />

mo<strong>der</strong>nen Standpunkt einnimmt und mutig dafür eintritt. Wo aber wi<strong>der</strong>sprochen werden<br />

soll, ist bei <strong>der</strong> Behauptung, <strong>Galilei</strong> sei <strong>der</strong> einzige, sich <strong>der</strong> Gefahr aussetzende Held dieses<br />

Kampfes gewesen. Bereits <strong>der</strong> Kirchenvater Augustinus (354-430) hat die Vereinbarkeit<br />

von Wissenschaft und Religion gepredigt (allerdings mit den Primat <strong>der</strong> Religion), auf<br />

den sich <strong>Galilei</strong> in seinem Brief auch beruft. Nach Augustinus sollen die Theologen anerkennen,<br />

was die Wissenschaftler unzweifelhaft bewiesen haben; wenn diese Erkenntnisse<br />

für Augustin auch nicht wichtig sind. In diesem Sinne wäre die Kirche ja auch bereit gewesen,<br />

einschlägige Stellen in <strong>der</strong> Bibel an<strong>der</strong>s zu interpretieren, wenn ein unzweideutiger<br />

Beweis für die Erdbewegung vorgelegen hätte. Ein an<strong>der</strong>er Kämpfer für die Unabhängigkeit<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft von <strong>der</strong> Theologie war <strong>Galilei</strong>s peripatetischer Konkurrent <strong>–</strong> aber<br />

nicht Feind <strong>–</strong> in Padua, Cesare Cremonini (1550-1631). James Reston (1998) schreibt über<br />

ihn:<br />

Leidenschaftlicher und unverblümter noch, als <strong>Galileo</strong> das später jemals wagen sollte, war Cremonini<br />

in seinen Aristoteles-Kommentaren für die strikte Unabhängigkeit <strong>der</strong> Naturphilosophie von <strong>der</strong><br />

Theologie, <strong>der</strong> Vernunft vom Glauben und des Intellekts von <strong>der</strong> Seele eingetreten. (S. 124)<br />

Es ist anzunehmen, dass <strong>Galilei</strong> in diesem Punkt auch von Freunden, Mitstreitern<br />

und Schülern unterstützt wurde. Zu nennen wären hier sicher einmal Paolo Sarpi (1552-<br />

1623), Servitenpater und Freund <strong>Galileo</strong>s in Padua. Sarpi war dabei, eine kritische Geschichte<br />

über das Tridentinische Konzil zu schreiben und unterstützte den Dogen von Venedig<br />

im Kampf gegen den Machtanspruch aus Rom. Dabei zog er so wirkungsvoll die<br />

Fäden in Venedig, dass Papst Paul V. zum Mittel des Meuchelmordanschlags griff, den<br />

Sarpi wie durch ein Wun<strong>der</strong> überlebte. Sarpi galt als erfahrener Politiker und Philosoph<br />

und verfügte über ein umfangreiches und fundiertes historisches Wissen und nahm regen<br />

Anteil an den zeitgenössischen <strong>wissenschaftlichen</strong> Entwicklungen. Er beschäftigte sich mit<br />

dem Blutkreislauf, dem Magnetismus, <strong>der</strong> Optik, <strong>der</strong> Chemie, <strong>der</strong> Metallverarbeitung und<br />

er „wandte sich mit Leidenschaft gegen jede Einmischung des Vatikans in weltliche Belange<br />

und insbeson<strong>der</strong>e gegen den allenthalben spürbaren Würgegriff <strong>der</strong> Inquisition, <strong>der</strong><br />

wie<strong>der</strong> einmal das Geistesleben einer Epoche strangulierte“ (Reston 1998, S. 135). 25 Mit<br />

Sicherheit haben auch alle Kopernikaner die Unabhängigkeit von Wissenschaft und Theologie<br />

vertreten. Viele davon dürften Kleriker gewesen sein. Reston schreibt dazu: „Im<br />

Machtbereich <strong>der</strong> römischen Kirche gab es noch zahlreiche Gelehrte, die sich wie er [<strong>Galilei</strong>]<br />

umgehend zur Auffassung des Kopernikus bekannt hätten, wäre dies nur ohne Gefahr<br />

für Leib und Leben möglich gewesen“ (S. 280). Einer, <strong>der</strong> es gewagt hatte, war <strong>der</strong> Dominikaner<br />

Luigi Maraffi (15??-1616). Maraffi oblag bei den Dominikanern die Ausbildung<br />

<strong>der</strong> Prediger sowie die För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ordenspflichten in Lehre und Mission. In dieser<br />

Funktion besuchte er von Zeit zu Zeit die Dominikaner in Stift <strong>der</strong> Kirche Santa Maria de<br />

Novella mit ihrer berühmten Fassade von Leon Battista Alberti in Florenz, von welcher aus<br />

auch Angriffe auf <strong>Galilei</strong> ausgingen. 26 <strong>Galilei</strong> war mit Maraffi befreundet und kam immer<br />

in die Kirche, wenn dieser anwesend war. Reston schreibt über ihn:<br />

25 Auch in religiösen Fragen war Sarpi wohl einiges kritischer o<strong>der</strong> auch mutiger als <strong>Galilei</strong>. Er drohte nach<br />

Laemmel (1942) „in einem Konflikt mit Rom (1606) unverblümt mit dem Abfall zu Protestantismus“ (S. 28).<br />

26 Es scheint, dass einige Philosophen den unbedarften Mönchen im Stift eingeredet haben, dass <strong>Galilei</strong> häretische<br />

Ansichten vertrete und diese zum Angriff aufgewiegelt haben. Ein Dominikaner namens Tommaso<br />

Caccini hielt am vierten Adventssonntag 1614 eine öffentliche Anklagepredigt, in welcher er nicht nur <strong>Galilei</strong>,<br />

son<strong>der</strong>n alle Mathematiker und die Mathematik insgesamt verdammte. Für Maraffi und verschiedene<br />

hohe Kleriker war dieser Angriff auf <strong>Galilei</strong> ein Ärgernis.<br />

37


Er war eine kraftvolle, fortschrittlich gesinnte Priesterpersönlichkeit, eigenständig genug, um auch<br />

bei gelegentlichen Zusammenkünften mit den Jesuiten im benachbarten Collegio Romano offen für<br />

die kopernikanische Lehre einzutreten. Und Maraffi war stolz auf seine Freundschaft zu <strong>Galileo</strong>. (S.<br />

252f.)<br />

Mit Tommaso Campanella (1568-1639) finden wir sogar einen Geistlichen, <strong>der</strong><br />

nicht Kopernikaner war, aber in diesem Punkt trotzdem auf <strong>Galilei</strong>s Seite stand: „Campanella<br />

wurde nie ein Kopernikaner, wollte jedoch für katholische Naturwissenschaftler die<br />

geistige Freiheit bewahren“ (Shea & Artigas 2006, S. 99). Auch von den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

Akademie <strong>der</strong> Luchse, wo <strong>Galilei</strong> Mitglied war, und auch Kleriker dazu gehörten, ist anzunehmen,<br />

dass sie in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Unabhängigkeit von Wissenschaft und Religion die selbe<br />

Meinung vertraten wie <strong>Galilei</strong>. Das selbe ist wohl auch von Schülern und Mitarbeitern <strong>Galilei</strong>s<br />

anzunehmen wie Vincenzo Viviani (1627-1703) und Evangelista Torricelli (1608-<br />

1647). Wir können sogar einen Schritt weiter gehen und vermuten, dass <strong>Galilei</strong> in dieser<br />

Hinsicht eher Nachzügler als Vorprescher war, weil er im Grunde nur die in Padua und<br />

Venedig vorherrschende Meinung übernommen hat. Das wird uns aus unverdächtigem<br />

Munde bestätigt: „The atmosphere at Padua was propitious in every way to <strong>Galileo</strong>’s development.<br />

He quickly made the acquaintance of free and erudite spirits, in such men as G.<br />

V. Pinelli and Paolo Sarpi” (Drake 1981, S. 239); und weiter: “Un<strong>der</strong> the Venetian government,<br />

the university enjoyed virtually complete freedom from outside interference” (S.<br />

239). <strong>Galilei</strong> hat folglich nur weitergetragen, was er in Padua erfahren hat.<br />

Zu einem differenzierteren Ergebnis in <strong>der</strong> Frage von <strong>Galilei</strong>s Position zum Verhältnis<br />

von Wissenschaft und Religion kommt Dorn (2000). Er bezweifelt die oft geäusserte<br />

Meinung, wonach es <strong>Galilei</strong> um eine strikte Autonomie <strong>der</strong> Wissenschaft von <strong>der</strong> Religion<br />

gegangen sei. Fasse man den Autonomiebegriff so, dass er im Hinblick auf die Naturwissenschaft<br />

bedeute, „dass sie autolegitimativ, autoregulativ und autoexplikativ wäre“<br />

(S. 19), dass also ihre Existenzbegründung, die Regeln, nach denen sie betrieben wird und<br />

die Strukturen <strong>der</strong> logischen Verbindungen <strong>der</strong> gewonnenen Aussagen untereinan<strong>der</strong> aus<br />

sich selbst heraus liefert, so sei es „mindestens fragwürdig, ob <strong>Galilei</strong> in seinem Inneren<br />

von einem solchen Autonomieverständnis <strong>der</strong> Naturwissenschaften, vielleicht nur in Andeutungen,<br />

überzeugt war“ (S. 19). Im Zeitalter des Barock seinen solche Autonomiegedanken<br />

etwas Fremdes gewesen. Das Weltbild sei vielmehr durch einen Ganzheitsgedanken<br />

geprägt gewesen: alles hing mit allem zusammen; die Grundlage dieses Weltbildes sei<br />

eine Synthese von Glaube und Wissenschaft, von Gott und Welt gewesen. Das geistesgeschichtlich<br />

Bestimmende sei das „Durchwobensein von den Letzten Dingen“ gewesen, auf<br />

die alles ausgerichtet gewesen sei.<br />

Nicht nur war <strong>Galilei</strong> nicht <strong>der</strong> vermeintliche Einzelkämpfer für die Unabhängigkeit<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft; seine Exkursion in die Theologie in den Briefen an Castelli und die<br />

Grossherzogin war auch dilettantisch, begab er sich doch auf ein Terrain, „auf dem er eigentlich<br />

nicht zu Hause war“ (Dorn 2000, S. 64). 27 Er musste sich aus Unkenntnis Zitate<br />

von Kirchenvätern durch seinen Schüler Castelli von einem Fachtheologen beschaffen lassen<br />

(Krämer-Badoni 1983, S. 124; Dorn 2000, S. 91) und seine Berufung auf den Kirchenvater<br />

Augustinus konnte aus drei Gründen bei den Theologen nur Kopfschütteln hervorrufen.<br />

Erstens, weil offenbar Augustinus gerade zu dieser Zeit selbst umstritten war. Krämer-<br />

Badoni (1985) schreibt dazu:<br />

Ausserdem übersieht <strong>Galilei</strong>, dass er hier die Meinung eines einzigen [im Original nicht kursiv] Kirchenvaters<br />

zitiert, eines sehr frühen, noch dazu eines damals gerade sehr umstrittenen. Denn zwi-<br />

27 Zu <strong>Galilei</strong>s Verteidigung muss allerdings gesagt werden, dass ihm die Diskussion aufgezwungen wurde, er<br />

sie also nicht gesucht hat.<br />

38


schen den Jesuiten und den Dominikanern schwelte ein jahrelanger Streit über die Prädestinationslehre<br />

Augustinus. (S. 125)<br />

Auch Arthur Koestler (1980) erwähnt diese Kontroverse zwischen den Jesuiten und<br />

den Dominikanern über die Prädestination, bei <strong>der</strong> sich die Dominikaner auf Argumente<br />

des Augustinus beriefen, „so dass die Ansichten des afrikanischen Heiligen zu einer sehr<br />

strittigen Angelegenheit geworden waren“ (S. 450). <strong>Galilei</strong>s ahnungsloses Vertrauen in<br />

Augustinus’ Argumente zeige nur, „wie unklug es für einen Laien war, sich in die dünne<br />

und mit Hochspannung geladene Luft <strong>der</strong> Theologie hinaus zu wagen“ (S. 450).<br />

Der zweite Grund, wieso es nicht überzeugend war, sich willkürlich auf einen <strong>–</strong> von<br />

vielen <strong>–</strong> Kirchenvätern zu berufen, ist, dass es in Rom nämlich nicht darauf ankam, was ein<br />

Kirchenvater gesagt hat, son<strong>der</strong>n darauf, was die Kirche selbst sagt. Über Aussagen von<br />

Kirchenvätern schreiben Shea und Artigas (2006):<br />

Eine Aussage, die von allen Kirchenvätern in gleicher Weise ausgelegt wurde, ist nicht bindend, solange<br />

sie nicht wirklich geprüft und erörtert wurde. An<strong>der</strong>s ausgedrückt: Ungeprüfte Ideen, auch<br />

wenn sie noch so verbreitet sind, haben keinen dogmatischen Status. (S. 85f.)<br />

<strong>Galilei</strong>s Ausflug in die Theologie scheint also kein geistiger Höhenflug gewesen zu<br />

sein. Er hätte sich auf unzählige Kirchenväter berufen können und trotzdem niemanden<br />

überzeugt. Der Vorwurf <strong>der</strong> Kirche, <strong>Galilei</strong> habe sich in ein Gebiet gewagt, von dem er<br />

nichts verstand, war mit Sicherheit berechtigt. Und weil <strong>Galilei</strong> aus <strong>der</strong> Sicht des Klerus<br />

ein Aussenstehen<strong>der</strong> und ein Laie war und sich anmasste, auf das Gebiet <strong>der</strong> Bibelauslegung<br />

vorzudringen, welches die Kirche unmissverständlich für sich selbst beanspruchte,<br />

blieb das nicht ohne Folgen. „Als nun <strong>Galilei</strong>, ob bewusst o<strong>der</strong> unbewusst dem alleinigen<br />

Anspruch <strong>der</strong> katholischen Kleriker auf Auslegung zuwi<strong>der</strong>handelte, schuf er sich auch<br />

deshalb zwangsläufig Gegner“ (Dorn 2000, S. 64).<br />

Von einem natur<strong>wissenschaftlichen</strong> Standpunkt aus gesehen, war auch <strong>Galilei</strong>s<br />

Deutung <strong>der</strong> Bibelstelle bei Josua, wo Gott die Sonne still stehen lässt, keine Glanzleistung.<br />

28 Es handelt sich dabei um eine Bibelstelle, welche von Theologen oft angeführt<br />

wurde als Beleg, dass sich die Sonne bewegt und nicht die Erde. <strong>Galilei</strong> macht hier einen<br />

alternativen Deutungsvorschlag. Diese Bibelstelle sei quasi in <strong>der</strong> Volkssprache verfasst,<br />

so dass auch <strong>der</strong> einfache Leser sie verstehe. Gott habe aber nicht die Sonne angehalten,<br />

son<strong>der</strong>n die Rotation <strong>der</strong> Erde, was dann für den Beobachter auf <strong>der</strong> Erde so ausgesehen<br />

habe, als wäre die Sonne stillgestanden. So etwas mag als theologische Spekulation durchgehen,<br />

als akzeptable Deutung im natur<strong>wissenschaftlichen</strong> Sinn ist es unplausibel. Nach<br />

Gerhard Frey (1970a) gehört zu einer akzeptablen Hermeneutik auch die Regel <strong>der</strong> Übereinstimmung.<br />

Diese For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Übereinstimmung bezieht sich unter an<strong>der</strong>em auch auf<br />

„Gesetzmässigkeiten, die aufgrund <strong>der</strong> hypothetisch-deduktiven <strong>Methode</strong> als gültig o<strong>der</strong><br />

sehr wahrscheinlich anzusehen sind. . . .. Aus diesem Grunde ist z. B. im Alten Testament<br />

die Stelle Josua 10; 12, 13 nicht als reales Ereignis deutbar“ (S. 32). Vom <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

Standpunkt aus, war mit Sicherheit schon zu <strong>Galilei</strong>s Zeiten die Unterbrechung <strong>der</strong><br />

Bewegung eines Himmelskörpers eine unakzeptable Annahme, egal ob es sich um die<br />

Sonne o<strong>der</strong> die Erde handelte, und die Deutung <strong>Galilei</strong>s, <strong>der</strong> sich selbst als Wissenschafter<br />

verstand, ebenso absurd wie <strong>der</strong> Gedanke des Stillstandes <strong>der</strong> Sonne.<br />

28 Josua 10, 13: „Sonne, stehe still zu Gibeon, und du, Mond, im Tale Ajalon! Da stand die Sonne still, und<br />

<strong>der</strong> Mond stand still, . . .. Also stand die Sonne still mitten am Himmel und eilte nicht unterzugehen, beinahe<br />

einen ganzen Tag.“<br />

39


<strong>Galilei</strong>s Josua-Exegese ist zudem nach Dorn (2000) mit dem Problem behaftet, dass<br />

er dabei seine eigenen Exegese-Grundsätze verletzt hat: „Unabhängig davon also, ob <strong>Galilei</strong>s<br />

exegetischer Versuch zu Josua gelingt o<strong>der</strong> nicht, er verlässt seine eigene Position, die<br />

er im ersten Teil des Briefes [an Castelli] bezogen und ausgeführt hatte“ (S. 105).<br />

Der dritte Grund, wieso es fragwürdig war, mit Augustinus zu argumentieren, ist<br />

die Tatsache, dass Augustinus selbst gar kein Freund <strong>der</strong> Wissenschaft war. „Die Wissenschaften<br />

verachtete Augustin. Nur soweit sie nützlich sind für das Bibelverständnis, lohnt<br />

sich die Beschäftigung mit ihnen“ (Jaspers 1983, S. 341). Augustinus’ Aussagen zur Wissenschaft<br />

gehören zur frühchristlichen Auseinan<strong>der</strong>setzung um das Verhältnis von Glauben<br />

und Wissen. Es ging um die Frage, „Gehören die beiden zusammen o<strong>der</strong> soll man sie trennen?“<br />

„Augustinus, <strong>der</strong> einflussreichste aller Kirchenväter“, so Gierer (1998),<br />

erkannte zwar an, dass auch das ‚Buch <strong>der</strong> Natur’ göttliche Weisheit demonstriert, aber er for<strong>der</strong>te,<br />

Wissen dann <strong>–</strong> und nur dann <strong>–</strong> zu erstreben, wenn es dem Glauben diente. Die ‚curiositas’, das Streben<br />

nach Wissen um seiner selbst Willen, hat er hingegen verachtet. (S. 95)<br />

Augustinus erlaubte zwar Interpretationen <strong>der</strong> Bibel über Stellen, welche die Natur<br />

betreffen, die dem Wortsinn nicht entsprechen, denn die Autoren <strong>der</strong> Bibel hätten sich<br />

manchmal dem Verständnis <strong>der</strong> Leser angepasst, gerade weil es ihnen nicht auf Wissen,<br />

son<strong>der</strong>n auf Glauben ankam. Aber Augustin <strong>–</strong> und das hätte <strong>Galilei</strong> wohl kaum akzeptieren<br />

können <strong>–</strong> „bestand auf dem Vorrang des Glaubens über dem Wissen <strong>–</strong> die Natur war ihm<br />

keine von <strong>der</strong> Offenbarung unabhängige, ergänzende Form <strong>der</strong> Einsicht in das Göttliche“<br />

(S. 95). Denn im Gegensatz zur klassischen Philosophie mit ihrem Gedanken <strong>der</strong> vernunftgemässen<br />

Entwicklung des Einzelnen in Bezug auf die empirische Welt und auf die jenseitige<br />

Sphäre, beruhte die christliche Auffassung auf <strong>der</strong> Offenbarung durch Christus, und<br />

fromme Christen suchten daher Erleuchtung in <strong>der</strong> Lektüre <strong>der</strong> Bibel. „Intellektualität allein<br />

war nicht mehr, wie noch für Aristoteles und viele an<strong>der</strong>e griechische Philosophen,<br />

ausreichend, um die kosmische Wahrheit zu begreifen“ (Tarnas 1999, S. 140). Der Glaube<br />

spielte nun die Schlüsselrolle zur Erkenntnis <strong>der</strong> von Christus offenbarten Wahrheit. „Folglich<br />

war <strong>der</strong> Glaube <strong>der</strong> beste Weg zum Verständnis <strong>der</strong> tieferen Bedeutung <strong>der</strong> Dinge, <strong>der</strong><br />

Verstand auf diesem Gebiet dagegen nur zweitrangig“ (S. 141). Augustinus besass zwar<br />

Hochachtung für die geistigen Leistungen <strong>der</strong> Griechen und war ein äusserst gelehrter<br />

Mensch, trotzdem schrieb er:<br />

Wenn dann die Frage gestellt wird, was wir denn nun glauben sollen, so ist es nicht nötig, in die Natur<br />

<strong>der</strong> Dinge forschend einzudringen, wie es jene taten, die die Griechen Physici nannten, noch sollte<br />

uns beunruhigen, dass ein Christ nichts von <strong>der</strong> Kraft und <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Elemente weiss; von <strong>der</strong><br />

Bewegung, <strong>der</strong> Ordnung und <strong>der</strong> Eklipsen <strong>der</strong> Himmelskörper; von den Arten und <strong>der</strong> Beschaffenheit<br />

<strong>der</strong> Tiere, Pflanzen, Steine, Quellen, Flüsse und Berge; über Chronologie und Entfernungen; die<br />

Anzeichen kommen<strong>der</strong> Stürme; und über tausend an<strong>der</strong>e Dinge, die diese Philosophen entwe<strong>der</strong> tatsächlich<br />

herausgefunden haben o<strong>der</strong> von denen sie glauben, sie herausgefunden zu haben. . . .. Für<br />

einen Christen reicht es zu glauben, dass die einzige Ursache aller erschaffenen Dinge, ob himmlisch<br />

o<strong>der</strong> irdisch, ob sichtbar o<strong>der</strong> unsichtbar, die Güte des Schöpfers, des einen wahren Gottes, ist;<br />

und dass es nichts gibt, was sein Dasein nicht ihm verdankt. (Zitiert nach Tarnas 1999, S. 143)<br />

Dieses Zitat zeigt, dass die Ansichten Augustins und die <strong>Galilei</strong>s sehr weit auseinan<strong>der</strong><br />

liegen. 29 Sich auf Augustinus zu stützen, nur weil man in einer einzigen Frage <strong>der</strong><br />

gleichen Meinung ist, aber aus einem völlig an<strong>der</strong>en Grund, sonst aber nichts gemeinsam<br />

hat, ist etwas naiv. Man wird annehmen dürfen, dass <strong>Galilei</strong> keine grosse Kenntnis von<br />

29 Folgende Begriffserläuterung ist daher konsistent: „Als philosophischer Augustinismus wird dabei insbeson<strong>der</strong>e<br />

eine Richtung verstanden, die den Primat <strong>der</strong> Theologie vor <strong>der</strong> Philosophie vertrat“ (König & Mittelstrass<br />

2004, S. 218).<br />

40


Augustins Ideen über Glauben und Wissen besessen hat. An<strong>der</strong>nfalls wäre es ihm niemals<br />

in den Sinn gekommen, diesen Autor als Stütze seiner Meinung heranzuziehen.<br />

Zweifel angebracht sind auch am Bild <strong>Galilei</strong>s als erfolgreicher Einzelkämpfer für<br />

den Kopernikanismus <strong>–</strong> auch wenn dieser Kampf zum berühmten Prozess von 1633 geführt<br />

hat. „Der <strong>Galileo</strong>-Prozess“ schreibt Simek (1992)<br />

ist jedoch trotz seines Bekanntheitsgrades nur ein unwesentliches Kapitel in <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen Astronomie und damit <strong>der</strong> Durchsetzung des neuzeitlichen heliozentrischen Weltbildes,<br />

denn in fach<strong>wissenschaftlichen</strong> Kreisen war das Kopernikanische System, wenn nicht sogar das<br />

Keplersche, im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t bereits akzeptiert. Die von gewissen kirchlichen Kreisen immer<br />

wie<strong>der</strong> verlangte Einschränkung, das heliozentrische System könne zwar als Hypothese, nicht aber<br />

als Wahrheit gelehrt werden, hatte zu dieser Zeit nur mehr formaljuristische Bedeutung. (S. 151)<br />

Die Verurteilung des Kopernikanismus von 1616 und <strong>der</strong> Prozess von Urban VIII.<br />

gegen <strong>Galilei</strong> von 1633 seien als Kampf <strong>der</strong> Kirche gegen die sich emanzipierenden Profanwissenschaften<br />

zu verstehen und auch als Element europäischer Politik des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

im Spannungsfeld einerseits zwischen Papsttum und Habsburgischem Kaisertum<br />

und an<strong>der</strong>erseits zwischen konservativen römischen Kreisen und aufgeschlosseneren, aber<br />

mit italienischen Potentaten liierten Exponenten <strong>der</strong> römischen Kurie. Arthur Koestler geht<br />

im diesem Punkt noch einen Schritt weiter und meint, dass <strong>Galilei</strong>s ungeduldiges Vorpreschen<br />

in <strong>der</strong> Sache des Kopernikanismus dieser wohl mehr geschadet als genützt habe. Das<br />

Dekret von 1616 und <strong>der</strong> Prozess von 1633 seien massgeblich von <strong>Galilei</strong>s Ungeduld verursacht<br />

worden und habe dem Kopernikanismus jedenfalls nicht genützt, „denn <strong>Galilei</strong>s<br />

missglückter Kreuzzug brachte das heliozentrische System in Verruf“ (1980, S. 504). Es<br />

soll hier nicht die klerikale Anmassung, über wissenschaftliche Fragen entscheiden zu<br />

können, gerechtfertigt werden. 30 Es geht nur um die historische Tatsache, dass mit etwas<br />

mehr Vorsicht für das Fortschreiten <strong>der</strong> Wissenschaft vermutlich mehr gewonnen worden<br />

wäre als mit einer aggressiven Offensive, welche die sich auf dem Rückzug befindliche<br />

Kirche zu einer heftigen Verteidigung provozierte. Zudem muss man bedenken, dass hinter<br />

<strong>der</strong> scharfen Reaktion <strong>der</strong> Kirche nicht nur ein Konflikt <strong>Galilei</strong>-Kirche stand, son<strong>der</strong>n<br />

ebenso sehr ein Konflikt <strong>Galilei</strong>-Urban VIII. Wenn man sich den Charakter Urbans VIII.<br />

vergegenwärtigt, fragt es sich schon, ob es nicht mehr gebracht hätte, diplomatisch auf<br />

bessere Zeiten zu warten o<strong>der</strong> wenigstens den Dialog so zu verfassen, wie es <strong>Galilei</strong> von<br />

Papst auferlegt war, nämlich ausgewogen die Argumente bei<strong>der</strong> Seiten darzustellen. Aus<br />

<strong>der</strong> Fachliteratur können wir in etwa folgenden Charakter von Urban VIII herauslesen: 31 Er<br />

war ein feinsinniger Intellektueller, war sehr gebildet, liebte die Literatur, die Künste und<br />

die Wissenschaften, besass eine reichhaltige Bibliothek, betätigte sich als Mäzen und För<strong>der</strong>er<br />

von Kunst und Wissenschaft, verschönerte dadurch Rom und schrieb lateinische Gedichte.<br />

Er liebte Gespräche mit Künstlern und Wissenschaftlern und diese (auch <strong>Galilei</strong>)<br />

standen hoch in seiner Gunst; Forschung und neue Ideen konnten sich frei entfalten. Und<br />

30 Man kann es als das eigentlich Skandalöse bezeichnen, dass die Kirche eine naturwissenschaftliche Frage<br />

als Glaubensfrage abhandeln wollte. Glücklicherweise hat die Kirche damit nicht in erster Linie <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

geschadet, son<strong>der</strong>n sich selbst, denn <strong>der</strong> Prozess gegen <strong>Galilei</strong> ist bis heute einer <strong>der</strong> Hauptstützen <strong>der</strong><br />

kirchenkritischen Einstellung: „Dieser Prozess hat nach allgemeiner Auffassung wesentlich zur Entfremdung<br />

<strong>der</strong> Gegenwart von <strong>der</strong> Religion mit beigetragen“ (Loretz 1966, S. 21f.). Es besteht deswegen allerdings<br />

nicht <strong>der</strong> geringste Anlass zu antiklerikalem Triumphgeheul von Seiten <strong>der</strong> Wissenschaft. Intoleranz und<br />

Besserwisserei sisnd keine Privilegien des Klerus. Das zeigt exemplarisch <strong>der</strong> Fall des ungarischen Arztes<br />

Ignaz Semmelweis, <strong>der</strong> letztlich an den Folgen <strong>der</strong> Behandlung durch seine ignoranten „Fachkollegen“ umgekommen<br />

ist. Zum Fall Semmelweis siehe z. B. Hempel (1977, S. 11-14) und ausführlicher Bürgin (1998,<br />

S. 41-52).<br />

31 Siehe dazu Ranke (1941), Kelly (1986), Gelmi (1989), Loretz (1966, S. 157f.), Redondi (1989), DeRosa<br />

(1989), de Santillana (1955) Kap. 8 und Steimer (2001).<br />

41


er war jung und sportlich. Diese Seite von Urban VIII. liess <strong>Galilei</strong> und seine Freunde<br />

vermutlich glauben, die Zeit sei günstig, um für die neue Kosmologie in die Offensive zu<br />

gehen. Sie hätten aber besser daran getan, auch Urbans an<strong>der</strong>e Seite zur Kenntnis zu nehmen.<br />

Er war eitel, selbstherrlich, machtbewusst, cholerisch, besserwisserisch und duldete<br />

keinen Wi<strong>der</strong>spruch. Er trieb den Nepotismus auf die Spitze (auch für <strong>Galilei</strong> und seinen<br />

Sohn gab es eine Rente) und führte wegen <strong>der</strong> Gier seiner verwandten Kardinäle sogar<br />

einen Kleinkrieg (Castro-Krieg, 1641-44), <strong>der</strong> den Kirchenstaat verheerte und die päpstlichen<br />

Finanzen schwächte. Er sah sich in erster Linie als weltlichen Fürst und betrieb entsprechend<br />

Machtpolitik. Seine Politik diente in erster Linie <strong>der</strong> Erhaltung und Sicherung<br />

des Kirchenstaates und seiner eigenen Macht. Zu diesem Zweck verhielt er sich während<br />

des Dreissigjährigen Krieges so, dass es <strong>der</strong> katholischen Seite schadete und im Reich die<br />

Gegenreformation zum Stillstand kam. Seine Politik richtete sich hauptsächlich gegen<br />

Spanien und dessen Einfluss in Italien, obwohl Spanien ein zuverlässiger Verbündeter <strong>der</strong><br />

katholischen Kirche im Krieg war. Da er alles besser wissen wollte, behielt er die Regierungsgeschäfte<br />

in eigenen Händen und verzichtete auf den Rat <strong>der</strong> Kardinäle. Sein Mäzenatentum<br />

diente nicht zuletzt dazu, seinen Ruhm zu vergrössern. Dabei war er verschwen<strong>der</strong>isch<br />

und schreckte auch nicht davor zurück, antike Bauten zu plün<strong>der</strong>n um Material für<br />

die neuen Werke zu gewinnen. So liess er für einen riesigen Baldachin im Petersdom die<br />

Bronze vom Dach des Pantheons entfernen und einschmelzen. Er war schlussendlich im<br />

Volk so verhasst, dass die Menschen in Rom bei seinem Tod spontan in Freudenfeiern<br />

ausbrachen. Mit einem solchen Charakter ist ein diplomatischer Umgang zu pflegen; mit<br />

Sicherheit schreibt man nicht ein Buch wie den Dialog, in welchem seine Ansichten dauernd<br />

lächerlich gemacht werden. Da spielt es keine Rolle mehr, ob die Reaktion Urbans<br />

noch durch intrigante Jesuiten geför<strong>der</strong>t wurde o<strong>der</strong> nicht. Hinzu kommt, dass Urban VIII.<br />

durch seine Politik unter innerkirchlichen Druck geriet. Über die Situation im Jahre1631<br />

schreibt Redondi (1989):<br />

Schon seit dem Ende des letzten Jahres verging im übrigen keine <strong>der</strong> donnerstäglichen Versammlungen<br />

im Heiligen Offizium, ohne dass es zu einem Zusammenstoss zwischen Papst Urban VIII.<br />

und Kardinal Borgia, dem Botschafter Spaniens, gekommen wäre. Je<strong>der</strong> Anlass war <strong>der</strong> spanischen<br />

Partei recht, Urban VIII. zu beschuldigen, er sei zu tolerant gegenüber den Häretikern in Rom. Man<br />

verlangte energisches Einschreiten und gab dem Papst zu verstehen, die Zeiten unbeschwerter intellektueller<br />

Freiheiten aus den Anfängen seines Pontifikats seien zu Ende, er müsse sich jetzt ohne<br />

Zögern und Zweideutigkeiten an die Spitze des katholischen Feldzuges gegen die Häresie und die<br />

subversiven Neuerungen stellen. (S. 231)<br />

Am 8. März 1632 artete eine solche Auseinan<strong>der</strong>setzung zu einem Tumult aus. Die<br />

Kunde über dieses Ereignis verbreitete sich in ganz Europa und <strong>der</strong> toskanische Botschafter<br />

Francesco Niccolini berichtete ausführlich nach Florenz über den Vorfall und dessen<br />

Bedeutung für die intellektuelle Freiheit. Die Fakten waren <strong>Galilei</strong> bestens bekannt, er<br />

wusste, dass Urban VIII. sich nicht durchsetzen konnte und eine Nie<strong>der</strong>lage gegen die spanische<br />

Partei erlitten hatte. Aber er wollte o<strong>der</strong> konnte nicht erkennen, was das für seinen<br />

Einsatz für den Kopernikanismus bedeutete; dass aus seinem Feldzug wie<strong>der</strong> ein diplomatisches<br />

Unternehmen werden musste. Die Zeit <strong>der</strong> Polemik und <strong>der</strong> unbelegten Behauptungen<br />

musste einer neuen Ära <strong>der</strong> ausgewogenen Diskussion und Abwägung weichen. Seine<br />

Überheblichkeit im Dialog war nun gefährlich geworden, nicht nur für ihn, son<strong>der</strong>n für die<br />

geistige Freiheit überhaupt. Urbans Haltung zum Prozess gegen <strong>Galilei</strong> wird allerdings<br />

unterschiedlich dargestellt. Während die einen in Urban VIII. die treibende Kraft dahinter<br />

vermuten und auf seine Wut und Enttäuschung über <strong>Galilei</strong> hinweisen und darauf, dass <strong>der</strong><br />

Papst sein Leben lang einen Groll gegen <strong>Galilei</strong> gehabt habe, sind an<strong>der</strong>e wie Denzler<br />

(2004) <strong>der</strong> Meinung, Urban VIII. habe aus einer Zwangslage heraus gehandelt und persönlich<br />

den Prozess bedauert.<br />

42


Für die Verteidigung des Kopernikanismus war auch die Wahl <strong>der</strong> Dialogform für<br />

sein Werk kontraproduktiv. Dorn (2000) schreibt, dass die Dialogform in Italien im 15.<br />

und 16. Jahrhun<strong>der</strong>t ihre Blütezeit erlebt habe und von den liberal gesinnten Gelehrten begeistert<br />

aufgenommen worden sei. Im Zuge <strong>der</strong> Erstarkung <strong>der</strong> Gegenreformation in Italien<br />

sei die Dialogform aber als „Alliierte <strong>der</strong> Häresie“ gebrandmarkt worden, ohne ihre fruchtbaren<br />

Beiträge zur Wissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Dorn meint, diese Wahl sei unglücklich<br />

gewesen:<br />

So gesehen entpuppt sich <strong>Galilei</strong>s Wahl dieser literarischen Gattung für seine Darstellung nicht als<br />

glücklich, wiewohl sie aus <strong>der</strong> Position des sprachversierten Verfassers, <strong>der</strong> er war, verständlich<br />

war. So lieferte also schon die literarische Form <strong>der</strong> Inquisition ein Indiz, <strong>Galilei</strong>s Dialogo kritisch<br />

zu beurteilen und schliesslich zu verbieten. (S. 46)<br />

Die Wahl <strong>der</strong> Dialogform sei wahrscheinlich erfolgt, weil sie im Gegensatz zu an<strong>der</strong>en<br />

<strong>wissenschaftlichen</strong> Diskussionsformen <strong>–</strong> etwa <strong>der</strong> scholastischen Queastio <strong>–</strong> es <strong>Galilei</strong><br />

ermöglichte, seine Beweisdefizite gut zu kaschieren.<br />

2.6 Abschliessende Beurteilung <strong>der</strong> Heldenthese<br />

Anhand des bisher Gesagten kann eine Beurteilung <strong>der</strong> Heldenthese vorgenommen<br />

werden. Wenn man sie vielleicht auch nicht vollständig verwerfen will, so kann doch gesagt<br />

werden, dass aus dem stolzen Gockel ein gar arg gerupftes Huhn geworden ist. Die<br />

Heldenthese hat ziemlich viel Gehalt verloren und es hat sich gezeigt, dass sämtliche zentralen<br />

Behauptungen bei näherer Betrachtung nicht haltbar sind. <strong>Galilei</strong> erscheint nicht<br />

mehr als eine den zeitgenössischen Verhältnissen völlig entrückte Lichtgestalt, wie er von<br />

den Vertreter <strong>der</strong> Heldenthese beschrieben wurde. Möglicherweise steckt hinter <strong>der</strong> Heldenthese<br />

eine etwas veraltete Geschichtsauffassung, die ihre Erfüllung darin findet, die<br />

Geschichte als Resultat <strong>der</strong> Taten grosser Männer und Helden zu interpretieren, welche im<br />

Alleingang die Weichen des Weltgeschehens gestellt haben. Auf diese Weise wird aus<br />

Geschichte aber Ahnenverehrung. Und unweigerlich drängt sich uns Brechts Frage auf:<br />

„Cäsar schlug die Gallier. Hatte er wenigstens einen Koch bei sich?“ Der grosse englische<br />

Historiker Edward Hallet Carr spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚Kult des Individuums’<br />

welcher zu den „überzeugendsten historischen Mythen <strong>der</strong> Neuzeit“ gehöre<br />

(1981, S. 33). Dahinter stecke ein bis in die antike zurückreichen<strong>der</strong> falscher Common<br />

sense, <strong>der</strong> Geschichte für etwas halte, was von Individuen über Individuen geschrieben<br />

wurde. Aber die Männer, mit <strong>der</strong>en Handlungen sich <strong>der</strong> Historiker befasse, so Carr „waren<br />

keine isolierten Individuen, die in einem Vakuum handelten: sie handelten im Zusammenhang<br />

einer vergangenen Gesellschaft, sozusagen unter ihrem Impuls“ (S. 35). Die Auffassung,<br />

dass in <strong>der</strong> Geschichte nur Charakter und Verhalten <strong>der</strong> Einzelnen zähle <strong>–</strong> Carr<br />

nennt sie die König-Johann-<strong>der</strong>-Böse-Theorie <strong>–</strong>, entspreche dem uralten Wunsch, den individuellen<br />

Genius als die schöpferische Macht in <strong>der</strong> Geschichte hinzustellen. Diese Theorie<br />

sei „bezeichnend für die primitiven Stadien des geschichtlichen Bewusstseins“ (S.<br />

44f.). Die Geschichte sei zu einem beträchtlichen Teil eine Sache <strong>der</strong> Zahl. Ein unzufriedener<br />

Bauer brauche <strong>der</strong> Historiker nicht zu beachten, wohl aber Tausende von unzufriedenen<br />

Bauern. Das selbe könnte man über die Kopernikaner im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t sagen;<br />

„Zahlen zählen in <strong>der</strong> Geschichte“ (S. 50). Ein einziger unzufriedener Bauer sei nicht repräsentativ<br />

für die spezifischen Umstände seines Landes und seiner Zeit. Auch Monarchen<br />

und Rebellen seien nur „Produkte <strong>der</strong> für ihre Zeit und ihr Land spezifischen Umstände“<br />

(S. 52). Die Grosse-Mann-Theorie <strong>der</strong> Geschichte <strong>–</strong> eine beson<strong>der</strong>e Ausformung <strong>der</strong> Guten-Königin-Bess-Schule<br />

<strong>–</strong> sei aber „vor einigen Jahren aus <strong>der</strong> Mode gekommen, wenn<br />

43


sie auch noch ab und zu ihr plumpes Haupt erhebt“ (S. 52). Ob er hier die <strong>Galilei</strong>-<br />

Geschichtsschreibung meinte?<br />

Glücklicherweise scheint hier die neuere <strong>Galilei</strong>-Forschung etwas Gegensteuer zu<br />

geben und man beginnt zu erkennen, dass Cäsar doch einen Koch resp. <strong>Galilei</strong> ein paar<br />

Fachkollegen bei sich hatte und dass er auch nur ein Kind seiner Zeit war. Es ist jedenfalls<br />

äusserst interessant, was z. B. Wallace (1985) dazu schreibt; er spricht von einem „general<br />

myth about the stark originality of <strong>Galileo</strong>’s scientific thought” (S. 33). Er beschreibt das<br />

falsche auf Ernst Mach zurückgehende <strong>Galilei</strong>-Bild:<br />

Historians of science following the lead of the positivist Ernst Mach have fostered the view of a<br />

sharp discontinuity between late medieval and early mo<strong>der</strong>n science. <strong>Galileo</strong> they see as a kind of<br />

Melchisedech without forebears, whose university training was worthless, and who rejected everything<br />

that his teachers had taught him. Particularly significant, for them, was his spurning of Aristotle<br />

and the Aristotelian ideal of causal explanation. In their reading <strong>Galileo</strong> would have nothing to<br />

do with causes, but turned instead to mathematics and experiment for the sole certification of his<br />

scientific method, which they tend to identify with the hypothetico-deductive method of twentiethcentury<br />

science. (S. 33f.)<br />

Diesem falschen Bild von <strong>Galilei</strong> will Wallace ein realistischeres entgegensetzen:<br />

The fact of the matter is that <strong>Galileo</strong> was a man of his times who was well acquainted with the<br />

thought of progressive Aristotelians such as the Jesuits and who made good use of causal analysis<br />

and the methodological canons of the Posterior Analytics. (S. 34)<br />

<strong>Galilei</strong>s eigenes Denken habe auf diesen traditionellen Gedanken gegründet. Es<br />

stimme zwar <strong>–</strong> so Wallace <strong>–</strong>, dass <strong>Galilei</strong> grosse Originalität im Erfinden von Experimenten<br />

und in <strong>der</strong> Entwicklung von mathematischen Techniken insbeson<strong>der</strong>e bei den Proportionalitäten<br />

und den Grenzkonzepten an den Tag gelegt habe, aber „all of this was done in<br />

an Aristotelian-Euclidian-Archimedian context that, as it turns out, is quite foreign to the<br />

thought of twentieth-century empiricist“ (S. 34). Wem die Schlussfolgerungen von Wallace<br />

zu weit gehen und wer darauf hinweist, dass <strong>Galilei</strong> in vielen Punkten den Aristoteles<br />

abgelehnt und überwunden hat, muss aber mindestens anerkennen, dass das in an<strong>der</strong>en<br />

Punkten nicht <strong>der</strong> Fall war, und dass stets genau zu prüfen ist, „worin im Einzelfall die<br />

Überwindung des Aristotelismus bei <strong>Galilei</strong> liegt“ (Dorn 2000, S. 37).<br />

Ähnliche Gedanken finden sich auch in <strong>der</strong> Einleitung eines neueren Sammelbandes.<br />

Jürgen Renn (2001) weist dort darauf hin, dass <strong>Galilei</strong> nicht im Alleingang die Wissenschaft<br />

und ihre <strong>Methode</strong> erneuert hat:<br />

The essays in this volume show <strong>Galileo</strong> not as a singular figure but as representative of the groups of<br />

actors who shaped the Scientific Revolution of the early mo<strong>der</strong>n period, ranging from engineerscientists<br />

such as Guidobaldo del Monte, via philosophers such as Pierre Gassendi, to artists such as<br />

Ludovico Gigoli. (S. 3)<br />

Es bestehe trotz viel Forschung immer noch ein <strong>Galilei</strong>-Mythos, schreibt Renn.<br />

Dieser habe sich zwar mit dem Bild <strong>der</strong> Wissenschaft gewandelt, aber <strong>der</strong> Kern des Mythos<br />

sei seit dreihun<strong>der</strong>t Jahren <strong>der</strong>selbe geblieben:<br />

His science and live have served as archetypes for the scientific enterprise: he is still widely recognized<br />

as the lonely founding hero of mo<strong>der</strong>n science who introduced the scientific method and, in<br />

defending it, became a victim of the repression of science by the Catholic Church. (S. 2)<br />

Selbst die neuste, hochspezialisierte Forschung gehe <strong>–</strong> bei ihrer Suche nach <strong>der</strong> <strong>Methode</strong><br />

von <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> davon aus, dass es eine solche gebe und dass <strong>Galilei</strong> sie erfunden und<br />

44


eingeführt habe. Dieser Bemerkung von Jürgen Renn kann nach Durchsicht verschiedener<br />

Arbeiten zum Thema nur zugestimmt werden. Die radikale Schlussfolgerung, die ich aus<br />

dem Misserfolg <strong>der</strong> bisherigen Suche nach <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> gezogen habe, ist man offenbar<br />

noch nicht bereit zu ziehen: Es gibt keine spezifische galileische wissenschaftliche <strong>Methode</strong>.<br />

45


3 <strong>Galilei</strong> als Rhetoriker<br />

Die in 2.1 geschil<strong>der</strong>te Sicht war lange Zeit die „Standardlesart“ über <strong>Galilei</strong>. Einer, <strong>der</strong><br />

daran zu kratzen wagte, war Arthur Koestler in seinen Buch The Sleepwalkers aus dem<br />

Jahre 1959 (dt. Die Nachtwandler, 1980). Koestler weist darauf hin, dass <strong>Galilei</strong> in <strong>der</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung um dem Kopernikanismus keinen Beweis vorbringen konnte. Stattdessen<br />

habe <strong>Galilei</strong> „eine prächtige Technik“ besessen, „eine Polemik zu führen“ (S. 459).<br />

<strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> sei es gewesen, „den Gegner lächerlich zu machen <strong>–</strong> und damit hatte er<br />

immer Erfolg, gleichgültig ob im Recht o<strong>der</strong> Unrecht“ (S. 459). <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> so Koestler <strong>–</strong><br />

habe für den Moment triumphiert (und sich Feinde gemacht) mit <strong>der</strong> <strong>Methode</strong>, den Standpunkt<br />

des Gegners zu zerstören, dabei aber keine Begründung des eigenen Standpunktes<br />

vorzubringen. Seine Taktik im Streit um den Kopernikanismus habe darin bestanden, „die<br />

Unsinnigkeit von Ptolemäus’ Epizyklen zu erweisen und schweigend über die Unsinnigkeit<br />

von Kopernikus’ Epizyklen hinwegzugehen“ (S. 459). 32<br />

3.1 Die These von Paul Feyerabend<br />

Koestlers Buch ist aber nur ein Vorspiel. Die definitive Attacke auf die „<strong>Methode</strong>“<br />

<strong>Galilei</strong>s hat Paul Karl Feyerabend geritten. In seinem Buch Against method aus dem Jahre<br />

1975 (dt. Wi<strong>der</strong> den <strong>Methode</strong>nzwang, 1977) vertritt Feyerabend die These, dass <strong>Galilei</strong><br />

vom Standpunkt <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaftstheorie <strong>–</strong> womit er vor allem den Kritischen<br />

Rationalismus meinte <strong>–</strong> alles falsch gemacht habe und daher auf gar keinen Fall als das<br />

immer wie<strong>der</strong> zitierte Beispiel für einen methodisch korrekt vorgehenden Wissenschaftler<br />

dienen könne. Etwas genauer formuliert sagt Feyerabend, dass <strong>Galilei</strong><br />

- wichtige Regeln <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong> verletzt habe,<br />

- und dass er gerade wegen dieser Regelverletzungen Erfolg gehabt habe. Hätte <strong>Galilei</strong><br />

die Regeln eingehalten, so wäre nichts dabei herausgekommen.<br />

Man kann die Argumente Feyerabends über <strong>Galilei</strong> in drei Thesen fassen:<br />

1. Die Überredungsthese<br />

2. Die These <strong>der</strong> Ad-hoc-Hypothesen<br />

3. Die These <strong>der</strong> Unzuverlässigkeit des Fernrohrs<br />

Zu These 1: <strong>Galilei</strong> ersetzt die natürlichen Interpretationen, die in <strong>der</strong> Aristotelischen<br />

Theorie enthalten sind durch neue, ohne dass die Beteiligten dies gewahr werden.<br />

Dabei soll <strong>Galilei</strong> teilweise unredlich vorgegangen sein und die Leute mit psychologischen<br />

Tricks so manipuliert haben, dass sie die neuen Ideen akzeptiert hätten, ohne zu merken,<br />

dass diese eigentlich ihren Erfahrungen und Überzeugungen wi<strong>der</strong>sprachen. Anstelle neuer<br />

Erfahrungen habe <strong>Galilei</strong> den Menschen Erfindungen aufgeschwatzt; mit dem Argument,<br />

dies sei gar nichts Neues, son<strong>der</strong>n alles bereits hinlänglich bekannt, aber noch nie explizit<br />

ausgesprochen worden.<br />

Was <strong>Galilei</strong> so den Leuten schmackhaft machen wollte, war seine neue Dynamik.<br />

Auf diesen ersten Streich folgte dann sogleich <strong>der</strong> zweite: Aussagen, die er nicht mit unabhängigen<br />

Daten belegen konnte, habe er <strong>–</strong> so Feyerabend <strong>–</strong> damit gerechtfertigt, dass sie<br />

durch Übereinstimmung mit einer an<strong>der</strong>en, ebenfalls nicht durch unabhängige Daten gestutzten<br />

Aussage, begründet wurden. So habe <strong>Galilei</strong> z. B. die Verlässlichkeit des Fern-<br />

32 Die Reaktion <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-Hagiographik auf Koestlers Ansichten liess nicht lange auf sich warten. Siehe z.<br />

B. Drake und Santillana (1959) und Cohen (1959).<br />

46


ohrs damit begründet, dass im Gegensatz zur Beobachtung mit dem blossen Auge, die von<br />

Kopernikus vorausgesagten Helligkeitsunterschiede bei Mars und Venus mit dem Fernrohr<br />

zu sehen waren. Der Trick habe darin bestanden, zwei nicht begründete Thesen sich gegenseitig<br />

stützen zu lassen und das sogar bei Thesen, die <strong>Galilei</strong> selbst als wi<strong>der</strong>legt bezeichnete.<br />

„Diese recht merkwürdige Situation, diese Übereinstimmung zwischen zwei<br />

interessanten, aber wi<strong>der</strong>legten Auffassungen nützt <strong>Galilei</strong> aus, um beide zu retten. Auf<br />

genau die gleiche Weise rettete er seine neue Dynamik“ (Feyerabend 1977, S. 198). Das<br />

Vorgehen sei hier genau das selbe gewesen. Die neue Dynamik und <strong>der</strong> Kopernikanismus<br />

seien beide unbegründete Hypothesen gewesen, die sich aber gegenseitig gestützt hätten.<br />

Dadurch und durch <strong>Galilei</strong>s <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> Anamnesis <strong>–</strong> also <strong>der</strong> <strong>Methode</strong>, den Leuten einzureden,<br />

es handle sich gar nicht um etwas Neues, son<strong>der</strong>n um etwas, das im Grunde längst<br />

bekannt sei <strong>–</strong> erschienen beide Hypothesen als vernünftiger als sie es gewesen seien. Feyerabend<br />

fasst es so zusammen:<br />

Es wird ein Argument aufgestellt, das Kopernikus aufgrund <strong>der</strong> Beobachtung wi<strong>der</strong>legt. Das Argument<br />

wird umgedreht, um die natürlichen Interpretationen zu entdecken, die für den Wi<strong>der</strong>spruch<br />

verantwortlich sind. Die anstössigen Interpretationen werden durch an<strong>der</strong>e ersetzt, und mit Propaganda<br />

und <strong>der</strong> Begründung auf abgelegene und höchst theoretische Teile des Alltagsverstands werden<br />

die alten Gewohnheiten ausgetrieben und neue geschaffen. Die neuen natürlichen Interpretationen,<br />

die ebenfalls ausdrücklich formuliert werden, und zwar als Hilfshypothesen, werden teils aufgrund<br />

<strong>der</strong> Hilfe etabliert, die sie Kopernikus geben, teils aufgrund von Plausibilitätserwägungen und<br />

ad-hoc-Hypothesen. So entsteht eine völlig neue ‚Erfahrung’. Unabhängige Daten fehlen noch völlig.<br />

(S. 145)<br />

Aus dem Gesagten zieht Feyerabend dann seine wissenschaftstheoretischen<br />

Schlussfolgerungen. Er schreibt:<br />

Der Leser wird erkennen, dass eine eingehen<strong>der</strong>e Untersuchung historischer Erscheinungen wie dieser<br />

erhebliche Schwierigkeiten für die Auffassung schafft, dass <strong>der</strong> Übergang von <strong>der</strong> vorkopernikanischen<br />

Kosmologie zu <strong>der</strong> des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts in <strong>der</strong> Ersetzung wi<strong>der</strong>legter Theorien durch allgemeinere<br />

Vermutungen bestand, die die wi<strong>der</strong>legenden Fälle erklären, neue Voraussagen machten<br />

und durch die zu <strong>der</strong>en Prüfung veranstalteten Beobachtungen bestätigt wurden. (S. 198)<br />

Zu These 2: Zur Begründung <strong>der</strong> Erdbewegung musste eine neue Dynamik eingeführt<br />

werden. Dazu musste <strong>Galilei</strong> Prinzipien einführen, die älteren Prinzipien (die er selbst<br />

vertreten hat) wi<strong>der</strong>sprechen. Feyerabend ist <strong>der</strong> Meinung, dass die neuen Ideen von <strong>Galilei</strong><br />

(und von Kopernikus) teilweise ad hoc seien. <strong>Galilei</strong> habe also bei <strong>der</strong> Einführung seiner<br />

neuen Dynamik zum Teil ad-hoc-Hypothesen benutzt. Das ist nach klassischer (popperistischer)<br />

Auffassung eine schwere methodische Sünde. Feyerabend sieht das an<strong>der</strong>s und<br />

stellt sich hinter <strong>Galilei</strong>. Ad-hoc-Hypothesen <strong>–</strong> meint er <strong>–</strong> können gelegentlich eine positive<br />

Funktion haben: sie verschaffen neuen Hypothesen eine Verschnaufpause und sie deuten<br />

die Richtung <strong>der</strong> zukünftigen Forschung an. <strong>Galilei</strong> habe vor allem Wi<strong>der</strong>legungen (des<br />

Kopernikanismus) neben Überredungen auch mit Ad-hoc-Hypothesen aus <strong>der</strong> Welt geschafft.<br />

Zu These 3: Eine Schwierigkeit des Kopernikanismus war mit <strong>der</strong> Venus verbunden.<br />

Nach Kopernikus hätte sie infolge <strong>der</strong> Erdbewegung ihren sichtbaren Durchmesser<br />

än<strong>der</strong>n müssen. In <strong>der</strong> unteren Konjunktion hätte sie rund vierzigmal grösser erscheinen<br />

müssen als wenn sie jenseits <strong>der</strong> Sonne in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> oberen Konjunktion ist. Der beobachtete<br />

Unterschied war aber kaum wahrnehmbar. Ein ähnliches Problem bestand auch<br />

beim Mars. <strong>Galilei</strong>, schreibt Feyerabend, gebe die Existenz von Wahrnehmungen zu, welche<br />

Kopernikus Theorie bedrohen, ja sie sogar wi<strong>der</strong>legten, finde es aber gut, dass Kopernikus<br />

sich darüber hinweggesetzt habe, wofür er ihn im Dialog ausdrücklich lobt. <strong>Galilei</strong><br />

behauptet nun, er habe diese Schwierigkeiten mit Hilfe des Fernrohrs beseitigt, welches er<br />

47


aufgrund einer optischen Theorie gebaut habe. Er kann die Zuverlässigkeit des Fernrohrs<br />

im supralunaren Raum aber nicht beweisen und die Zweifler nicht von <strong>der</strong> Relevanz <strong>der</strong><br />

Fernrohrbeobachtungen überzeugen. In <strong>der</strong> Sicht Feyerabends lief diese Geschichte so ab:<br />

<strong>Galilei</strong> besass nur geringe Kenntnisse <strong>der</strong> zeitgenössischen optischen Theorie. Sein Fernrohr lieferte<br />

auf <strong>der</strong> Erde überraschende Ergebnisse, die auch gebührend gewürdigt wurden. Doch am Himmel<br />

musste man, wie wir jetzt wissen, mit Schwierigkeiten rechnen. Sie traten alsbald auf: im Fernrohr<br />

zeigten sich künstliche und wi<strong>der</strong>sprüchliche Erscheinungen, und einige Beobachtungsergebnisse<br />

liessen sich durch einen einfachen Blick mit dem unbewaffneten Auge wi<strong>der</strong>legen. Nur eine neue<br />

Theorie des Sehens mit dem Fernrohr konnte Ordnung in dieses Chaos bringen und Schein und<br />

Wirklichkeit voneinan<strong>der</strong> trennen. (S. 179)<br />

Eine solche Theorie war erst in Ausarbeitung (durch Kepler) und <strong>Galilei</strong> hatte keine<br />

Kenntnis davon. Das hin<strong>der</strong>te ihn nicht daran, das Fernrohr zu einem „überlegenen und<br />

besseren Sinneswerkzeug“ (S. 182) zu erheben. Nach Feyerabend sah die Begründung dafür<br />

folgen<strong>der</strong>massen aus: Es gab einige Fernrohrbeobachtungen, die eindeutig für Kopernikus<br />

sprachen und <strong>Galilei</strong> habe diese als unabhängige Daten für Kopernikus angeführt. In<br />

Wirklichkeit sei es aber so gewesen,<br />

dass eine wi<strong>der</strong>legte Auffassung <strong>–</strong> die Kopernikanische <strong>–</strong> eine gewisse Ähnlichkeit mit Erscheinungen<br />

hat, die sich aus einer an<strong>der</strong>en wi<strong>der</strong>legten Auffassung ergeben <strong>–</strong> nämlich dass Fernrohrbil<strong>der</strong><br />

getreue Abbil<strong>der</strong> des Himmels seien. (S. 196)<br />

<strong>Galilei</strong> arbeitet also auch bei den Fernrohrbeobachtungen wie<strong>der</strong> mit dem Trick,<br />

zwei umstrittene Theorien sich gegenseitig bestätigen zu lassen. Das mag <strong>–</strong> wie Feyerabend<br />

sagen würde, clever gewesen sein <strong>–</strong>, ist jedoch nicht gerade die Krone <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

Methodik, jedenfalls nach klassischer Auffassung.<br />

Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Feyerabend diese Thesen nicht als<br />

Vorwurf o<strong>der</strong> Kritik an <strong>Galilei</strong> versteht. Egal, ob <strong>Galilei</strong> diese methodischen Fehler absichtlich<br />

o<strong>der</strong> unwissentlich begangen hat, Feyerabend benutzt sie als Beweis für seine<br />

wissenschaftstheoretischen Ansichten. Für uns sollen diese wissenschaftstheoretischen<br />

Thesen nicht im Vor<strong>der</strong>grund stehen, son<strong>der</strong>n eher die Behauptung, dass <strong>Galilei</strong> gemäss<br />

„offizieller“ Wissenschaftsphilosophie Fehler gemacht hat. Feyerabends Ansichten werden<br />

so zur Antithese für die Heldenthese, auch wenn Feyerabend in <strong>Galilei</strong> gewiss einen echten<br />

Wissenschaftler sieht, nur nicht im popperistischen Sinn. Und selbst wenn Feyerabend sich<br />

in <strong>Galilei</strong> täuschen sollte, ein Wissenschaftler im Sinne Poppers war <strong>Galilei</strong> bestimmt<br />

nicht. Falsifikationsversuche als <strong>Methode</strong> zur Prüfung <strong>der</strong> eigenen Theorie waren ihm<br />

fremd. Solche Versuche dienten nur dazu, Theorien seiner Gegner anzugreifen. Im Brief an<br />

die Grossherzogin Christine schreibt er denn auch, es sei nicht die Aufgabe eines Wissenschaftlers,<br />

seine Theorie zu wi<strong>der</strong>legen. Wenn schon, müssten dies die Gegner <strong>der</strong> Theorie<br />

tun, denn sie würden ja behaupten, dass die Theorie falsch sei.<br />

3.2 Reaktionen auf die Rhetorikthese<br />

Feyerabends Behauptung, dass Rhetorik in <strong>der</strong> Wissenschaft eine Rolle spiele, hat<br />

in <strong>der</strong> Folge zu Untersuchungen über dieses Thema geführt. Einer <strong>der</strong> Autoren, die sich mit<br />

dem Thema beschäftigt haben, ist Maurice A. Finocchiaro. Was <strong>Galilei</strong> betrifft, scheint er<br />

zumindest Feyerabend zuzustimmen. Zum Thema Rhetorik in <strong>der</strong> Wissenschaft schreibt<br />

er: „On this point, as for so many other issues about the nature of scientific rationality and<br />

knowledge, the works of <strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> provide eloquent and classic illustrations“ (1990,<br />

S. 177). Und “in the case of <strong>Galileo</strong> there is overwhelming evidence that he was a constant<br />

48


masterful practitioner of rhetoric” (S. 178). Allerdings wird die Diskussion um Rhetorik in<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft wahrscheinlich mit dem Problem konfrontiert sein, was denn unter “Rhetorik”<br />

genau zu verstehen sei. Ob Feyerabend und Finocchiaro damit das selbe meinen, sei<br />

hier dahingestellt.<br />

Auch Jean Dietz Moss (1985) sieht eine „brilliant use of rhetorical artifice in the<br />

framing of the Dialog and in the presentation of the argument that makes the whole so persuasive”<br />

(S. 41). Durch <strong>Galilei</strong>s ganzes Werk hindurch „he does use ingenious arguments<br />

and a variety of rhetorical appeals” (S. 56). Bereits die Entscheidung, den Kopernikanismus<br />

in Dialogform zu behandeln, „was in itself a brilliant rhetorical move“ (S. 58). Moss<br />

ist <strong>der</strong> Ansicht, dass <strong>Galilei</strong> genau wusste, dass er keinen Beweis für den Kopernikanismus<br />

hatte, „that prove eluded him and so he intended to convince by rhetorical sleight of hand“<br />

(S. 59). Moss kommt daher zum Schluss: „In this light then the Letter and the Dialogue<br />

stand as significant examples of the rhetoric rather than the reality of proof” (S. 59). 33 Zum<br />

selben Schluss scheinen bereits einige zeitgenössische Leser gekommen zu sein. Moss gibt<br />

eine Auffor<strong>der</strong>ung des aristotelischen Philosophen Antonio Rocco an <strong>Galilei</strong> wie<strong>der</strong>:<br />

‚But come on’ he chided the famous astronomer, ‚if there is a necessary truth and conclusion such<br />

that it is also evident as you say, show the evidence, bring in the reasons and the causes, leave persuasion<br />

to rhetoric, and no one will contradict you’. (S. 59)<br />

Natürlich hat Feyerabends <strong>Galilei</strong>-Bild auch Kritik hervorgerufen. Wir wollen und<br />

können uns hier aber nicht ausführlich damit auseinan<strong>der</strong>setzen. Zur Anschauung seien<br />

einige Reaktionen kurz referiert. Alan Chalmers z. B. (1985, 1986) hat moniert, dass zwar<br />

die Schlussfolgerung Feyerabends, dass es keine allgemeine wissenschaftliche <strong>Methode</strong><br />

gebe, korrekt sei, aber als Beispiel dazu könne <strong>Galilei</strong> nicht dienen. <strong>Galilei</strong>s Fernrohrbeobachtungen<br />

seien zumindest ad-hoc gerechtfertigt gewesen, weil die beobachteten Grössenän<strong>der</strong>ungen<br />

bei Venus und Mars alle drei damals diskutierten astronomischen Theorien<br />

stützten. Die Tatsache, dass die teleskopischen Daten einen zweitausendjährigen Wi<strong>der</strong>spruch<br />

zwischen Theorie und Daten beseitigte, „constituted an argument in favour of the<br />

telescopic data“ (1985, S. 177). Ebenso falsch sei Feyerabends Behauptung, dass <strong>Galilei</strong>s<br />

Irradiationshypothese, mit <strong>der</strong> er die Fernrohrdaten rechtfertigen wollte, ad-hoc gewesen<br />

sei. In keinem bekannten Sinne von ad-hoc sei diese Hypothese unprüfbar gewesen. „Since<br />

<strong>Galileo</strong>’s hypothesis involves the claim that irradiation arises as a consequence of the<br />

brightness, smallness and distance of the sighted source, it can be tested by modifying<br />

those three factors in a variety of ways” (S. 179).<br />

Oeser (2006) bestreitet zwar nicht, dass <strong>Galilei</strong> methodisch unkorrekt vorgegangen<br />

ist, weist aber Feyerabends Schlüsse, die er daraus gezogen hat zurück. Er wi<strong>der</strong>spricht<br />

Feyerabends Behauptung, dass <strong>Galilei</strong> mit dieser Taktik Erfolg gehabt habe:<br />

Was jedoch Feyerabend übersehen hat, ist die historische Tatsache, dass die Verteidigung und Weiterentwicklung<br />

des kopernikanischen Systems nicht <strong>Galilei</strong>s grosse wissenschaftliche Leistung war.<br />

Sie ging eigentlich völlig daneben und bildete sogar ein Hin<strong>der</strong>nis für die Akzeptanz <strong>der</strong> neuen Theorie<br />

des Sonnensystems, <strong>der</strong>en Wahrheit <strong>Galilei</strong> mit seiner falschen Gezeitentheorie zu beweisen<br />

versuchte. (S. 44f.)<br />

Aus diesem Grund gebe es auch keine Veranlassung, <strong>Galilei</strong>s methodische Fehler<br />

o<strong>der</strong> den methodischen Anarchismus als gut und nützlich für die Wissenschaft darzustellen.<br />

33 Zur Rhetorik im Dialog und im Brief an die Grossherzogin Christina siehe auch Moss (1984).<br />

49


Peter Machamer hat in einem längeren Artikel (1973) Feyerabends Thesen über<br />

<strong>Galilei</strong> ausführlich kritisiert. Machamer hat folgende Einwände vorgebracht:<br />

• Feyerabend bringt viele Zitate von <strong>Galilei</strong>, aber ihre Auswahl ist tendenziös. Es ist<br />

diese Auswahl, die aus <strong>Galilei</strong> einen Feyerabendianer macht. Wenn Feyerabend einen<br />

bestimmten Punkt diskutiert, so ignoriert er entwe<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e relevante Passagen<br />

o<strong>der</strong> er zitiert nur den Teil <strong>der</strong> Passage, die seiner Sicht dient.<br />

• Feyerabend beachtet <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie überhaupt nicht. (Dieses Argument<br />

wird nur verständlich, wenn man weiss, dass nach Machamer die Gezeitentheorie<br />

eine gute wissenschaftliche Theorie <strong>–</strong> in Sinne eines Lakatos’schen Forschungsprogramms<br />

<strong>–</strong> ist und dass er sie als akzeptables Argument für den Kopernikanismus<br />

betrachtet!)<br />

• <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie habe den Kopernikanismus nicht vorausgesetzt, sei also<br />

nicht zirkulär, wie Feyerabend behaupte.<br />

• <strong>Galilei</strong> betrachtete seine Beobachtungen mit dem Fernrohr als unproblematisch und<br />

nicht <strong>der</strong> Rechtfertigung bedürfend; denn er hatte Gründe für die einheitliche Beschaffenheit<br />

des Universums.<br />

• Machamer behauptet, dass <strong>Galilei</strong> sich in <strong>der</strong> Optik ausgekannt habe und daher das<br />

Fernrohr aus <strong>der</strong> Theorie habe herstellen können.<br />

In verschiedenen Formen ist folgendes Argument gegen Feyerabend o<strong>der</strong> zu Gunsten<br />

<strong>Galilei</strong>s vorgebracht worden: Die Beschreibung Feyerabends von <strong>Galilei</strong>s Vorgehen<br />

mag stimmen, aber selbst wenn er recht hat, war <strong>Galilei</strong>s Vorgehen trotzdem rational.<br />

Thomason (1994) z. B. argumentiert in etwa folgen<strong>der</strong>massen: Es gab <strong>–</strong> nach Feyerabend <strong>–</strong><br />

sowohl für Ptolemäus wie auch für die blossen Augenbeobachtungen des Himmels Evidenzen<br />

und die sprachen gegen den Kopernikanismus und für die Zuverlässigkeit <strong>der</strong> blossen<br />

Augenbeobachtungen. <strong>Galilei</strong> sei in einem Dilemma gewesen zwischen einem rationalen<br />

Akzeptieren <strong>der</strong> ptolemäischen Theorie und dem fortschrittlichen Akzeptieren <strong>der</strong><br />

schlecht gestützten kopernikanischen Hypothese. Die Frage, ob nun <strong>Galilei</strong>s Unterstützung<br />

des Kopernikanismus durch die Fernrohrbeobachtungen rational sei o<strong>der</strong> nicht, beantwortet<br />

Thomason mit einem Ja, denn „<strong>Galileo</strong>’s procedure is consistent with the canons of induction“<br />

(S. 258). Beide, Feyerabend und seine Kritiker hätten unrecht. <strong>Galilei</strong>s Bogenhypothesen<br />

seien schlaue Techniken <strong>der</strong> Überzeugung <strong>–</strong> eine ehrliche Anwendung <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeit<br />

nach Bayes. Die Analyse nach Bayes habe nämlich gezeigt, dass es rational<br />

sei, wenn sich zwei schlecht gestützte Hypothesen gegenseitig stützen. „In such situations,<br />

mutual support by previously ill-supported hypothesis is rational; and so in such situations,<br />

this form of ‚counterinduction’ is perfectly rational at least on the standards of the Bayesian<br />

probability calculus“ (S. 261). Das sei so, weil Bogenhypothesen einen Schluss auf die<br />

beste Erklärung erlauben würden. Thomason kommt daher zum Schluss:<br />

There is no circularity in <strong>Galileo</strong>’s argumentative procedure, as presented by Feyerabend. <strong>Galileo</strong><br />

did not first use one Feyerabend’s hypothesis to support the other and then use the second to support<br />

the first. Rather, using the two problematic hypothesis together he predicted and observed phenomena<br />

that are very difficult for any other plausible hypothesis or sets of hypotheses to explain. (S.<br />

263f.)<br />

Thomasons Argument ist ein Beispiel dafür, wie die Anhänger je<strong>der</strong> Wissenschaftsphilosophie<br />

<strong>Galilei</strong> als Vertreter ihrer Theorie darzustellen versuchen. Die Frage<br />

allerdings, ob <strong>Galilei</strong> denn bewusst und absichtlich und nicht halt doch rein zufällig und<br />

ohne Absicht ihre <strong>Methode</strong> angewendet hat, stellen sie sich offenbar nicht. Sie scheinen zu<br />

glauben, dass ihre Methodologie dadurch ‚rational’ o<strong>der</strong> gerechtfertigt werde, dass es ih-<br />

50


nen gelingt, <strong>Galilei</strong> in das Prokrustesbett ihrer Philosophie zu zwängen. 34 Das gilt auch für<br />

den folgenden Feyerabend-Kritiker.<br />

Auch aus kritisch-rationalistischer Position ist erwartungsgemäss Wi<strong>der</strong>spruch gegen<br />

Feyerabend erhoben worden. Als Beispiel sei ein kurzer Beitrag von Gunnar An<strong>der</strong>sson<br />

(1981) erwähnt. 35 An<strong>der</strong>sson meint, dass die Beispiele „die von Feyerabend als Wi<strong>der</strong>legungen<br />

des Falsifikationismus gedacht sind, mit einem kritischen Falsifikationismus bestens<br />

übereinstimmen“ (S. 160). Insbeson<strong>der</strong>e wi<strong>der</strong>spricht An<strong>der</strong>sson Feyerabends Behauptung,<br />

<strong>Galilei</strong> habe Falsifikationen des kopernikanischen Systems ausser acht gelassen.<br />

Erstens habe <strong>Galilei</strong> in seiner frühen Schrift Der Münzprüfer die Falschheit des Kopernikanismus<br />

anerkannt und zweitens habe er <strong>–</strong> als die technische Ausreifung und die theoretische<br />

Behandlung des Fernrohres weit genug fortgeschritten war <strong>–</strong> die alten Falsifikationen,<br />

welche aus Beobachtungen mit dem blossen Auge bestanden, problematisieren und rückgängig<br />

machen können. Mit den neuen Beobachtungen habe er nun objektive Gründe gehabt,<br />

die alten Falsifikationen anzuzweifeln. Er habe also Falsifikationen so ernst genommen,<br />

„wie man es sich als Popperianer nur wünschen kann“ (S. 161). Dass dem überhaupt<br />

nicht so ist, werde ich weiter unten zeigen. An<strong>der</strong>sson wi<strong>der</strong>spricht auch Feyerabends These,<br />

wonach <strong>Galilei</strong> zur Rettung des Kopernikanismus ad hoc eine neue Dynamik eingeführt<br />

habe, denn es sei deutlich „dass die Einführung <strong>der</strong> ‚Hilfshypothese’ <strong>–</strong> <strong>Galilei</strong>s Dynamik <strong>–</strong><br />

die Prüfbarkeit des Gesamtsystems nicht herabsetzt“ (S. 171), und nur in diesem Fall verbiete<br />

<strong>der</strong> Popperismus die Einführung von ad-hoc-Hypothesen. Zudem sei die Dynamik<br />

von <strong>Galilei</strong> unabhängig vom Kopernikanismus prüfbar und im Sinne Poppers keine adhoc-Hypothese.<br />

Feyerabends Beispiele wi<strong>der</strong>legten daher in keiner Weise den Popperismus,<br />

son<strong>der</strong>n seien sehr gut mit diesem in Übereinstimmung.<br />

In einem Punkt gibt allerdings Feyerabends These keine Auskunft, nämlich zu <strong>der</strong><br />

Frage, was das Motiv o<strong>der</strong> die Ursache war für <strong>Galilei</strong>s methodisches Ungenügen. Liegt es<br />

darin, dass <strong>Galilei</strong> die methodischen Anfor<strong>der</strong>ungen nicht erfüllen konnte o<strong>der</strong> nicht wollte?<br />

Ist es so, dass <strong>Galilei</strong> genau wusste, dass er Fehler macht und diese hätte vermeiden<br />

können, wenn er gewollt hätte, o<strong>der</strong> wäre er dazu mangels methodischem Wissens gar<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage gewesen? Die Frage mag für Feyerabends Thesen zweitrangig sein, für<br />

unsere Untersuchung ist sie aber wichtig. Ich bin <strong>der</strong> Meinung, dass es sich in erster Linie<br />

um ein Unvermögen von <strong>Galilei</strong> handelt; aber es muss hinzufügt werden, dass <strong>Galilei</strong> auch<br />

nicht immer willens war, zu einer sauberen Methodik o<strong>der</strong> einem redlichen Vorgehen. <strong>Galilei</strong>s<br />

Argument mit dem Ostwind wird später dazu ein Beispiel geben. Aber prinzipiell<br />

verdient Feyerabends These Zustimmung; <strong>Galilei</strong> ist nicht das Paradebeispiel für die wissenschaftliche<br />

<strong>Methode</strong>. Ob Feyerabend das an guten Beispielen gezeigt hat, sei dahingestellt;<br />

zur Unterstützung <strong>der</strong> These wird weiter unten ein eigenes Beispiel vorgebracht.<br />

34 Es scheint das Fatum vieler Wissenschaftler zu sein, als Glanzlicht o<strong>der</strong> Abschreckung für o<strong>der</strong> gegen<br />

wissenschaftstheoretische Positionen herhalten zu müssen. So ist es z. B. auch Sigmund Freund ergangen.<br />

Popper (2000) hat dessen vermeintlich unwissenschaftliche Theorie herangezogen, um zu zeigen, dass <strong>der</strong><br />

Induktivismus ihr Wissenschaftsstatus zuschreiben würde, während seine eigene Ideologie die Psychoanalyse<br />

als das entlarven würde, was sie sei, nämlich eine Pseudowissenschaft. Adolf Grünbaum (1988) hat den<br />

Spiess umgedreht und mit Freuds Hilfe die induktivistische Gegenattacke gestartet und behauptet, dass es<br />

gerade umgekehrt sei, dass nämlich <strong>der</strong> kritische Rationalismus <strong>der</strong> Psychoanalyse Wissenschaftsstatus zuweise,<br />

weil Freud nachweislich Falsifikationen akzeptiert habe, und dass es vielmehr die richtig verstandenen<br />

induktiven <strong>Methode</strong>n von John Stuart Mill seien, welche den nicht<strong>wissenschaftlichen</strong> Charakter <strong>der</strong> Psychoanalyse<br />

aufzeigen würden.<br />

35 Eine ausführliche Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Popper-Kritikern Kuhn, Feyerabend und Lakatos bietet <strong>der</strong><br />

Autor in An<strong>der</strong>sson (1988).<br />

51


3.3 Biagiolis Untersuchung über <strong>Galilei</strong> als Höfling<br />

In <strong>der</strong> bereits reichhaltigen Literatur über <strong>Galilei</strong>, die auch weiterhin anwächst, ist<br />

vor einigen Jahren eine Studie erschienen, welche die Aufmerksamkeit stark auf sich gezogen<br />

hat: das Buch <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> Höflung von Mario Biagioli (1999; amerikanische Erstausgabe<br />

1993). Der Untertitel lautet „Entdeckungen und Etikette: Vom Aufstieg <strong>der</strong> neuen<br />

Wissenschaft“, was treffend das Thema des Buches wie<strong>der</strong>gibt: das Verhältnis von frühneuzeitlicher<br />

Wissenschaft und höfischer Gesellschaft. Wissenschaft und Staat o<strong>der</strong> staatliche<br />

Macht waren vermutlich immer irgendwie miteinan<strong>der</strong> verbunden; <strong>der</strong> Wissenschaftler-Eremit<br />

dürfte eine Ausnahmeerscheinung sein, wenn es ihn denn überhaupt jemals gegeben<br />

hat. Wissenschaft ist ein Subsystem <strong>der</strong> Gesellschaft und die staatliche Macht besitzt<br />

Einfluss auf dieses System, ob för<strong>der</strong>nd o<strong>der</strong> hin<strong>der</strong>nd. Die Wissenschaftler und Forscher<br />

auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite sehen sich ganz bestimmten staatlichen Einflüssen und bestimmten<br />

institutionellen Strukturen gegenüber, an die sie sich anpassen müssen. Das war auch im<br />

Falle <strong>Galilei</strong>s nicht an<strong>der</strong>s, wobei bei <strong>Galilei</strong> noch hinzukommt, dass er von 1610 an als<br />

Mathematiker und Philosoph des Grossherzogs <strong>der</strong> Toskana eng mit <strong>der</strong> politischen Macht<br />

und <strong>der</strong> höfischen Gesellschaft verbunden war. Die Art und Weise dieser Verbindung, die<br />

Bedeutung dieser Verbindung sowohl für die Wissenschaftler wie auch für den Hof ist das<br />

Thema von Biagiolis Buch. Biagioli ist <strong>der</strong> Ansicht, dass viel für die These spricht, „dass<br />

die aristokratische Kultur (und nicht nur einzelne aristokratische Gelehrte) eine wachsende<br />

Rolle in diesem Prozess [<strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Revolution] gespielt hat“ (S. 10). Der Hof<br />

habe insbeson<strong>der</strong>e einen Beitrag zur kognitiven Legitimation <strong>der</strong> neuen Wissenschaft geleistet,<br />

„indem er einen Ort für die soziale Legitimation <strong>der</strong> Gelehrten bereitstellt, und dies<br />

wie<strong>der</strong>um kam dem epistemologischen Status ihrer Disziplin zugute“ (S. 10). Es habe hier<br />

eine Verlagerung <strong>der</strong> Wissenschaft von <strong>der</strong> Werkstatt des Handwerkers hin zu den Fürstenhöfen<br />

stattgefunden. Dieser Ortswechsel drücke ein wachsendes Interesse an den Funktionsweisen<br />

des Rituals, <strong>der</strong> Repräsentation und des Diskurses aus, worin ein komplexerer<br />

Ansatz hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Macht und Erkenntnis zum Ausdruck<br />

komme. In <strong>der</strong> Renaissance und im Barock sei die Macht eng mit den Manieren, <strong>der</strong><br />

Selbstzucht und dem höfischen Diskurs verzahnt gewesen und sei „äusserst wirksam an <strong>der</strong><br />

Prägung <strong>der</strong> individuellen Identität, des Verhaltens und des Denkens beteiligt“ gewesen (S.<br />

10). Das Verständnis dieses Verhältnisses zwischen Macht, Wissen, Selbstbild und Selbstdarstellung<br />

eignet sich nach Biagioli „bestens für eine Analyse <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> Karriere<br />

<strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong>s“ (S. 10). Sein Buch <strong>–</strong> so Biagioli <strong>–</strong> sei eine Studie über die Selbstformung<br />

(self-fashioning) eines Wissenschaftlers. Der Charakter von <strong>Galilei</strong>s gesellschaftlicher<br />

Karriere komme in diesem Begriff sehr gut zum Ausdruck. 36 Er schreibt dazu:<br />

<strong>Galilei</strong> begann seine Laufbahn als Mitglied einer bestimmten sozialen und beruflichen Kultur, als<br />

Mathematiker nämlich. In dem Masse, wie er am Hof Fuss fasste, formte er sich jedoch neu als ein<br />

ungewöhnlicher Typus von Philosoph, eine Identität für die es keine feststehenden sozialen Rollen<br />

o<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> gab. In gewissem Sinne erfand <strong>Galilei</strong> sich um 1610 neu als er <strong>der</strong> Philosoph und Mathematiker<br />

des Grossherzogs wurde. Obwohl er dabei auf bestehende soziale Rollen und kulturelle<br />

Codes zurückgriff und sie umformte, war die soziale und berufliche Identität, die er für sich selbst<br />

schuf, eindeutig etwas Neues. <strong>Galilei</strong> war ein Bricoleur, ein „Bastler“. (S. 11)<br />

Biagioli will herausarbeiten, was es für <strong>Galilei</strong> und seine Arbeit bedeutet hat, <strong>der</strong><br />

Hofphilosoph und Hofmathematiker am toskanischen Fürstenhof zu sein. „Dieses Buch<br />

geht <strong>Galilei</strong>s Formulierung <strong>der</strong> neuen Identität als ‚neuer Philosoph’ o<strong>der</strong> ‚philosophischer<br />

36 Ich kann auf diesen Begriff hier nicht weiter eingehen. Biagioli verweist hierzu auf folgende Quellen:<br />

Greenblatt (1980) und Starn (1988).<br />

52


Astronom’ bei Hofe nach und analysiert das Verhältnis zwischen dieser Identität und <strong>Galilei</strong>s<br />

Arbeit“ (S. 11). Dabei rekonstruiert Biagioli<br />

die Kultur und die Codes des höfischen Verhaltens, die den Rahmen für <strong>Galilei</strong>s alltägliches Handeln,<br />

seine Schriften, seine Selbstdarstellung, die Darstellung seiner Entdeckungen und seinen Umgang<br />

mit an<strong>der</strong>en Höflungen, För<strong>der</strong>ern, Mathematikern und Philosophen bildeten. (S. 11)<br />

Biagiolis Buch will we<strong>der</strong> eine Biographie noch eine Sozialgeschichte von <strong>Galilei</strong>s<br />

Laufbahn sein, son<strong>der</strong>n eine detaillierte Erforschung <strong>der</strong> Strukturen von <strong>Galilei</strong>s alltäglichem<br />

Tun, wobei er zeigen möchte, „dass dieses Tun und die damit verbundenen Interessen<br />

den Rahmen für seine <strong>wissenschaftlichen</strong> Aktivitäten bildeten“ (S. 11). Es geht Biagioli<br />

darum<br />

die synchronen Prozesse, Bedingungen, Ressourcen und Zwänge zu identifizieren und zu untersuchen,<br />

die sein alltägliches Leben ebenso wie seine wissenschaftliche Arbeit prägten <strong>–</strong> und über mehrere<br />

Jahrzehnte hinweg <strong>–</strong> jenes historische Konstrukt hervorbrachten, das wir als <strong>Galilei</strong>s Laufbahn<br />

bezeichnen. (S. 12)<br />

Biagioli schliesst dann seine Analyse mit einigen Überlegungen über das Verhältnis<br />

zwischen höfischer Kultur, politischem Absolutismus, <strong>der</strong> Legitimation <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

und <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> frühen <strong>wissenschaftlichen</strong> Institutionen. Es besteht hier nicht die<br />

Absicht, Biagiolis Untersuchung im Detail darzustellen. Einige Aspekte seiner Untersuchung<br />

sind aber in Bezug auf die Rhetorikthese von Feyerabend interessant und werden<br />

darum hier aufgegriffen.<br />

<strong>Galilei</strong> kehrte 1610 von Padua nach Florenz zurück, wo er in die Dienste des toskanischen<br />

Grossherzogs Cosimo II. de’ Medici (1590-1620) trat. 37 <strong>Galilei</strong> war nun Hofma-<br />

37 Florenz o<strong>der</strong> besser gesagt, das Grossherzogtum Toskana und mit ihm die Herrscherfamilie de’ Medici<br />

waren zu dieser Zeit bereits auf dem Weg zum Abstieg. Von <strong>der</strong> dreihun<strong>der</strong>tjährigen Herrschaft <strong>der</strong> Medici<br />

in Florenz war die erste Hälfte eine Hochblute, aber „während <strong>der</strong> letzten an<strong>der</strong>thalb Jahrhun<strong>der</strong>te mediceischer<br />

Herrschaft schwanden Staat und Familie in Genussucht, Luxus und Zügellosigkeit dahin“ (Cleugh<br />

1984, S. 445). Die Geburt <strong>Galilei</strong>s fiel in die Regentszeit von Cosimo I. (1519-1574), dem es gelang, die<br />

Herrschaft auf die gesamte Toskana auszubreiten und dem Papst den Titel des Grossherzogs abzuluchsen und<br />

damit ein unabhängiger europäischer Fürst zu werden, in welchem aber nun nach Reinhardt (2001) Bild und<br />

Wirklichkeit nicht mehr wie unter seinem Vorgänger Alessandro, <strong>der</strong> Fürst einer Republik (!) war, krass<br />

„auseinan<strong>der</strong>klaffen, son<strong>der</strong>n in einem für europäische fürstliche Territorien üblichen Verhältnis zueinan<strong>der</strong><br />

stehen <strong>–</strong> die Machtansprüche übersteigen die tatsächliche Macht beträchtlich“ (S. 9), womit auch die Einzigartigkeit<br />

<strong>der</strong> florentinischen Geschichte zu Ende war. So war nach fast 250 Jahren glänzen<strong>der</strong> Leistungen die<br />

Zeit von Cosimos Herrschaft (1537-1574) „auch das Ende <strong>der</strong> Renaissance in Italien“ (Cleugh 1984, S. 356),<br />

denn „mit Cosimos Thronbesteigung verschwand das glänzende geistige Klima von Florenz“ (S. 356). Und<br />

verantwortungsvolle Bürger von Florenz „konnten nicht mehr stolz sein auf einen Staat, <strong>der</strong> von nun an geistig,<br />

wenn auch nicht politisch, unter den Mächten Italiens eine untergeordnete Stellung einnahm“ (S. 356).<br />

Auch das Mäzenatentum <strong>–</strong> ein Wesenmerkmal <strong>der</strong> Familie <strong>–</strong> lebte unter Cosimo I. ein letztes Mal auf: „Unter<br />

Cosimo I. erlebt Florenz seinen letzten künstlerischen Aufschwung, unter Cosimo I. ist Florenz noch einmal<br />

kultureller Mittelpunkt Italiens“ (Heilmann 1975, S. 118). Aber Cosimo I. war ein brutaler Diktator und sein<br />

Mäzenatentum stammte nicht mehr aus Leidenschaft für die Kunst wie noch bei Lorenzo dem Prächtigen,<br />

son<strong>der</strong>n war „exakt eingebaut in sein geschlossenes Denksystem. Kunst ist nützlich, Kunst ist politisches<br />

Prestige“ (S. 117). 1610 als <strong>Galilei</strong> nach Florenz zurückkam, war Cosimo I, bereits seit 35 Jahren tot und es<br />

herrschte bis 1620 sein Enkel Cosimo II. (1590-1620), <strong>der</strong> als Herrscher „ein ziemlicher Versager“ (Cleugh<br />

1984, S. 400) war, und danach dessen Sohn Ferdinando II. (1610-1670), <strong>der</strong> in seiner Schwäche als Fürst<br />

ohne Protest zuliess, dass nach dem Tod des letzten Herzogs von Urbino Urban VIII. dieses toskanische<br />

Fürstentum an sich bringen konnte. „In Florenz“ so Cleugh, „sah man immer mehr Priester, und viele von<br />

ihnen stiegen in hohe Staatsämter auf <strong>–</strong> ein revolutionärer Vorgang, den Cosimo I. nie zugelassen hätte“ (S.<br />

401). Deshalb sei von Ferdinand II. auch nicht zu erwarten gewesen, dass er <strong>Galilei</strong> 1633 vor <strong>der</strong> Inquisition<br />

geschützt hätte. Die auf Cosimo I. folgenden Generationen haben „an geistigem und politischem Profil immer<br />

mehr verloren. Eine wachsende Degeneration nahm dem Geschlecht Substanz und Tiefe“ (Heilmann<br />

53


thematiker und Hofphilosoph; den zweiten Titel erhielt er auf eigenen ausdrücklichen<br />

Wunsch. Zur Charakterisierung von <strong>Galilei</strong>s Verhältnis zum Fürst benutzt Biagioli den<br />

Begriff <strong>der</strong> „Patronage“, die er als fester Bestandteil <strong>der</strong> Selbstformung aller Höflinge betrachtet.<br />

Diese Patronage sei keine abgeschottete Institution, „son<strong>der</strong>n ein elaboriertes,<br />

durchschaubares System, das die soziale Welt <strong>der</strong> galileischen Wissenschaft bildete“ (S.<br />

13). Biagioli stellt <strong>Galilei</strong> als rationalen Manipulator dieses Patronagesystems dar, aber<br />

auch als jemanden, „dessen Diskurs, dessen Antriebe und dessen intellektuelle Wahlentscheidungen<br />

von <strong>der</strong> Patronagekultur geprägt wurden, in <strong>der</strong> er sich sein Leben lang bewegte“<br />

(S. 13). 38 <strong>Galilei</strong>s Stil sei in die höfische Kultur eingebettet gewesen und sein immer<br />

entschiedeneres Eintreten für den Kopernikanismus und seine Selbstformung zum<br />

erfolgreichen Höfling hätten einan<strong>der</strong> wechselseitig verstärkt. Aber <strong>–</strong> und das macht Biagioli<br />

explizit <strong>–</strong> <strong>Galilei</strong>s Wissenschaft wurde nicht von <strong>der</strong> höfischen Kultur und den Patronageinteressen<br />

bestimmt. <strong>Galilei</strong> sei kein „Sklave des Systems“ gewesen, „<strong>der</strong> sich in die<br />

vorhandenen Rollen und Erwartungsmuster einfügt, um Legitimation zu erlangen“ (S 13).<br />

Die Macht habe keinen Wissenskanon zensiert o<strong>der</strong> legitimiert. Biagioli will zeigen, „wie<br />

<strong>Galilei</strong> die Ressourcen, die er in seiner Umgebung fand, dazu benutzte, eine neue soziale<br />

und berufliche Identität für sich zu konstruieren, eine neue Naturphilosophie zu schaffen<br />

und ihr ein höfisches Publikum zu sichern“ (S. 13), wobei <strong>der</strong> Hof es <strong>Galilei</strong> nicht nur ermöglichte,<br />

eine neue soziale und berufliche Identität zu legitimieren, son<strong>der</strong>n ihm auch<br />

Zwänge auferlegte, die zeitweilig seinen eigenen Wünschen zuwi<strong>der</strong>liefen, und <strong>der</strong> höfische<br />

Diskurs und <strong>Galilei</strong>s Arbeit nicht nur bemerkenswert gut zusammenpassten, son<strong>der</strong>n<br />

auch Bereiche von unlösbaren Spannungen aufwies; die Macht und das Interesse des Fürsten<br />

deckten sich nicht immer mit <strong>Galilei</strong>s Versuchen, den Schutzherrn auf seine Seite zu<br />

ziehen, um seine <strong>wissenschaftlichen</strong> Thesen zu legitimieren.<br />

Das zeitgenössische höfische Patronagesystem kann als System gegenseitiger symbiotischer<br />

Abhängigkeit von Schutzherr und Schützling beschrieben werden. Die Patronage<br />

in Falle <strong>Galilei</strong>s war nichts Aussergewöhnliches, sie war „ein in Europa <strong>der</strong> frühen<br />

Neuzeit weit verbreitetes soziales System, das auch heute noch im Mittelmeerraum grosse<br />

Bedeutung besitzt“ (S. 26). Die Patronage gelte heute als grundlegende Form sozialer Bindung<br />

und hierarchischer Organisation in <strong>der</strong> frühen Neuzeit. Und gerade für das Florenz<br />

<strong>der</strong> Renaissance sei „die Patronage zu einer historiographischen Standardkategorie geworden“<br />

(S. 27), wenn es um die Analyse <strong>der</strong> rituellen Interaktionen innerhalb des bürgerlichen<br />

Lebens, <strong>der</strong> Sippen, Verwandtschafts- und Freundschaftsbande o<strong>der</strong> des politischen<br />

1975, S. 119). Mit Gian Gastone (* 1671) <strong>–</strong> fauler und zur Pä<strong>der</strong>astie neigen<strong>der</strong> Sohn des stumpfsinnigen<br />

Pietisten Cosimo III. (1642-1723) und Enkel Ferdinand II. (1610-1670) <strong>–</strong> starb 1737 <strong>der</strong> letzte Medici und es<br />

geschah, was die Medici immer verhin<strong>der</strong>n wollten, das Fürstentum ging an die Österreicher.<br />

38 Als erster die Patronagestrategien <strong>Galilei</strong>s dargestellt hat Richard S. Westfall (1985). Er wi<strong>der</strong>spricht z. B.<br />

<strong>der</strong> oft geäusserten Behauptung, <strong>Galilei</strong> habe nach <strong>der</strong> Rekonstruktion des Fernrohrs damit sofort Beobachtungen<br />

angestellt, um den Kopernikanismus zu stützen. Er bringt gute Argumente für die These, dass <strong>Galilei</strong><br />

das Fernrohr in erster Linie als Patronagemittel benutzte, um neue „Sterne“ am Himmel zu entdecken, die er<br />

dem toskanischen Fürsten widmen wollte. Es scheint, dass zuerst sein Schüler Benedetto Castelli ihn darauf<br />

aufmerksam machen musste, dass man mit dem Fernrohr die Phasen <strong>der</strong> Venus als Beweismittel für die neue<br />

Kosmologie suchen müsse. Die kürzlich erschienene Studie von Biagioli (2006) geht u. a. auch <strong>der</strong> Frage<br />

nach, wie <strong>Galilei</strong> das Fernrohr im Netzwerk <strong>der</strong> Patronage zu seinen Gunsten verwendet hat. Dazu beigetragen,<br />

dass <strong>Galilei</strong> das Fernrohr zu Patronagezwecken bestens hat nutzen können, hat nach van Helden (1984)<br />

auch die Tatsache, dass es <strong>Galilei</strong> über eine gewisse Zeit gelungen ist, die besten Fernrohe herzustellen und<br />

die Teleskopastronomie zu dominieren: „From the first announcements in Si<strong>der</strong>eus Nuncius in 1610 until<br />

after his trial, <strong>Galileo</strong> thus dominated the telescope and telescopic astronomy. The instrument had helped him<br />

obtain the patronage of the Medicis that he had desired so fervently” (S. 156).<br />

54


und ökonomischen Handelns gehe. 39 Die Patronage sei keine blosse Option gewesen, denn<br />

„ohne Einbindung in ein komplexes Netzwerk aus Patronagebeziehungen waren soziale<br />

Mobilität und Karriere unmöglich, vor allem wenn man den Oberklassen angehörte o<strong>der</strong><br />

angehören wollte“ (S. 27). Sich <strong>der</strong> Patronage zu entziehen, sei einem sozialen Selbstmord<br />

gleichgekommen. Der Schirmherr kennzeichnete sich durch den höheren Status und die<br />

grössere Macht aus. Wollte sich ein Schutz Suchen<strong>der</strong> nun in die Obhut eines Schutzherrn<br />

begeben, so durfte nun dieser Statusunterschied nicht allzu gross sein. So besass <strong>Galilei</strong> in<br />

den ersten Jahren seiner beruflichen Laufbahn zu wenig Status, um direkt an Cosimo I. de’<br />

Medici heranzutreten. Dazu benötigte er einen Schutzherrn mit höherem Status, <strong>der</strong> seinerseits<br />

wie<strong>der</strong> Schützling eines höheren Schutzherrn war als Vermittler. Das ganze Klientelsystem<br />

war hierarchisch aufgebaut. Das hatte damit zu tun, dass ein mächtiger Schirmherr<br />

wie <strong>der</strong> Fürst zur Aufrechterhaltung sozialer Grenzen formelle Patronagebeziehungen zu<br />

Personen ausserhalb des Hofes vermied. Der erste Schritt auf dem Weg zum Höfling bestand<br />

also in <strong>der</strong> Patronage eines Höflings. Das ermöglichte dem Fürst, Bittsteller immer<br />

zwischen Hoffen und Bangen zu halten, was wie<strong>der</strong>um seine Macht demonstrierte und<br />

festigte. Und genau in einer solchen vertragslosen Stellung zwischen Hoffen und Bangen<br />

war <strong>Galilei</strong> als er 1605 Lehrer des jungen Prinzen Cosimo wurde, um die er jedes Jahr über<br />

Mittler wie<strong>der</strong> nachfragen musste. „Umgekehrt“, schreibt Biagioli „konnte ein hochgestellter<br />

Schirmherr keinen nie<strong>der</strong>en Klienten direkt um einen Dienst bitten, weil er bei einer<br />

Ablehnung <strong>der</strong> Bitte durch den Klienten sein Gesicht verloren hätte“ (S. 32). So habe z. B.<br />

kein Kardinal jemals <strong>Galilei</strong> direkt um ein Fernrohr gebeten, son<strong>der</strong>n ihm durch bei<strong>der</strong>seitige<br />

Bekannte ihren Wunsch mitteilen lassen. Die Stelle nun als Lehrer des Prinzen war ein<br />

üblicher und hilfreicher Weg, um die Gunst am Hofe zu erlangen, da damit zu rechnen<br />

war, dass <strong>der</strong> Prinz eines Tages selbst die Stelle des Fürsten einnehmen würde. Und die<br />

Gunst des Prinzen konnte <strong>Galilei</strong> auch dadurch gewinnen, dass er diesem seine Abhandlung<br />

über den Proportionszirkel widmete. Natürlich erhielt <strong>Galilei</strong> auch seine spätere Anstellung<br />

am Hof nicht durch direkte Bewerbung beim Fürst, son<strong>der</strong>n durch einen Sekretär<br />

<strong>der</strong> Medici, Belisario Vinta. Mehr allerdings als seine Stellung als Lehrer des Prinzen nutzte<br />

<strong>Galilei</strong> seine Entdeckung <strong>der</strong> Jupitermonde für den Aufstieg zum Höfling. Da <strong>Galilei</strong><br />

indirekt bereits Schützling des Hofes war, konnte er seine Entdeckung äusserst wirkungsvoll<br />

nutzen:<br />

Die Karriere, die er nach <strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> vier Jupitermonde machte (er gab ihnen den Namen<br />

“Mediceische Geestirne“), war keineswegs die Frucht eines Zufalls, son<strong>der</strong>n einer systematischen,<br />

an typischen Mustern und Taktiken orientierten Bemühungen um die Herstellung von Patronagebeziehungen.<br />

(S. 36)<br />

Es war auch im Interesse <strong>der</strong> Mittler, ihrem Schutzherrn neue Schützlinge zuzuführen.<br />

Je<strong>der</strong> Schützling, <strong>der</strong> die Gunst eines Schutzherrn suchte, wertete diesen durch sein<br />

Vertrauen auf dessen Schutz auf und steigerte dadurch dessen Status. Gelang es einem<br />

Mittler, seinem Schutzherrn einen neuen vielversprechenden Schützling wie z. B. <strong>Galilei</strong><br />

nach <strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Jupitermonde zuzuführen, steigerte er dadurch einmal das Ansehen<br />

seines Patrons, <strong>der</strong> sich nun seiner Patronage dieses Schützling rühmen konnte, aber<br />

auch sein eigenes, denn er war ja selbst Schutzherr dieses vielversprechenden Schützlings.<br />

So steigerte es den Status des Mittlers beim Fürsten als er diesem <strong>Galilei</strong>s Wunsch vortrug,<br />

die neuentdeckten Monde dem Fürstengeschlecht zu widmen. Vermittler waren immer auf<br />

<strong>der</strong> Suche nach „lohnenden“ Schützlingen und drängten diese sogar, Protektion bei ihrem<br />

Schutzherrn nachzusuchen. So erstaunt es nicht, dass Vinta <strong>Galilei</strong> mitteilte, er solle sich<br />

39 Es scheint, dass bereits im 15. Jahrhun<strong>der</strong>t die Medici ihren Aufstieg und ihre Macht in Florenz auf ein<br />

solches Patronage-Klientel-System gründeten. Reinhardts (2001, S. 34-38) Beschreibung dieses Klientelsystems<br />

unterscheidet sich jedenfalls nicht von <strong>der</strong> Darstellung Biagiolis.<br />

55


an ihn und niemand an<strong>der</strong>s wenden, wenn er einen Wunsch habe, o<strong>der</strong> dass es ein Mittler<br />

war, <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong> vorschlug, die Schrift über den Proportionszirkel den Medici zu widmen.<br />

Das ganze Patronagesystem besteht also aus wechselseitigen Abhängigkeiten von Status-<br />

und Machtsicherung und <strong>–</strong>steigerung. Der Schützling gewinnt an Status, je mächtiger sein<br />

Patron ist und dieser gewinnt an Macht, je mehr <strong>der</strong> Status und die Anzahl seiner Schützlinge<br />

steigt. Die Patronage besass also ganz spezifische Strukturen und eine Logik, „die<br />

Schirmherren, Vermittler und Klienten in dem Bedürfnis miteinan<strong>der</strong> verband, Macht zirkulieren<br />

zu lassen, um sie zu gewinnen und aufrechtzuerhalten“ (S. 41). Zum System gehörten<br />

auch ritualisierte Ehrbezeugungen. Wurde ein Schutzherr in <strong>der</strong> Hierarchie beför<strong>der</strong>t,<br />

erhielt er Briefe von seinen Schützlingen, die ihn zum Machtzuwachs gratulierten und<br />

um För<strong>der</strong>ung baten. Die Beglückwünschten unterliessen es nicht, ihrerseits den Gratulanten<br />

zu versichern, dass sie die neue Macht o<strong>der</strong> den neuen Status dazu verwenden würden,<br />

die Wünsche ihrer Freunde zu för<strong>der</strong>n. Gelang einem Mittler eine solche För<strong>der</strong>ung, betrachtete<br />

er das als Ergebnis seiner Macht. An<strong>der</strong>n eine Stellung zu verschaffen, för<strong>der</strong>te<br />

den eigenen Status und war ein Test für die eigene Karriere. Als <strong>Galilei</strong> dann selbst Höfling<br />

war, konnte er einer Reihe von Mathematikern und Philosophen Lehrstühle an den<br />

Universitäten von Pisa, Rom und Bologna verschaffen.<br />

In diesem Geflecht von Patronagebziehungen ist es <strong>Galilei</strong> gelungen, am Hof in<br />

Florenz Mathematiker und Philosoph zu werden. Hätte <strong>Galilei</strong> bei diesem „Spiel“ nicht<br />

mitgemacht, wäre er nie auf diesen Posten gekommen. Von den verschiedenen Schutzherren<br />

ist es <strong>Galilei</strong> gelungen, die Gunst des mächtigsten <strong>–</strong> des Fürsten <strong>–</strong> zu erlangen. <strong>Galilei</strong><br />

wusste auch, „dass Schirmherren unterschiedlichen Rangs auch unterschiedliche Grade<br />

sozialer Legitimation verschaffen konnten.“ (S. 41). <strong>Galilei</strong> habe genau gewusst, dass die<br />

Patrizier von Venedig ihm nicht so viel Legitimation verschaffen konnten wie <strong>der</strong> absolute<br />

Fürst in Florenz. Der hohe soziale Status, den ein einzelner Fürst verleihen konnte, war nur<br />

in Florenz zu erreichen. Nach Biagioli gab es für <strong>Galilei</strong> einen zweiten Grund, diesen Status<br />

anzustreben und das Patronagespiel mitzuspielen, nämlich sein Status als Mathematiker.<br />

Biagoli erläutert:<br />

Wenn die Patronage uns einen Schlüssel zur Deutung des Verhaltens historischer Akteure in <strong>der</strong><br />

frühen Neuzeit an die Hand gibt, so erweist sie sich als ein noch stärkeres Instrument, wenn wir das<br />

Leben eines Wissenschaftlers untersuchen. In <strong>der</strong> frühen Neuzeit bestand in Europa zwischen sozialem<br />

Status und epistemologischer Glaubwürdigkeit ein enger Zusammenhang [Im Original nicht<br />

kursiv]. (S. 28)<br />

Biagioli verweist auf die frühe Royal Society of London, die Bewertungsmassstäbe<br />

für die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Aussagen besass. „die den sozialen Status des<br />

Beobachters berücksichtigten“ (S. 28). Man habe damals einen Zusammenhang gesehen<br />

„zwischen Glaubwürdigkeit und Adel“ (S. 28). Da die Royal Society zahlreiche adelige<br />

und geistliche Mitglie<strong>der</strong> besass, „gewann sie ein gesellschaftliches Ansehen, das auch <strong>der</strong><br />

Glaubwürdigkeit <strong>der</strong> mitgeteilten Beobachtungen zugute kam“ (S. 28). 40 Für <strong>Galilei</strong>s<br />

Kampf für den Kopernikanismus kommt noch ein an<strong>der</strong>es Moment hinzu, nämlich die Tatsache,<br />

dass innerhalb <strong>der</strong> Wissenschaft einige Disziplinen mehr sozialen Status besassen<br />

als an<strong>der</strong>e. In Anbetracht <strong>der</strong> gesellschaftlichen Stellung des Klerus zur Zeit <strong>Galilei</strong>s erstaunt<br />

es nicht, dass die Theologie die „Königin <strong>der</strong> Wissenschaft“ war, gefolgt von <strong>der</strong><br />

Philosophie. Die Mathematik <strong>–</strong> das Fach <strong>Galilei</strong>s <strong>–</strong> stand am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> sozialen<br />

Stufenleiter auf <strong>der</strong> untersten Sprosse. Über den tiefen Status <strong>der</strong> Mathematik und über<br />

dessen Folgen für die Kosmologie schreibt Biagioli:<br />

40 Auf den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft des Beobachters o<strong>der</strong> Berichterstatters und dem Grad<br />

<strong>der</strong> Glaubwürdigkeit, den seine Berichte genossen, verweist auch Steven Shapin (1989).<br />

56


Wegen ihrer marginalen Rolle in <strong>der</strong> vorherrschenden aristotelischen Philosophie und ihrer Anwendung<br />

in vergleichsweise niedrigen Künsten wie <strong>der</strong> Mechanik besass die Mathematik nur einen niedrigen<br />

sozialen und kognitiven Status. Die untergeordnete Stellung, die den mathematischen Disziplinen<br />

wie <strong>der</strong> Astronomie, <strong>der</strong> Optik o<strong>der</strong> Mechanik in <strong>der</strong> Rangordnung <strong>der</strong> Fachgebiete (insbeson<strong>der</strong>e<br />

gegenüber <strong>der</strong> Philosophie und <strong>der</strong> Theologie) zugewiesen wurde, war … wahrscheinlich das<br />

grösste Hin<strong>der</strong>nis für die epistemologische Rechtfertigung <strong>der</strong> kopernikanischen Astronomie. Solange<br />

diese Hierarchie <strong>der</strong> Fachgebiete erhalten blieb, konnten Philosophen und Theologen das neue<br />

Weltbild <strong>der</strong> Mathematiker nahezu unbesehen zurückweisen, brauchten sie dazu doch nur auf die<br />

allgemein anerkannten Unterschiede des Gegenstandsbereichs, <strong>der</strong> Methodologie und des soziokognitiven<br />

Status hinzuweisen. (S. 29)<br />

Zur Legitimation <strong>der</strong> neuen Wissenschaft habe es mehr bedurft als nur eine epistemologische<br />

Debatte, weil die Anerkennung des neuen Weltbildes auch von <strong>der</strong> soziokognitiven<br />

Legitimation <strong>der</strong> Fachgebiete und ihrer Vertreter abhing. Die Mathematik musste den<br />

epistemologischen Status <strong>der</strong> Philosophie erlangen, um glaubwürdig zu werden. Die Institution,<br />

in <strong>der</strong> man diesen Status erlangen konnte, war die Patronage, <strong>der</strong> Ort, an dem sich<br />

die stärksten Patronagebeziehungen herstellen liessen, <strong>der</strong> Hof. Torquato Tasso habe geschrieben:<br />

„Noch die verächtlichste Kunst gewinnt bei Hofe Qualität und Adel“ (S. 29).<br />

Wenn nun <strong>Galilei</strong> am Hof <strong>der</strong> Medici 1610 vom Grossfürsten den Titel des Philosophen<br />

erhalten habe, so könne man darin „ein Sinnbild des in <strong>der</strong> Patronage gründenden Weges<br />

zu sozialer und kognitiver Legitimation erblicken“ (S. 29). Durch eine Stellung bei Hofe,<br />

habe <strong>Galilei</strong> gehofft, „den Zwängen <strong>der</strong> fachlichen Hierarchie an <strong>der</strong> Universität zu entkommen,<br />

einer Hierarchie, in <strong>der</strong> die Mathematiker sowohl hinsichtlich <strong>der</strong> Bezüge als<br />

auch hinsichtlich ihres beruflichen Status den Philosophen untergeordnet waren“ (S. 119).<br />

Es blieb <strong>Galilei</strong> nichts an<strong>der</strong>es übrig, als die För<strong>der</strong>ung durch den Hof zu suchen, denn an<br />

<strong>der</strong> Universität wäre er nie Philosoph geworden. Dagegen „war dies bei Hofe durchaus<br />

möglich, denn über den sozialen und kognitiven Status entschied dort nicht das Fachgebiet,<br />

son<strong>der</strong>n die Gunst des Fürsten“ (S. 119).<br />

<strong>Galilei</strong> ist es also gelungen, im Patronagenetz des Grossherzogs bis ans Zentrum<br />

vorzurücken und die För<strong>der</strong>ung und den Schutz des obersten Patrons zu erlangen. <strong>Galilei</strong><br />

war offenbar ein sehr versierter Schützling. Das wird dadurch bestätigt, dass es ihm später<br />

auch gelungen ist, die Patronage eines an<strong>der</strong>en Schutzherrn zu erlangen, diejenige des<br />

Papstes. Die Patronage eines Schutzherrn zu erlangen, war eine Sache, sie zu behalten,<br />

eine an<strong>der</strong>e. War man gewieft genug, sie zu erlangen, musste man auch vorsichtig genug<br />

sein, sie nicht zu verlieren. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die Patronage bot dem Schützling nicht<br />

nur Möglichkeiten, sie legte ihm auch Pflichten und Zwänge auf. Einer dieser Zwänge war<br />

<strong>der</strong> Austausch von Geschenken. Denn wie sich z. B. aus <strong>Galilei</strong>s Briefwechsel zeige, „waren<br />

Geschenke und an<strong>der</strong>e ökonomisch nicht quantifizierbare Dienste und Privilegien das<br />

Mittel zum Ausdruck und zur Erhaltung <strong>der</strong> Patronagebeziehungen“ (S. 49). Ein typisches<br />

Beispiel des Geschenkaustauschs war wie<strong>der</strong>um <strong>Galilei</strong>s Benennung <strong>der</strong> Jupitermonde als<br />

„mediceische Gestirne“. 41 Für dieses Geschenk musste sich <strong>der</strong> Fürst nach <strong>der</strong> Devise noblesse<br />

oblige erkenntlich zeigen, was er durch die Festsetzung eines stattlichen Salärs für<br />

<strong>Galilei</strong> auch tat. „Hätten die Medici sich in dieser Fragte knausrig verhalten, hätten sie damit<br />

automatisch die Bedeutung <strong>der</strong> Mediceischen Gestirne in den Augen <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

herabgesetzt“ (S. 50). Durch <strong>Galilei</strong>s Geschenk stieg <strong>der</strong> Status <strong>der</strong> Medici. Durch die<br />

fürstliche Entlöhnung <strong>Galilei</strong>s <strong>–</strong> die natürlich öffentlich bekannt war <strong>–</strong> stieg wie<strong>der</strong>um sein<br />

41 Das Interesse <strong>der</strong> Medici an den Jupitermonden scheint mit <strong>der</strong> Familienmythologie, wie das Fürstenhaus<br />

sie seit Cosimo I. geschaffen hatte, zusammenzuhängen: „Diese Mythologie stellte eine Korrespondenz zwischen<br />

dem Kosmos und Cosimo her, und Jupiter wurde mit Cosimo I. assoziiert, dem Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Dynastie<br />

und dem ersten <strong>der</strong> ‚mediceischen Götter’“ (Biagioli 1993, S. 120)<br />

57


eigener Status und auch <strong>der</strong> des Grossherzogs als Gönner. Zuletzt stieg <strong>–</strong> und darum ging<br />

es im Grunde <strong>–</strong> auch <strong>Galilei</strong>s Glaubwürdigkeit als Wissenschafter. Wenn <strong>der</strong> Grossherzog<br />

die Existenz <strong>der</strong> Jupitermonde anerkennt, musste man schon gute Argumente haben, um<br />

ihre Existenz zu bestreiten. So wusste z. B. im Juli 1610 ein Brief vom kaiserlichen Hof in<br />

Prag an <strong>Galilei</strong> zu berichten, <strong>Galilei</strong>s Gegner seien inzwischen „etwas kleinlauter geworden,<br />

seit <strong>der</strong> Kaiser begonnen habe, <strong>Galilei</strong>s Thesen zu stützen“ (S. 113), obwohl <strong>der</strong> Kaiser<br />

ja wohl keine wissenschaftliche Autorität war und vermutlich ohne Keplers Hilfe die<br />

Jupitermonde im Fernrohr gar nicht gesehen hätte. Dieser Vorgang war aber für beide Seiten<br />

auch mit einem Risiko verbunden. Hätten sich die Jupitermonde als Täuschung herausgestellt,<br />

wäre das eine fürchterliche Blossstellung für den Fürst gewesen. Er wäre als För<strong>der</strong>er<br />

eines lächerlichen Dilettanten dagestanden und die ganze Familie wäre blamiert gewesen.<br />

Der Fürst hat darum vor <strong>der</strong> Annahme <strong>der</strong> Widmung zuerst gezögert, „weil sowohl<br />

die Medici als auch die Florentiner Höflinge nur ungern ihre Ehre für <strong>Galilei</strong>s Entdeckungen<br />

aufs Spiel setzten“ (S. 150). Nicht einmal die Anerkennung durch Kepler reichte aus,<br />

um die Höflinge zu überzeugen. Auch für <strong>Galilei</strong> wäre dieser Fall mit schlimmen Konsequenzen<br />

verbunden gewesen; er wäre schlagartig aus allen Patronagebeziehungen herausgefallen.<br />

Kein Schutzherr hätte ihn mehr protegieren mögen, aber auch seine eigenen<br />

Schützlinge hätten nicht mehr von ihm protegiert werden wollen. Ein Geschenk musste<br />

also zur Ehre desjenigen gereichen, <strong>der</strong> beschenkt wurde; es bestand sozusagen die Pflicht,<br />

durch geeignetes Verhalten, sich gegenseitig die Ehre zu verteidigen und das Ansehen zu<br />

erhöhen. Diese Pflicht legte dem Höfling <strong>–</strong> und damit auch <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> bestimmte Verhaltensweisen<br />

auf. Das galt z. B. für das Verhalten in einem Disput o<strong>der</strong> Streit:<br />

<strong>Galilei</strong>s Freunde und Schutzherren sorgten sich um die Etikette seiner Gegenschläge, aber auch um<br />

<strong>der</strong>en Timing. Eine kurze Verzögerung in <strong>der</strong> Beantwortung einer Herausfor<strong>der</strong>ung war nicht nur<br />

verständlich, son<strong>der</strong>n auch aufregend, weil sie die Erwartungen des Publikums in die Höhe schraubte.<br />

Ob nun absichtlich o<strong>der</strong> notgedrungen, liess <strong>Galilei</strong> sich meist allzuviel Zeit mit seiner Antwort<br />

und strapazierte dadurch erheblich die Geduld seiner Freunde. (S. 80f.)<br />

Darum sei <strong>Galilei</strong> von seinen Freunden immer wie<strong>der</strong> aufgefor<strong>der</strong>t worden, endlich<br />

auf die Herausfor<strong>der</strong>ung seiner Gegner zu reagieren, so z. B. im Oktober 1612 von Cigoli,<br />

„<strong>der</strong> darauf wartete, dass <strong>Galilei</strong> dem Jesuiten Scheiner in seinem dritten Brief über die<br />

Sonnenflecken antwortete“ (S. 81). Die Schutzherren erwarteten von ihren Schützlinge<br />

Erfolge in Auseinan<strong>der</strong>setzungen; sie wollten renommieren als Patron eines Siegers. Biagioli<br />

sieht in dieser Patronagedynamik eine Erklärung für <strong>Galilei</strong>s oftmals sarkastischen<br />

Stil:<br />

Gegenschläge hatten zeitig zu erfolgen. Schirmherren und Mittelsleute erwarteten von ihren Klienten,<br />

dass sie sich auf Dispute einliessen und „heroisch“ auf Angriffe reagierten, das heisst furchtlos<br />

und geschickt, weil sie dadurch ihr eigenes Ansehen und ihren Status hoben. Betrachtet man <strong>Galilei</strong>s<br />

bekannt aggressiven und sarkastischen Stil im Kontext dieser Patronagedynamik, erscheint er nicht<br />

mehr nur als ein persönlicher Charakterzug. (S. 81)<br />

Biagioli schreibt, dass Männer wie <strong>Galilei</strong>, die sich erfolgreich in solchen Wissenschaftsduellen<br />

schlugen, oft nur herausgefor<strong>der</strong>t wurden, weil bereits <strong>der</strong> Status des Gegners<br />

im Streit eine Rolle spielte. Einen erfolgreichen Disputanten zu besiegen, brachte dem<br />

Angreifer viel Ansehen. Nach Biagioli erzeugte weniger <strong>Galilei</strong>s Kopernikanismus als<br />

vielmehr sein neuer Status die Angriffe auf ihn. „Wer auf Status aus war, musste seine<br />

Angriffe auf Menschen richten, denen ein hoher Status zugebilligt wurde“ (S. 113). Der<br />

Angegriffene musste dann die Herausfor<strong>der</strong>ung annehmen <strong>–</strong> eine lästige Pflicht. Es erstaunt<br />

daher nicht, dass sich <strong>Galilei</strong> manchmal Zeit nahm mit <strong>der</strong> Antwort. Solche Dispute<br />

gingen auch nicht immer von den Wissenschaftlern selbst aus, weil Schirmherren und Mittelsleute<br />

dazu neigten, „ihres Status und Ansehens wegen wissenschaftliche Dispute zu<br />

58


initiieren. Gelegentlich schickten Schirmherren zu diesem Zweck ‚ihre’ Mathematiker ins<br />

Rennen“ (S. 83). 42 Der Schützling war gezwungen, sich auf solche Kämpfe einzulassen<br />

o<strong>der</strong> die schweren Konsequenzen zu tragen:<br />

Der Schirmherr sorgte nicht einfach nur für die Legitimation wissenschaftlicher Dispute, son<strong>der</strong>n<br />

verpflichtete die Kontrahenten zugleich, sich darauf einzulassen. Wenn sie es nicht taten, stellten sie<br />

sich auf eine Ebene mit Menschen, die zwar die nötige Ehre besassen, aber dennoch Geschenke<br />

nicht erwi<strong>der</strong>ten o<strong>der</strong> eine For<strong>der</strong>ung zum Duell ausschlugen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, sie hätten sich<br />

selbst aus dem Patronagesystem ausgeschlossen, das ihnen Status und Glaubwürdigkeit sicherte. Sie<br />

hätten nicht nur einen Schirmherrn verloren, son<strong>der</strong>n auch ihr Gesicht <strong>–</strong> sie wären „verschwunden“.<br />

(S. 87f.)<br />

Allerdings nahmen die Schirmherren selbst nie Stellung im Streit und stellten sich<br />

auch nicht auf die Seite ihres Schützlings, denn erstens ging es ihnen nur darum, durch<br />

ihren Schützling Status zu gewinnen und zweitens wollten sie ihre Ehre nicht durch eine<br />

riskante Stellungsnahme aufs Spiel setzen. För<strong>der</strong>ung eines (<strong>wissenschaftlichen</strong>) Schützlings,<br />

hiess also nicht, Unterstützung seiner Theorien. Die Medici interessierten sich nicht<br />

für <strong>Galilei</strong>s Kampf für den Kopernikanismus. Wichtiger war, dass <strong>Galilei</strong> ihn gewann:<br />

Wenn die Medici <strong>Galilei</strong> för<strong>der</strong>ten, so bedeutete das keineswegs automatisch, dass sie auch seine<br />

Meinungen o<strong>der</strong> Entdeckungen guthiessen. Einem grossen Schirmherrn war natürlich ein Sieg seines<br />

Klienten lieber als dessen Nie<strong>der</strong>lage, doch einen Klienten zu haben, <strong>der</strong> herausgefor<strong>der</strong>t wurde,<br />

war bereits ehrenvoll genug. Es [die Annahme des Disputs] war ein Geschenk, und die Sichtbarkeit<br />

des Klienten bedeutete für den Schirmherr die Anerkennung seines Rangs. Fast scheint es, als hätten<br />

vor allem grosse Schirmherren den Ausgang von Disputen unter statistischen Gesichtspunkten betrachtet.<br />

Wenn ihr Klient ein Spiel verloren hatte, erwarteten sie, dass er das nächste schon gewinnen<br />

werde. (S. 89)<br />

Dieser Fokus auf Status und Sieg zeigt, dass es im höfischen Patronagesystem nicht<br />

um die wissenschaftliche Wahrheit gegangen ist. Ein Grund für das Interesse von Schirmherren<br />

an (<strong>wissenschaftlichen</strong>) Schützlingen sei <strong>der</strong> Wunsch <strong>der</strong> Schutzherren nach Unterhaltung<br />

am Hof gewesen. Die Dispute fanden denn auch oft in den Salons und Speisezimmern<br />

<strong>der</strong> Schirmherren statt und diese interessierten „sich eher für den ‚spöttischen Geist’,<br />

<strong>der</strong> in einem ‚Duell’ zum Ausdruck kam, als für einen blutigen Ausgang“ (S. 90). So war<br />

es auch im Streitgespräch über die schwimmenden Körper zwischen <strong>Galilei</strong> und dem Philosophen<br />

Papazzoni, das 1611 am Hof <strong>der</strong> Medici veranstaltet wurde. Es habe vor allem<br />

theatralischen und nicht <strong>wissenschaftlichen</strong> Charakter gehabt und zeige, „die für die<br />

Schirmherren typische Ästhetik des ‚Spottgeistes’“ (S. 90). Die Berichte über dieses<br />

Streitgespräch befassten sich denn auch nicht in erster Linie mit dem Wahrheitsgehalt <strong>der</strong><br />

jeweiligen Thesen, „son<strong>der</strong>n mit dem Stil, dem Witz und <strong>der</strong> Eleganz <strong>der</strong> von <strong>Galilei</strong> und<br />

Papazzoni gebotenen Vorstellung“ (S. 90). Die <strong>wissenschaftlichen</strong> Dispute hätten sich in<br />

dieser Hinsicht nicht von den Diskussionen, die in den literarischen Akademien und in den<br />

Salons <strong>der</strong> Adligen geführt wurden, unterschieden. „Das Interesse <strong>der</strong> Schirmherren galt<br />

eher <strong>der</strong> Form als dem Inhalt <strong>der</strong> Debatte“ (S. 90f.). Die Schirmherren seien schon deshalb<br />

nicht an <strong>der</strong> Wahrheit von Thesen interessiert gewesen, weil sie den Disput offen halten<br />

wollten <strong>–</strong> das Spektakel konnte so weitergehen. Disputanten, welche auf <strong>der</strong> Wahrheit ihrer<br />

Thesen beruhten und damit den Disput endgültig entscheiden wollten, waren äusserst unbeliebt:<br />

Wer starke Thesen vertrat, war kein höfischer virtuoso, son<strong>der</strong>n ein Techniker <strong>–</strong> ein unzivilisierter<br />

Mensch, <strong>der</strong> das elegante Spiel alternativer Auffassungen nicht zu schätzen verstand. Solche Menschen<br />

wurden nicht als bedrohlich dargestellt, son<strong>der</strong>n als Langweiler. Ihre Denk- und Argumentati-<br />

42 <strong>Galilei</strong> war sogar vertraglich verpflichtet, an solchen Disputen teilzunehmen (Biagioli 1999, S. 196).<br />

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onsweise verriet einen knechtischen Verstand. Sklavische Abhängigkeit von einem philosophischen<br />

System war gleichbedeutend mit <strong>der</strong> Zugehörigkeit zu einer nie<strong>der</strong>en Klasse. (S. 323)<br />

Die Vermutung liegt nahe, dass diese Eigenheit des höfischen Patronagesystems<br />

<strong>Galilei</strong>, <strong>der</strong> doch nichts an<strong>der</strong>es wollte als den Kopernikanismus beweisen, dabei behin<strong>der</strong>te.<br />

Und tatsächlich; „An<strong>der</strong>s als <strong>Galilei</strong> es erhofft haben dürfte, war <strong>der</strong> Hof nicht <strong>der</strong> Ort,<br />

an dem sich systematische Forschung noch am bestem betreiben liess“ (S. 177). Neben <strong>der</strong><br />

Teilnahme an Disputen musste er Fragen von Schirmherren beantworten und neue wun<strong>der</strong>bare<br />

Dinge wie die Venusphasen und die „Kin<strong>der</strong> des Saturns“ entdecken. Das war <strong>der</strong><br />

Preis dafür, dass sich <strong>Galilei</strong> durch die Patronage durch den Fürsten den Status eines Philosophen<br />

aneignen konnte, <strong>der</strong> es ihm erst erlaubte, mit den aristotelischen Philosophen auf<br />

gleicher Höhe zu streiten.<br />

Von <strong>Galilei</strong>s Aufgaben als Höfling ist hier speziell seine Funktion als Disputant<br />

und Unterhalter des Fürsten und seiner Gäste interessant. Diese verlangte von ihm ein rhetorisch<br />

brillantes Auftreten in Disputen und in Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit seinen Gegnern.<br />

Genau das trifft sich aber mit <strong>der</strong> Rhetorikthese von Paul Feyerabend. Diese sagt nichts<br />

an<strong>der</strong>es, als dass <strong>Galilei</strong> seine Überzeugungskraft nicht seinen Argumenten verdanke, son<strong>der</strong>n<br />

seiner geschickten Rhetorik; genau das, was vom höfischen virtuoso verlangt wurde,<br />

nämlich nicht Argumente für die Wahrheit einer These, son<strong>der</strong>n rhetorische Brillanz in <strong>der</strong><br />

Verteidigung <strong>der</strong> These. Feyerabend und Biagioli stimmen also in <strong>der</strong> Darstellung von<br />

<strong>Galilei</strong>s Verhalten überein. Während aber Feyerabend es dabei belässt, wissenschaftstheoretische<br />

Konsequenzen daraus zu ziehen, will Biagoli darüber hinaus zeigen, was die Hintergründe<br />

und Ursachen dieses Verhaltens sind und kommt in seiner Analyse zu folgendem<br />

Schluss: „<strong>Galilei</strong>s Karriere war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende durch die Patronage<br />

und Kultur eines barocken Hofes strukturiert“ (S. 372). Es ist hier nicht <strong>der</strong> Ort, um Biagiolis<br />

heftig diskutierten Thesen zu diskutieren, sie wurden lediglich referiert wegen ihrer<br />

Nähe zu Rhetorikthese Feyerabends. 43 Diese beiden umstrittenen Auffassungen stützen<br />

sich in gewissem Masse gegenseitig. Ein Argument, gegen das zumindest Feyerabend<br />

nicht einzuwenden hätte. Biagiolis Analyse zeigt zwar nicht auf, dass das Fehlen einer<br />

adäquaten <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong> etwas mit <strong>der</strong> Patronagekultur zu tun hat, es liegt<br />

aber auf <strong>der</strong> Hand, dass die Anfor<strong>der</strong>ungen an das Verhalten eines Höflings (erfolgreiche<br />

Dispute, bei denen es nicht um die Wahrheit geht) ein korrektes wissenschaftliches Argumentieren<br />

nicht son<strong>der</strong>lich för<strong>der</strong>n. Wenn <strong>der</strong> Hof schon nicht an <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

Wahrheit interessiert war, dürfte er sich ebenso wenig für die wissenschaftliche <strong>Methode</strong><br />

interessiert haben. Es ist sicher nicht unkorrekt, wenn man vermutet, dass das Patronagesystem<br />

die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong> eher behin<strong>der</strong>t als geför<strong>der</strong>t hat.<br />

43 Sowohl Biagiolis Thesen wie auch seine <strong>Methode</strong> haben Kritik erfahren. Remmert (1997, S. 56ff.) referiert<br />

einige Kritiken, die gegen Biagioli vorgebracht wurden, lobt aber Biagolis Beschreibung: „In <strong>Galileo</strong>, Courtier<br />

zeichnet Biagioli weitgehend überzeugend und in brillanter Darstellung einen Zusammenhang zwischen<br />

sozialen und epistemologischen Legitimationsstrategien nach“ (S. 191). Siehe dazu auch Huff (1996).<br />

60


4 Das methodische Vorgehen <strong>Galilei</strong>s bei <strong>der</strong> Gezeitentheorie<br />

In diesem Kapitel soll versucht werden, <strong>der</strong> wichtigsten Behauptung <strong>der</strong> Heldenthese <strong>–</strong><br />

dass <strong>Galilei</strong> <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong> sei <strong>–</strong> eine an<strong>der</strong>e<br />

Sichtweise entgegenzuhalten. Die Vorgehensweise besteht darin, an einem Beispiel zu<br />

analysieren, wie <strong>Galilei</strong> methodisch vorgeht und danach dieses Vorgehen methodologisch<br />

auf Haltbarkeit hin zu untersuchen. Als Beispiel dazu dient <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie aus<br />

den Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische<br />

(1982) 44 aus dem Jahre 1632. Es handelt sich also um eine methodologische<br />

Mikrostudie, die Aufschluss darüber geben soll, ob <strong>Galilei</strong> über ein passables methodisches<br />

Werkzeug verfügte und worin dieses allenfalls bestand. Etwas an<strong>der</strong>s ausgedrückt,<br />

könnte man auch sagen, es handle sich hier um eine erneute Suche nach <strong>der</strong> bisher nicht<br />

gefundenen <strong>Methode</strong> von <strong>Galilei</strong>, wobei das Suchraster <strong>der</strong> vierte Tag des Dialogs ist, in<br />

welchem <strong>Galilei</strong> seine Gezeitentheorie vorträgt.<br />

Gegen dieses Vorgehen kann natürlich Einspruch erhoben werden. Einen solchen<br />

Einspruch kann man in <strong>der</strong> Behauptung von Alan Chalmers (1986) sehen, <strong>der</strong> meint, dass<br />

<strong>der</strong> Dialog nicht <strong>der</strong> richtige Ort sei, um <strong>Galilei</strong>s neue Wissenschaft zu finden. So sei es z.<br />

B. für Feyerabend leicht gewesen, im Dialog Kritikpunkte an <strong>Galilei</strong> zu finden. Chalmers<br />

schreibt:<br />

By concentrating on the Dialogue, Feyerabend is able to find support for his view that <strong>Galileo</strong>’s<br />

revolution hinged on the replacement of one common sense view by an new one. But the Dialogue<br />

is an inappropriate place to seek for the essentials of <strong>Galileo</strong>’s new science. (S. 21)<br />

Der Dialog sei nur ein Propagandabuch zum Zweck, die gebildeten Laien sowie die<br />

Kleriker vom Kopernikanismus zu überzeugen. Es sei viel mehr <strong>Galilei</strong>s Theorie im<br />

Diskurs über zwei neue Wissenschaften von 1638, „that we should turn to discern the character<br />

of his innovation and to gauge the extent of the epistemological revolution it entailed“<br />

(S. 21). Diesem Einwand von Chalmers kann ich aus folgendem Grund nicht zustimmen:<br />

Es stimmt zwar, dass <strong>der</strong> Diskurs wissenschaftshistorisch das wichtigere Werk<br />

ist als <strong>der</strong> Dialog <strong>–</strong> jedenfalls ist das die Meinung vieler Historiker <strong>–</strong>, aber die meisten von<br />

ihnen sagen auch, dass <strong>Galilei</strong> selbst, im Dialog seine grösste Leistung gesehen habe. 45 Sie<br />

weisen darauf hin, dass <strong>Galilei</strong>s ganzer Stolz diesem Werk galt. Das ist auch nachvollziehbar;<br />

was ist schon die Entdeckung des Fallgesetzes gegenüber dem Verdienst, einer neuen<br />

Kosmologie zum Durchbruch verholfen zu haben. Gesetze gibt es Hun<strong>der</strong>te und viele Wissenschaftler<br />

haben ein neues Gesetz in die Wissenschaft eingeführt, aber nur ganz wenige<br />

haben einer neuen Kosmologie zum Durchbruch verholfen. Aus diesen Grund hat <strong>Galilei</strong><br />

so viel Zeit und Einsatz in den Kampf für den Kopernikanismus investiert. Erst seine Verurteilung<br />

hat dazu geführt, dass er sich wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mechanik zugewendet hat. Zudem hat es<br />

etwas Beleidigendes an sich, wenn Chalmers den Dialog als Propagandaschrift abtut. <strong>Galilei</strong><br />

selbst hat dieses Werk als seriöse Wissenschaft verstanden; er wollte in diesem Buch<br />

die Ursache <strong>der</strong> Gezeiten darlegen, darum sollte <strong>der</strong> Titel des Buches ursprünglich Dialog<br />

über Ebbe und Flut lauten. In Anbetracht dessen, kann man annehmen, dass sich <strong>Galilei</strong><br />

44 Bei dieser Ausgabe handelt es sich um einen Neudruck <strong>der</strong> 1892 erschienenen Übersetzung von Emil<br />

Strauss. Diese Ausgabe ist gegenwärtig vergriffen. Während des Schreibens dieser Arbeit ist eine neue Auflage<br />

des Dialogs erschienen (<strong>Galilei</strong> 2007), die lei<strong>der</strong> nicht vollständig ist. Da aber die meisten hier angeführten<br />

Zitate in dieser Ausgabe enthalten sind, werden bei den Zitaten auch die Seitenzahlen dieser Ausgabe<br />

angegeben.<br />

45 Allerdings herrscht auch in dieser Frage Uneinigkeit unter den Historikern. So schreibt Dubarle (1967)<br />

über <strong>Galilei</strong>s Leistungen in <strong>der</strong> Mechanik: „It is true that his basic discoveries in mechanics were relatively<br />

few. And it might well seem, with mechanics now established for us as only one in a whole roster of natural<br />

sciences, that the volume of his concrete achievement was thus small indeed“ (S. 297).<br />

61


auf das äusserste darum bemüht hat, methodisch korrekt vorzugehen und alle ihm verfügbaren<br />

methodischen Register gezogen hat, um die Theorie zu beweisen. Ein Scheitern in<br />

dieser Sache ist daher <strong>der</strong> beste Beweis für fehlendes methodisches Rüstzeug und nicht<br />

etwa als Flüchtigkeitsfehler abzutun. Darum ist es nicht nur gerechtfertigt, das Beispiel <strong>der</strong><br />

Gezeitentheorie als Untersuchungsobjekt für <strong>Galilei</strong>s methodisches Vorgehen zu benutzen,<br />

son<strong>der</strong>n sogar angebracht.<br />

4.1 Die Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong><br />

Im Februar 1632 erscheint in Florenz <strong>Galilei</strong>s erstes Hauptwerk Dialog über die<br />

beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische. Es umfasste<br />

rund 500 Seiten und ist <strong>Galilei</strong>s umfangreichstes Werk. Mit diesem Buch wollte <strong>Galilei</strong><br />

sein definitives Argument für den Kopernikanismus präsentieren. Gleichzeitig lieferte<br />

<strong>Galilei</strong> eine Erklärung für das bisher unverstandene Phänomen <strong>der</strong> Gezeiten. Das Buch<br />

besteht aus vier Teilen. Je<strong>der</strong> Teil stellt einen Tag dar, an dem sich drei Personen zu einem<br />

<strong>wissenschaftlichen</strong> Gespräch treffen. Die Diskussion ist so aufgebaut, dass sie zum vierten<br />

Tag hinführt, an dem <strong>Galilei</strong> die Gezeitentheorie und damit seinen vermeintlichen Beweis<br />

für den Kopernikanismus darlegt. Für die vorliegende Arbeit sind hauptsächlich <strong>Galilei</strong>s<br />

Erläuterungen aus diesem vierten Tag wichtig. Es muss ausdrücklich darauf hingewiesen<br />

werden, dass es <strong>Galilei</strong> am vierten Tag darum gegangen ist, die Ursache <strong>der</strong> Gezeiten darzulegen.<br />

Es ging darum, die Ursache für dieses periodische Phänomen herauszufinden; das<br />

was hinter dieser dauernden Bewegung des Wassers steckt. Die Behauptung, <strong>Galilei</strong> habe<br />

sich nicht um Ursachen gekümmert, ist falsch. Sie mag zutreffen für das Fallgesetz, dort<br />

hat <strong>Galilei</strong> sicher nicht die Ursache des Fallens gesucht, sie ist aber falsch für die Gezeitentheorie.<br />

Diese Theorie sollte die bisher nicht erkannte Ursache dieser ewigen Wasserbewegung<br />

aufzeigen. <strong>Galilei</strong> selbst bestätigt das in einem Brief vom 20. Oktober 1625 an Elia<br />

Diodati in Paris:<br />

I go on employing my time in writing some dialogues on the ebb and flow of the sea, where, moreover,<br />

there will be a copious treatment of the systems of Ptolemy and Copernicus, and you can expect<br />

that the cause of that phenomenon is referred by me to motions attributed to the earth. (zitiert<br />

nach Fantoli 1996, S. 329)<br />

Die drei Diskussionsteilnehmer tragen die Namen Salviati, Sagredo und Simplicio.<br />

Mit den beiden ersten hat <strong>Galilei</strong> im Dialog zwei Freunden ein Denkmal gesetzt: Filippo<br />

Salviati (1582-1614) und Giovanni Francesco Sagredo (1571-1620). Salviati übernimmt im<br />

Gespräch die Position <strong>Galilei</strong>s und Sagredo sollte den neutralen, interessierten Laien geben,<br />

<strong>der</strong> aber meistens <strong>der</strong> Sicht Salviatis zustimmt. Simplicio als etwas begriffsstutziger<br />

Gelehrter gibt den peripatetischen Gegenpart. Wieso <strong>Galilei</strong> ihm diesen Namen gegeben<br />

hat, ist nicht ganz klar. Er behauptete stets, sich mit diesem Namen auf den letzten grossen<br />

Aristoteles-Kommentaor <strong>der</strong> Antike, Simplikios (5./6. Jh. n. Chr.) zu beziehen. Man kann<br />

aber ebenso vermuten, dass <strong>Galilei</strong> hier in einem Wortspiel seine Meinung ausgedrückt<br />

hat. „Simplicio“ heisst auf Italienisch auch „Simpel“ o<strong>der</strong> „Einfaltspinsel“, was sicherlich<br />

treffend <strong>Galilei</strong>s Meinung über die Peripatetiker wie<strong>der</strong>gibt. Ohne Zweifel war diese Namenswahl<br />

ein grosser Fehler, denn seine Gegner waren nicht so simple Geister, dass sie die<br />

Anspielung nicht verstanden hätten. 46<br />

46 Der historische Simplikios war allerdings alles an<strong>der</strong>e als ein simpler Geist. Er war einer <strong>der</strong> letzten Philosophen,<br />

<strong>der</strong> im römisch-christlichen Alexandrien die klassische griechische Naturphilosophie gegen die<br />

Übermacht des sich durchsetzenden Christentums verteidigte. Er war ein heftiger Gegner des zum Christen-<br />

62


4.1.1 <strong>Galilei</strong>s Grundannahmen<br />

Nachdem die drei Diskussionspartner am vierten Tag wie<strong>der</strong> zusammengekommen<br />

sind, beginnt Salviati (<strong>Galilei</strong>) mit <strong>der</strong> Beschreibung <strong>der</strong> Gezeitenphänomene: „Ich konstatiere<br />

also, dass sich bei <strong>der</strong> Ebbe und Flut <strong>der</strong> Meeresgewässer drei Perioden unterscheiden<br />

lassen“ (S. 437/116), eine tägliche, eine monatliche und eine jährliche:<br />

Die tägliche Periode: Dies ist die wichtigste Periode. „Die erste und wichtigste ist jene<br />

bedeutende und altbekannte, die tägliche Periode; ihr zufolge heben und senken sich die<br />

Gewässer im Zeitintervall von einigen Stunden“ (S. 437/116). Im Mittelmeer betragen diese<br />

Intervalle etwa sechs Stunden; sechs Stunden steigt das Wasser und sechs Stunden fällt<br />

es wie<strong>der</strong>.<br />

Die monatliche Periode: Diese Periode „scheint in ursächlichem Zusammenhang mit dem<br />

Monde zu stehen; nicht als ob er neue Bewegungen veranlasste, er än<strong>der</strong>t nur in merklicher<br />

Weise den Betrag <strong>der</strong> bereits erwähnten ab, je nach dem er voll, halb o<strong>der</strong> neu ist“ (S.<br />

437/116f.).<br />

Die jährliche Periode: Diese Periode ist gemäss <strong>Galilei</strong> abhängig von <strong>der</strong> Sonne, „aber<br />

auch sie modifiziert nur die täglichen Bewegungen, indem sie ihnen nämlich zur Zeit <strong>der</strong><br />

Solstitien einen an<strong>der</strong>en Betrag erteilt als zur Zeit <strong>der</strong> Äquinoktien“ (S. 437/117).<br />

<strong>Galilei</strong> führt dann die primäre, die tägliche Periode weiter aus und wir werden uns<br />

hauptsächlich mit <strong>Galilei</strong>s Erläuterungen zu dieser Periode befassen. Bei den stündlichen<br />

Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Wasserstände liessen sich drei verschiedene Umstände beobachten:<br />

1) An manchen Orten steigen und fallen die Wasser, ohne fortschreitende Bewegung zu<br />

besitzen. Das geschieht dort, wo die Fliessbewegung des Wassers durch Dämme o<strong>der</strong> Berge<br />

verhin<strong>der</strong>t wird.<br />

2) An manchen Orten bewegen sich die Wasser, ohne zu steigen und zu fallen; einmal gegen<br />

Osten und danach wie<strong>der</strong> gegen Westen. Dieses Hin- und Herströmen findet in den<br />

mittleren Meeresteilen statt, wo das Wasser frei fliessen kann.<br />

3) An dritten Orten wechseln Niveau und Bewegungsrichtung gleichzeitig. Das findet an<br />

Enden von Buchten mit <strong>der</strong> Längsrichtung Ost-West statt, welche in flache Küsten auslaufen,<br />

über denen das Wasser beim Steigen genug Platz hat, sich auszubreiten.<br />

tet:<br />

Dies sind die Phänomene, die <strong>Galilei</strong> erklären will. Nun greift er vor, und behaup-<br />

Diese wenigen wahren und verbürgten Thatsachen müssen nun aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn<br />

auch sonst nichts vorläge, jeden, <strong>der</strong> sich in den Grenzen einer natürlichen Erklärung halten will,<br />

geneigt machen die Erdbewegung zuzugeben. Denn das Becken des mittelländischen Meeres festhalten<br />

zu wollen und doch das darin enthaltene Wasser sich so bewegen zu lassen, wie es sich bewegt,<br />

übersteigt meine Fassungsgabe, und wohl die eines jeden an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> nicht nur die Oberfläche<br />

des Gegenstandes streift, son<strong>der</strong>n tiefer einzudringen versucht. (S.438/118)<br />

tum konvertierten Philoponos. Simplikios focht allerdings ein aussichtsloses Gefecht; das Christentum hatte<br />

sich bereits durchgesetzt. Toulmin und Goodfield (1970) schreiben über ihn:<br />

Simplicius verliess Alexandrien und zog nach Athen, doch wurde die dortige Akademie nach neunhun<strong>der</strong>tjährigem<br />

Bestehen im Jahre 529 vom Kaiser Justinian aufgelöst. Simplicius zog daraufhin,<br />

zusammen mit sechs an<strong>der</strong>en führenden Philosophen, nach Persien; dort hoffte man, ein aufgeklärteres<br />

geistiges Klima anzutreffen. (S. 155)<br />

63


Wie kommt <strong>Galilei</strong> zu einer solchen Auffassung? Dazu muss berücksichtigt werden,<br />

was er unter einer „natürlichen Erklärung“ versteht. „Natürlich“ heisst für <strong>Galilei</strong> mechanisch,<br />

und das schliesst eine Erklärung aus, die sich auf Kräfte beruft. Sein mechanisches<br />

Weltbild schliesst von vorneherein so etwas wie eine Anziehungskraft des Mondes<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Sonne als Ursache <strong>der</strong> Gezeiten aus. Die Ursache muss ein mechanisches Ereignis,<br />

also z. B. eine Bewegung sein. Und da die Gezeiten ein periodisches Ereignis sind,<br />

muss auch die gesuchte Ursache ein periodisches Ereignis sein. <strong>Galilei</strong> beginnt seine Erläuterungen<br />

mit einer Analogie. Er for<strong>der</strong>t den Leser auf, sich ein Gefäss mit Wasser als<br />

Modell für ein Meeresbecken vorzustellen. Tidenbewegungen <strong>–</strong> so <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> sind nichts<br />

an<strong>der</strong>es als ein Hin- und herschwappen einer Wassermenge in einem Meeresbecken, wobei<br />

das Wasser abwechslungsweise auf <strong>der</strong> einen Seite steigt und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sinkt <strong>–</strong> ein<br />

Phänomen, das man heute als „stehende Welle“ bezeichnet. <strong>Galilei</strong> stellt nun die Frage,<br />

was man tun muss, damit man in einem Wasserbecken eine solche Tidenbewegung erzeugen<br />

kann. Lediglich zwei Arten von Bewegungen können seiner Meinung nach solche Tidenbewegungen<br />

erzeugen: Die erste Möglichkeit ist ein schaukelartiges Hin- und herkippen<br />

des Beckens; dort wo das Becken sinkt, steigt das Wasser und umgekehrt. Eine solche<br />

Bewegung kann aber nicht die Ursache <strong>der</strong> Gezeiten sein, denn dazu müsste man die Erde<br />

auf diese Weise hin- und herkippen. Eine solche Bewegung könnten wir aber nicht feststellen<br />

und daher falle diese Möglichkeit als Ursache <strong>der</strong> Gezeiten weg. Die zweite Art Bewegung,<br />

die eine Tidenbewegung des Wassers im Becken erzeugen kann, ist eine gradlinige,<br />

aber ungleichförmige Bewegung, welche das Becken abwechselnd beschleunigt und wie<strong>der</strong><br />

abbremst. Wird ein Gefäss mit Wasser in dieser Weise bewegt, so zeigt das Wasser die<br />

typischen Tidenbewegungen. Als weitere Analogie zieht <strong>Galilei</strong> das Beispiel einer Barke<br />

heran, auf <strong>der</strong> ein Fass mit Wasser transportiert wird. Wenn sich die Barke gleichmässig<br />

bewegt, so bewegt sich das Wasser im Fass nicht. Beschleunigt sich die Barke, schwappt<br />

das Wasser im Fass in Folge seiner Schwere an den hinteren Rand des Fasses. Bremst die<br />

Barke ab, so fliesst das Wasser an den vor<strong>der</strong>en Rand des Fasses, weil es die schnellere<br />

Geschwindigkeit beibehält.<br />

Aus dieser Analogie zieht <strong>Galilei</strong> zwei Schlüsse:<br />

1. Regelmässige ungleichförmige Bewegung des Gefässes führt zu Tidenbewegungen.<br />

2. Ungleichförmige Bewegung (des Beckens) ist notwendig für Tidenbewegungen.<br />

Von <strong>der</strong> 2. Folgerung war <strong>Galilei</strong> felsenfest überzeugt und er wie<strong>der</strong>holt sie mehrmals:<br />

„Ist <strong>der</strong> Erdball unbeweglich, so kann von Natur aus keine Ebbe und Flut stattfinden“<br />

(S. 436/114). Das entspricht genau seiner mechanischen Überzeugung, welche eine<br />

Erklärung durch Kräfte ausschliesst.<br />

4.1.2 Ausschluss von Alternativerklärungen<br />

Damit die zweite Behauptung glaubhaft wird, muss <strong>Galilei</strong> alle an<strong>der</strong>en möglichen<br />

Ursachen <strong>der</strong> Tiden ausschliessen können. Er geht denn auch kurz auf an<strong>der</strong>e Erklärungsansätze<br />

ein, obwohl es ihm als vergeudete Zeit erscheint, diese „Nichtigkeiten“ zu Erwähnen<br />

o<strong>der</strong> zu wi<strong>der</strong>legen. Er bemüht sich dann trotzdem, sie mit Gegenargumenten als<br />

falsch zurückzuweisen. Auf drei Theorien geht <strong>Galilei</strong> ein:<br />

64


a) Unterschiedliche Meerestiefen<br />

Simplicio referiert folgende Theorie eines „bedeutenden Peripatetikers“, <strong>der</strong> sie aus einer<br />

bisher unbeachteten Stelle in Aristoteles Werk gefunden haben will. Nach dieser Theorie<br />

schreibt sich die wahre Ursache <strong>der</strong> Meeresbewegungen „einfach von <strong>der</strong> Verschiedenheit<br />

<strong>der</strong> Meerestiefen her. Das Wasser <strong>der</strong> tiefsten Stelle verdränge seiner grösseren Menge und<br />

seines grösseren Gewichtes wegen das Wasser <strong>der</strong> seichteren Stellen“ (S. 438/118). Die<br />

aufgestauten Wassermassen an diesen Stellen hätten „sodann das Bestreben von ihrer grösseren<br />

Höhe wie<strong>der</strong> hinabzusinken, und aus diesem beständigen Wechselkampfe ergebe<br />

sich dann das Spiel von Ebbe und Flut“ (S. 438/118). <strong>Galilei</strong>s Antwort auf diese Hypothese<br />

lautet:<br />

Dasjenige Wasser, Signore Simplicio, dessen äussere Oberfläche höher gelegen ist, verdrängt allerdings<br />

das unter ihn gelegene tiefere; nicht so aber das Wasser, welches nach unten hin grössere Tiefe<br />

besitzt; hat dann das höher gelegene Wasser einmal das tiefere verdrängt, so kommt es binnen kurzem<br />

zur Ruhe und ins Gleichgewicht. Euer Peripatetiker muss <strong>der</strong> Ansicht sein, dass alle Seen <strong>der</strong><br />

Welt, die sich in Ruhe befinden, und alle Meere, welche keine Ebbe und Flut zeigen, einen vollständig<br />

ebenen Boden besitzen. Und ich war immer so töricht zu glauben, dass, wenn keine an<strong>der</strong>en Unregelmässigkeiten<br />

vorhanden wären, doch die über das Wasser emporragenden Inseln ein sehr deutlicher<br />

Beweis für Ungleichheiten des Bodens seien. (S. 439/119f.)<br />

Der zweite Teil von <strong>Galilei</strong>s Gegenargument ist wohl nicht ganz stichhaltig. Wenn<br />

Vertiefungen kausal relevant sind für die Gezeiten, impliziert das nicht unbedingt die Annahme,<br />

dass die Abwesenheit von Gezeiten auf einen flachen See- o<strong>der</strong> Meeresboden verweisen.<br />

Das wäre nur so, wenn behauptet würde, Vertiefungen seien notwendig für das<br />

Auftreten <strong>der</strong> Gezeiten. <strong>Galilei</strong> schreibt lei<strong>der</strong> nicht, was besagter Peripatetiker genau gesagt<br />

hat.<br />

b) Die Anziehungskraft des Mondes<br />

Diese Hypothese geht davon aus, dass <strong>der</strong> Mond eine „spezielle Herrschaft“ über das Wasser<br />

ausübt. Sie nimmt an, dass <strong>der</strong> Mond durch seine Anziehungskraft einen Wasserhügel<br />

aufwirft, welcher dem Mond hinter seiner Bahn nachfolgt, so dass <strong>der</strong> Flutberg immer gerade<br />

unter dem Mond liegt. Diese Fähigkeit des Auftürmens von Wasser soll <strong>der</strong> Mond<br />

auch dann haben, wenn er auf <strong>der</strong> <strong>der</strong> Flut gegenüberliegenden Seite <strong>der</strong> Erde steht. Der<br />

Mond <strong>–</strong> entgegnet <strong>Galilei</strong> dieser Hypothese <strong>–</strong> laufe jeden Tag über das mittelländische<br />

Meer hinweg, „ohne das Wasser zu heben, ausgenommen am östlichen Ende“ sowie in<br />

Venedig. S. 439). <strong>Galilei</strong> versucht diese Hypothese durch ein Gegenbeispiel zu falsifizieren.<br />

Sein Gegenbeispiel dürfte aber nicht ganz korrekt sein, denn nach heutiger Auffassung<br />

über die Gezeiten, ist anzunehmen, dass sich das Wasser nicht nur am östlichen Ende und<br />

in Venedig hebt. Davon hatte er aber wahrscheinlich keine Kenntnis. Im Verlauf des vierten<br />

Tages kommt <strong>Galilei</strong> noch einmal auf die Hypothese <strong>der</strong> Anziehungskraft des Mondes<br />

als Ursache <strong>der</strong> Gezeiten zu sprechen, wie sie z. B. auch von Johannes Kepler vertreten<br />

wird. Als Anhänger <strong>der</strong> mechanischen Weltauffassung weist <strong>Galilei</strong> natürlich diese Erklärung<br />

schroff zurück und schreibt über Kepler:<br />

Wie konnte er bei seiner freien Gesinnung und seinem durchdringenden Scharfblick, wo er die Lehre<br />

von <strong>der</strong> Erdbewegung in den Händen hatte, Dinge anhören und billigen, wie eine Herrschaft des<br />

Mondes über das Wasser, die verborgenen Qualitäten und was <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>eien mehr sind? (S.<br />

483/156)<br />

Mehr ist von <strong>Galilei</strong> zu dieser damals verbreiteten Hypothese nicht zu erfahren. Er<br />

war wohl zu stark im mechanischen Weltbild verankert, als dass er sich viel Zeit für die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit ihr genommen hätte, schien sie ihm doch schlicht und einfach als<br />

unvernünftig: „Eine Annahme, gegen die meine Vernunft sich aufs äusserste sträubt“ (S.<br />

65


465), weil er sich nicht entschliessen kann, „an das Wirken verborgener Qualitäten und an<br />

ähnliche nichtige Phantastereien zu glauben“ (S. 465).<br />

c) Erwärmung des Wassers durch den Mond<br />

Diese Hypothese geht davon aus, dass <strong>der</strong> Mond das Wasser aufwärmt, dieses sich dadurch<br />

verdünnt und dadurch aufsteigt. Hierauf entgegnet <strong>Galilei</strong>, es sei unklar, „wieso <strong>der</strong> Mond<br />

gewisse Teile <strong>der</strong> Gewässer verdünnt, die übrigen hingegen nicht; wieso er hier in Venedig<br />

diese Wirkung ausübt, nicht aber in Ancona, Neapel o<strong>der</strong> Genua“ (S. 439f./120). <strong>Galilei</strong>s<br />

Argument ist nachvollziehbar, ist aber keine Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Hypothese, denn es ist<br />

denkbar, dass an den Orten wo <strong>der</strong> Mond die Heizwirkung nicht hat, ein hin<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Faktor<br />

vorhanden ist. Aber die Proponenten <strong>der</strong> Hypothese müssten dann sagen können, um welchen<br />

Faktor es sich handelt.<br />

Zitat:<br />

Was <strong>Galilei</strong> mit seinen Gegenargumenten eigentlich sagen wollte, zeigt folgendes<br />

We<strong>der</strong> mit Mond- noch mit Sonnenlicht, noch mit temperierter Wärme, noch durch verschiedene<br />

Tiefen wird man jemals künstlich bewirken können, dass in einem unbewegten Gefässe das darin<br />

enthaltene Wasser hin- und wi<strong>der</strong>strömt, an einer Stelle steigt und fällt, an an<strong>der</strong>n nicht. (S.<br />

440/122)<br />

<strong>Galilei</strong>s Fazit lautet also: Nichts von dem, was bisher als Ursache <strong>der</strong> Gezeiten postuliert<br />

worden ist, kann das Wasser in einem Becken in Bewegung versetzen, die wahre<br />

Ursache ist daher noch nicht gefunden. 47 <strong>Galilei</strong>s Vorgehen kann als eine Form von eliminativer<br />

Induktion bezeichnet werden. Dabei wird versucht, die Wahrscheinlichkeit einer<br />

Hypothese durch Wi<strong>der</strong>legung von Alternativhypothesen zu steigern. 48 <strong>Galilei</strong> fährt weiter<br />

und versucht, Simplicio zu überzeugen, dass man für die Erklärung <strong>der</strong> Gezeiten nicht zu<br />

einem Wun<strong>der</strong> Zuflucht nehmen muss <strong>–</strong> wie Simplicio das tut, son<strong>der</strong>n, dass man zeigen<br />

kann, dass Bewegung diese Phänomene erzeugen kann:<br />

Wenn ich Euch aber ohne jeden beson<strong>der</strong>en Kunstgriff, auf die einfachste Weise, durch Bewegung<br />

des Gefässes alle jene Än<strong>der</strong>ungen genau vor Augen führen kann, wie sie bei den Meeresgewässern<br />

stattfinden, warum wollt ihr diese Erklärung dann von <strong>der</strong> Hand weisen und zum Wun<strong>der</strong> Eure Zuflucht<br />

nehmen? (S. 440f./122)<br />

47 <strong>Galilei</strong> geht allerdings nicht auf sämtliche damals vorhandenen Gezeitentheorien ein. Einen kurzen Überblick<br />

dazu gibt William Shea (1970a). Er erwähnt folgende sechs Hypothesen: 1. Eine animistische Interpretation<br />

<strong>der</strong> Gezeiten als Respiration von Apollonius stammend; 2. Die aristotelische Hypothese, wonach die<br />

Gezeiten die Folge <strong>der</strong> natürlichen Neigung des Mittelmeeres und von Winden ist; 3. Die These von Scaliger,<br />

wonach die Gezeiten das Resultat von Sympathie zwischen dem Mond und dem Wasser sind; 4. Die Hypothese<br />

von Girolamo Borro, wonach <strong>der</strong> Mond das Wasser aufheizt und ansteigen lässt. Bernardo Telesio<br />

bezog in diese Hypothese noch die Sonne mit ein; 5. Die Hypothese von Andrea Cesalpino, wonach die Tiden<br />

durch die Libration <strong>der</strong> Erde entstehen. Es scheint, dass man von dieser Hypothese leicht auf <strong>Galilei</strong>s<br />

Theorie kommt, dass die Erdbewegung etwas mit den Gezeiten zu tun hat. <strong>Galilei</strong> war denn auch nicht <strong>der</strong><br />

einzige, <strong>der</strong> auf diese Idee gekommen ist. Auch Otto Casmann diskutierte 1596 diese Idee; 6. Paolo Sarpi<br />

hatte eventuell schon vor <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> etwa zwischen 1590 und 1595 <strong>–</strong> die Idee, die Gezeiten mit <strong>der</strong> Erdbewegung<br />

zu erklären. Aiton (1954, S. 48) schreibt, dass die Hypothese von <strong>der</strong> Erdbewegung als Ursache <strong>der</strong><br />

Gezeiten von Andreas Cesalpino stamme, <strong>der</strong> sie um 1593 vertreten habe. Diese Idee scheint damals diskutiert<br />

worden zu sein, denn Kepler dachte sofort an diese Idee, als <strong>Galilei</strong> ihm schrieb, er könne mit dem Kopernikanismus<br />

Phänomene erklären, die man sonst nicht erklären könne.<br />

48 Bei <strong>der</strong> eliminativen Induktion werden in den Prämissen Eigenschaften genannt, die in <strong>der</strong> Konklusion<br />

nicht vorkommen. Damit versucht man, gewisse, bei <strong>der</strong> gewöhnlichen (aufzählenden) Induktion mögliche<br />

Hypothesen eliminieren zu können, um damit einen höheren Grad an Sicherheit zu erlangen. Als eine <strong>Methode</strong><br />

<strong>der</strong> eliminativen Induktion gilt z. B. John Stuart Mills <strong>Methode</strong> <strong>der</strong> Übereinstimmung (Rin<strong>der</strong>le 2000,<br />

S. 46f.).<br />

66


<strong>Galilei</strong> weist darauf hin, dass es ihm mit seiner Wasserbecken-Analogie gelungen<br />

ist, eine regelmässig ungleichförmige Bewegung als Ursache für Tidenbewegungen von<br />

Wasser in einem Gefäss aufzuzeigen. Nach diesem Nachweis und dem Ausschluss von<br />

an<strong>der</strong>en Hypothesen ist für <strong>Galilei</strong> klar: Nur eine dauerhafte ungleichförmige Bewegung,<br />

die zwischen Beschleunigung und Verzögerung wechselt, kann die Tiden verursachen.<br />

4.1.3 Der Kopernikanismus kommt ins Spiel<br />

Wenn also nur eine ungleichförmige Bewegung des Beckens die Tidenbewegungen<br />

des Wassers erzeugen kann, muss <strong>Galilei</strong> zeigen, dass es irgendwo auf <strong>der</strong> Erde eine solche<br />

gibt, die zudem als Ursache <strong>der</strong> Gezeiten wirken kann. An diesem Punkt greift <strong>Galilei</strong> zu<br />

einem Trick. Anstatt eine klare empirische Evidenz für eine solche periodische Erdbewegung<br />

zu liefern, greift er auf eine Theorie zurück und zwar auf die Theorie des Nikolaus<br />

Kopernikus (1473-1543). Nach Kopernikus <strong>–</strong> so <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> macht die Erde zwei gleichförmige<br />

Bewegungen. Sie macht einmal eine jährliche Umlaufbewegung um die Sonne und<br />

zudem eine tägliche Rotationsbewegung um die eigene Achse. Aus dem Zusammenspiel<br />

dieser beiden Bewegungen konstruiert <strong>Galilei</strong> nun eine sich immer wie<strong>der</strong>holende ungleichförmige<br />

Bewegung. Wie <strong>Galilei</strong> das macht, beschreibt Arthur Koestler in seinem<br />

Buch Die Nachtwandler (1980) einfach und verständlich:<br />

<strong>Galilei</strong>s Theorie <strong>der</strong> Gezeiten lautet in etwas vereinfachter Form folgen<strong>der</strong>massen: Nimm einem<br />

Punkt auf <strong>der</strong> Erdoberfläche <strong>–</strong> beispielsweise Venedig. Er führt eine zweifache Bewegung aus, die<br />

tägliche Umdrehung um die Erdachse und die jährliche Umdrehung um die Sonne. Des Nachts,<br />

wenn Venedig sich in N befindet, wirken die beiden Bewegungen zusammen, am Tag in T wirken<br />

sie gegeneinan<strong>der</strong>:<br />

Daher bewegt sich Venedig und mit ihm das ganze Festland in <strong>der</strong> Nacht rascher und am Tag langsamer,<br />

mit dem Ergebnis, dass das Wasser nachts „zurückgelassen“ wird und am Tag dem Land<br />

vorausstürmt. Aus diesem Grund muss sich das Wasser alle vierundzwanzig Stunden, stets um Mittag,<br />

zu einer Flut aufhäufen. Die Tatsache, dass es zwei Fluten in Venedig gibt statt einer und <strong>der</strong>en<br />

Eintritt sich täglich etwas verschiebt, erklärte <strong>Galilei</strong> mit sekundären Gründen wie <strong>der</strong> Gestalt des<br />

Meeres, seiner Tiefe und ähnlichem. (S. 473)<br />

Abb. 1: Darstellung zur Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong> (aus Koestler 1980, S. 473). Der Kreis stellt die<br />

Erde dar und die Pfeile auf dem Kreis zeigen die Richtung ihrer täglichen Rotation. Der senkrechte<br />

Pfeil steht für die Bahn und die Richtung <strong>der</strong> jährlichen Bewegung <strong>der</strong> Erde um die Sonne. Der<br />

Punkt auf den Kreis steht für Venedig.<br />

„Damit ist“ so Salviati (<strong>Galilei</strong>) „die hauptsächliche und ursprüngliche Ursache <strong>der</strong><br />

Gezeiten angegeben, ohne welche besagte Erscheinung überhaupt nicht einträte (S.<br />

447/133). Die Bewegung <strong>der</strong> Erde, wie sie Kopernikus postuliert, ist also die gesuchte Ursache<br />

<strong>der</strong> Gezeiten. Im Zusammenspiel von Erdumlauf und Erdrotation sieht <strong>Galilei</strong> die<br />

gesuchte periodische Bewegung.<br />

67


An dieser Stelle dürften die Leser des Dialogs ein wenig verwirrt gewesen sein.<br />

Was hat <strong>Galilei</strong> hier gemacht? Man hätte erwartet, dass <strong>Galilei</strong> eine empirische Evidenz<br />

liefert für eine periodische ungleichförmige Bewegung, die als Ursache für die Tidenbewegungen<br />

des Wassers dienen könnte. Statt dessen beruft er sich zuerst auf eine Theorie,<br />

die postuliert, dass sich die Erde bewegt und konstruiert dann aus dieser Theorie heraus die<br />

gesuchte ungleichförmige Bewegung. Er liefert also keine empirische Evidenz für die gesuchte<br />

Bewegung, son<strong>der</strong>n beruft sich auf eine umstrittene Theorie, und konstruiert aus<br />

<strong>der</strong>en Annahmen die gesuchte empirische Evidenz. <strong>Galilei</strong> geht aber noch einen Schritt<br />

weiter: Die Erdbewegung ist nicht nur die Ursache <strong>der</strong> Gezeiten; Ebbe und Flut sind<br />

zugleich auch ein Beweis für die Erdbewegung, so wie er das zu Beginn des vierten Tages<br />

vorweggenommen hatte, nämlich,<br />

dass die Bewegungen, die aus ganz an<strong>der</strong>en Ursachen als um <strong>der</strong> Ebbe und Flut willen seit langem<br />

<strong>der</strong> Erde beigelegt worden sind, nachträglich eine ganz exakte Erklärung dieser Erscheinung abgeben,<br />

und dass gleichermassen umgekehrt eben diese Ebbe und Flut von neuem Zeugnis für die Erdbewegung<br />

abzulegen scheint. (S. 435/113f.)<br />

Es ist nicht zu bestreiten, dass alles schön zusammenpasst: Die Erdbewegung erklärt<br />

die Gezeiten und die Gezeiten beweisen die Erdbewegung. Und <strong>Galilei</strong> war überzeugt,<br />

dass er einen Beweis für die Theorie des Kopernikus gefunden habe. Allerdings<br />

handelt es sich nur um eine zirkuläre Begründung, eine gegenseitige Stützung von zwei<br />

Hypothesen. Das heisst nicht, dass die Hypothesen deshalb falsch sind, und darauf hinzuweisen,<br />

dass zwei Hypothesen sich gegenseitig stützen, ist auch nicht verwerflich, aber es<br />

ist eben kein Beweis. 49 <strong>Galilei</strong>s Beweis für den Kopernikanismus ist ein spekulativer Trugschluss,<br />

ein stichhaltiger empirischer Beweis ist es nicht. Und <strong>Galilei</strong> scheint denn auch<br />

auf diesen Einwand vorbereitet gewesen zu sein, denn nach Salviatis langer Erläuterung<br />

<strong>der</strong> Theorie lässt er Simplicio folgendes sagen:<br />

Es lässt sich, glaube ich, nicht in Abrede stellen, dass die von Euch angestellte Erwägung sehr überzeugend<br />

zu Werke geht, wenn man, wie wir sagen, ex suppositione argumentiert, d. h. unter <strong>der</strong><br />

Voraussetzung, dass die Erde wirklich mit den beiden ihr von Kopernikus beigelegten Bewegungen<br />

behaftet sei. Schliesst man aber sothane Bewegungen aus, so ist alles eitel und hinfällig; die Notwendigkeit<br />

aber besagte Hypothese auszuschliessen wird gerade durch Eure Erwägung nahe gelegt.<br />

Unter <strong>der</strong> Voraussetzung <strong>der</strong> beiden Erdbewegungen gebt Ihr Rechenschaft von Ebbe und Flut; und<br />

umgekehrt im Zirkelschluss schöpft ihr aus Ebbe und Flut einen Beleg, eine Bestätigung dieser selbigen<br />

Bewegungen. (S. 456f./147)<br />

Mit diesem Einwand von Simplicio ist das Gespräch an einem sehr interessanten<br />

Punkt angelangt und man ist neugierig auf die Antwort Salviatis (<strong>Galilei</strong>s). Zur grossen<br />

Enttäuschung <strong>der</strong> Leserin lässt <strong>Galilei</strong> diesen Einwand unbeantwortet. Der Vorwurf <strong>der</strong><br />

Zirkularität bleibt so allerdings im Raum stehen.<br />

4.1.4 <strong>Galilei</strong>s Umgang mit den Problemen <strong>der</strong> Gezeitentheorie<br />

Die Zirkularität war nicht das einzige Problem, mit dem <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie<br />

konfrontiert war. <strong>Galilei</strong> schreibt:<br />

49 Paul Feyerbend (1977) schreibt, dieses zirkuläre Vorgehen sei typisch gewesen für <strong>Galilei</strong>, <strong>der</strong> damit die<br />

fehlenden Beweise für seine Theorien kompensiert habe: „Diese recht merkwürdige Situation, diese Übereinstimmung<br />

zwischen zwei interessanten, aber wi<strong>der</strong>legten Auffassungen nützt <strong>Galilei</strong> aus, um beide zu retten“<br />

(S. 186).<br />

68


Nun aber än<strong>der</strong>n die beson<strong>der</strong>en Umstände, die sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen<br />

Zeiten zeigen, mannigfach ab; diese müssen durch verschiedene an<strong>der</strong>e Begleitursachen bedingt<br />

sein, welche allerdings sämtlich mit <strong>der</strong> ursprünglichen Ursache in Zusammenhang stehen werden.<br />

(S. 447/133)<br />

<strong>Galilei</strong> wusste also, dass die Gezeiten nicht überall in gleicher Form auftreten und<br />

dass die tatsächlichen Perioden von Ebbe und Flut oft nicht mit seiner Theorie übereinstimmten.<br />

Gemäss seiner Theorie hätte Ebbe und Flut sich nach 12 Stunden abwechseln<br />

müssen. In Tat und Wahrheit war die beobachtete Periode aber nur etwa sechs Stunden<br />

lang. Um diese zeitliche Diskrepanz sowie weitere Unterschiede und Beson<strong>der</strong>heiten wegzuerklären,<br />

brachte er verschiedene Zusatzerklärungen vor. Er berücksichtigte also in seinem<br />

Konzept nicht nur die Hauptursachen <strong>der</strong> Gezeiten <strong>–</strong> also die beiden Erdbewegungen<br />

<strong>–</strong>, son<strong>der</strong>n auch zusätzliche Einflüsse, welche die Bewegung <strong>der</strong> Wasser beeinflussten.<br />

<strong>Galilei</strong> weicht diesen Problemen nicht aus und es ist für ihn angezeigt, „die verschiedenen<br />

Umstände aufzuzählen und zu prüfen, welche jene verschiedenen Wirkungen hervorbringen<br />

können“ (S. 447f./133) und geht nun ausführlich auf diese ein. Folgende sekundären<br />

Ursachen wirken neben <strong>der</strong> primären Ursache auf die Bewegungen des Wasser ein und<br />

können so die 12-stündige Periode stören:<br />

a) Die Schwere des Wassers<br />

Zuerst weist Salviati (<strong>Galilei</strong>) auf die Tatsache hin, dass das Wasser insbeson<strong>der</strong>e aufgrund<br />

<strong>der</strong> eigenen Schwere das Bestreben hat, wie<strong>der</strong> in das ursprüngliche Gleichgewicht zurückzukehren,<br />

nachdem es durch die ursprüngliche Ursache aufgetürmt worden ist. Er beschreibt,<br />

wie sich die Schwere des Wasser auf dessen Bewegung auswirkt:<br />

So wird es diese Lage nicht beibehalten, nachdem die ursprüngliche Ursache aufhört zu wirken,<br />

vielmehr wird es vermöge <strong>der</strong> eigenen Schwere und <strong>der</strong> natürlichen Neigung sich zu nivellieren und<br />

ins Gleichgewicht zu setzen, von selbst geschwind zurückkehren und in seiner Eigenschaft als<br />

schwerer und flüssiger Körper nicht nur <strong>der</strong> Gleichgewichtslage zustreben, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> eigenen<br />

Wucht vorwärtsgetrieben, sie überschreiten und nunmehr sich dort aufstauen wo es zuvor am niedrigsten<br />

stand. Aber auch dabei wird es nicht bleiben, son<strong>der</strong>n die Flüssigkeit wird abermals umkehren<br />

und in mehrfach wie<strong>der</strong>holtem Hin- und Herströmen uns zu verstehen geben, dass sie nicht<br />

plötzlich von <strong>der</strong> vormaligen Geschwindigkeit zu einem Aufgeben <strong>der</strong>selben und zum Ruhestand<br />

sich bequemen will. (S. 448/133f.)<br />

<strong>Galilei</strong> vergleicht das hin- und herschwappende Wasser mit einem Pendel, das aus<br />

<strong>der</strong> Ruhelage gebracht worden ist, und nun von selbst in diese zurückgelangt. Man kann<br />

sich die Analogie so vorstellen: Ein ruhendes Pendel wird mitsamt seiner Aufhängung bewegt.<br />

Bei <strong>der</strong> ersten Beschleunigung gerät das Pendel etwas ins Hintertreffen und bei einer<br />

Verlangsamung <strong>der</strong> Bewegung wird es gegenüber <strong>der</strong> Ruhelage etwas voraus sein. Die<br />

Ursache dieser Bewegung ist die ungleichförmige Bewegung <strong>der</strong> Aufhängung. Hinzu<br />

kommt nun als weiterer Umstand, dass das ausgelenkte Pendel wegen <strong>der</strong> Schwerkraft in<br />

die Ruhelage zurückkehrt. Die Schwerkraft kommt also als zusätzliche Bewegungsursache<br />

hinzu, so dass sich beide Bewegungen überlagern. Genau so kommt die Schwerkraft bei<br />

<strong>der</strong> Bewegung des Wasser hinzu und erzeugt eine zweite Bewegung, welche die primäre<br />

Bewegung überlagert.<br />

b) Die Ausdehnung <strong>der</strong> Meeresbecken<br />

Als zweite Beson<strong>der</strong>heit nennt Salviati (<strong>Galilei</strong>) den Einfluss <strong>der</strong> Länge <strong>der</strong> Wasserbecken.<br />

Die periodischen Bewegungen „werden in rascherer o<strong>der</strong> in min<strong>der</strong> rascher Folge ausgeführt<br />

je nach <strong>der</strong> Länge <strong>der</strong> Gefässe, in welchem sich das Wasser befindet: bei geringerer<br />

Länge sind die Wie<strong>der</strong>holungen häufig“ (S. 448/134). <strong>Galilei</strong> macht wie<strong>der</strong> die Analogie<br />

69


zum Pendel. Das Pendel mit dem längeren Faden macht langsamere Bewegungen als das<br />

am kürzeren Faden.<br />

c) Die Tiefe <strong>der</strong> Meeresbecken<br />

Als dritte bemerkenswerte Tatsache führt <strong>Galilei</strong> an, „dass nicht nur grössere o<strong>der</strong> geringere<br />

Länge des Gefässes eine verschiedene Periode des Hin- und Herschwingens bedingt,<br />

son<strong>der</strong>n dass auch eine grössere o<strong>der</strong> geringere Tiefe den nämlichen Einfluss übt“ (S.<br />

448/134). Die Schwingungsdauer von Wasser in einen Gefäss, das tiefer ist als ein an<strong>der</strong>es,<br />

aber gleich lang wie dieses, ist kürzer, im seichteren soll sie dagegen länger sein.<br />

d) Unterschiedliche Fliess- und Senkbewegungen an unterschiedlichen Orten<br />

Weiter weist <strong>Galilei</strong> darauf hin, dass beim Schwanken des Wassers zwei Bewegungen verdienen<br />

„bemerkt und sorgfältig beobachtet zu werden: einmal das abwechselnde Steigen<br />

und Fallen an den beiden Gefässenden, sodann eine Art von horizontalem Vor- und Rückwärtsgehen<br />

o<strong>der</strong> <strong>–</strong>strömen“ (S. 449/134). Diese beiden Bewegungen finden in unterschiedlichem<br />

Masse an verschiedenen Orten im Becken statt; die äussersten Teile des Wassers<br />

heben und senken sich am stärksten, während das Wasser in <strong>der</strong> Mitte des Beckens sich<br />

nicht auf- und abwärts bewegt. Je näher ein Teil Wasser am Beckenrand liegt, umso mehr<br />

hebt und senkt er sich. Bei <strong>der</strong> Hin- und Herbewegung des Wassers ist es genau umgekehrt;<br />

hier kommt den mittleren Teilen des Wassers „in hohem Grade jene zweite nach<br />

vor- und rückwärts gerichtete fortschreitende Bewegung zu, indem sie hin- und herlaufen;<br />

das Wasser an den äussersten Enden aber leistet in dieser Beziehung nichts“ (S. 449/135).<br />

Die Wasserteile zeigen gemäss <strong>Galilei</strong> umso mehr o<strong>der</strong> weniger Strömung je näher o<strong>der</strong><br />

ferner sie sich von Beckenrand befinden.<br />

Danach macht <strong>Galilei</strong> auf einen Unterschied aufmerksam, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Grösse <strong>der</strong><br />

Gefässe zu tun hat. Wenn wir ein kleines Gefäss mit Wasser beschleunigen o<strong>der</strong> abbremsen,<br />

so erfahren alle Wasserteile im Becken die selbe Beschleunigung. Nehmen wir aber<br />

ein sehr grosses Becken, z. B. ein Meeresbecken, das sich über die halbe Weltkugel erstreckt,<br />

so erfahren die verschiedenen Wasserteile durchaus unterschiedliche Beschleunigungen,<br />

je nach dem, wo sich <strong>der</strong> Teil Wasser im Verhältnis zur Sonne gerade befindet.<br />

Am grössten ist <strong>der</strong> Unterschied, wenn sich ein Teil auf <strong>der</strong> sonnenabgewandten Seite <strong>der</strong><br />

Erde befindet und ein an<strong>der</strong>er auf <strong>der</strong> sonnenzugewandten Seite. Je grösser ein Meeresbecken<br />

ist, desto ausgeprägter wäre <strong>der</strong> Unterschied, und „je kürzer besagte Meeresstriche<br />

sind, um so weniger wird ihnen jene son<strong>der</strong>bare Eigentümlichkeit zukommen, einige Stunden<br />

des Tages über an verschiedenen Stellen einen verschiedenen Grad von Geschwindigkeit<br />

zu besitzen“ (S. 450/136f.). Was allerdings mit diesem Phänomen für Auswirkungen<br />

auf die Bewegung <strong>der</strong> Wasser verbunden ist, vermag <strong>Galilei</strong> nicht zu sagen. Er kann nur<br />

soviel sagen, „dass damit in vermehrter, um so merkwürdiger Weise Anlass zu noch seltsamerer<br />

Erregung <strong>der</strong> Gewässer gegeben ist“ (S. 450/138).<br />

Salviati (<strong>Galilei</strong>) schreitet fort mit seinen Erläuterungen und geht zur Frage, wieso<br />

man in kleineren Gewässern keine Tidenbewegungen feststellen kann und nennt dafür<br />

„zwei triftige Gründe“. Allerdings sind nun seine „triftigen Gründe“ unverständlich und<br />

zum Teil inkompatibel mit seiner eigenen Gezeitentheorie. <strong>Galilei</strong> muss gemerkt o<strong>der</strong> geahnt<br />

haben, dass gemäss seiner Theorie auch in kleinen Gewässern und kleinen Wasserbehältern<br />

wie etwa Brunnen o<strong>der</strong> Bä<strong>der</strong> das Wasser durch die von ihm propagierte Beschleunigung<br />

zumindest in Bewegung geraten sollte. Es gibt keinen Grund, eine solche Prognose<br />

aus <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie auszuschliessen o<strong>der</strong> als wi<strong>der</strong>sprüchlich zu betrachten. Da es<br />

aber <strong>der</strong> Fall ist, dass vielfache Beobachtung diese Folgerung wi<strong>der</strong>legt, war <strong>Galilei</strong> gezwungen,<br />

irgend eine Erklärung dafür zu geben. Der etwas längere Abschnitt mit <strong>Galilei</strong>s<br />

Begründung sei hier zitiert und danach versuchsweise papaphrasiert.<br />

70


Dies hat zwei sehr triftige Gründe: einmal werden wegen <strong>der</strong> Kürze des Gefässes die verschiedenen<br />

Stufen <strong>der</strong> Geschwindigkeit, welche es zu verschiedenen Tageszeiten annimmt, mit einem geringfügigen<br />

Unterschiede von allen seinen Teilen durchlaufen; aber die vorangehenden wie die nachfolgenden,<br />

d. h. die östlichen und die westlichen, erfahren fast die nämliche Beschleunigung und Verzögerung.<br />

Überdies gehen die Än<strong>der</strong>ungen ganz allmählich vor sich, es stellt sich nicht plötzlich ein<br />

Hemmnis, eine Verzögerung in den Weg; und ebensowenig findet momentan eine bedeutende Beschleunigung<br />

des Wasserbeckens statt; vielmehr prägt sich ihm in allen seinen Teilen <strong>der</strong>selbe Grad<br />

von Geschwindigkeit langsam und gleichmässig ein, woraus sich ergibt, dass auch das darin sich befindliche<br />

Wasser ohne viel Wi<strong>der</strong>streben und Sträuben die selben Eindrücke in sich aufnimmt, dennoch<br />

nur eine schwache Spur von Steigen und Fallen infolge des Strömens nach dem einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Ende hin wahrzunehmen ist. Die selbe Erscheinung stellt sich auch in kleineren künstlichen<br />

Gefässen deutlich ein; in ihnen nimmt sämtliches Wasser die gleichen Grade von Geschwindigkeit<br />

an, solange die Beschleunigung o<strong>der</strong> Verzögerung in ruhiger gleichförmiger Weise sich steigert. Bei<br />

denjenigen Meerbusen aber, die sich auf grosse Entfernung in ost-westlicher Richtung erstrecken, ist<br />

die Beschleunigung o<strong>der</strong> Verzögerung sehr viel merklicher: ist doch in diesem Falle gleichzeitig das<br />

eine Ende in stark verzögerter Bewegung, während das an<strong>der</strong>e noch in schnellster Bewegung begriffen<br />

ist. Die zweite Ursache ist das wechselseitige Schwanken des Wassers, welches von dem Antrieb<br />

herrührt, <strong>der</strong> ihm durch die Bewegung seines Behälters mitgeteilt worden ist; diese Schwankungen<br />

zeigen, wie bemerkt, eine viel häufigere Wie<strong>der</strong>kehr <strong>der</strong> Schwingungen in kleineren Gefässen.<br />

Obschon die Erdbewegungen unmittelbar nur eine von 12 zu 12 Stunden wie<strong>der</strong>holte Anregung<br />

zur Bewegung des Wassers geben, insofern nur einmal des Tags Höhepunkte in <strong>der</strong> Verzögerung<br />

o<strong>der</strong> Beschleunigung erreicht werden, so tritt doch jene zweite Ursache in Kraft, welche auf <strong>der</strong><br />

Schwere des Wassers beruht und diese ins Gleichgewicht zurückzubringen strebt; und zwar sind je<br />

nach <strong>der</strong> Kürze des Gefässes die Schwankungen von ein-, zwei-, dreistündiger Dauer u. s. w. Diese<br />

Wirkung nun trifft mit <strong>der</strong> ersten, die schon an und für sich in kleineren Gefässen sehr unbedeutend<br />

ist, zusammen und macht sie völlig unmerklich; denn ohne dass die von <strong>der</strong> ursprünglichen Ursache<br />

hervorgerufene Erregung sich schon völlig mitgeteilt hätte, da sie eine 12-stündige Periode besitzt,<br />

tritt bereits mit gegenteiligem Erfolge jene an<strong>der</strong>e sekundäre, auf dem eigenen Gewichte des Wassers<br />

beruhende Ursache in Wirksamkeit, <strong>der</strong>en Periode ein-, zwei-, dreistündig ist. Diese arbeitet <strong>der</strong><br />

ursprünglichen entgegen, stört und beseitigt ihre Wirkung, ohne sie bis zum Höhepunkte o<strong>der</strong> auch<br />

nur bis zur Hälfte ihrer Wirksamkeit gelangen zu lassen. Infolge solchen Wi<strong>der</strong>spiels wird die Erscheinung<br />

<strong>der</strong> Gezeiten ganz aufgehoben o<strong>der</strong> doch wesentlich verdunkelt. (S. 451f./138ff.)<br />

Es ist äusserst schwierig, <strong>Galilei</strong> hier zu folgen und zu verstehen. Was sagt er hier?<br />

Er geht von <strong>der</strong> bereits genannten Tatsache aus, dass weit ausgedehnte Gewässer nicht an<br />

allen Punkten die selbe Geschwindigkeit besitzen. Der Extremfall dieser Situation ist ein<br />

Meer, das sich um den halben Globus erstreckt. Derjenige Punkt des Meeres, <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Sonne abgewandt ist, hat die höchst mögliche Geschwindigkeit, <strong>der</strong>weil ein Punkt auf <strong>der</strong><br />

Seite zur Sonne die kleinst mögliche Geschwindigkeit hat. In <strong>der</strong> Folge haben die beiden<br />

Punkte auch unterschiedliche Beschleunigungen. (Allerdings vermischt <strong>Galilei</strong> die beiden<br />

Begriffe, wenn er meint, dass das Wasser am Punkt <strong>der</strong> grössten Geschwindigkeit auch die<br />

grösste Beschleunigung hat.) Bei kleineren Gewässern besteht dieser Geschwindigkeitsunterschied<br />

zwischen verschiedenen Punkten nicht, da sie zu wenig weit auseinan<strong>der</strong>liegen.<br />

Alle Wasserteile haben deshalb etwa die selbe Beschleunigung „nehmen die selben Eindrücke<br />

auf“. Bis hier kann man <strong>Galilei</strong> einigermassen folgen. Nun ist aber nicht verständlich,<br />

wieso die Abwesenheit dieser unterschiedlichen Beschleunigung in kleinen Gewässern<br />

die Ursache sein soll dafür, dass es in solchen Gewässern nur schwache Gezeiten gibt.<br />

Denn seine ursprüngliche Theorie geht von <strong>der</strong> Punktbeschleunigung aus. Primärursache<br />

<strong>der</strong> Bewegung ist die Beschleunigung an einem bestimmten Ort, und zwar unabhängig<br />

davon, wie schnell an<strong>der</strong>e Teile des Gewässers sich bewegen. Nimmt man <strong>Galilei</strong>s Begründung<br />

ernst, so gäbe es auch im Mittelmeer keine Gezeiten, denn im Vergleich zur Erdkugel<br />

ist dessen Ausdehnung relativ klein und die Unterschiede in <strong>der</strong> Beschleunigung<br />

seiner verschiedenen Teile dürften gering sein. Die Krux von <strong>Galilei</strong>s Begründung liegt bei<br />

folgendem Satz: „Bei denjenigen Meerbusen aber, die sich auf grosse Entfernung in ostwestlicher<br />

Richtung erstrecken, ist die Beschleunigung o<strong>der</strong> Verzögerung sehr viel merklicher:<br />

ist doch in diesem Falle gleichzeitig das eine Ende in stark verzögerter Bewegung,<br />

71


während das an<strong>der</strong>e noch in schnellster Bewegung begriffen ist“ (S. 451/139). <strong>Galilei</strong><br />

macht zwischen diesen beiden Sachverhalten einen falschen kausalen Zusammenhang. Die<br />

unterschiedlichen Geschwindigkeiten <strong>der</strong> verschiedenen Punkte eines ausgedehnten Meeres<br />

führen nicht dazu, dass ein Punkt dieses Meeres eine grössere Beschleunigung erfährt,<br />

wenn er auf <strong>der</strong> sonnenabgewandten Seite liegt als ein Punkt eines kleineren Gewässers.<br />

Auf jeden (Wasser-)Punkt auf <strong>der</strong> Erde wirkt bei Mitternacht die genau gleiche Beschleunigung;<br />

und nur darauf kommt es an. Die Grösse eines Meeres beeinflusst die Beschleunigung<br />

an einem bestimmten Punkt nicht. Ist die Interpretation dieser Stelle korrekt, so ist<br />

<strong>Galilei</strong>s Argument nicht überzeugend.<br />

Die zweite Ursache hängt mit <strong>der</strong> Schwere des Wassers und <strong>der</strong> Grösse <strong>der</strong> Meeresbecken<br />

zusammen. Die primäre Ursache <strong>–</strong> wäre sie allein wirksam <strong>–</strong> würde ganz normale<br />

Gezeiten erzeugen. Als „Störvariablen“ treten nun die Rän<strong>der</strong> <strong>der</strong> Meeresbecken auf.<br />

Diese stauen die durch die primäre Ursache zum Fliessen gebrachten Wassermassen, heben<br />

diese an, wodurch diese durch die eigene Schwere dazu gebracht werden, durch Rückfluss<br />

wie<strong>der</strong> in den Gleichgewichtszustand zu gelangen <strong>–</strong> und zwar bevor die primäre Ursache<br />

selbst dies wie<strong>der</strong> bewirkt. So kommt es zu einer Verkürzung <strong>der</strong> Periode. Je kürzer das<br />

Becken, desto kürzer soll auch die Periode sein. Die Wirkung <strong>der</strong> sekundären Ursache<br />

sorgt nun dafür, dass die in kleineren Gewässern an sich schon schwächere Wirkung <strong>der</strong><br />

primären Ursache aufgehoben wird und in solchen Gewässern keine Gezeiten zu beobachten<br />

sind.<br />

Selbst wenn man zugesteht, dass die beiden von <strong>Galilei</strong> genannten Ursachen eine<br />

Rolle spielen, ist es nicht plausibel, dass sie sich in kleineren Gewässern überall und zu<br />

je<strong>der</strong> Zeit gegenseitig aufheben. Denn <strong>der</strong> Betrag <strong>der</strong> primären Beschleunigung än<strong>der</strong>t sich<br />

im Tagesablauf und nicht, wie <strong>Galilei</strong> offenbar meinte, mit <strong>der</strong> Grösse des Beckens. Die<br />

Beschleunigung die das rückfliessende Wasser aus seiner Schwere zu einem bestimmten<br />

Tageszeitpunkt erfährt, hängt jedoch von <strong>der</strong> Grösse des Meeresbecken ab. Da nun die<br />

Geschwindigkeit eines Punktes P an einer bestimmten Stelle für alle Gewässer gleich ist,<br />

die Kraft des Rückflusses aber von <strong>der</strong> Grösse des Beckens abhängt, ist nicht anzunehmen,<br />

dass sich die beiden Kräfte in kleinen Gewässern immer ausgleichen und in grossen nicht.<br />

Es müssten also selbst in kleineren Becken ab und zu tidenartige Wasserbewegungen festzustellen<br />

sein. Korrekte Interpretation von <strong>Galilei</strong>s Argument vorausgesetzt, ist seine Erklärung<br />

nicht plausibel.<br />

<strong>Galilei</strong> kommt nun auf das vermutlich grösste Problem zu sprechen, mit welchem<br />

seine Gezeitentheorie behaftet ist, nämlich wieso<br />

einerseits das primäre Prinzip dem Wasser nur von 12 zu 12 Stunden einen Anstoss zur Bewegung<br />

giebt, einmal durch ein Maximum und einmal durch ein Minimum <strong>der</strong> Geschwindigkeit, an<strong>der</strong>erseits<br />

aber die Perioden <strong>der</strong> Gezeiten gewöhnlich eine sechsstündige ist. (S. 452/140)<br />

<strong>Galilei</strong> hat bereits die sogenannten sekundären Ursachen erwähnt, welche die 12stündige<br />

Periode stören können. Sein Problem besteht aber nicht in abweichenden Perioden,<br />

son<strong>der</strong>n darin, dass es nirgends eine zwölfstündige Periode gibt, son<strong>der</strong>n meistens<br />

eine sechsstündige. Er müsste nun für diese Periode eine zusätzliche Ursache finden. Er<br />

sieht natürlich, „dass sothanes Ergebnis unmöglich von <strong>der</strong> primären Ursache allein abhängen<br />

kann“ und ist <strong>der</strong> Meinung, man habe „hierbei die sekundären Wirkungen, also die<br />

grössere o<strong>der</strong> geringere Länge <strong>der</strong> Gefässe und die grössere o<strong>der</strong> geringere Tiefe des darin<br />

befindlichen Wassers, mit zu berücksichtigen“ (S. 452/141). <strong>Galilei</strong> greift also wie<strong>der</strong> auf<br />

die bereits bekannten sekundären Ursachen zurück, die er bereits als Ursache für Abweichungen<br />

von <strong>der</strong> 12-stündigen Periode genannt hat. Nun liegt also in diesen Umständen <strong>–</strong><br />

Ausdehnung und Tiefe <strong>der</strong> Meeresbecken <strong>–</strong> die Ursache <strong>der</strong> sechsstündigen Gezeitenperiode.<br />

Dabei stellt er die falsche Behauptung auf, dass nämlich die sechsstündige Periode nur<br />

72


eine von vielen an<strong>der</strong>en zufälligen Perioden sei, die man einfach am besten kenne, weil sie<br />

gerade im Mittelmeer auftrete: „Die sechsstündige ist somit an und für sich keine natürliche<br />

Eigentümlichkeit des Vorgangs, wenigstens nicht in höherem Mass als eine Periode<br />

von an<strong>der</strong>er Dauer“ (S. 453/141). Somit besteht auch kein Grund, für diese Periode eine<br />

spezielle Ursache zu suchen; sie ist nichts an<strong>der</strong>es als eine zufällige Wirkung <strong>der</strong> sekundären<br />

Ursachen. Diese sekundären Ursachen haben zwar nicht den allergeringsten Einfluss<br />

auf das Zustandekommen <strong>der</strong> Gezeiten an sich, denn diese verdanken ihr Auftreten ausschliesslich<br />

<strong>der</strong> primären Ursache, aber sie sind „von allerwesentlichstem Einfluss auf die<br />

Periodicität <strong>der</strong> Erscheinung“ und zwar „von so bedeutendem Einfluss, dass die Wirkung<br />

<strong>der</strong> primären Ursache dagegen zurücktritt“ (S. 453/141). Mit dieser Erklärung hat <strong>Galilei</strong><br />

das Problem <strong>der</strong> sechsstündigen Periode elegant vom Tisch gewischt.<br />

Aus <strong>der</strong> vermeintlichen Wirkung <strong>der</strong> sekundären Ursachen leitet <strong>Galilei</strong> nun die<br />

folgende Aussage ab:<br />

Es haben also die Meere, die sich <strong>der</strong> Länge nach gegen die Pole hin erstrecken, die in an<strong>der</strong>er Richtung<br />

hingegen schmal sind, keine Veranlassung Ebbe und Flut zu zeigen, es sei denn mittelbar durch<br />

die Verbindung mit einem an<strong>der</strong>en Meere, das den Gezeiten in bedeutendem Masse unterworfen ist.<br />

(S. 453/142)<br />

Hierzu nennt er als Beispiel das Rote Meer, welches jedoch in Wirklichkeit Gezeiten<br />

aufweist; was <strong>Galilei</strong> wohl nicht gewusst hat.<br />

Ein weiteres Phänomen, das eine Theorie <strong>der</strong> Gezeiten erklären können sollte, sind<br />

die sogenannten Nipp- und Springfluten; dabei handelt es sich um einerseits sehr kleine<br />

und an<strong>der</strong>erseits sehr grosse Tidenhübe. 50 <strong>Galilei</strong> sieht auch <strong>der</strong>en Ursache im Zusammenspiel<br />

von primären und sekundären Ursachen begründet; womit gemäss <strong>Galilei</strong> viele Gezeitenphänomene<br />

<strong>–</strong> und noch an<strong>der</strong>e Bewegungen des Wassers wie Wirbel und Strudel <strong>–</strong><br />

das Resultat <strong>der</strong> Zusammenarbeit dieser beiden Ursachen sind. Das Zusammenspiel <strong>der</strong><br />

beiden Ursachen ist also verantwortlich für Erscheinungen, welche auf den ersten Blick<br />

nicht in die Gezeitentheorie hineingepasst haben. Salviati (<strong>Galilei</strong>) resümiert dieses Zusammenspiel<br />

<strong>der</strong> beiden Ursachen:<br />

An sechster Stelle nun ist es erfor<strong>der</strong>lich, um Rechenschaft von einigen hierher gehörigen versteckten<br />

und auffallenden Thatsachen geben zu können, dass wir eine weitere wichtige Überlegung<br />

betreffs <strong>der</strong> beiden Hauptursachen <strong>der</strong> Gezeiten anstellen, indem wir ihr gleichzeitiges Wirken, ihre<br />

Zusammensetzung ins Auge fassen. Die vornehmste und einfachste <strong>der</strong>selben ist, wie des öftern gesagt<br />

worden, die bestimmte Beschleunigung und Verzögerung <strong>der</strong> Teile <strong>der</strong> Erde, vermöge <strong>der</strong>en<br />

das Wasser in <strong>der</strong> bestimmten Periode von 24 Stunden einmal nach Osten zu strömen und wie<strong>der</strong><br />

nach Westen zurückzukehren hätte. Die an<strong>der</strong>e Ursache hängt zusammen mit dem eigenen Gewichte<br />

des Wassers, welches, einmal durch die primäre Ursache in Bewegung gesetzt, in wie<strong>der</strong>holten<br />

Schwankungen ins Gleichgewicht zurückstrebt. Diese letzteren sind nicht auf eine festgesetzte, ein<br />

für alle Mal bestimmte Zeitdauer beschränkt, son<strong>der</strong>n haben ebenso verschiedene Dauer, wie die<br />

Längen und Tiefen <strong>der</strong> Behälter und Meeresbusen verschieden sind. Infolge dieses zweiten Princips<br />

würde das Hin- und Herströmen manchmal eine Stunde, manchmal zwei, vier, sechs, acht, zehn u. s.<br />

w. Stunden beanspruchen. Wenn wir nun dazu schreiten, die ursprüngliche Ursache, <strong>der</strong>en Periode<br />

eine ständige Dauer von 12 Stunden hat, mit einer sekundären zu kombinieren, <strong>der</strong>en Periode z. B.<br />

von fünf zu fünf Stunden geht, so werden zu gewissen Zeiten die primäre und die sekundären Ursachen<br />

ihren Impuls übereinstimmend beide in gleicher Richtung erteilen: bei <strong>der</strong>artiger Vereinigung,<br />

50 Bei den Nipptiden hebt die Sonne bei Halbmond einen Teil <strong>der</strong> Gezeitenkräfte des Mondes auf, was zu<br />

einer schwächeren Hebung des Wasser führt. Springtiden finden bei Neu- und Vollmond statt. Dabei wirken<br />

die Gezeitenkräfte von Sonne und Mond zusammen und bewirken eine stärkere Anhebung des Wassers.<br />

Treten zu letzterer noch starke Winde auf, können Sturmfluten entstehen.<br />

73


ei solch einmütigem Streben möchte ich sagen, werden die Fluten bedeutende Beträge erreichen.<br />

(S. 454f./143f.)<br />

Man erkennt hier unschwer eine Erklärung <strong>der</strong> Springtiden. Es folgt die Erklärung<br />

<strong>der</strong> Nipptiden:<br />

Wenn zu an<strong>der</strong>en Zeiten hingegen <strong>der</strong> primäre Impuls teilweise dem von <strong>der</strong> sekundären Periode<br />

bedingten entgegenwirkt und bei diesem Wi<strong>der</strong>streit das eine Princip die Wirkung des an<strong>der</strong>en aufhebt,<br />

so werden die Bewegungen des Wassers schwächer sein, das Meer wird sehr ruhig, fast unbewegt<br />

bleiben. Wie<strong>der</strong> in an<strong>der</strong>en Fällen, wenn die beiden Principien we<strong>der</strong> ganz im Gegensatze stehen,<br />

noch ganz übereinstimmend wirken, werden abermals Än<strong>der</strong>ungen im Wachsen und Abnehmen<br />

<strong>der</strong> Gezeiten eintreten. (S. 455/144)<br />

Das Zusammenspiel von primärer und sekundären Ursachen erzeugt noch an<strong>der</strong>e<br />

Bewegungen des Wassers, die man auf den ersten Blick nicht unbedingt mit den Gezeiten<br />

in Verbindung bringen würde:<br />

Auch kann es geschehen, dass zwei sehr grosse, durch einen engen Kanal in Verbindung stehende<br />

Meere in <strong>der</strong> verbindenden Meerenge aufeinan<strong>der</strong>treffen, während infolge <strong>der</strong> vereinigten Wirkung<br />

bei<strong>der</strong> Principien das eine gleichzeitig zur Hochflut, das an<strong>der</strong>e zu Ebbe Veranstaltung hat. In solchen<br />

Fällen finden in dem engen Verbindungskanal ungewöhnlich stürmische, einan<strong>der</strong> entgegengesetzte<br />

Bewegungen statt, höchst gefährliche Wirbel und Strudel, über welche denn auch thatsächlich<br />

fortwährend Berichte und Erfahrungen vorliegen. Dergleichen zwiespältige Bewegungen, die nicht<br />

nur durch die verschiedene Lage und Länge <strong>der</strong> in Verbindung stehenden Meere, son<strong>der</strong>n auch wesentlich<br />

durch ihre verschiedenen Tiefen entstehen, werden zu gewissen Zeiten mancherlei unregelmässige,<br />

schwer zu beschreibende Erregungen <strong>der</strong> Gewässer veranlassen. (S. 455/144f.)<br />

Die sekundären Ursachen sind also verantwortlich dafür, dass sich das Wasser nicht<br />

so verhält, wie es sich verhalten würde, wäre nur die primäre Ursache wirksam. Die primäre<br />

Ursache ist verantwortlich dafür, dass es die Gezeiten überhaupt gib; für <strong>der</strong>en tatsächliche<br />

Ausprägung zeichnen die sekundären Ursachen verantwortlich mit ihrem störenden<br />

Einfluss auf die Wirkung <strong>der</strong> primären Ursache. Man kann sich aber des Eindrucks nicht<br />

erwehren, dass <strong>Galilei</strong> die vermeintliche Wirkung <strong>der</strong> sekundären Ursachen einfach für<br />

alles heranzieht, was <strong>der</strong> Theorie von den primären Ursachen wi<strong>der</strong>spricht.<br />

Um mit Fällen umgehen zu können, die auch das Zusammenspiel von primären und<br />

sekundären Ursachen nicht erklären können, bemüht <strong>Galilei</strong> noch den Wind als zusätzliche<br />

Ursache:<br />

Solche Luftströmungen spielen in an<strong>der</strong>en Fällen eine wichtige Rolle, sodass wir diese als dritte Nebenursache<br />

zu betrachten haben; sie sind imstande den Charakter <strong>der</strong> Erscheinungen, welche von<br />

den wesentlicheren sekundären Ursachen herrühren, vielfach zu verwischen. Unzweifelhaft vermögen<br />

beständig andauernde, heftige Winde, die etwa von Osten wehen, die Wassermasse zurückzustauen<br />

und sie am Rückflusse zu verhin<strong>der</strong>n; kommt dann zu bestimmten Stunden die zweite und<br />

dritte neue Flutwelle hinzu, so wird sie zu grosser Höhe anschwellen: und so bleibt sie, von dem<br />

Druck des Windes ein paar Tage über getragen, in auffallen<strong>der</strong> Höhe stehen und bewirkt ungewöhnliche<br />

Überschwemmungen. (S. 455/145)<br />

Salviati (<strong>Galilei</strong>) nennt noch eine weitere Bewegungsursache, die <strong>der</strong> primären Ursache<br />

entgegenwirken kann: „Sie beruht auf dem grossen Wasserreichtum <strong>der</strong> Flüsse, die<br />

in nicht sehr ausgedehnte Meere münden“ (S. 456/146). Er erläutert diese Wirkung an einem<br />

Beispiel:<br />

In diesem Fall sieht man in den mit solchen Meeren zusammenhängenden Meeresstrassen das Wasser<br />

stets in <strong>der</strong>selben Richtung strömen, wie im Thracischen Bosporus bei Konstantinopel, wo die<br />

Strömung stets vom schwarzen Meere nach <strong>der</strong> Propontis [Marmarameer] gerichtet ist. In dem<br />

74


schwarzen Meere nämlich sind seiner Kürze wegen die Hauptursachen <strong>der</strong> Gezeiten wenig wirksam,<br />

da sich aber gewaltige Flüsse hineinergiessen, so muss ein solcher Wasserzufluss durch die Meerenge<br />

passieren und abfliessen, woselbst dann die Strömung sehr merklich wird und stets nach Süden<br />

gerichtet ist. (S. 456/146)<br />

„Soviel“ schliesst Salviati seine langen Erläuterungen ab, „hätte ich Euch vorläufig<br />

über die Ursachen jener ersten täglichen Periode von Ebbe und Flut und über die verschiedenen<br />

damit zusammenhängenden Nebenumstände mitzuteilen“ (S. 456/147). Im weiteren<br />

Verlauf des Gesprächs wird er noch die monatliche und die jährliche Periode erläutern, auf<br />

die wir hier aber nicht näher eingehen.<br />

Obwohl vom methodologischen Standpunkt aus anerkannt werden kann, dass vermutlich<br />

alle Ursachen-Hypothesen von <strong>Galilei</strong> prüfbar wären, ist davon auszugehen, dass<br />

sie doch samt und son<strong>der</strong>s reine Erfindungen von <strong>Galilei</strong> sind, um seine Theorie zu retten<br />

und keinerlei empirische Evidenz besassen. <strong>Galilei</strong> macht denn auch keine Angaben, wie<br />

alle diese Hypothesen zu prüfen wären. 51 Wie es um die empirische Evidenz von <strong>Galilei</strong>s<br />

Beschreibungen <strong>der</strong> Gezeitenphänomene steht, wird weiter unten Thema sein.<br />

Einige Autoren haben sich zur Frage geäussert, wie stark <strong>Galilei</strong> selbst von seiner<br />

Gezeitentheorie überzeugt war und wie lange er an ihr festgehalten hat. Peter Machamer<br />

(1973) schreibt „that <strong>Galileo</strong>’s theory of the tides was later rejectetd, even by himself” (S.<br />

11). Machamer ist einer <strong>der</strong> ganz wenigen Autoren, die diese Behauptung äussern, er gibt<br />

aber keine Stelle aus <strong>Galilei</strong>s Werk an, wo er dies tut. Es ist daher schwierig, diese Behauptung<br />

zu überprüfen. Konkretere Aussagen dazu finden sich bei Annibale Fantoli<br />

(1996). Fantoli meint, <strong>Galilei</strong> sei sich immer ein wenig unsicher gewesen über seine Gezeitentheorie.<br />

Er verweist dazu auf einen Brief <strong>Galilei</strong>s vom Oktober 1620 an Gianfrancesco<br />

Buonamici, in welchem <strong>Galilei</strong> folgende Redewendungen benutzte: “I believe I have found<br />

the true reason for it” [für die Gezeiten] und “I estimate it to be true”. Die Ausdrücke believe<br />

und estimate „seem to denote, despite everything else, that there remind a bit of uncertainty<br />

deep inside him” (S. 334). Er sieht das bestätigt “by the desire (expressed in the<br />

same letter) to have further confirmation of an ‘experimental’ character of his theory by<br />

those who had travelled the distant sees” (S. 334).<br />

Fantoli behauptet weiter, <strong>Galilei</strong> habe „never overcome his uncertainty about the<br />

‚proof from the tides’” (S. 370). Seine Begründung lautet:<br />

To me this seems to be confirmed by the fact that towards the end of his life he put this ‘proof’ aside<br />

and accepted the traditional interpretation of the lunar origin of the tides. (S. 370)<br />

Fantoli verweist dazu auf einen Brief von <strong>Galilei</strong> vom November 1637 an Fulgenzio<br />

Micanzio, in welchem er diesem die Entdeckung <strong>der</strong> Libration des Mondes mitteilt.<br />

Die Stelle im Brief, auf die sich Fantoli bezieht, lautet:<br />

51 <strong>Galilei</strong> erwähnt an zwei Stellen die experimentelle Prüfung seiner Hypothesen. So schreibt er über seine<br />

These, dass unterschiedliche Punkte auf grossen Meeren eine unterschiedliche Beschleunigung erfahren, es<br />

sei unmöglich, „durch wirklich ausgeführten Versuch ihre Wirkung nachzuahmen“ (S. 449/135). Eine Seite<br />

weiter wi<strong>der</strong>spricht er sich allerdings wie<strong>der</strong>: „Mag es vielen auch unmöglich erscheinen, durch künstliche<br />

Apparate und Geräte die Wirkung eines solchen Umstandes experimentell zu prüfen, so ist es doch nicht<br />

ganz unmöglich. Ich besitze den Entwurf eines Apparates, an welchem gerade die Wirkung dieser merkwürdigen<br />

Zusammensetzung von Bewegungen sich veranschaulichen lässt“ (S. 450f./138). Lei<strong>der</strong> erfährt man<br />

dazu nichts Weiteres. In einer Endnote von Emil Strauss steht dazu geschrieben: „Es bleibt zweifelhaft, ob<br />

<strong>Galilei</strong> einen solchen Apparat wirklich ausgeführt hat o<strong>der</strong> nur an einen gezeichneten Entwurf denkt; von<br />

Versuchen, die er damit angestellt hätte, ist nichts bekannt“ (S. 568).<br />

75


Now what would Your Most Reverend Paternity say in face of these three lunar periods with the<br />

three periods of a day, a month, and a year for the movements of the sea of which, by the common<br />

consent of all, the moon is the referee and the superintendent? (zitiert nach Fantoli 1996, S. 370)<br />

Fantoli verweist weiter auf ein Gespräch von Benedetto Castelli mit dem Kardinal<br />

Francesco Barberini über <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie, in welchem Castelli gesagt haben soll,<br />

<strong>Galilei</strong> behaupte nicht, dass die Erdbewegung wahr sei, „but that it showed that should the<br />

motion of the earth be true, there would necessarily follow the ebb and flow“ (S. 370).<br />

4.1.5 Formale Rekonstruktion von <strong>Galilei</strong>s Argument<br />

Zum besseren Verständnis von <strong>Galilei</strong>s methodischem Vorgehen, soll nun versucht<br />

werden, sein Argument formal zu rekonstruieren und zu analysieren, welche Struktur und<br />

welche Logik in <strong>Galilei</strong>s Theorie steckt.<br />

Wie beschrieben wurde, geht <strong>Galilei</strong> von einem Phänomen o<strong>der</strong> von einer empirischen<br />

Evidenz aus, den in den Meeren zu beobachtenden Wasserbewegungen, die er in<br />

seiner Analogie des bewegten Wasserbeckens demonstriert. Daher lautet die erste Annahmen:<br />

Annahme 1<br />

Das Wasser in den Meeresbecken zeigt sogenannte Tidenbewegungen. Diese Tidenbewegungen<br />

bestehen aus regelmässig hin und her fliessenden Wassermassen,<br />

die dabei auf <strong>der</strong> einen Seite des Meeresbeckens steigen und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

fallen.<br />

Zugleich behauptet er, dass alle bisher angebotenen Erklärungen für die Gezeiten<br />

nichtig sind und diese nur aus <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Erde zu verstehen sind; denn es sei nicht<br />

vorstellbar, wie in einem ruhenden Becken Gezeitenbewegungen entstehen könnten.<br />

Ahnnahme 2<br />

In einem ruhenden Gefäss kann Wasser keine Tidenbewegungen zeigen.<br />

Danach trifft <strong>Galilei</strong> eine Annahme über die überhaupt möglichen Arten von Bewegungen,<br />

die in einem Becken Tidenbewegungen erzeugen können:<br />

Annahme 3<br />

Nur zwei Arten von Bewegungen können in einem Wasserbecken Tidenbewegungen<br />

erzeugen: 1. Kippbewegungen des Beckens, 2. regelmässige ungleichförmige<br />

Bewegung des Beckens.<br />

Die Erfahrung leitet <strong>Galilei</strong> dann zu folgen<strong>der</strong> Annahme:<br />

Annahme 4<br />

Eine Kippbewegung <strong>der</strong> Meeresbecken (und damit <strong>der</strong> Erde) existiert nicht, da eine<br />

solche nicht zu sehen ist.<br />

Aus den Annahmen 3 und 4 folgt ein Schluss auf eine notwendige Bedingung (NB)<br />

für Tidenbewegungen von Wasser in einem Becken:<br />

76


Schluss 1<br />

Eine regelmässig ungleichförmige Bewegung des Gefässes ist notwendig für Tidenbewegungen.<br />

Da die Meeresbecken fest mit <strong>der</strong> Erde verbunden sind, sich also nicht allein bewegen<br />

können, ergibt sich aus Schluss 1:<br />

Schluss 2<br />

Die Erde macht eine regelmässig ungleichförmige Bewegung.<br />

Aus <strong>der</strong> Demonstration mit dem Wasserbecken zieht <strong>Galilei</strong> einen weiteren<br />

Schluss:<br />

Schluss 3<br />

Regelmässige ungleichförmige Bewegung des Gefässes führt zu Tidenbewegungen.<br />

In Schluss 3 erkennen wir unschwer einen kausalen Schluss in Sinne einer hinreichenden<br />

Bedingung (HB). Ein regelmässig ungleichförmig bewegtes Becken ist kausal<br />

hinreichend für Tidenbewegungen wie <strong>Galilei</strong> sie schil<strong>der</strong>t. Schluss 1 ist ebenso unschwer<br />

als kausale Aussage in Sinne einer notwendigen Bedingung (NB) zu erkennen. Regelmässige<br />

ungleichförmige Bewegung ist notwendig für das Vorhandensein von Tidenbewegungen.<br />

Schluss 1 und Schluss 3 zusammengenommen ergibt eine Schlussfolgerung auf einen<br />

hinreichenden und notwendigen Faktor:<br />

Schluss 4<br />

Eine regelmässig ungleichförmige Bewegung des Wasserbeckens ist sowohl hinreichend<br />

wie auch notwendig für Tidenbewegungen von Wasser.<br />

Aus Schluss 4 und <strong>der</strong> Annahme 1 kann <strong>Galilei</strong> nun den entscheidenden Schluss<br />

ableiten:<br />

Schluss 5<br />

Die Erde muss sich regelmässig ungleichförmig bewegen.<br />

<strong>Galilei</strong> war zwar nicht in <strong>der</strong> Lage, eine empirische Evidenz für diese Bewegung zu<br />

erbringen, er konnte aber darauf hinweisen, dass die Theorie von Kopernikus genau das<br />

enthält, was seine Hypothese als notwendig postuliert, nämlich die Erdbewegung <strong>–</strong> und<br />

zwar genau in <strong>der</strong> Form, wie sie notwendig ist, um Tidenbewegungen zu erzeugen <strong>–</strong> und<br />

dass diese Theorie daher eine Erklärung für die Gezeiten anbieten kann. Zusätzlich versucht<br />

<strong>Galilei</strong>, Schluss 1 zu stützen, indem er durch eliminative Induktion versucht, an<strong>der</strong>e<br />

Erklärungen auszuschliessen. Soweit die formale Struktur von <strong>Galilei</strong>s Argument. Tatsachen,<br />

welche gegen seine Theorie sprechen, versucht er mit zusätzlich wirkenden, sekundären<br />

Ursachen zu erklären, welche aber empirisch nur schwach gestützt sind.<br />

4.2 Aufnahme und Rezeption von <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie<br />

<strong>Galilei</strong>s Zweifel an seiner eigenen Theorie <strong>–</strong> falls es sie denn gab <strong>–</strong> konnten in Zusammenhang<br />

gestanden haben mit <strong>der</strong> Frage nach ihrer Aufnahme durch das zeitgenössische<br />

Fachpublikum, denn diese scheint mehrheitlich ablehnend gewesen zu sein. Es findet<br />

77


sich zwar zu diesem Thema keine spezifische Literatur, aber die verstreut vorgefundenen<br />

Äusserungen dazu vermitteln doch ein einheitliches Bild.<br />

Schimank (1965) schreibt, <strong>Galilei</strong> sei zwar bis ins hohe Alter hinein stolz gewesen<br />

auf seine Gezeitentheorie, aber „Kepler und die an<strong>der</strong>en Astronomen jenes Zeitalters standen<br />

<strong>der</strong> Hypothese, die durch Briefe aus <strong>der</strong> Zeit seiner Paduaner Professur seit vielen Jahren<br />

bekannt war, ablehnend o<strong>der</strong> zumindest zweifelnd gegenüber“ (S. 11). Einige Anmerkungen<br />

dazu finden sich auch bei William Shea (1970a). Er erwähnt Francis Bacon, <strong>der</strong><br />

„curtly rejected <strong>Galileo</strong>’s theory as contrary to observational evidence“ (S. 115). 1616<br />

schreibt <strong>Galilei</strong> auf Wunsch des Kardinals Orsini seine Gezeitentheorie in einem Traktat<br />

nie<strong>der</strong> und behauptet, er habe empirische Evidenz für seine Theorie. Shea wi<strong>der</strong>spricht<br />

dieser Behauptung: „<strong>Galileo</strong> started with a tribute to ‚sensory experience’, but in the absence<br />

of detailed evidence, this was hardly more than lip service“ (S. 115). So verwun<strong>der</strong>t<br />

es denn auch nicht, dass dieser „Versuch“, wie Shea (1998) den Traktat nennt, ein Fehlschlag<br />

war: „He tried his argument out in Rome in 1616. It was consi<strong>der</strong>ed clever but unconvincing”<br />

(S. 225). Johannes Kepler „had criticized the idea that the earth’s motion was<br />

the cause of the tides as early as 1596 in his Mysterium Cosmographicum“, schreibt Aiton<br />

(1954, S. 48). Als weitere Stimme <strong>der</strong> Ablehnung nennt Aiton (S. 49) Giovanni Battista<br />

Riccioli (1598-1671), Jesuit und Professor für Astronomie. Er wies die Gezeitentheorie<br />

zurück, weil sie den Beobachtungen wi<strong>der</strong>spräche: Wenn die Variationen in <strong>der</strong> jährlichen<br />

Erdbewegung, die <strong>Galilei</strong> vermutet hat, um die monatlichen Ungleichheiten <strong>der</strong> Gezeiten<br />

zu erklären, wirklich existieren würden, hätte man sie beobachten müssen. Das war bisher<br />

nicht <strong>der</strong> Fall. Ricciolis Haupteinwand lautete aber, dass selbst wenn die Variationen existierten,<br />

nach <strong>Galilei</strong>s Theorie die grössten Tiden bei Neumond auftreten müssten, wenn die<br />

Erdbewegung am grössten ist und die kleinsten Tiden bei Vollmond, wenn die Erdbewegung<br />

am kleinsten ist. Die Beobachtung würde aber zeigen, dass die Tiden bei Vollmond<br />

nicht kleiner seien als bei Neumond. Weiter argumentierte Riccioli, dass nach <strong>Galilei</strong>s<br />

Theorie die Tiden in den Solstitien, wenn die beiden Bewegungen gleichgerichtet sind,<br />

grösser sein sollten als in den Äquinoktien. Das wi<strong>der</strong>spreche wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Beobachtung.<br />

Die Gezeitentheorie hat wohl nur bei Anhängern und Schülern <strong>Galilei</strong>s Unterstützung gefunden.<br />

Jedoch selbst <strong>Galilei</strong> Wohlgesinnte waren bei <strong>der</strong> Gezeitentheorie skeptisch, wie z.<br />

B. Baliani und Campanella. Giovanni Battista Baliani (1582-1666), Physiker, Jurist und<br />

Briefpartner von <strong>Galilei</strong>, schreibt 1632 in einem Brief an <strong>Galilei</strong>, nachdem dieser ihm ein<br />

Exemplar des Dialogs hat zukommen lassen, dass <strong>der</strong> vierte Tag nicht verständlich sei:<br />

Tout ce quatrième dialogue où l’on traite de la marée est à mon avis étonnant et me donne d’autant<br />

plus d’étonnement que, alors que dans les autres choses vous enlevez tous les doutes, dans celui-ci<br />

vous en laissez un qui n’est pas de peu d’importance sans y répondre, et ce que le flux devrait être<br />

chaque jour á la même heure, et selon l’opinion courante c’est le contraire, c’est-à-dire qu’il se devance<br />

chaque jour d’environ 4/5 d’heure, pour aller en suivant le mouvement de la lune. . . .. Je sais<br />

que vous devez avoir observé le contraire, et particulièrement à Venise, mais dans le dialogue vous<br />

n’en parlez pas. (Zitiert nach Moscovici 1965, S. 203)<br />

„La remarque de Baliani“ so Moscovici „est importante: la théorie de Galilée ne<br />

cadre pas avec les faits“ (S. 203). Deshalb hat Baliani versucht, die Gezeitentheorie von<br />

ihrer grössten Schwierigkeit <strong>–</strong> ihrer Unfähigkeit, den damals bereits bekannten Zusammenhang<br />

zwischen Mond und Gezeiten zu erklären <strong>–</strong> zu befreien. Man wusste, dass die<br />

Gezeiten eine tägliche Verspätung von etwa 48 Minuten gegenüber <strong>der</strong> Sonne aufweisen.<br />

Aus diesem Grund machte Baliani<br />

auf eine mit <strong>der</strong> Erfahrung in Wi<strong>der</strong>spruch stehende Folgerung aufmerksam, die man aus <strong>Galilei</strong>s<br />

Gezeitentheorie ziehen müsse: die Gezeiten müssten täglich um die gleiche Stunde eintreten! Das ist<br />

aber nirgends <strong>der</strong> Fall. (Laemmel 1942, S. 205)<br />

78


Balianis Urteil war mit Sicherheit ausgewogen, denn er verwarf nicht das Buch insgesamt,<br />

son<strong>der</strong>n verwies nur auf die Unverständlichkeit des vierten Tages. Er schrieb:<br />

„The book is full of new and most beautiful things … explained so clearly that one can<br />

un<strong>der</strong>stand everything very well except for the last discourse on the inequality produced by<br />

the addition and subtraction of the daily and annual [of the Earth]… Still, I confess that I<br />

must re-read it” (zitiert nach Westman 1984, S. 333).<br />

Tommaso Campanella begrüsste die Veröffentlichung des Dialogs enthusiastisch,<br />

aber „in die Gezeitentheorie konnte er nicht recht einstimmen“ (Krämer-Badoni 1985, S.<br />

261). Zu den Bewun<strong>der</strong>ern <strong>Galilei</strong>s, die mit <strong>der</strong> Gezeitentheorie Mühe hatte gehörte auch<br />

<strong>der</strong> englische Philosoph und Platoniker Henry More (1614-1687), <strong>der</strong> nach Hall (1990),<br />

trotz all seiner Liebe zu Platon und Plotin „early adopted the Copernican revolution in<br />

astronomy and its promulgation by <strong>Galileo</strong> with enthusiasm“ (S. 117). Auch More war <strong>der</strong><br />

Meinung, dass <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie „must be mistaken because it makes the annual<br />

variation in tidal movement greatest at the solstices, where as the maxima are found in fact<br />

at the equinoxes“ (S. 119). <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie nicht völlig verworfen hat offenbar <strong>der</strong><br />

englischen Mathematiker, Logiker und Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Royal Society, John Wallis<br />

(1616-1703), in dessen eigener Gezeitentheorie die Bewegung <strong>der</strong> Erde auch eine Rolle<br />

spielte. Marie Boas Hall (1967) schreibt über Wallis:<br />

Although he combated all who disagreed with his hypothesis, he never ceased to praise <strong>Galileo</strong> for<br />

suggesting the importance of the Earth’s motion for the production of tides, though Wallis, unlike<br />

<strong>Galileo</strong>, took into account the Moon’s influence as well. (S. 411)<br />

Selbst ein überzeugter Kopernikaner wie Descartes konnte <strong>der</strong> Gezeitentheorie<br />

nicht zustimmen: Beaulieu (1984) schreibt über Descartes: „Dans son opinion et dans la<br />

ligne de ses travaux antérieurs, il croit fermement au mouvement de la terre. Il n’accepte<br />

pas les preuves données par Galilée, par exemple celles du flux et reflux“ (S. 376).<br />

Es scheint also, dass die Gezeitentheorie bereits bei ihrem Erscheinen nicht viele<br />

Anhänger gefunden hat. Spätestens mit <strong>der</strong> Gravitationstheorie von Isaac Newton wurde<br />

sie dann endgültig zum historischen Relikt.<br />

Jedenfalls würde man das so vermuten. Aber es gilt erstaunlicherweise zur Kenntnis<br />

zu nehmen, dass es selbst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t noch Streitereien um diese Theorie gibt.<br />

Diese bestehen vor allem darin, dass sich einige Vertreter <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>-Hagiographie nicht<br />

damit abfinden können, dass ihr Idol sich geirrt hat, und mit unglaublichen geistigen Verrenkungen<br />

belegen wollen, dass <strong>Galilei</strong> doch irgendwie recht hatte o<strong>der</strong> dass es doch irgendwelche<br />

wahren und richtigen Erkenntnisse in <strong>der</strong> Theorie hatte.<br />

Einer dieser Autoren ist Peter Machamer (1973). Er behauptet zunächst ohne nähere<br />

Angaben dazu, dass <strong>Galilei</strong> empirische Evidenz für seine Theorie gehabt habe. Er anerkennt<br />

zwar, dass die Theorie „inkorrekt“ war, das Wort „falsch“ vermeidet er, und bezeichnet<br />

die Theorie als zu ihrer Zeit „the only known natural, mechanical attempt to account<br />

for the tides, and it did so in a mathematical way“ (S. 10). Die erste Behauptung ist<br />

schlicht falsch und wenn sie wahr wäre, ist nicht einzusehen, weshalb sie dadurch einen<br />

Vorzug gegenüber an<strong>der</strong>en nicht-mechanischen Theorien besitzen sollte. Die Behauptung,<br />

die Theorie sei mathematisch gewesen, ist schon gar nicht mehr nachvollziehbar. <strong>Galilei</strong><br />

habe in den Gezeitenbewegungen ein unabhängiges Argument für den Kopernikanismus<br />

besessen „Thus the theory of the tides provided <strong>Galileo</strong> with a good reason for adhering for<br />

the major premise of the Copernican theory“ (S. 10). Es folgt eine weitere eigenartige Aussage<br />

von Machamer: „<strong>Galileo</strong>’s theory of the tides was not a theory which was known to<br />

be false“ (S. 11), die verschweigt, dass die Theorie viel Wie<strong>der</strong>spruch erntete, gerade weil<br />

79


sie den Fakten wi<strong>der</strong>sprach und so tut, als sei es immer einfach von einer Theorie zu sagen,<br />

sie sei richtig o<strong>der</strong> falsch. Wieso dann <strong>Galilei</strong> später eine so gute und nicht wi<strong>der</strong>legte<br />

Theorie zurückgezogen hat <strong>–</strong> wie Machamer selbst behauptet <strong>–</strong>, erklärt er nicht. Er erwähnt<br />

dann John Wallis, <strong>der</strong> bemerkte „that there were many problems with <strong>Galileo</strong>’s theory of<br />

the tides, but held out the hope that the particular anomalies could be rectified“ (S. 11).<br />

Vermutlich auf Grund dieser Aussage und <strong>der</strong> Tatsache, dass z. B. Baliani versucht hat, die<br />

Theorie weiterzuentwickeln, avanciert die Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong> in Machamers Vorstellung<br />

zu einem Forschungsparadigma im Sinne Thomas S. Kuhns: „It was consi<strong>der</strong>ed by<br />

some important scientists to be a fruitful and worthwhile theory, and in the best Kuhnian<br />

tradition of normal science they set about trying to account for some of the discrepancies“<br />

(S. 11).<br />

Auch Stillman Drake hat nicht akzeptieren können, dass <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie<br />

schlicht und einfach falsch ist. Das hat zu einer äusserst peinlichen Kontroverse gegen<br />

Ernst Mach geführt. Ernst Mach hat 1912 in <strong>der</strong> siebten Auflage seines Buches Die Mechanik<br />

in ihrer Entwicklung die Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong> ausführlich behandelt und<br />

aufgezeigt, wieso sie falsch ist. Drake (1982) hat sich nun im Vorwort zur Neuausgabe <strong>der</strong><br />

deutschen Übersetzung des Dialogs die Peinlichkeit geleistet, zu behaupten, Ernst Mach<br />

habe in seiner Mechanik „eine sehr unbillige Karikatur <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>schen Gezeitentheorie<br />

gegeben“ (S. XXIII*), wobei er ein völlig irrelevantes Argument gegen <strong>Galilei</strong>s Hauptursache<br />

angeführt habe, und hat diesen Vorwurf mit nicht nachvollziehbaren Argumenten<br />

begründet. 52 Den selben Vorwurf hat er auch an<strong>der</strong>en Autoren gemacht: „<strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie<br />

wird in den meisten Büchern so durch und durch falsch dargestellt, dass sie als<br />

schlicht absurd erscheint“ (Drake 1999, S. 120). Worauf Drake hinauswill, folgt ein paar<br />

Zeilen weiter: „In Wirklichkeit war <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie zwar unkorrekt, aber wissenschaftlicher<br />

Natur, genau wie es auch die Gezeitentheorien von Newton und Laplace waren“<br />

(S. 121). Drake benutzt hier eine altbekannten Taktik. <strong>Galilei</strong> habe erkannt, dass es<br />

keine Möglichkeit gebe, starke und regelmässig wie<strong>der</strong>kehrende Bewegungen riesiger<br />

Meere auf einer reglos feststehenden Erde zu erklären. „Das stimmt“ schreibt Drake und<br />

daraus folge, „dass jede wissenschaftliche Erklärung <strong>der</strong> Gezeiten von einer Bewegung <strong>der</strong><br />

Erde ausgehen muss“ (S. 120). Dass <strong>Galilei</strong> keine Ahnung hatte, wovon er überhaupt<br />

sprach und dass das Körnchen Wahrheit, das so gesehen in <strong>der</strong> Theorie steckt, ein reiner<br />

Zufallstreffer ist und mit einer <strong>wissenschaftlichen</strong> Erkenntnis nicht das geringste zu tun<br />

hat, scheint Drake nicht zu stören.<br />

Unterhaltsame geistige Kapriolen zur Gezeitentheorie schlägt auch Klaus Fischer<br />

(1983). Sein „Ansatz“ besteht darin, dem Leser zu erklären, dass die Kritik an <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie<br />

„in dem Masse unberechtigt ist wie die Anpreisung <strong>der</strong>jenigen von Kepler<br />

o<strong>der</strong> Newton. Beide Erklärungsvarianten sind nicht in <strong>der</strong> Lage, dem Phänomen <strong>der</strong> Gezeiten<br />

in korrekter Weise Rechnung zu tragen“ (S. 173). Weshalb allerdings an<strong>der</strong>e falsche<br />

Gezeitentheorien die Kritik an <strong>der</strong> galileischen Theorie delegitimieren, ist nicht klar. Fischer<br />

argumentiert im weiteren gleich wie Burstyn (1962), auf den er auch verweist. Es<br />

gehe um das Problem, wie man die Bewegung <strong>der</strong> Erde beweisen könne. Und dieses Problem<br />

habe <strong>Galilei</strong> gelöst, weil er recht hatte:<br />

For he was correct: we cannot explain tidal phenomena as we find them without assuming the double<br />

motion of the earth. That is, the tides are different on the moving earth from what they would be<br />

were the earth stationary, and therefore <strong>–</strong> at least in principle <strong>–</strong> the tides constitute a proof of the<br />

earth’s motion. (Burstyn 1962, S. 165)<br />

52 Die Kontroverse wird beschrieben bei Krämer-Badoni (1985, S. 233-246). Drake erhob diesen Vorwurf<br />

zuerst in (1979), wo er ihn auf die gesamte Wissenschaftshistoriographie seit Ernst Mach ausdehnt.<br />

80


Ein weiteres Argument dieser Art, von dem nicht klar ist, was damit gesagt o<strong>der</strong><br />

gewonnen sein soll, stammt von Dorn (2000):<br />

Die Flutberge auf <strong>der</strong> Erde entstehen durch die Anziehungskräfte des Mondes und <strong>der</strong> Sonne und<br />

nicht, wie <strong>Galilei</strong> sagte, durch die Rotation <strong>der</strong> Erde. Die Gezeiten jedoch, also das Auf- und Ablaufen<br />

des Wassers, entstehen sehr wohl durch die Rotation <strong>der</strong> Erde, die sich unter den Flutbergen<br />

dreht. Das Umlaufen <strong>der</strong> Flutberge ist ein Argument für die sich drehende Erde. Substantiell war<br />

sein Gezeitenargument falsch, die Idee jedoch, die Gezeiten in Beziehung zur Rotation <strong>der</strong> Erde zu<br />

setzen, war richtig. (S. 58)<br />

Was auch immer in <strong>Galilei</strong>s Theorie aus heutiger Sicht richtig gewesen sein mag, es<br />

waren unbegründete Zufallstreffer, die mit “Einsicht” in die wahren Ursachen etwa so viel<br />

zu tun haben, wie wenn jemand aus irgendwelchen Gründen behauptet, im Sternbild Waage<br />

befinde sich ein Planet mit fremden Lebewesen und es stellt sich in ferner Zukunft heraus,<br />

dass er zufällig recht hatte; aber Hauptsache, er hatte recht. Der Unterschied, dass bei<br />

<strong>Galilei</strong> die Erdbewegung die primäre Ursache war und in <strong>der</strong> aktuellen Theorie nur eine<br />

sekundäre, spielt offenbar keine Rolle. Fölsing (1996) bezeichnet diese Wirkung <strong>der</strong> Erdbewegung<br />

auf das Wasser als „<strong>Galilei</strong>-Effekt“, schreibt aber, dass über dessen Existenz bis<br />

heute in <strong>der</strong> Wissenschaft keine Einigkeit erreicht worden sei und dass er nur eine Min<strong>der</strong>heitenposition<br />

darstelle, <strong>der</strong> er sich natürlich anschliesst und aber sogleich einräumt: „nur<br />

sind seine Auswirkungen viel zu gering, als dass sie sich bei den Gezeiten <strong>der</strong> Meere bemerkbar<br />

machen könnten“ (S. 381).<br />

Die Gezeitentheorie konnte sich also bereits zu ihrer Zeit nicht durchsetzen und erweckte<br />

selbst bei Freunden von <strong>Galilei</strong> Zweifel an ihrer Richtigkeit; und sie wird auch<br />

nicht besser dadurch, dass dreihun<strong>der</strong>t Jahre später einige <strong>Galilei</strong>-Hagiographen versuchen,<br />

in <strong>der</strong> Theorie irgendwo eine wahre Aussage zu finden.<br />

4.3 Bewertung von <strong>Galilei</strong>s methodischem Vorgehen<br />

Wie ist nun <strong>Galilei</strong>s Argumentationsstruktur zu beurteilen? Als erstes kann zu <strong>Galilei</strong>s<br />

Gunsten festgehalten werden, dass <strong>der</strong> Aufbau seines Arguments formal korrekt ist.<br />

Ausgehend von seinen Annahmen, hat <strong>Galilei</strong> korrekt argumentiert. Setzt man die regelmässig<br />

ungleichförmige Bewegung des Wasserbeckens sowohl als hinreichende wie auch<br />

als notwendige Bedingung voraus, wie <strong>Galilei</strong> das getan hat, so bleibt logisch gesehen,<br />

nichts an<strong>der</strong>es übrig, als den Becken <strong>der</strong> Meere und damit letztlich <strong>der</strong> Erde eine regelmässig<br />

ungleichförmige Bewegung zuzuschreiben. Und kann man eine solche nirgendwo an<strong>der</strong>s<br />

finden als in <strong>der</strong> Theorie des Kopernikus, ist das eine gewaltige Stütze für diese Theorie.<br />

Wir können also vom rein formalen Standpunkt aus <strong>Galilei</strong> ein Kränzchen winden und<br />

ihm mehr o<strong>der</strong> weniger ein logisch korrektes Vorgehen attestieren. Mit denselben gesetzten<br />

Prämissen, kämen wir auch heute noch zu den selben Schlussfolgerungen. Der Pferdefuss<br />

<strong>der</strong> <strong>Galilei</strong>schen Gezeitentheorie liegt also nicht in <strong>der</strong> verwendeten Logik o<strong>der</strong> in<br />

falschen Schlüssen. Wir müssen uns also seinen Prämissen, seinen Annahmen zuwenden.<br />

4.3.1 <strong>Galilei</strong>s falsche empirische Evidenz<br />

Beginnen wir mit Annahme 1, <strong>der</strong> empirischen Evidenz. <strong>Galilei</strong>s Absicht ist es, ein<br />

Phänomen zu erklären, das Phänomen <strong>der</strong> Gezeiten. <strong>Galilei</strong> liefert uns eine ganz bestimmte<br />

Beschreibung dieses Phänomens. Die Tiden bestehen nach <strong>Galilei</strong> darin, dass das Wasser<br />

81


in einem Meeresbecken sich hin- und herbewegt und dabei abwechslungsweise an einem<br />

Ende ansteigt und am an<strong>der</strong>en Ende fällt. Dieses Steigen und Fallen des Wasserstandes<br />

zeigt sich nach <strong>Galilei</strong> beson<strong>der</strong>s in ost-westlicher Richtung. In <strong>der</strong> Mitte des Gefässes<br />

findet kein Steigen und Fallen des Wassers statt, dafür erkennt man dort am stärksten das<br />

Hin- und herfliessen desselben. So lautet die Beschreibung <strong>der</strong> empirischen Evidenz gemäss<br />

<strong>Galilei</strong>. Diese Beschreibung lässt aber Zweifel an ihrer Adäquatheit aufkommen. Und<br />

tatsächlich stellen wir bei näherem Hinsehen fest: sie ist falsch. Das ist ein schwerer Vorwurf,<br />

den es zu belegen gilt.<br />

Das Phänomen <strong>der</strong> Gezeiten besteht nicht in erster Linie darin, dass die Wassermassen<br />

in einem Meeresbecken abwechslungsweise zwischen dem westlichen und östlichen<br />

Ende hin- und herfliessen. Das Grundphänomen <strong>der</strong> Gezeiten besteht sehr vereinfacht<br />

gesagt, in <strong>der</strong> Entstehung von zwei Flutbergen <strong>–</strong> einer auf <strong>der</strong> dem Mond zugewandten<br />

Seite <strong>der</strong> Erde und einer auf <strong>der</strong> dem Mond abgewandten Seite, welche <strong>–</strong> dem Mond folgend<br />

<strong>–</strong> in ca. 29,5 Tagen um die Erde wan<strong>der</strong>n, und nicht im Hin- und Herströmen durch<br />

das gesamte Becken; siehe dazu Kumm (1992). 53 Dies ist die Betrachtung für eine vollständig<br />

mit Wasser bedeckte Erde. Nun müssen natürlich die verschiedenen Küsten <strong>der</strong><br />

Erde als störende Einflüsse mitberücksichtigt werden. In Tat und Wahrheit sind denn die<br />

Gezeitenphänomene auch viel komplizierter. 54 Es stimmt zwar, dass <strong>der</strong> Tidenhub an den<br />

Küsten stärker auftritt als auf offener See und es gibt auch Fälle, wo <strong>der</strong> Wasserstand an<br />

den gegenüberliegenden Beckenenden unterschiedlich hoch ist, aber das ist nicht die Folge<br />

einer Hin-und-her-Bewegung, son<strong>der</strong>n die Folge des wan<strong>der</strong>nden Flutberges und <strong>der</strong> von<br />

diesem erzeugten Wasserströme. Das Wasser steigt bei grossen Meeren <strong>–</strong> bei Nebenmeeren<br />

wie <strong>der</strong> Nordsee herrschen an<strong>der</strong>e Verhältnisse <strong>–</strong> in <strong>der</strong> Regel auch in <strong>der</strong> Mitte des<br />

Meeresbeckens an und das Hochwasser ist oft an allen Küsten eines Beckens zu finden.<br />

Wäre die Erde vollständig mit Wasser bedeckt, ergäbe sich eine Höhenvariation von etwa<br />

50 Zentimetern. Der Flutberg kann aber in Folge von Wellenknoten auch kleiner ausfallen.<br />

Das Hochwasser an <strong>der</strong> Küste entsteht denn auch nicht, weil zusätzliches Wasser von einer<br />

an<strong>der</strong>en Küste dorthin fliesst, wie in Modell von <strong>Galilei</strong>, son<strong>der</strong>n es ist im Grunde ein kleines<br />

Tsunami-Phänomen. 55 Die effektive Höhe des Wasserstandes an <strong>der</strong> Küste hängt stark<br />

vom Küstenverlauf ab; an einer trichterförmigen Steilküste, wo das Wasser nicht mehr<br />

weiter weichen kann ist er höher als an einer flachen Küste, wo das Wasser weiter weichen<br />

kann. Auch <strong>der</strong> Gezeitenfluss ist meist gerade umgekehrt als <strong>Galilei</strong> angenommen hat. Die<br />

Geschwindigkeit <strong>der</strong> Gezeitenströme kann in Küstennähe sehr gross sein. „Fern von den<br />

Küsten, im offenen Ozean bei grösseren Wassertiefen wird <strong>der</strong> Gezeitenstrom schwach<br />

und kaum wahrnehmbar“ (Defant, 1953, S. 7). <strong>Galilei</strong> hat sich durch seine Analogien mit<br />

dem künstlichen Wasserbehälter und <strong>der</strong> Barke wahrscheinlich selbst getäuscht. Ein realistisches<br />

Modell für Tidenbewegungen waren sie jedenfalls nicht. 56 Die Annahme 1 ist daher<br />

53 Das ist die Situation ohne die Betrachtung <strong>der</strong> Erdrotation. Durch die Rotation dreht sich die Erde quasi<br />

unter den Flutbergen weg. Ein Beobachter auf einer kleinen Insel im Meer wird daher in 24 Stunden zweimal<br />

Hoch- und zweimal Niedrigwasser beobachten.<br />

54 Für eine genauere Beschreibung <strong>der</strong> Gezeitenphänomene siehe z. B. Defant (1953). Breitere Informationen<br />

zum Phänomen <strong>der</strong> Gezeiten bietet Wilhelmsen (2007).<br />

55 Der Anstieg <strong>der</strong> Flutwelle bei einem Tsunami hat damit zu tun, dass sich die Wellengeschwindigkeit mit<br />

zunehmend seichterer Wassertiefe verlangsamt und sich dadurch höher aufschichtet. Je seichter das Wasser,<br />

desto langsamer die Welle (v = Wurzel aus gh). Entsteht <strong>der</strong> Flutberg auf dem Meer, fliesst das Wasser in<br />

Richtung Küste und steigt dort an.<br />

56 Francis Bacon hat in diesem Punkt klarer gesehen als <strong>Galilei</strong>. In seinem Buch Das neue Organon (1962, S.<br />

219-222; erste Auflage 1620) diskutiert er die Frage, ob die Gezeiten durch ein Hin-und-herfliessen o<strong>der</strong><br />

durch eine Hebung und Senkung des Wassers entstehen. Dabei gibt er Anweisungen, was zur Beantwortung<br />

dieser Frage überprüft werden müsste; er beschreibt also die Durchführung eines experimentum crucis zur<br />

Entscheidung zwischen diesem beiden Hypothesen.<br />

82


falsch. Die stehenden Wellen, die <strong>Galilei</strong> in seiner Analogie beschreibt, können jedoch in<br />

langen schmalen, beidseitig abgeschlossenen Gewässern auftreten. Diese werden von <strong>der</strong><br />

Fachwelt als Seiches bezeichnet und können sogar recht ausgeprägt sein, so misst man z.<br />

B. am Westufer des Genfersees eine Höhe dieser Seiches von 1,5 m. Ihre Ursachen sind<br />

allerdings nicht die gezeitenerzeugenden Kräfte, son<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>e Ursachen wie (Sturm)-<br />

Winde, Erdbeben o<strong>der</strong> Tsunamis. 57 Wie<strong>der</strong>um an<strong>der</strong>s als <strong>Galilei</strong> meinte, wirken die gezeitenerzeugenden<br />

Kräfte auch auf Binnengewässer und „so hat je<strong>der</strong> See jedes kleinere Meeresbecken<br />

seine eigenen Gezeiten“ (Defant 1953, S. 61). Handelt es sich bei solchen Gewässern<br />

um langgezogene schmale Seen, können dort die von <strong>Galilei</strong> beschriebenen stehenden<br />

Wellen entstehen, „aber im allgemeinen sind diese Gezeiten abgeschlossener Wasserbecken<br />

wegen <strong>der</strong> kleineren Dimension <strong>der</strong>selben recht klein und lassen sich nur durch<br />

beson<strong>der</strong>e Untersuchungen nachweisen“ (S. 62). Im Genfersee entsteht durch diese Kräfte<br />

ein Springtidenhub von ca. 0,2 cm und im ungarischen Plattensee einer von ca. 6 cm.<br />

Man kann mit Sicherheit annehmen, dass <strong>Galilei</strong> selbst keine grosse Ahnung hatte<br />

von <strong>der</strong> Evidenz, von dem zu erklärenden Phänomen <strong>–</strong> also von den Gezeiten. Das hatte<br />

wahrscheinlich auch damit zu tun, dass das Meer, das <strong>Galilei</strong> am besten kannte <strong>–</strong> das Mittelmeer<br />

<strong>–</strong>, nur schwach ausgeprägte Gezeiten hat: „Wegen <strong>der</strong> sehr schmalen Verbindung<br />

des Mittelmeeres mit dem Atlantik über die Strasse von Gibraltar treten im Mittelmeer nur<br />

relativ kleine Tidenhübe auf, und das auch nur im westlichen Teil“ (Kumm 1992, S. 45).<br />

Das belegt auch die Stelle im Dialog, wo <strong>Galilei</strong> schreibt, dass die sechsstündige Gezeitenperiode<br />

im Mittelmeer keine natürliche, son<strong>der</strong>n nur eine zufällige, eine von vielen an<strong>der</strong>en<br />

Perioden sei. Es sei nur „die am häufigsten beobachtete, weil sie in unserem mittelländischen<br />

Meere herrschend ist und dieses allein während langer Zeiträume befahren<br />

wurde“ (S. 453/141). Diese Aussage weist auf eine weitgehende Unkenntnis <strong>der</strong> weltweiten<br />

Gezeitenphänomene. Aber selbst die Gezeitenerscheinungen des Mittelmeeres kannte<br />

er wohl nicht allzu gut. Insbeson<strong>der</strong>e war ihm wohl auch <strong>der</strong> Unterschied zwischen den<br />

Gezeiten <strong>der</strong> Weltmeere und des Mittelmeeres nicht bekannt und daher auch nicht die<br />

Problematik, das Gezeitenphänomen im Grunde an einem nicht repräsentativen Beispiel zu<br />

behandeln. <strong>Galilei</strong> gibt seine Unkenntnis im Dialog auch unumwunden zu:<br />

Vor allem aber müssen wir daher die Wirkungen kennen lernen, <strong>der</strong>en Ursachen wir suchen. Ihr,<br />

Signore Sagredo, wisst darüber jedenfalls besser und zuverlässiger Bescheid als ich; denn nicht nur<br />

habt Ihr lange in Euerer Vaterstadt Venedig gelebt, wo die Gezeiten ihrer Grösse wegen sehr merklich<br />

sind, son<strong>der</strong>n seid auch nach Syrien gekommen und regen, wissbegierigen Geistes, wie Ihr seid,<br />

habt Ihr sicherlich vielfache Beobachtungen angestellt. Ich hingegen habe nur kurze Zeit hier am<br />

äussersten Ende das adriatischen Meeres und ausserdem in meiner Heimat an den Küsten des Tyrrhenischen<br />

die Fluterscheinungen beobachten können, in vielen an<strong>der</strong>en Dingen muss ich mich auf<br />

fremde Berichte beziehen. Diese stimmen grösstenteils schlecht überein, sind also sehr unzuverlässig<br />

und können daher in unsere Beobachtungen eher Verworrenheit bringen als ihnen zur Bestätigung<br />

dienen. (S. 436/115)<br />

Das kann man wohl als Bestätigung <strong>der</strong> Vermutung ansehen, dass <strong>Galilei</strong> selbst mit<br />

dem Phänomen <strong>der</strong> Gezeiten nicht näher vertraut war. Selbst das Faktum, in Venedig zu<br />

wohnen und nach Syrien gereist zu sein wie im Falle seines Freundes Sagredo, kann doch<br />

kaum für eine grosse Kenntnis des Phänomens bürgen; und <strong>Galilei</strong> kann nicht mal das<br />

vorweisen. Und auch die Informationen, die er aus zweiter Hand hatte, waren wohl nicht<br />

sehr zuverlässig. Hierzu zählt vermutlich seine Aussage, dass das Rote Meer, „obgleich<br />

von bedeuten<strong>der</strong> Länge, dennoch fast ganz <strong>der</strong> Ebbe und Flut entbehrt“ (S. 453/141). In<br />

Tat und Wahrheit beträgt <strong>der</strong> Tidenhub im Roten Meer immerhin bis zu 2 m. Wir kommen<br />

daher zum Schluss, dass <strong>Galilei</strong> im Grunde nicht wusste, worin genau das Phänomen <strong>der</strong><br />

57 Über Seiches siehe Kurzinformationen mit weiterführen<strong>der</strong> Literatur auf http://de.wikipedia.ort/wiki/seiche<br />

o<strong>der</strong> http://en.wikipedia.org/wiki/Seiche.<br />

83


Gezeiten besteht. Wie wenig <strong>Galilei</strong> z. B. mit den Strömungsverhältnissen im Mittelmeer<br />

vertraut war, zeigt die Stelle, wo er schreibt, „dass die gesamte Wassermasse des mittelländischen<br />

Meeres beständig nach <strong>der</strong> Strasse von Gibraltar hinströmt, da hier das Wasser<br />

so vieler einmündenden Flüsse in den Ozean abgeführt werden muss“ (S. 461/154). In Tat<br />

und Wahrheit verhält es sich gerade umgekehrt; die Verdunstung im Mittelmeer ist <strong>der</strong>art<br />

ausgeprägt, dass sein Meeresspiegel tiefer liegt als <strong>der</strong> des Atlantiks und von dort ständig<br />

Wasser in das Mittelmeer fliesst. 58<br />

Der Gerechtigkeit halber soll erwähnt werden, dass das Gesagte auch für an<strong>der</strong>e<br />

Autoren zutrifft, die sich mit dem Phänomen befasst haben. Die Gezeitenphänomene sind<br />

einfach zu komplex und zu vielfältig, als dass man damals bereits eine realistische Beschreibung<br />

davon hätte besitzen können. Das Phänomen <strong>der</strong> Gezeiten war einfach deskriptiv<br />

noch zu wenig verstanden. 59 Das Scheitern einer jeglichen Gezeitentheorie war für <strong>Galilei</strong>s<br />

Zeit wohl von vorneherein programmiert. Seine Annahme 1 konnte zwangläufig nur<br />

falsch sein.<br />

Das hat nun aber vernichtende Auswirkungen auf seinen dritten Schluss, die Aussage<br />

über die hinreichende Bedingungen (HB) für Tidenbewegungen, die er aus <strong>der</strong> Analogie<br />

mit dem regelmässig ungleichförmig bewegten Gefäss gezogen hat. Wenn die Wasserbewegungen<br />

im Behälter gar keine Tidenbewegungen sind, wird <strong>der</strong> Schluss auf (HB)<br />

für die tatsächliche Bewegung des Wassers hinfällig. Er hat zwar schon eine kausale Relevanz<br />

nachgewiesen, aber nicht für Tidenbewegungen, son<strong>der</strong>n einfach für Hin-und-her-<br />

Bewegungen von Wasser im einem Becken, o<strong>der</strong> genauer gesagt, für stehende Wellen.<br />

<strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie ist daher gar keine Gezeitentheorie, sie erklärt etwas an<strong>der</strong>es, nur<br />

nicht die Gezeiten. Wenn <strong>der</strong> Fall aber so liegt, also die empirische Evidenz bereits falsch<br />

ist, ist das Scheitern <strong>der</strong> Theorie schon vorbestimmt. Eine Theorie, die erklärt, warum<br />

Elephanten fliegen, ist selbst dann falsch, wenn sie brillant erscheint. 60 Sein dritter Schluss<br />

ist zwar formal korrekt, aber wegen <strong>der</strong> falschen empirischen Evidenz irrelevant zur Erklärung<br />

<strong>der</strong> Gezeiten.<br />

Trotz dem Eingeständnis <strong>der</strong> beschränkten Kenntnis des Phänomens ist <strong>Galilei</strong> unbeirrt:<br />

Er gibt zwar zu, dass er gewiss nicht das letzte Wort hat in Bezug auf die Erklärung<br />

<strong>der</strong> Gezeiten und an<strong>der</strong>e nach ihm die Theorie weiterentwickeln werden, und verrät den<br />

Grund seiner Sicherheit:<br />

Gleichwohl glaube ich, von den verbürgten und zugleich wichtigsten Thatsachen ausgehend, die<br />

wahren, ursprünglichen Ursachen auffinden zu können, ohne dass ich mir jedoch anmasse alle<br />

58 In Meyers Kontinente und Meere (1973) steht zum Mittelmeer zu lesen: „Im Mittel beträgt für das Mitteländ.<br />

Meer ohne das Schwarze Meer die Verdunstung 1,3 m und <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlag 0,35 m Wassersäule/Jahr.<br />

Die Süsswasserzufuhr erfolgt vor allem von <strong>der</strong> N-Seite des Mittelländ. Meeres, im Süden nur durch den Nil<br />

und entspricht 0,2 m Wassersäule/Jahr. Der Verlust durch Verdunstung überwiegt also den Gewinn durch<br />

Nie<strong>der</strong>schlag und Süsswasserzufuhr. Ein Ausgleich des so entstehenden Defizits erfolgt durch Zustrom von<br />

Wasser aus dem Atlantik durch die Strasse von Gibraltar“ (S. 447).<br />

59 Auch die Berechnung und die Prognose <strong>der</strong> Gezeiten ist keine einfache Sache. Die erste befriedigende<br />

Berechnung aller weltweiten Gezeitenerscheinungen ist denn auch erst 1978 gelungen.<br />

60 Fatal können sich solche falschen empirischen Evidenzen dann auswirken, wenn sie mit <strong>der</strong> korrekten<br />

Theorie konfrontiert werden. So hätte vermutlich <strong>Galilei</strong> auch mit <strong>der</strong> Gravitationstheorie von Newton die<br />

Gezeiten nicht erklären können; die falsche empirische Evidenz wäre mit <strong>der</strong> Theorie inkongruent gewesen.<br />

Eine solche Situation ist natürlich hypothetisch, denn ohne die korrekte Beschreibung <strong>der</strong> Verhältnisse im<br />

Sonnensystem wäre es wohl kaum zur Entstehung <strong>der</strong> Gravitationstheorie gekommen. Eine persönliche Anmerkung<br />

sei an dieser Stelle erlaubt. Das Beispiel <strong>der</strong> Gezeitentheorie von <strong>Galilei</strong> zeigt sehr schön einen <strong>der</strong><br />

grössten Irrtümer <strong>der</strong> Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts: die immer wie<strong>der</strong> vorgetragene Behauptung,<br />

dass Wissenschaft mit einer Theorie beginne. <strong>Galilei</strong>s Beispiel zeigt eindrücklich, wie Theorien ohne<br />

vorangehende ausführliche Beschreibung des zu erklärenden Phänomens in die Irre gehen können.<br />

84


Gründe bis ins einzelne hinein beibringen zu können, so dass damit eine vollkommene Erklärung<br />

mir unbekannter und daher noch nicht von mir geprüfter Thatsachen gegeben wäre. Was ich zu sagen<br />

gedenke, möchte ich nur als den Schlüssel betrachtet wissen, <strong>der</strong> das Zugangstor einer noch<br />

niemals betretenen Strasse erschliesst; ich lebe <strong>der</strong> zuversichtlichen Hoffnung, dass Männer von tiefer<br />

eindringendem Geiste als ich sehr viel weiter fortschreiten und vorwärts gelangen, als es mir bei<br />

dieser ersten Entdeckungsreise gelungen ist. Und wenn auch vielleicht in an<strong>der</strong>en fernen Meeren Erscheinungen<br />

auftreten, wie sie in unserem mittelländischen Meere nicht vorkommen, so werden darum<br />

die von mir angeführten Gründe und Ursachen nicht min<strong>der</strong> richtig sein, da schliesslich doch die<br />

wahre und ursprüngliche Ursache gleichartiger Wirkungen eine einheitliche sein muss [im Original<br />

nicht kursiv]. (S. 436f./115f.)<br />

4.3.2 <strong>Galilei</strong>s falsches „Kausalgesetz“<br />

In <strong>der</strong> kursiv gesetzten Stelle des Zitates sehe ich den Schlüssel zum Verständnis<br />

von <strong>Galilei</strong>s methodischem Scheitern an <strong>der</strong> Gezeitentheorie. Dieser Satz ist meiner Meinung<br />

nach die Erklärung für <strong>Galilei</strong>s falsche Behauptung, nur die Erdbewegung könne die<br />

Tiden erzeugen. Der Satz drückt ein falsches Kausalgesetz <strong>der</strong> Form „Gleiche Wirkung,<br />

gleiche Ursache“ aus. Einige Seiten weiter wie<strong>der</strong>holt <strong>Galilei</strong> dieses Prinzip, diesmal indem<br />

er es dem Simplicio in den Mund legt, <strong>der</strong> zeigen will, dass er es begriffen hat:<br />

Was die zahlreichen Ansichten über die Ursachen von Ebbe und Flut betrifft, so weiss ich recht<br />

wohl und bin vollkommen überzeugt, dass zu einer und <strong>der</strong>selben Wirkung nur eine ursprüngliche<br />

und wahrhafte Ursache gehören kann, dass also höchstens eine jener Ursachen die wahre sein kann,<br />

alle übrigen Erdichtungen und Irrtümer sein müssen. (S. 440/120f.)<br />

An einer dritten Stelle am vierten Tag des Dialogs kommt Salviati (<strong>Galilei</strong>) noch<br />

einmal auf dieses eigenartige Kausalgesetz zu sprachen:<br />

Inzwischen sage Ich: wenn wirklich einer Wirkung nur eine ursprüngliche Ursache entspricht, wenn<br />

wirklich zwischen Ursache und Wirkung eine feste, beständige Verknüpfung besteht, so muss auch<br />

je<strong>der</strong> festen, beständigen Abän<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Wirkung, die man wahrnimmt, eine feste beständige<br />

Abän<strong>der</strong>ung auf seiten <strong>der</strong> Ursache entsprechen. (S. 465f.)<br />

Wenn dem so wäre, so könnte man immer von <strong>der</strong> Wirkung auf die Ursache<br />

schliessen. Ein Arzt könnte dann z. B. vom Beinbruch immer auf die Ursache, etwa Skiunfall,<br />

schliessen. Das ist natürlich nicht möglich, weil eine Wirkung unterschiedliche Ursachen<br />

haben kann. So muss etwa ein Sonnenbrand nicht von <strong>der</strong> Sonne stammen, er kann<br />

auch im Solarium entstanden sein. Natürlich ist dieses Prinzip sehr oft eine hilfreiche Heuristik;<br />

so wird <strong>der</strong> Arzt die Ursache des Beinbruchs sicher nicht bei <strong>der</strong> Sonne o<strong>der</strong> beim<br />

Solarium suchen, und es scheint plausibel, wenn <strong>Galilei</strong> von <strong>der</strong> Aufgabe spricht, eine sekundäre<br />

„Ursache zu suchen dafür, dass Ebbe und Flut zu verschiedenen Zeiten verschiedene<br />

Grösse besitzen“ (S. 466), nur kann man sich nicht immer auf diese Heuristik verlassen.<br />

Aber von diesem falschen Kausalgesetz aus wird <strong>Galilei</strong>s ganze Argumentation verständlich.<br />

Setzt man dieses Gesetz als Prämisse voraus und stellt man dazu <strong>Galilei</strong>s vermeintlichen<br />

Relevanznachweis, dass regelmässige ungleichförmige Bewegung eines Wasserbeckens<br />

Tidenbewegungen erzeugen kann, so ist <strong>der</strong> Schluss korrekt, dass die Gezeiten<br />

nur von einer solchen ungleichförmigen Bewegung erzeugt werden können; <strong>der</strong> Ausschluss<br />

an<strong>der</strong>er Erklärungen ist dann nur noch eine logische Sache <strong>–</strong> und <strong>Galilei</strong> hätte nicht<br />

mal mehr die an<strong>der</strong>en Erklärungsansätze wi<strong>der</strong>legen müssen.<br />

Eine spezielle Arbeit über <strong>Galilei</strong>s Vorstellungen über Kausalität ist mir nicht bekannt.<br />

Man trifft aber unterschiedliche Äusserungen dazu an. Vom Lob, dass <strong>Galilei</strong> die<br />

Suche nach Ursachen zu Gunsten von Beschreibungen aufgegeben habe, bis zur Aussage,<br />

85


es sei <strong>Galilei</strong> sehr wohl um die Ursachen gegangen, erstrecken sich die Meinungen auch in<br />

diesem Punkt über ein breites Spektrum. Stillman Drake (1978) z. B. gehört zu denjenigen,<br />

die glauben, dass <strong>Galilei</strong> mit <strong>der</strong> Kausalität nichts am Hut haben wollte. Im bereits erwähnten<br />

Manuskript von <strong>Galilei</strong> aus dem Jahre 1602 sei <strong>Galilei</strong>s Beschreibung <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

„purely descriptive and quantitaive, not explanatory, qualitative, and causal“ (S. 103).<br />

Drake spricht beim Beispiel <strong>der</strong> Fallbeschleunigung von „<strong>Galileo</strong>’s dismissing from science<br />

any ‚philosophical’ quest for a cause” (S. 106). <strong>Galilei</strong> <strong>–</strong> so Drake (1999) <strong>–</strong> setzte „an<br />

die Stelle des althergebrachten Suchens nach Ursachen das mo<strong>der</strong>ne Suchen nach physikalischen<br />

Gesetzen“ (S. 61). Ebenso schreibt Ernst Mach (1988) über <strong>Galilei</strong>: „In <strong>der</strong> reifern,<br />

fruchtbareren Zeit seines Paduaner Aufenthalts lässt <strong>Galilei</strong> die Frage nach dem ‚warum’<br />

fallen und fragt lieber nach dem ‚wie’ <strong>der</strong> mannigfaltigen Bewegung“ (S. 147). An<strong>der</strong>e<br />

Autoren dagegen sehen durchaus kausales Denken bei <strong>Galilei</strong>. Nach Mertz (1982) hat <strong>Galilei</strong><br />

ein Eins-zu-eins-Prinzip <strong>der</strong> Kausalität vertreten, welches erlaube, von einem (dem<br />

selben) Effekt immer auf die eine (die selbe) Ursache zu schliessen. Er nennt das “Räsonieren<br />

per ex suppositione“:<br />

The rigid one-to-one connection between a cause and its effect makes it possible to infer from an altered<br />

effect the necessity of an altered cause, and hence is the basis of the method of concomitant<br />

variation. Correspondingly, it follows that to know by a reliable physico-mathematical method<br />

(e.g. causal proportionality), that, on the supposition of D and C, a primary causal relation can be<br />

proven to exist between them, then the existence of one, e.g. C (the tides), necessarily implies the<br />

existence of the other, D (Copernican motion). (S. 121)<br />

Mertz scheint also das falsche kausale Denken von <strong>Galilei</strong> erkannt zu haben, zieht<br />

aber nicht konsequent den Schluss auf einen methodischen Fehler. Während Drake <strong>der</strong><br />

Meinung ist, <strong>Galilei</strong> habe das aristotelische Suchen nach Ursachen vollständig aufgegeben,<br />

schreibt Martha Fehér (1982), dass <strong>Galilei</strong> sein Leben lang eine bestimmte aristotelische<br />

Sicht <strong>–</strong> den sogenannten Paduaner Averroismus <strong>–</strong> beibehalten habe, in welchem die Suche<br />

nach Ursachen sehr wohl eine Rolle spiele und sich bei <strong>Galilei</strong> in <strong>der</strong> Suche nach Erklärung<br />

äussere. Ähnlich aber dezidierter äussert sich Wallace (1985). Für ihn besteht kein<br />

Zweifel, dass für <strong>Galilei</strong> Wissenschaft in <strong>der</strong> Suche nach Ursachen bestand und er immer<br />

nach kausalen Argumenten gesucht hat. Anhand dreier Manuskripte aus <strong>der</strong> Pisaner Zeit<br />

glaubt Wallace zeigen zu können, dass <strong>Galilei</strong> viel tiefer in <strong>der</strong> aristotelischen Tradition<br />

<strong>der</strong> Suche nach Ursachen verhaftet war, als man bisher angenommen hat. „Science consists“<br />

für <strong>Galilei</strong> „in knowledge of the cause that makes a thing be what it is; obviously<br />

knowledge that is had through a cause is better than that which is not” (S. 26). Die klassische<br />

Philosophie habe eine breite Palette von Ursachen geboten und „it is not surprising<br />

that <strong>Galileo</strong> makes constant use of it throughout his scientific writings“ (S. 27). Zu dieser<br />

breiten Palette von Ursachen gehören nach Wallace unter an<strong>der</strong>em spezielle, allgemeine,<br />

positive und Einzelursachen; aber so Wallace „All of these are equivalent to saying that<br />

similar effects must have similar causes“ (S. 26), womit wir wie<strong>der</strong> bei <strong>Galilei</strong>s eigenartigem<br />

Kausalgesetz, dem wir im Dialog begegnet sind, angekommen wären.<br />

Eine spezielle Sicht zu diesem Thema vertritt Isabelle Stengers (1998). Sie spricht<br />

von kausaler Messung, die sie als das Kennzeichen von <strong>Galilei</strong>s rationaler Mechanik sieht.<br />

Stengers bezeichnet diese Art von Messung als „kausal“,<br />

weil sie diejenige Eigenschaft charakterisiert, die ein Körper durch die Wirkung gewonnen hat, zu<br />

<strong>der</strong> sie ihn befähigt; weil sie das, dessen Grösse zu bestimmen ist, in die Ursache einer Wirkung<br />

verwandelt, die sie zu bestimmen erlaubt. (S. 429)<br />

Das ist wohl so zu verstehen, dass die Messung eines Faktors A, welcher kausal relevant<br />

für einen Faktor B ist, für die Charakterisierung (Definition?) von B verwendet<br />

wird: „Die Messung <strong>der</strong> Ursache durch die Wirkung garantiert also, dass Ursachen und<br />

86


Wirkungen vollständig definiert werden“ (S. 436). Eine solche Messung habe <strong>Galilei</strong> bei<br />

seinen Fallversuchen vorgenommen zur Bestimmung <strong>der</strong> Momentangeschwindigkeit. Diese<br />

<strong>–</strong> so Stengers <strong>–</strong> stehe in Ursache-Wirkungsverhältnissen: „Was also den Momentangeschwindigkeiten<br />

als Grössen, die ebenso strikt kontinuierlich wachsen wie die Zeit o<strong>der</strong> die<br />

Höhe, Plausibilität verleiht, ist die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung“ (S. 431).<br />

Mit einer solchen Messung habe <strong>Galilei</strong> die eindeutige Beziehung zwischen Fallhöhe und<br />

Endgeschwindigkeit gerechtfertigt. Das habe er nicht mehr durch eine Charakterisierung<br />

<strong>der</strong> Bewegung durch Weg und Zeit getan,<br />

son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> Charakterisierung einer Momentangeschwindigkeit durch das, wozu sie den Körper<br />

in diesem Moment befähigt, das heisst, mit dem, was ich als kausale Messung bezeichnet habe, bei<br />

<strong>der</strong> eine Gleichheit unterstellt wird zwischen <strong>der</strong> zu messenden Ursache und <strong>der</strong> Wirkung, die sie zu<br />

messen erlaubt. (S. 432)<br />

Es möge sein, dass <strong>Galilei</strong> den aristotelischen Kosmos zerstört habe; er habe jedoch<br />

einen an<strong>der</strong>en, nicht weniger rationalen Kosmos an dessen Stelle gesetzt. Dieser neue<br />

Kosmos habe dem gehorcht, was Leibniz das „Prinzip vom zureichenden Grund“ genannt<br />

habe. 61 Diese Unterordnung <strong>der</strong> Definition physikalischer Grössen unter die mathematische<br />

Gleichheit von Ursache und Wirkung definiere eine beson<strong>der</strong>e Linie <strong>der</strong> Physik, die<br />

man als „rationale Mechanik“ bezeichne. Stengers kommt daher zu folgen<strong>der</strong> wissenschaftshistorischen<br />

Einordnung von <strong>Galilei</strong>:<br />

Für mich ist <strong>Galilei</strong> nicht <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> Newton „vorbereitet“ hatte, <strong>der</strong> gleich Moses das Denken<br />

bis an die Schwelle des gelobten Landes führte, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong> rationalen Mechanik, des<br />

netzartigen Raumes, dessen Maschen durch die Gleichheit von Ursache und Wirkung verbunden<br />

werden; eines Raumes, dem im Laufe des achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts Mechaniker wie Euler,<br />

d’Alembert und Lagrange die newtonschen Kräfte unterordnen. (S. 436f.)<br />

Wir stellen auch beim Thema Kausalität wie<strong>der</strong> fest, dass sich die Wissenschaftshistoriker<br />

nicht einig sind über <strong>Galilei</strong>s Ansichten. Wie dem auch sei, jedenfalls war <strong>Galilei</strong>s<br />

Vorstellung von Kausalität <strong>–</strong> und speziell sein eigenartiges Kausalgesetz <strong>–</strong> schlicht<br />

falsch, und wenn Wallace recht hat, völlig in <strong>der</strong> alten Tradition verhaftet.<br />

Einige Autoren <strong>–</strong> z. B. auch Drake <strong>–</strong> sind also <strong>der</strong> Meinung, dass <strong>Galilei</strong> sich von<br />

<strong>der</strong> (aristotelischen) Suche nach den Ursachen befreit habe und haben darin einen methodischen<br />

Fortschritt gesehen. Wir haben gesehen, dass die Meinungen über <strong>Galilei</strong>s Haltung<br />

zu kausalen Aussagen geteilt sind. Wie dem auch sei; unklar bleibt allerdings, was daran<br />

positiv o<strong>der</strong> fortschrittlich gewesen sein soll. Descartes jedenfalls hat <strong>Galilei</strong> dafür kritisiert.<br />

In dessen Augen waren „die Sätze <strong>Galilei</strong>s <strong>–</strong> weil er die Verursachung bewusst beiseite<br />

gelassen hatte <strong>–</strong> unweigerlich unvollständig und ungenau“ (Hall 1963, S. 138). Die<br />

Suche nach Ursachen ist ein legitimes wissenschaftliches Unterfangen, was daran lobenswert<br />

sein soll, es nicht zu tun, ist schleierhaft.<br />

<strong>Galilei</strong>s falsche Vorstellungen über Kausalität haben wahrscheinlich damit zu tun,<br />

dass auch die philosophische Reflexion zum Thema zu seiner Zeit nicht sehr elaboriert<br />

war. Es fand sich zu seiner Zeit dazu nichts als die aristotelischen Vorstellungen von den<br />

vier Ursachentypen und allenfalls Ergänzungen von zeitgenössischen Aristotelikern. Nach<br />

Scheibe (1976) waren die philosophischen Kausaltheorien des 17. Jh. trotz des Aufstrebens<br />

<strong>der</strong> neuen Physik „noch stark theologisch ausgerichtet, und es kam zu einer gewissen<br />

61 Das Prinzip von zureichenden Grund sagt, dass jedes Ereignis eine Ursache o<strong>der</strong> einen Grund hat, <strong>der</strong> das<br />

Eintreffen des Ereignisses zureichend erklärt. Die oft gehörte Formuliering „Jede Wirkung hat eine Ursache“<br />

ist allerdings eine Tautologie, denn im Wort „Wirkung“ ist schon enthalten, dass sie verursacht worden ist.<br />

87


Überbeanspruchung kausaler Begrifflichkeit durch die gleichzeitige Verwendung in beiden<br />

Bereichen“ (S. 790). Erst in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 18. Jh. habe die Tendenz überwogen,<br />

Kausalität dort zu suchen, wo Naturgesetzlichkeit sei. Erst mit David Hume (1711-1776)<br />

beginne die Einengung des Ursachenbegriffs auf Entitäten mit Ereignischarakter. Erst Hume<br />

untersuchte genauer das Kausalgesetz (Lang 1904, S. 19f.), er unterwarf als erster den<br />

Kausalbegriff einer beson<strong>der</strong>en Kritik (Titze 1964, S. 6) und vertrat eine Auffassung <strong>der</strong><br />

Kausalität, „die einen vollkommenen Bruch mit <strong>der</strong> Tradition darstellt“ (Wentscher 1921,<br />

S. 88). Auch die „schärfste und bestimmteste“ Formulierung des Kausalgesetzes findet<br />

sich gemäss Philipp Frank (1988, S. 60) erst nach <strong>Galilei</strong>s Tod, nämlich bei Pierre Simon<br />

de Laplace (1749-1827). Diese geistesgeschichtlichen Tatsachen können erklären, warum<br />

<strong>Galilei</strong> konfuse Auffassungen zur Kausalität hatte, können aber gleichzeitig auch als Bestätigung<br />

angesehen werden, dass sein methodisches Rüstzeug <strong>–</strong> zeitbedingt <strong>–</strong> dürftig war.<br />

4.3.3 Der Fehler des Ausschlusses von Alternativhypothesen<br />

<strong>Galilei</strong>s eigenartiges Kausalgesetz hatte eine verhängnisvolle Konsequenz für sein<br />

Vorgehen: Das Problem <strong>der</strong> theoretischen Unterdeterminiertheit von Daten erledigte sich<br />

so von selbst. Dieses Kausalgesetz von <strong>Galilei</strong> ist äusserst verwirrend, denn es gibt an<strong>der</strong>e<br />

Stellen, wo <strong>Galilei</strong> durchaus zu erkennen scheint, dass eine Wirkung mehrere Ursachen<br />

haben kann. So behauptet er z. B. einige Seiten weiter vorne, dass es zwei Möglichkeiten<br />

gebe, Tidenbewegungen zu erzeugen und demonstriert das am Wasserbehälter. <strong>Galilei</strong><br />

scheint sich in <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Kausalität im Ungewissen zu befinden. An<strong>der</strong>s lässt es sich<br />

aber nicht erklären, dass er so konsequent Alternativhypothesen ausschliesst. Das Problem<br />

<strong>der</strong> theoretischen Unterdeterminiertheit von Daten <strong>–</strong> also die Tatsache, dass Daten oft von<br />

mehreren Theorien erklärt werden können <strong>–</strong> war ihm offenbar zu wenig bewusst. 62 Den<br />

genau gleichen Fall findet sich dort, wo <strong>Galilei</strong> im Dialog die Venusphasen als Beweis für<br />

den Kopernikanismus anführt, und damit ausblendet, dass auch das Tychonische Weltbild<br />

die Venusphasen erklären kann. Das ist umso erstaunlicher, da er selbst im Saggiatore mit<br />

<strong>der</strong> berühmten Tonfabel 63 doch genau so argumentiert hat, und die dem Papst so gut gefallen<br />

hat, weil er darin seinen sogenannten „theologische Allmachtsvorbehalt“, erkannte, den<br />

er gegen die Gezeitentheorie vorgebracht hatte, und <strong>der</strong> doch nichts an<strong>der</strong>es war, als die<br />

These <strong>der</strong> Unterdeterminiertheit von Daten in theologischer Schreibweise. Mindestens in<br />

diesem Punkt scheint Urban VIII. <strong>der</strong> bessere Methodologe gewesen zu sein als <strong>Galilei</strong>,<br />

dessen falsche und wi<strong>der</strong>sprüchlichen Aussagen auf ein ungenügendes methodologisches<br />

Rüstzeug und auf eine Verwirrung im Umgang mit <strong>der</strong> Kausalität hinweisen. Da dank diesem<br />

falschen Kausalgesetz <strong>Galilei</strong>s Theorie zumindest logisch aufgeht, hat er sich dadurch<br />

vermutlich in falscher Sicherheit gefühlt. Hätte er nicht mit diesem Prinzip argumentiert,<br />

wäre er mit Sicherheit vorsichtiger gewesen und hätte seine Theorie als Hypothese unter<br />

an<strong>der</strong>en verstanden. Da aber logisch alles korrekt war, war er fälschlicherweise von <strong>der</strong><br />

Wahrheit seiner Theorie fest überzeugt. Zu dieser falschen Sicherheit hat vermutlich wie-<br />

62<br />

Zur theoretischen Unterbestimmtheit o<strong>der</strong> Unterdeterminiertheit von Daten siehe z. B. Carrier (2004) und<br />

Newton-Smith (2000).<br />

63<br />

Es handelt sich dabei um eine Passage, in <strong>der</strong> <strong>Galilei</strong> von einem Mann schreibt, <strong>der</strong> einen bestimmten Ton<br />

hört und dessen Ursprung zu ergründen sucht. Jedesmal wenn er glaubt, die Ursache gefunden zu haben, hört<br />

er wie<strong>der</strong> den selben Ton und erkennt, dass die Natur ihn auch noch auf an<strong>der</strong>e Weise hervorbringen kann.<br />

Nachdem er den Ton über mehrere Ursachen hinweg verfolgt hat, stösst er schliesslich auf eine Grille und<br />

meint nun, die wirkliche Ursache gefunden zu haben. Er möchte es aber genauer wissen, und entschliesst sich<br />

zu einem Experiment. Unter dem Brustpanzer <strong>der</strong> Grille entdeckt er zwei Bän<strong>der</strong>, in dessen Schwingung er<br />

die Ursache des Tones zu erkennen glaubt. Um den Ton zu unterbrechen, schneidet er diese Bän<strong>der</strong> durch,<br />

aber er verstummt nicht. Bei <strong>der</strong> weitern Suche nach <strong>der</strong> Ursache sticht er mit <strong>der</strong> Nadel zu tief in das Tier<br />

und tötet es. Nun verstummt es und die Ursache des Tones bleibt unentdeckt.<br />

88


<strong>der</strong>um seine Analogie mit dem Wasserbehälter beigetragen. Dazu musste er den Behälter<br />

nur auf einen Tisch stellen und sich (und seine Kritiker) fragen, was es dazu braucht, damit<br />

das Wasser darin Tidenbewegungen zeigt. Wer hätte da <strong>Galilei</strong> nicht zugestimmt, dass das<br />

ohne Bewegung des Beckens nicht möglich ist? Hinzu kommt, dass er zu früh glaubte, alle<br />

an<strong>der</strong>en Hypothesen wi<strong>der</strong>legt zu haben.<br />

Zu <strong>Galilei</strong>s ungenügendem methodischen Rüstzeug können bis hierher drei Bereiche<br />

festgehalten werden, wo Fehler passiert sind:<br />

1. Die Ungenauigkeit <strong>der</strong> zu erklärenden Daten: <strong>Galilei</strong> wusste nicht Bescheid über<br />

die tatsächlichen Tidenphänomene. Seine falsche Analogie mit dem Wasserbeckenmodell<br />

hat ihm vermutlich zusätzlich eine falsche Sicherheit über das Phänomen<br />

vermittelt. Dieses Modell hat ihn dann zwar zu einem korrekten aber für die<br />

Erklärung <strong>der</strong> Gezeiten irrelevanten Schluss über hinreichende Bedingungen geführt.<br />

2. Das falsche Kausalgesetz: Dieses hat zusammen mit dem irrelevanten Schluss auf<br />

hinreichende Bedingung in die Irre <strong>–</strong> und zusätzlich in <strong>Galilei</strong>s falsche Sicherheit <strong>–</strong><br />

geführt. Der Schluss auf die einzige Ursache erschien logisch.<br />

3. Der voreilige Ausschluss von Alternativerklärungen: <strong>Galilei</strong> hat zu früh und zu unrecht<br />

an<strong>der</strong>e Erklärungsansätze ausgeschlossen. Er konnte o<strong>der</strong> wollte nicht erkennen,<br />

dass es für ein Phänomen immer mehrere Erklärungen geben kann; Er war zu<br />

stark davon überzeugt, dass Tidenbewegungen keine an<strong>der</strong>e Ursache haben können<br />

als eine regelmässige ungleichförmige Bewegung und dass alle an<strong>der</strong>en Erklärungen<br />

falsch seien. Sein „Kausalgesetz“ und seine Wasserbecken-Analogie haben<br />

diese Überzeugung noch geför<strong>der</strong>t.<br />

4.3.4 Fehlende Hypothesenprüfung<br />

Einem methodisch korrekt vorgehenden Forscher wäre dieser Fehlschlag nicht passiert.<br />

Dieser hätte erkannt, dass seine Theorie auch nur eine ungeprüfte Hypothese unter<br />

möglichen an<strong>der</strong>en ist und hätte sich zudem mindestens Gedanken darüber gemacht, ob es<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Prüfung gibt. Ich bin <strong>der</strong> Meinung, dass es Möglichkeiten gegeben hätte,<br />

die Theorie zu prüfen. Ich sehe z. B. keinen Grund, wieso man aus <strong>der</strong> Theorie <strong>Galilei</strong>s,<br />

so wie sie formuliert ist, nicht erwarten sollte, dass sich in Folge <strong>der</strong> Erdbewegung auch<br />

das Wasser in kleinen Seen o<strong>der</strong> Teichen bewegt. In einem künstlich in ost-westlicher<br />

Richtung angelegten, von Windeinfluss geschützten Wassergraben von 100 o<strong>der</strong> 200 m<br />

Länge hätte sich nach <strong>Galilei</strong>s Theorie das Wasser ein wenig bewegen müssen. Vermutlich<br />

wären es schwache Bewegungen gewesen, aber wenn die von <strong>Galilei</strong> postulierte Beschleunigung<br />

<strong>der</strong> Erdoberfläche die Wassermassen in grossen Becken zu bewegen vermag, warum<br />

sollte das selbe nicht in kleinen Becken geschehen? Schon seine beiden Analogien mit<br />

dem Wasserbehälter und <strong>der</strong> Barke zeigen, dass auch in kleinen Becken und selbst bei<br />

kleinen Geschwindigkeitsän<strong>der</strong>ungen eine Bewegung ins Wasser kommt. Natürlich wären<br />

nicht so weit ausgedehnte Bewegungen möglich gewesen wie in grossen Gewässern, aber<br />

das Wasser hätte sich trotzdem bewegen müssen, es wäre, wenn auch vielleicht nur<br />

schwach, doch hin- und hergeflossen, es hätte eine Unruhe des Wassers im Graben sichtbar<br />

sein müssen und zwar immer zum Zeitpunkt mit dem grössten Betrag an Beschleunigung <strong>–</strong><br />

also am Mittag und um Mitternacht. Ich sehe in <strong>Galilei</strong>s Theorie keinen Grund, wieso man<br />

das nicht hätte erwarten sollen <strong>–</strong> und darauf kommt es an. Als weiteren Test kann man sich<br />

89


ein langes Pendel vorstellen, welches selbst von einer kleinen Beschleunigung hätte ausgelenkt<br />

werden müssen, aber jeweils um sechs Uhr hätte stillstehen müssen. <strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie<br />

impliziert auch, dass bei Inseln auf offenem Meer kein Ansteigen des Wasser zu<br />

beobachten ist, dafür aber um Mitternacht ein Wasserstrom von Ost nach West und am<br />

Mittag von West nach Ost und jeweils um sechs Uhr Stilltand. Gemäss seiner Theorie hätten<br />

Ebbe und Flut nur an Ost- und Westküsten auftreten sollen, an Nord- und Südküsten<br />

dagegen nur ein Vorbeifliessen des Wassers. Solche Sachverhalte wären doch zu überprüfen<br />

gewesen. <strong>Galilei</strong> scheint aber keine Anstrengungen in dieser Hinsicht unternommen zu<br />

haben. Die selbe Annahme, die <strong>Galilei</strong> für das Wasser getroffen hat, hätte er auch für die<br />

Luft annehmen müssen. Es gibt wie<strong>der</strong>um keinen Grund, wieso nicht auch die Luft die<br />

Effekte, die <strong>Galilei</strong> dem Wasser zugeschrieben hat, hätte zeigen müssen. Um Mitternacht<br />

wäre Ostwind zu erwarten gewesen, am Mittag dagegen Westwind. Mindestens die Voraussagen<br />

für den Wind wären klassische neuartige Voraussagen im Sinne Poppers gewesen<br />

<strong>–</strong> und äusserst leicht überprüfbar. Diese Unterlassung könnte aber vielleicht damit zu<br />

tun haben, dass <strong>Galilei</strong> zu Beginn des vierten Tages schreibt:<br />

Nur an dem Elemente des Wassers, das eine solch ungeheuere Ausdehnung besitzt und mit dem<br />

Erdball nicht wie sämtliche festen Bestandteile eng verbunden und verknüpft ist, son<strong>der</strong>n infolge<br />

seiner Flüssigkeit teilweise unter eigener Botmässigkeit steht und frei ist <strong>–</strong> einzig und allein an dem<br />

Elemente des Wassers von allem, was da unter dem Monde, können wir möglicherweise eine Spur,<br />

ein Anzeichen finden, das uns verrät, wie die Erde sich bezüglich <strong>der</strong> Bewegung o<strong>der</strong> Ruhe verhält.<br />

(S. 435f./114)<br />

<strong>Galilei</strong> gibt für diese eigenartige Aussage keine Begründung. Man müsste doch annehmen,<br />

dass die Luft den gleichen Gesetzen unterliegt wie das Wasser und das alles, was<br />

<strong>Galilei</strong> hier über das Wasser sagt, auch für die Luft gilt. Eine Sicht über die Gezeitentheorie<br />

von <strong>Galilei</strong>, die evtl. mit diesem Wi<strong>der</strong>spruch umgehen könnte ist die These von Brown<br />

(1976), <strong>der</strong> kurz gesagt, davon ausgeht, dass <strong>Galilei</strong> eine Theorie <strong>der</strong> Elemente vertreten<br />

hat, in welcher nicht alle vier Elemente <strong>–</strong> Erde, Wasser, Luft und Feuer <strong>–</strong> den selben Bewegungsgesetzen<br />

unterliegen. Brown will mit dieser These gewisse Wi<strong>der</strong>sprüche in <strong>der</strong><br />

Gezeitentheorie auflösen. Es sei hier dahingestellt, ob ihn das gelingt, auf jeden Fall zieht<br />

diese These <strong>–</strong> sollte sie denn stimmen <strong>–</strong> eine an<strong>der</strong>e Konsequenz nach sich. Sie würde die<br />

Behauptung vieler Historiker wi<strong>der</strong>legen, dass es gerade ein Anliegen <strong>Galilei</strong>s war, die<br />

unterschiedliche Physik für die verschiedenen Bereiche aufzuheben. Sollten diese Historiker<br />

recht haben, ist die These von Brown nicht mehr plausibel. Wie dem auch sei, jedenfalls<br />

kommt Simplicio nach Salviatis (<strong>Galilei</strong>s) längerem Exposé über die Gezeiten zu genau<br />

diesem Einwand, dass nämlich die selben Bewegungen, die <strong>Galilei</strong> dem Wasser zuschreibt,<br />

auch an <strong>der</strong> Luft zu sehen sein müssten. <strong>Galilei</strong>s erstaunliche Antwort auf Simplicios<br />

Einwand lautet:<br />

Ein solches Verharren in einer einmal vorhandenen Erregung rührt aber von <strong>der</strong> Schwere des Wassers<br />

her; denn, wie schon früher bemerkt worden ist, sind Körper von geringerem Gewichte zwar<br />

leichter in Bewegung zu setzen als schwere, aber sie sind weit weniger imstande, eine eingeprägte<br />

Bewegung beizubehalten, wenn die bewegende Ursache zu wirken aufhört [im Original nicht kursiv].<br />

64 Darum wird allerdings die Luft, da sie an und für sich so dünn und leicht ist, von einer noch<br />

so kleinen Kraft ohne jede Schwierigkeit bewegt, hingegen ist sie auch völlig unfähig nach Beendigung<br />

<strong>der</strong> bewegenden Ursache die Bewegung fortzusetzen. (S. 458)<br />

Erstaunlich ist diese Aussage deshalb, weil sie erstens nach <strong>Galilei</strong>s eigenen Kreisträgheitsprinzip<br />

nicht plausibel ist und er zweitens nicht nachvollziehbar begründen kann,<br />

wieso sich die Luft nicht ebenso verhalten soll, wie das Wasser.<br />

64 Ein Nebensatz, den Brown vermutlich übersehen hat, denn er steht im Wi<strong>der</strong>spruch zu seiner These.<br />

90


Eine weitere Aussage aus <strong>Galilei</strong>s Theorie, die im Prinzip prüfbar gewesen wäre, ist<br />

die Behauptung, dass es auf Seen keine Gezeiten gibt. Zur genauen Bestimmung des Tidenhubs<br />

werden heute spezielle Brunnen gebaut, mit denen <strong>der</strong> die Messung störende Wellengang<br />

ausgeschaltet werden kann (Defant 1953, S. 11), was Messungen auch von kleinen<br />

Wasserstandsän<strong>der</strong>ungen erlaubt. Diese Brunnen funktionieren nach dem Prinzip des hydrostatischen<br />

Paradoxons (Kommunizierende Röhren). Entdeckt und erklärt hat dieses Paradoxon<br />

<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>ländisch-belgische Mathematiker und Physiker Simon Stevin (1548-1620)<br />

im Jahre 1587 (Minnaert 1981, McLaughlin 2004a), d. h. es wäre zu <strong>Galilei</strong>s Zeit eine Prüfung<br />

dieser Hypothese theoretisch möglich gewesen.<br />

<strong>Galilei</strong>s Gezeitentheorie ist ein umfassendes theoretisches System mit vielen Hypothesen.<br />

Solche Aussagensysteme bieten in <strong>der</strong> Regel viele Möglichkeiten, prüfbare Prognosen<br />

daraus abzuleiten. Einige dieser Hypothesen wären prüfbar gewesen, doch <strong>Galilei</strong><br />

sagt zu solchen Prüfungen lei<strong>der</strong> nicht viel (siehe Fussnote 51). Er hat sich auch nicht son<strong>der</strong>lich<br />

um eine Prüfung seiner Hypothesen bemüht. Das ist um so erstaunlicher, als <strong>der</strong><br />

Gedanke des Prüfexperiments zu dieser Zeit sehr wohl bekannt war. Peter Achinstein<br />

(1998) schreibt dazu:<br />

Francis Bacon was the first to discuss the idea of a ‘crucial experiment’ at length. . . .. He offered<br />

several scientific examples, including experiments to decide between competing theories of the<br />

tides, of the apparent diurnal rotation of the heavens, of the weight of bodies, of magnetism, and of<br />

exploding gunpow<strong>der</strong>. According to Bacon (1620, [Novum Organon]), such experiments ‘afford a<br />

great light and are of great weight, so that the course of interpretation sometimes terminates and is<br />

completed in them’. (S. 735)<br />

Es lässt sich also ein vierter methodischer Fehler von <strong>Galilei</strong> festhalten:<br />

4. <strong>Galilei</strong> hat keine Bemühungen unternommen, seine Theorie zu prüfen; ja er machte<br />

nicht einmal Vorschläge, wie sie geprüft werden könnte.<br />

4.3.5 <strong>Galilei</strong>s Bestätigungsdenken<br />

Um die Bewegung <strong>der</strong> Luft geht es auch bei <strong>Galilei</strong>s Argument mit dem Ostwind.<br />

Dieses Argument ist für unsere Untersuchung interessant, weil es weiteren Aufschluss gibt<br />

über <strong>Galilei</strong>s methodisches Vorgehen, nämlich über die Art und Weise wie <strong>Galilei</strong> mit<br />

Bestätigungen umgeht. Für <strong>Galilei</strong> ist es ein zusätzlicher Beweis für die Bewegung <strong>der</strong><br />

Erde:<br />

Was ich bisher gesagt habe, begegnet, wie mir scheint, dem Einwande von Signore Simplicio in völlig<br />

ausreichen<strong>der</strong> Weise; gleichwohl will ich durch weiteren Gegengrund, durch weitere Erwi<strong>der</strong>ung,<br />

die sich auf eine merkwürdige Erfahrungsthatsache gründet, ihn über das Mass <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

hinaus zufrieden stellen und für Signore Sagredo die Beweglichkeit des Erdballs noch durch<br />

ein feineres Argument bestätigen. (S. 458/150)<br />

Gespannt folgt man <strong>Galilei</strong>s Worten, welche uns das Argument mit den Ostwinden<br />

darlegen. Nach <strong>Galilei</strong> wird <strong>der</strong>jenige Teil <strong>der</strong> Lufthülle, <strong>der</strong> direkt auf <strong>der</strong> Erdoberfläche<br />

aufliegt, wie das Wasser von <strong>der</strong> Erdbewegung mitgenommen. Das gilt insbeson<strong>der</strong>e für<br />

die Luft, die zwischen Bergen und an<strong>der</strong>en Er<strong>der</strong>höhungen liegt; sie wird mitgenommen<br />

wie das Wasser in den Meeresbecken. Aus <strong>der</strong> Tatsache, dass die Unebenheiten <strong>der</strong> Erdoberfläche<br />

die zwischen ihnen liegende Luft mit sicht zieht, folgt seiner Meinung nach,<br />

dass wenn die Erde völlig flach und glatt wäre, „keine Veranlassung vorläge, warum die<br />

Luft in Mitleidenschaft gezogen werden und namentlich in so genauer Übereinstimmung<br />

91


mit <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Erde stehen sollte“ (S. 458/150). Und daher kann die Erde überall<br />

dort, wo sie über grosse Strecken flach ist, wie z. B. auf ausgedehnten Wasseroberflächen,<br />

die darüber liegende Luft nicht mit sich ziehen. Hinzu kommt noch, dass die Luft über den<br />

Meeren nicht gefüllt ist mit „irdischen Dünsten“, welche die Luft schwerer machen und so<br />

zusätzlich dafür sorgen, dass sie von <strong>der</strong> Erde mitgezogen wird. Aus all dem folgert <strong>Galilei</strong>:<br />

„an solchen Stellen müsste man also, wenn die Erde sich nach Osten dreht, beständig<br />

einen von Ost nach West uns entgegenwehenden Wind verspüren“ (S. 459/151). Weiter<br />

müsste nach <strong>Galilei</strong> festzustellen sein, dass dieser Ostwind gerade dort am stärksten sein<br />

müsste, „wo die Drehung <strong>der</strong> Erde am raschesten von statten geht, also an Stellen, die<br />

möglichst entfernt von den Polen und nahe dem grössten Kreise <strong>der</strong> täglichen Rotation<br />

liegen“ (S. 459/152). 65 Wir nehmen <strong>Galilei</strong>s Argument einmal kommentarlos zur Kenntnis,<br />

ohne uns Fragen über allfällige Wi<strong>der</strong>sprüche in <strong>Galilei</strong>s Denken zu stellen. Uns interessiert<br />

vor allem, was <strong>Galilei</strong> nun tut. Salviati (<strong>Galilei</strong>) fährt fort:<br />

Nun bestätigt aber die Erfahrung de facto in hohem Masse dieses theoretische Ergebnis; denn auf<br />

ausgedehnten Meeren, weit vom Lande, in <strong>der</strong> heissen Zone, d. h. zwischen den Wendekreisen, wo<br />

auch die Erdausdünstungen fehlen, fühlt man fortwährend von Osten her einen Luftzug. Er ist so beständig,<br />

dass ihm zufolge die Schiffe mit günstigem Fahrtwind nach Westindien gelangen; ebenso<br />

ist es diesen Umständen zu verdanken, dass sie von dem mexikanischen Gestade aus unter so günstigen<br />

Verhältnissen nach dem für uns östlich, für sie selber aber westlich gelegenen Indien über den<br />

stillen Ozean fahren können. Umgekehrt hingegen ist die Fahrt von dort nach Osten schwierig und<br />

unsicher, und kann keinesfalls auf demselben Wege unternommen werden. (S. 459f./152)<br />

Und Salviati (<strong>Galilei</strong>) schliesst seine Erläuterungen: “So seht Ihr denn, wie die Erscheinungen<br />

auf dem Meere und in <strong>der</strong> Luft wun<strong>der</strong>bar mit denen am Himmel übereinstimmen<br />

und die Beweglichkeit des Erdballs bestätigen” (S. 460/152f.). Um diese Thesen<br />

weiter zu belegen, lässt <strong>Galilei</strong> nun auch Sagredo sprechen. Er will, „zur Krönung des Gebäudes,<br />

auf einen Umstand hinweisen, <strong>der</strong> Euch unbekannt ist, wie es scheint, und <strong>der</strong><br />

gleichfalls die nämliche Schlussfolgerung bestätigt“ (S. 460/153). Sagredo glaubt „schliessen<br />

zu müssen“, dass dieser stetige Ostwind auch auf dem Mittelmeer existieren müsste<br />

und liefert auch gleich die Bestätigung dafür. Er selbst wisse aus eigener Erfahrung, dass<br />

die Seereise von Venedig nach <strong>der</strong> Levantenstadt Aleppo, die er als venezianischer Konsul<br />

mehrmals gemacht habe, infolge dieses Ostwindes viel länger dauere als die Rückreise von<br />

Aleppo nach Venedig. Selbige sei genau um einen Viertel <strong>der</strong> Zeit kürzer. Und Salviati ist<br />

es lieb, „von diesem Umstande erfahren zu haben, <strong>der</strong> nicht unwesentlich dazu beiträgt, die<br />

Erdbewegung zu bestätigen“ (S. 461/154).<br />

Diese „Bestätigungen“ wollen wir uns nun etwas näher anschauen. <strong>Galilei</strong> behauptet<br />

folgendes: Erstens gibt es zwischen den Wendekreisen einen stetigen Ostwind, <strong>der</strong> umso<br />

stärker weht, je näher er am Äquator ist; und zweitens ist dieser Ostwind auch auf dem<br />

Mittelmeer vorhanden. Die erste Behauptung ist teilweise richtig, aber im entscheidenden<br />

Punkt falsch. Der Wind, von dem die Seefahrer sprechen, ist <strong>der</strong> Nordostpassat über dem<br />

Atlantik und dem Pazifik. Dieser ist real vorhanden, wenn es sich auch in Tat und Wahrheit<br />

nicht um einen reinen Ostwind, son<strong>der</strong>n an vielen Stellen um einen Nordostwind o<strong>der</strong><br />

zum Teil sogar fast um einen Nordwind handelt. 66 Zutreffend ist aber sicher die Behaup-<br />

65 In dieser These erkennen wir natürlich einen Wi<strong>der</strong>spruch zu <strong>Galilei</strong>s eigenem Kreisträgheitsprinzip.<br />

Brown (1976) wollte mit seiner These vor allem diesen Wi<strong>der</strong>spruch auflösen.<br />

66 Es ist irreführend, wenn z. B. Dorn (2000) schreibt: „Auch die Passatwinde hat <strong>Galilei</strong> richtig als Auswirkungen<br />

<strong>der</strong> Eigenbewegung <strong>der</strong> Erde interpretiert“ (S. 58). Hierbei muss die Frage gestellt werden, wie die<br />

Begründung für diesen Zusammenhang aussieht. Nach <strong>Galilei</strong> entstehen die Passatwinde, weil die Luft nicht<br />

<strong>der</strong> Trägheit unterliegt; nach heutiger Auffassung entstehen die Winde, weil sie <strong>der</strong> Trägheit unterliegen<br />

(Corioliskraft).<br />

92


tung, dass er auf Segelfahrten von Europa nach Amerika o<strong>der</strong> von Mexiko nach Ostasien<br />

ausgenutzt werden kann. Dieser Teil <strong>der</strong> Aussage ist also halbwegs korrekt. Nun wissen<br />

wir aber alle, dass auf dem Äquator die nördliche und die südliche Hadley-Zelle zusammentreffen,<br />

die Winde also dort konvergieren, weshalb man von <strong>der</strong> „Innertropischen<br />

Konvergenzzone“ (ITC) spricht. In dieser Zone konvergieren die Luftmassen des Nordost-<br />

und des Südostpassats, steigen dort auf, strömen polwärts bis zum 30. Breitengrad, sinken<br />

dort wie<strong>der</strong> ab und kehren in Bodennähe wie<strong>der</strong> zum Äquator zurück. Wichtig ist in dieser<br />

ganzen Sache für uns nun, dass es auf dem Äquator selbst keinen Ostwind hat und windstill<br />

ist. Man spricht von den Kalmen <strong>der</strong> ITC. Das wi<strong>der</strong>spricht nun vollständig <strong>der</strong> Theorie<br />

o<strong>der</strong> besser gesagt <strong>der</strong> Prognose von <strong>Galilei</strong>, nach <strong>der</strong> gerade auf dem Äquator <strong>der</strong> Ostwind<br />

am stärksten sein müsste. Das wäre eine Falsifikation <strong>der</strong> These von <strong>der</strong> Erdrotation.<br />

Eine konkrete Falsifikation wäre es allerdings nur dann gewesen, wenn <strong>Galilei</strong> von dieser<br />

Tatsache Kenntnis gehabt hätte.<br />

Giovanfrancesco Buonamici (1592-1669), Freund und Korrespondenzpartner von<br />

<strong>Galilei</strong>, hat ihm am 1. Februar 1630 aus Madrid einen Brief geschrieben, in welchem er<br />

ihm diese Tatsache mitgeteilt hat. Er schrieb, dass erfahrene Männer ihm mitgeteilt hätten,<br />

„che sotto la Linea si patiscono alcune volte tali calme, che i vascelli restano immobili“<br />

(<strong>Galilei</strong> 1966, S. 75), dass also auf dem Äquator Windstille herrsche und alle Schiffe stillstünden.<br />

<strong>Galilei</strong> hat also wi<strong>der</strong> besseres Wissen, diese “Bestätigung” in den Dialog<br />

aufgenommen, obwohl er korrekterweise die Wi<strong>der</strong>legung seiner Theorie hätte zugestehen<br />

müssen. Noch schlimmer sieht es mit <strong>Galilei</strong>s Behauptung über die Winde auf dem<br />

Mittelmeer aus. Wenn es immerhin noch zutrifft, dass zwischen <strong>der</strong> äquatorialen Tiefdruckrinne<br />

und den subtropischen Hochdruckgürteln die Winde teilweise westwärts wehen,<br />

so ist <strong>der</strong> Ostwind über dem Mittelmeer schlicht erfunden. Der vorherrschende Wind<br />

im Mittelmeer ist <strong>der</strong> Westwind und zwar ganzjährig. „During most of the year winds over<br />

the Mediterranean Sea are the northwest and carry warm dry air, causing large evaporation.<br />

During the winter the winds are often northeasterly“ (Tomczak & Godfrey 1994, S. 301).<br />

Dieses „Ostwindargument“ zeigt über die Tatsache hinaus, dass <strong>Galilei</strong> nicht nur zum Teil<br />

keine Kenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse in <strong>der</strong> Natur hatte, son<strong>der</strong>n dass er<br />

auch nicht davor zurückschreckte, solche zu verschweigen o<strong>der</strong> sogar zu erfinden, wenn es<br />

ihm kommod schien. Hätte er die Information von Buonamici zur Kenntnis genommen,<br />

hätte er sich <strong>der</strong> Falsifikation seiner Theorie gegenübergesehen. Das konnte und wollte er<br />

offenbar nicht hinnehmen. An diesem Beispiel zeigt sich ein an<strong>der</strong>er <strong>Galilei</strong>, auf jeden Fall<br />

nicht <strong>der</strong> vermeintliche Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong>. Zudem ist<br />

die Logik dieser „Bestätigungsmethode“ äussert krude. Logisch geht sie nach <strong>der</strong> Form<br />

„Wenn p, dann q; q; also p“, also z. B. „Wenn es regnet, sind die Strassen nass; die Strassen<br />

sind nass; also regnet es“ o<strong>der</strong> auf unser Beispiel bezogen „Wenn sich die Erde dreht,<br />

dann hat es am Äquator Ostwind; am Äquator hat es Ostwind; also dreht sich die Erde“.<br />

Bekanntlich können solche Bestätigungen sehr leicht ins Auge gehen, eine Tatsache, die<br />

ihm vermutlich selbst klar war. <strong>Galilei</strong> hat oft nach diesem Muster argumentiert, so zum<br />

Beispiel auch als er die Phasen <strong>der</strong> Venus als Beweis für die Erdbewegung betrachtet hat,<br />

obwohl doch diese auch vom Tychonischen Weltbild erklärt werden konnten. Wir erkennen<br />

auch hier wie<strong>der</strong>, dass <strong>Galilei</strong> Mühe hatte mit <strong>der</strong> theoretischen Unterdeterminiertheit<br />

von Daten.<br />

Am Beispiel des Argumentes mit dem Ostwind (und an an<strong>der</strong>en Beispielen) zeigt<br />

sich ein weiterer methodischer Fehler bei <strong>Galilei</strong>:<br />

5. Bestätigungsdenken: <strong>Galilei</strong> argumentiert mit einer unsicheren Bestätigungslogik.<br />

Er schreibt bestätigenden Daten beweisende Kraft zu. Er berücksichtigt nicht, dass<br />

jede Theorie Beispiele hat, welche sie bestätigen.<br />

93


Vielleicht eher als Unschönheit denn als Fehler kann man beim Argument mit dem<br />

Ostwind ein weiteres unkorrektes Verhalten von <strong>Galilei</strong> feststellen:<br />

6. Unterdrücken o<strong>der</strong> Nichtberücksichtigen von Gegenargumenten: Durch den Brief<br />

von Giovanfrancesco Buonamici hatte <strong>Galilei</strong> Kenntnis von einer gewichtigen falsifizierenden<br />

Tatsache. Sie bleibt aber verschwiegen und ohne Konsequenzen. Man<br />

könnte auch sagen, <strong>Galilei</strong> hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Falsifikation und<br />

zu falsifizierenden Daten. Einerseits zeigte er eine wahre Meisterschaft, wenn es<br />

darum ging, Theorien von Gegnern mit falsifizierenden Daten zu belasten, an<strong>der</strong>erseits<br />

sah er grosszügig über Daten hinweg, die seine Theorie belasteten. Diese Haltung<br />

hat er auch theoretisch vertreten, z. B. im Brief an die Grossherzogin-Mutter<br />

Christine, wo er die Meinung vertritt, es sei nicht die Aufgabe eines Vertreters einer<br />

Theorie, diese zu wi<strong>der</strong>legen, son<strong>der</strong>n die Sache ihrer Gegner.<br />

Der letzte Punkt soll aber zu <strong>Galilei</strong>s Gunsten relativiert werden. Es ist heute hinlänglich<br />

bekannt, dass es sich mit Falsifikationen nicht so einfach verhält wie sich das<br />

Popper ursprünglich vorgestellt hat. Es ist nicht immer klar, ob eine Theorie, die sich mit<br />

Gegenbeispielen konfrontiert sieht, wirklich falsifiziert ist. Paul Feyerabend u. a. haben an<br />

verschiedenen Beispielen gezeigt, dass eine Theorie zu unrecht als falsifiziert gelten kann.<br />

Wenn Theorien Fälle o<strong>der</strong> Gegenbeispiele haben, mit denen sie nicht umgehen können,<br />

besteht immer die Möglichkeit, dass das Gegenbeispiel später noch in die Theorie integriert<br />

werden kann. Diese Möglichkeit bestand auch für <strong>Galilei</strong>s Theorie. Wo man ihn aber<br />

kritisieren kann, ist dass er die störende Tatsache einfach verschwiegen hat. Die Redlichkeit<br />

hätte es verlangt, dass er sie mindestens erwähnt. Nicht entschuldbar ist hingegen, dass<br />

er Bestätigungen (Ostwind im Mittelmeer) erfindet.<br />

Zusammenfassend können an <strong>Galilei</strong>s methodischem Vorgehen bei <strong>der</strong> Gezeitentheorie<br />

sechs Fehler festgehalten werden:<br />

1. Falsche empirische Evidenz<br />

2. Falsches „Kausalgesetz“<br />

3. Nichtberücksichtigung von Alternativhypothesen<br />

4. Fehlende Hypothesenprüfung<br />

5. Bestätigungsdenken<br />

6. Unlauterer Umgang mit Gegenbeispielen<br />

Inwieweit es <strong>Galilei</strong> bei diesen methodischen Fehlern an Wissen um einen korrekten<br />

Umgang mit Daten fehlte, o<strong>der</strong> eher am Willen, ist äusserst schwierig zu beurteilen.<br />

Wenn es eine Frage des Wissens war, dann würde das für meine These sprechen, wenn es<br />

eine Frage des Willens war, er also genau wusste, dass er kein gültiges Argument hatte,<br />

spricht es eher für Feyerabends Rhetorikthese. <strong>Galilei</strong> war in <strong>der</strong> Frage des Kopernikanismus<br />

<strong>der</strong>art forsch vorgeprellt, dass er sich bei einem Misserfolg blamiert hätte und daher<br />

dringend einen Beweis brauchte, um nicht blossgestellt zu werden. Er hat sich selbst unter<br />

Druck gesetzt, und dieser Druck hat ihn wahrscheinlich dazu gebracht, unvorsichtig zu<br />

94


werden, ohne sich dessen bewusst zu werden. Das Motiv bleibt nebensächlich; die Taten<br />

sprechen eindeutig dafür, dass <strong>Galilei</strong>s Vorgehen bei <strong>der</strong> Beweisführung für die Gezeitentheorie<br />

nichts mit dem zu tun hat, was heute unter mo<strong>der</strong>ner Wissenschaft verstanden wird.<br />

<strong>Galilei</strong>s Vorgehensweise bei <strong>der</strong> Gezeitentheorie zeigt, dass es ihm an mo<strong>der</strong>nem methodischen<br />

Rüstzeug mangelte. Gegen eine Heerschar von Historikern und Hagiographen lässt<br />

sich abschliessend sagen: <strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> ist nicht <strong>der</strong> <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong><br />

<strong>Methode</strong>. Am Beispiel <strong>der</strong> Gezeitentheorie zeigt sich, dass nichts, was die mo<strong>der</strong>ne<br />

Wissenschaftstheorie propagiert und propagiert hat, von <strong>Galilei</strong> praktiziert worden ist.<br />

Keine <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen wissenschaftstheoretischen Schulen kann <strong>Galilei</strong> als Gewährsmann<br />

für ihre <strong>Methode</strong> in Anspruch nehmen; we<strong>der</strong> hat <strong>Galilei</strong> seine Gezeitentheorie aus sorgfältiger<br />

Beobachtung und Induktion aufgebaut, noch hat er aus seiner Theorie neue Prognosen<br />

abgeleitet und diese durch Prüfung dem Risiko <strong>der</strong> Falsifikation ausgesetzt, und schon gar<br />

nicht hatte er eine klare Vorstellung von Kausalität, die eine korrekte Durchführung eines<br />

Kausalexperiments erlaubt hätte. Dieses Urteil über <strong>Galilei</strong> als Methodiker kann und will<br />

nichts aussagen über <strong>Galilei</strong>s fach<strong>wissenschaftlichen</strong> Leistungen. Was <strong>Galilei</strong> dort geleistet<br />

hat und was diese Leistungen zur Weiterentwicklung <strong>der</strong> Physik beigetragen haben, wird<br />

hier nicht beurteilt. Hier wird nur eines gesagt: <strong>Galileo</strong> <strong>Galilei</strong> ist nicht <strong>der</strong> <strong>Erfin<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen <strong>wissenschaftlichen</strong> <strong>Methode</strong>.<br />

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