schwebende zeichen - Einsnull
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Inhalt<br />
Einleitung .................................................. 9<br />
Zielsetzung .............................................. 11<br />
Was ist ein Chat?. ........................................ 11<br />
Schriftliche Übertragung in der klinischen Praxis ............ 14<br />
Vorgehensweise .......................................... 16<br />
Theoretischer Kontext der Fragestellung: Reflexion &<br />
Kritik des gegebenen Forschungsstandes. ...................... 21<br />
Technologie eines Rituals: der Log-on-Vorgang .............. 25<br />
Die permanente Aktualisierung eines Simulakrums .......... 27<br />
Chat-Identitäten und Schriftsprache ........................ 29<br />
Internet-Pathologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
E-, Cyber-, Online-Therapie. ............................... 36<br />
Heilung durch Schreiben online: Interapy ................... 39<br />
Der Schreibblock am Schreibblock .......................... 43<br />
Durch Schrift zu sich kommen ............................. 44<br />
Birger Sellin und die »Facilitated Communication«. .......... 48<br />
Theoretische Ableitungen ................................. 50<br />
Exkurs: Chats und Sexualität .............................. 52<br />
Warum gibt es (noch) keine Chat-Psychoanalyse? . . . . . . . . . . . . 57<br />
Wer nutzt Online-Beratungs- und Therapieangebote?. ........ 60<br />
Theorien der Schrift und des Schreibens ....................... 63<br />
Psychologische Konsequenzen des »Literal Turn« ............ 66<br />
Schriftlichkeit und Mündlichkeit – ein konzeptuelles<br />
Kontinuum? ............................................. 71<br />
Von der Seelenarchäologie zum Wunderblock:<br />
Alphabetschrift als Medium der Psychoanalyse .............. 73<br />
Psychische Schrift – eine psychoanalytische Metaphernbildung 75<br />
Schreiben in der psychoanalytischen Sitzung: der Analytiker .. 79<br />
Schreiben in der psychoanalytischen Sitzung: der Patient ..... 80
Der kleine Hans und sein schreibender Vater ................ 82<br />
Schreiber des Wahnsinns: Schreber ......................... 85<br />
Verlesen / Verschreiben: die Fehlleistung in der Alphabetschrift 87<br />
Schreiben als Ersatzhandlung bei hysterischer Aphonie ....... 89<br />
Hysterische Schreibhemmung. ............................. 92<br />
Alphabetschrift im Traum ................................. 93<br />
Writing cure /per Post: Selbstanalyse und Fließ-Briefe ......... 97<br />
Der versperrte Abort: Lacan und das Zeichen ............... 98<br />
Mathematische Buchstaben: Algebra des Begehrens .......... 101<br />
Lacans écriture ........................................... 104<br />
Ein Brief ist ein Brief – ist ein Brief ......................... 108<br />
Resümee des zweiten Abschnittes .......................... 110<br />
Übertragung................................................ 113<br />
Von der primären Übertragung zur Übertragungsneurose .... 115<br />
Technologie schriftlicher Übertragung ...................... 121<br />
Übertragung online: eine Begriffsableitung aus der Praxis. .... 124<br />
Die Subtraktion des Schriftlichen vom Virtuellen. ............ 128<br />
Schwebende Signifikanten ................................. 129<br />
Balint mit / gegen Lacan ................................... 133<br />
Schwindel am Bildschirm ................................. 136<br />
Resümee des dritten Abschnittes ........................... 142<br />
Im Spiegel der Schrift ....................................... 145<br />
Schreiben, Lesen, Schule .................................. 146<br />
Überwachen und Strafen .................................. 148<br />
Zettel unter der Schulbank ................................ 149<br />
Vom Muttermund zur Schreibmaschine ..................... 150<br />
Schreiben, Geschlecht, Maschine ........................... 156<br />
Das Kind und die Schrift. ................................. 158<br />
Missachtung der Buchstaben: LRS / Legasthenie .............. 163<br />
Das literale Stadium ...................................... 165<br />
Exkurs: zur Narzissmustheorie ............................ 166<br />
Das Spiegelstadium als Bezugsgröße des literalen Stadiums. .. 169<br />
Zwei Stufen des literalen Stadiums als Phasen des Narzissmus 174<br />
Schriftspracherwerb am Computer ......................... 176<br />
Resümee des vierten Abschnittes. .......................... 179
Schrift und Unbewusstes. .................................... 183<br />
Das infantile Phantasma der sexuellen Schrift ............... 186<br />
Selbstbenennung, Name des Vaters und Verwerfung ......... 188<br />
Anwesenheit in Abwesenheit .............................. 191<br />
Drei Formen unbewusster Schriftverarbeitung ............... 195<br />
Verwerfung der Schrift. ................................... 197<br />
Im Namen des Vaters. .................................... 199<br />
Selbsttaufe und Name des Vaters .......................... 202<br />
Widerstand, Werk, Wiederholung .......................... 204<br />
Vom Sinthom ............................................ 207<br />
Latenz, Schrift, Pubertät. .................................. 212<br />
Die Geschwindigkeiten von Denken und Schrift ............. 213<br />
Resümee des fünften Abschnittes. .......................... 215<br />
Die Mechanik virtueller Übertragung. ......................... 219<br />
Face-to-Face, Body-to-Body, Word-to-Word .................. 220<br />
Sprache im Internet. ...................................... 223<br />
Emoticons und das Flip-Flop der Barre ..................... 224<br />
Schriftliche Substitute der Attribute des Sprechens ........... 228<br />
Verschreiben an Schreibmaschine und Computer ............ 230<br />
Schreibrhythmus und das Gefühl der Anwesenheit .......... 232<br />
Differentialdiagnostik der Chat-Stockung ................... 235<br />
Virtuelle Gegenübertragung ............................... 239<br />
Resümee des sechsten Abschnittes. ......................... 241<br />
Ethik der Hightech-Psychoanalyse ............................ 245<br />
Berechnen, Übertragen, Speichern .......................... 245<br />
Konflikt 1: Virtuelle Objekte ............................... 248<br />
Konflikt 2: Textuelle Vergewaltigung ....................... 250<br />
Existenzial-ontologische Netzethik ......................... 253<br />
Der Übertritt in die wirkliche Welt und seine<br />
Wechselwirkungen ....................................... 258<br />
Gedanken zur Praxis von tiefenpsychologischer<br />
Online-Therapie .......................................... 260<br />
Fazit .................................................... 262<br />
Dank ...................................................... 274<br />
Anhang .................................................... 275<br />
Literatur ................................................ 275
»Im gleichen Augenblick gingen hervor Finger wie von einer<br />
Menschenhand, die schrieben gegenüber dem Leuchter auf die<br />
getünchte Wand in dem königlichen Saal. Und der König erblickte<br />
die Hand, die da schrieb. Da entfärbte sich der König, und seine<br />
Gedanken erschreckten ihn, so dass er wie gelähmt war und ihm<br />
die Beine zitterten.«<br />
Buch Daniel<br />
»Schreiben ist Wahnsinn, es ist zugleich Wahnsinn und Vernunft,<br />
es ist die Vernunft des Wahns.«<br />
Hervé Guibert
Einleitung<br />
Wenn es keinen analytischen Diskurs gäbe, würden sie fortfahren<br />
zu sprechen wie Stare, den disque-ourcourant zu singen …<br />
Jacques Lacan<br />
Zahlen sprechen ihre eigene Sprache. So erklärte der Präsident der deutschen<br />
Gesellschaft für Informatik, Prof. Mathias Jarke, im Januar 2006 in<br />
der »Welt«, dass es seit dem Jahr 2000 auf der Welt mehr Computer als<br />
Menschen gibt – im Jahr 2006 sind es bereits dreimal so viele. 1 Wenige<br />
Wochen später, im März 2006, heißt es im »Spiegel« unter dem Titel<br />
W@re Liebe über Online-Kontakt- und Partnerschaftsvermittlungsbörsen:<br />
»Nach einer Studie der Schweizer Universität St. Gallen sind 63 Prozent<br />
der Nutzer zwischen 19 und 34 Jahre alt. 70 Prozent sind Männer.« 2 Der<br />
Artikel kommt zu dem Ergebnis: »Das Internet vermittelt Wahrscheinlichkeiten<br />
– keine Gefühle.« 3<br />
Dass dem Schließen von Zahlen auf Gefühle ein folgenschwerer<br />
Irrtum innewohnt, steht in einem anderen Artikel der gleichen Spiegel-<br />
Ausgabe, welcher mit dem Thema Affekte bei der Computernutzung – oberflächlich<br />
betrachtet – jedoch in keinerlei Zusammenhang steht. »Das<br />
freie Schreiben beginnt in der Regel zu früh«, wird ein Berliner Pädagoge<br />
zitiert, der von dieser Methode des Schriftspracherwerbs behauptet:<br />
»Die Kinder gewöhnen sich an die Vorstellung, das Deutsche sei eine<br />
Lautschrift«, sagt Metze. »Das ist aber falsch.« 4<br />
Als Verbindungsglied zwischen diesen beiden Diskursen sei ein<br />
dritter Artikel herangezogen, diesmal aus der »Süddeutschen Zeitung«,<br />
der in Sachen Zahlen mit immerhin 3,5% Computersüchtigen unter allen<br />
Computernutzern aufwarten kann. 5 Dem Essay ist aber außerdem zu<br />
entnehmen, was ein Computerjunkie im Originalton – sprich in seiner<br />
eigenen Schreibe – per E-Mail zu Protokoll gibt:<br />
1 Rötger (2006), S. 31.<br />
2 Brandt et al. (2006), S. 84.<br />
3 Brand et al. (2006), S. 82.<br />
4 Dworschak (2006), S. 154.<br />
5 Vgl. Kahlweit (2006), S. 3.
10 Einleitung<br />
»›Es ist ja nicht so, dass ich unbedingt stolz darauf bin, möglichst lange online<br />
zu sein. ich bin auch kein gewöhnlicher Suchtie, der zwangsgesteuert am PC<br />
sitzt und rumklickt/spielt. meine suchtbefriedigung findet in erster Linie im<br />
Kopf statt und nicht am rechner.‹ Also erklärt und erzählt und beschreibt er<br />
nur, was er will. Bei der ersten Nachfrage, die er als Bruch seiner Intimitätssphäre<br />
begreift, geht er offline. Sinan Coban antwortet nicht mehr.« 6<br />
Zwischen »Rechner« und Mensch gibt es nur geschriebene Worte, die<br />
mathematischen Operationen aufruhen – oder das Offline. 7 Entsprechend<br />
regiert auch zwischen Menschen, die durch die Verschaltung mehrer<br />
Computer hindurch eine Verbindung zueinander eingehen, technischmuttersprachlicher,<br />
sprich schriftsprachlich-berechneter Code. Sinn und<br />
Unsinn dieser getippt-kompilierten Worte werden ebenso scheinbar wie<br />
die sie begleitenden Gefühle berechnet – auch wenn Letztere unberechenbar<br />
bleiben.<br />
»Verliebt hatten sie sich im Chatraum für Flirts. Dann aber kam die Stunde der<br />
Wahrheit, und Sigi schreibt: »Die letzen Minuten standen wir beide fast vor<br />
einem Herzinfarkt. Wir hatten ja eine starke emotionale Beziehung aufgebaut,<br />
die jeden Augenblick wie eine Seifenblase hätte zerplatzen können.«« 8<br />
Das drohende Zerplatzen der Seifenblase der Gefühle in Anbetracht<br />
der ersten körperlichen Begegnung zweier Menschen, die sich bis zu<br />
diesem Zeitpunkt im Chat ausschließlich schriftlich ausgetauscht haben,<br />
erinnert in vielerlei Hinsicht an wiederkehrende spezifische Momente<br />
im Verlaufe der psychoanalytischen Situation, von deren Dynamik<br />
Freud bekanntlich annahm, »daß der Patient intensive zärtliche Gefühle<br />
auf den Arzt übertragen hat, zu denen ihn weder das Benehmen des<br />
Arztes noch die in der Kur entstandene Beziehung berechtigt«. 9 Die<br />
Psychoanalyse variiert nämlich durch die Anordnung von Analytiker<br />
und auf dem Diwan gelagertem Patienten unter Vorgabe bestimmter<br />
Sprech- und Zuhörregeln (u. a. freie Assoziation und gleich<strong>schwebende</strong><br />
Aufmerksamkeit) mit therapeutischem Ziel experimentell eine empirische,<br />
oralsprachliche Situation. In deren Zuge werden im Patienten »unberechtigte«<br />
zärtliche Gefühle auf den Plan gerufen – bei Lacan ist von<br />
einem »Schatten von Liebe« 10 die Rede. Ich stelle die Frage, ob die Liebe<br />
im Internet ein Schattendasein führt. Diesbezüglich ist zunächst sicher<br />
anzunehmen, dass das Chat im Range einer computermedial vermittelten<br />
6 Kahlweit (2006), S. 3.<br />
7 Vgl. Capurro (2002), S. 72: »Im digitalen Weltentwurf wird die Welt aber nicht auf den<br />
logos hin, also onto-logisch, sondern auf der Basis von Zahl und Punkt, sozusagen ontoarithmetisch,<br />
vorgestellt und schließlich technisch hergestellt.«<br />
8 Lenz (2002), S. 14.<br />
9 Freud (1917), S. 424.<br />
10 Lacan (1964 / 1987), S. 129.
Was ist ein Chat? 11<br />
Interaktionsform steht, die trotz – oder eben aufgrund – körperlicher<br />
und oralsprachlicher Trennung der Interaktionspartner zur Freisetzung<br />
ähnlicher, unter Umständen stär kerer, zärtlicher Affektkontingente führt,<br />
die primär schriftsprachlich hervorgerufen werden.<br />
Zielsetzung<br />
Damit sind Chats und Psychoanalyse zwei unterschiedliche sprachliche<br />
Interaktionsformen, die die bemerkenswerte Fähigkeit zu teilen scheinen,<br />
einen Effekt im Menschen hervorrufen zu können, der in der Psychoanalyse<br />
als »Übertragungsliebe« bekannt ist. 11 Die Arbeitshypothese dieser Arbeit<br />
lautet entsprechend, dass auch in einem Chat, an dem zwei Personen<br />
teilnehmen, die sich untereinander weder sehen, noch schmecken, noch<br />
riechen, noch hören, noch sonst physisch fühlen, und zuvor auch niemals<br />
begegnet sind, sich diese beiden Personen unter Umständen einseitig oder<br />
wechselseitig ineinander verlieben, und dass diese Gefühle auf eine spezifische<br />
Form der Übertragungssituation zurückzuführen sind – vergleichbar<br />
jener, die im Rahmen des Settings der Psychoanalyse aufgebaut wird.<br />
In eine wissenschaftliche Formel gebracht ist es das Ziel dieser Arbeit,<br />
die im Chat anzutreffende schriftsprachliche Interaktion im Hinblick auf<br />
eine mögliche Analogie des Chats zur oralsprachlich hervorgerufenen<br />
Übertragungssituation der Psychoanalyse zu untersuchen. In anderen<br />
Worten handelt es sich bei dieser Arbeit um eine theoretische Betrachtung<br />
des Chat-Vorganges vor dem Hintergrund eines (erweiterten) psychoanalytischen<br />
Diskurses. Dabei werden zwar Fallbeispiele aus der Literatur<br />
herangezogen, jedoch keine eigenen experimentellen Daten erhoben, um<br />
die These zu validieren; das Hauptinteresse liegt auf den bestehenden<br />
Diskursen von Psychoanalyse bzw. Medientheorie und den ihnen innewohnenden<br />
– respektive fehlenden – metatheoretischen Positionen.<br />
Was ist ein Chat?<br />
Die Bezeichnung »Chat« leitet sich aus dem englischen Verb »to chat«<br />
her, das ins Deutsche übersetzt »schwätzen« oder »plaudern« bedeutet. 12<br />
11 Vgl. Freud (1915), S. 220 f.; siehe auch Lacan (1964 / 1987), S. 129.<br />
12 Das Concise Oxford Dictionary weist darauf hin, dass »to chat« als eine Kurzform von<br />
»to chatter« auch die akustische Interaktion von Vogelschwärmen, sprich »Gezwitscher«<br />
bezeichnet. Vgl.: The Concise Oxford Dictionary, S. 199 + S. 200. Die Bandbreite der<br />
praktischen Verwendung des Substantivs »chat« im herkömmlichen Sinne reicht von der<br />
Diffamierung des Sprechens als »chat« (Geschwätz) bis hin zur nicht mehr geläufigen,<br />
umgangssprachlichen Bezeichnung des Kernpunktes einer Aussage: »that’s the chat«.<br />
Vgl.: Enzyklopädisches Englisch-Deutsches und Deutsch-Englisches Wörterbuch, Band<br />
1, S. 424.
12 Einleitung<br />
Daher können im Deutschen die grammatisch männliche Bezeichnung<br />
»der Chat« oder die neutrale Form »das Chat« verwendet werden – in<br />
dieser Arbeit wird durchgängig die neutrale Form verwendet, um die<br />
naheliegende Analogie zum ebenfalls neutralen Begriff Medium zu unterstreichen.<br />
Die so bezeichnete mediale Interaktionsform ermöglicht es<br />
mehreren alphabetisierten – d. h. der Schrift mächtigen – Subjekten über<br />
ein Computernetzwerk, zeitgleich mit unbestimmt vielen Menschen,<br />
die gleichzeitig eine Verbindung zum Internet aufrechterhalten, anhand<br />
eines Bildschirm-Interfaces und einer Tastatur schriftlich zu interagieren. 13<br />
Dabei können sich die Kommunikationsteilnehmer körperlich an unterschiedlichen<br />
Orten aufhalten.<br />
Beim Chatten werden nach einem Log-in-Vorgang, bei dem jedes<br />
Subjekt ein Nicknamen genanntes Pseudonym angibt, um für alle anderen<br />
Chatter identifizierbar zu sein, die schriftlichen Beiträge der Teilnehmer<br />
sukzessive und chronologisch nacheinander in einem Fenster einer<br />
Bildschirmoberfläche dargestellt. Es besteht darüber hinaus bei fast jeder<br />
Chat-Software die Möglichkeit, mit einzelnen Teilnehmern Privatchats,<br />
also einzelne Leitungen zu eröffnen, in denen zwei Chatter unter sich<br />
sind. Zur Veranschaulichung des Interface eines Chats möchte ich auf<br />
die folgende Grafik verweisen.<br />
Die Abbildung 1 zeigt zwei Fenster desselben Chats: Während im<br />
hinteren, breiten Fenster verschiedene Teilnehmer unter verschiedenen<br />
Nicknamen in einem gemeinsamen Kanal in der Gruppe chatten, haben<br />
sich zwei der dort Eingeloggten in ein Privatchat »zurückgezogen«, das<br />
in dem »<strong>schwebende</strong>n« 14 schmalen, vorderen Fenster dargestellt ist.<br />
Im invertiert markierten Feld dieses Fensters (am unteren Rand, Text:<br />
»>>>Schreiben Sie hier«) erscheint der vom Chatter mit dem Nicknamen<br />
»Pascal« zu tippende Text, bevor dieser durch die Betätigung der Return-<br />
Taste zum Chat-Server übermittelt wird. Der nächste zu tippende Text<br />
würde nach dem Absenden in der obenstehenden Abbildung unter dem<br />
letzten Eintrag »SUCHENDER: ES« erscheinen. Ist der Bildschirm in<br />
dieser Weise vollgeschrieben, beginnen die Beiträge in der dargestellten<br />
Software-Lösung am oberen Bildrand zeilenweise zu verschwinden; bei<br />
anderen Lösungen ist es auch möglich, dass der letzte Beitrag jeweils<br />
oben erscheint und der Text nach unten verschwindet, woran sich der<br />
13 Schon bei der Namensgebung des Mediums trifft man eine Verschiebung von der<br />
gesprochenen Sprache zur Schriftsprache an, denn schließlich ist Chatten zunächst ein<br />
ausschließlich schriftlicher Interaktionsvorgang, der aber von einem Begriff, der zunächst<br />
einen ausschließlich oralsprachlichen Vorgang bezeichnet, benannt wird.<br />
14 Jedes vor dem Hauptbrowserfenster erscheinende Fenster wird in der Internet-Fachsprache<br />
als »floating window« (<strong>schwebende</strong>s Fenster) bezeichnet.
Was ist ein Chat? 13<br />
Abb. 1: Chatumgebung mit einem Privatchat im <strong>schwebende</strong>n Fenster<br />
kontinuierliche Charakter eines Lesens und Schreibens zeigt, dessen<br />
scheinbar unbegrenzt aufnahmefähiger Untergrund kein Umblättern<br />
erfordert.<br />
Das Verfahren Chat zählt zu den synchronen schriftlichen Kommunikationstechniken,<br />
da alle Chatter zeitgleich mit dem Chatten beschäftigt<br />
sind; 15 damit unterscheidet sich das Chat grundsätzlich vom ebenfalls<br />
schriftlich-elektronischen Austausch per E-Mail, der entsprechend in die<br />
Kategorie diachron fällt 16 .<br />
Im hinteren Fenster der obigen Grafik sind rechts verschiedene Optionen<br />
sichtbar, anhand derer die Parameter des Chats verändert werden<br />
können (z. B. Nick ändern, ignorieren, schweben etc.). Die Anzahl<br />
und Qualität der veränderbaren Parameter hängt von der jeweiligen<br />
Software-Lösung ab, auf die die Teilnehmer keinen Einfluss haben.<br />
15 Weiter unten (im Kapitel »Kleine Geschichte der Chat-Technologie«) werde ich zeigen,<br />
dass unter dem Oberbegriff Chat sowohl synchrone als auch diachrone Techniken zusammen<br />
gefasst werden.<br />
16 Bei dieser Gelegenheit möchte ich betonen, dass Chat-Interaktionen in aller Regel in ein<br />
Netz unterschiedlicher Kommunikationsformen eingebunden sind, zu denen neben E-Mails<br />
auch SMS-Kurznachrichten zählen. Wichtig ist, dass alle drei genannten Interaktionsformen<br />
(Chat, E-Mail, SMS) schriftsprachlicher Natur sind, und der nächste Schritt hin<br />
zur körperlichen Bekanntschaft der Interaktionspartner fast immer über das Telefon,<br />
und also die Stimme, beschritten wird. Erst dann kommt es zu einer Begegnung zweier<br />
Menschen, die sich »in« einem Chat kennengelernt haben.
14 Einleitung<br />
Die zitierte Softwarelösung wurde im Jahre 2000 entwickelt und<br />
bietet noch nicht die inzwischen vielfach standardisierte Möglichkeit,<br />
aus dem Chat heraus im Zweiergespräch miteinander zu Voice-Chatten,<br />
also praktisch zu telefonieren, oder zu Video-Chatten, i. e. simultan zum<br />
geschriebenen Text auch Videoaufnahmen der beteiligten Subjekte ins<br />
Chat zu übermitteln. Ebenfalls noch nicht umgesetzt ist hier die Möglichkeit,<br />
eigene Bilder in das Chat zu integrieren oder die Farbe bzw. Größe<br />
des getippten Textes zu variieren. Diese Möglichkeiten sind inzwischen<br />
vielfach technisch umgesetzt worden und erweitern das kommunikative<br />
Spektrum von Chats hin zu jenem »Nachrichtenkanal«, an dem die<br />
»Leute« »hängen«, »der für beliebige Medien gut ist – zum ersten Mal<br />
in der Geschichte oder als ihr Ende«. 17<br />
Diese Arbeit beschränkt sich auf die schriftsprachliche Urform von<br />
Chats. Eine solche Eingrenzung auf den ausschließlich schriftsprachlichen<br />
Interaktionsvorgang der gezeigten Chat-Applikation soll den<br />
Schwerpunkt dieser Arbeit andeuten: die alphabetisch-graphematischsynchrone<br />
Interaktion. Eine Speicherbarkeit der Schriftprotokolle ist in<br />
der oben dargestellten Tecchnologie noch nicht gegeben, wodurch sich<br />
die in diesem Chat zustande kommende Textproduktion signifikant<br />
von literarischen Selbstentwürfen abgrenzen läßt. Letztere zeichnen<br />
sich vor allem dadurch aus, dass sich das Subjekt nicht zum Zwecke<br />
unmittelbaren Austausches, und vor allem mit dem Ziel der Schaffung<br />
eines Werkes, etwa in Form eines Tagebuches oder Online-Weblogs,<br />
schriftlich betätigt.<br />
Schriftliche Übertragung in der klinischen Praxis<br />
Es ist grundsätzlich nicht unproblematisch, das im Chat zu beobachtende<br />
Phänomen der beim intersubjektiven Austausch frei werdenden,<br />
großen Affektpotentiale der beteiligten Subjekte mit dem Begriff »Übertragung«<br />
psychoanalytisch zu erfassen, da sich der sprachliche Austausch<br />
im Chat nicht, wie im psychoanalytischen Setting üblich, vokalisierend,<br />
sondern schriftlich vollzieht. Dennoch kommt es beim Chatten jenseits<br />
eines physischen Aufeinandertreffens unzweifelhaft zu einer sprachlichen<br />
Begegnung von Subjekten, die jener von Patient und Analytiker<br />
möglicherweise nahesteht. Die Kategorie der Begegnung ist in der Psychoanalyse<br />
notwendige Bedingung der Möglichkeit von Übertragung:<br />
»Funktionieren« Patient und Therapeut im Gespräch nicht miteinander,<br />
17 Kittler (1986), S. 7.
Schriftliche Übertragung in der klinischen Praxis 15<br />
kommt es zu keiner Begegnung; ein positives Übertragungsverhältnis<br />
wird nicht möglich, und es kann keine Psychoanalyse stattfinden. 18<br />
Haben aber im Chat die beiden Hauptsätze Lacans, dem zufolge das<br />
Unbewusste erstens der Diskurs des Anderen 19 und zweitens wie eine<br />
Sprache strukturiert 20 ist, für eine schriftsprachliche Begegnung Bestand?<br />
Ist dies der Fall, so muss spezifiziert werden, inwieweit diese schrifliche<br />
Begegnung von jenem »Sprechen vor dem Ego des eigenen Nichts«, 21 wie<br />
es sich in der herkömmlichen, oralsprachlichen Psychoanalyse zuträgt,<br />
unterschieden werden kann und muss.<br />
Der Begriff Übertragung ist im Zuge von Online-Therapie mit analytischem<br />
Hintergrund von psychiatrisch-klinischer Seite in den Diskurs<br />
eingeführt worden. 22 Entsprechend müssen die Differenzen zwischen<br />
analytischer und Chat-Situation und die jeweiligen Besonderheiten von<br />
Übertragung im psychoanalytischen Gespräch und (hypothetischen)<br />
psychoanalytischen Chat erarbeitet werden, um die besondere Prägung<br />
der psychischen Dynamik von medial vermittelter, schriftlicher Übertragung<br />
in ihrer klinischen Erscheinungsweise in einem Chat aufzudecken.<br />
Dies geschieht mit dem Ziel herauszuarbeiten, wie, nach Nietzsche, auch<br />
im Chat das Schreibzeug an den Gedanken der beteiligten Subjekte<br />
mitarbeitet. 23<br />
Dekonstruiert man beide Einwände des psychoanalytischen Diskurses<br />
gegen ein solches potentielles Vorgehen, nämlich einerseits jenen<br />
des Schreibens anstelle der gesprochenen Sprache und andererseits<br />
jenen der unterschiedlichen körperlichen Anwesenheitsverhältnisse in<br />
Psychoanalyse und Chat, denkt sie also gewissermaßen parallel »gegen<br />
den Strich«, so ergibt sich ein gemeinsamer Zusammenhang, welcher der<br />
computermedial vermittelten Schriftform entspringt. Eine solche Situierung<br />
schriftlicher Begegnung entspricht Freuds Auffassung des Schriftmediums:<br />
»Die Schrift ist ursprünglich die Sprache des Abwesenden.« 24<br />
Folglich stellt sich die Frage nach der Wertigkeit von »Anwesenheit«<br />
und »Abwesenheit«, wie man ihr in der Zeit synchronen, computervermittelten<br />
Schreibens begegnet.<br />
Die Relevanz eines psychoanalytischen Diskurses, der den neuen<br />
Medien ohne Vorbehalte gegenübertritt, erhärtet sich darüber hinaus<br />
18 Im psychotherapeutischen Alltag ist der Begriff »Passung« gebräuchlich. Vgl. Reimer et<br />
al.(1996), S. 24, 27.<br />
19 Lacan (1956), S. 14.<br />
20 Lacan (1964 / 1987), S. 26.<br />
21 Lacan (1953), S. 85.<br />
22 Vgl. Lindner & Fielder (2002), siehe auch Suler (1996/98).<br />
23 Nietzsche (1882 (1981)), S. 127.<br />
24 Freud (1930 / 1929), S. 221.
16 Einleitung<br />
noch in anderer Weise: Chats ebenso wie andere psychisch relevante<br />
Aktivitäten (z. B. animierte Computerspiele) rufen bisher unnbekannte,<br />
konfliktive psychische Problemlagen hervor, die sukzessive pathologisch<br />
kondensieren: Chat-Sucht, Surf-Sucht, Computerspielsucht, Legasthenie,<br />
Amokläufe an Schulen etc. fallen in die Rubrik »neuer Pathologien«,<br />
die in den Augen von psychotherapeutischen Praktikern narzisstischen<br />
Ursprungs sind. 25 In diesem Zusammenhang sei auf die Möglichkeit<br />
verwiesen, durch das Chat-Medium bestimmte Subjekte therapeutisch<br />
ansprechen zu können, die sich einem psychotherapeutischen Zugang<br />
auf herkömmlichem Wege verschließen und damit von jeder (rechtzeitigen)<br />
Behandelbarkeit ausgeschlossen würden.<br />
Vorgehensweise<br />
Während im Diskurs der Psychoanalyse grundsätzlich zwischen Übertragung<br />
und Übertragungseffekten (zu denen auch die Übertragungsliebe<br />
zählt) unterschieden wird, ist der Terminus Übertragung auch im juristischen,<br />
im physikalischen, mathematischen, philosophischen und medientheoretischen<br />
Diskurs beheimatet. Kittler zufolge ist davon auszugehen,<br />
dass Freud den Begriff Übertragung von der Medien- bzw. Übersetzungstheorie<br />
in die Psychoanalyse übertrug, 26 um jenes spezifische Verhältnis<br />
von Patient und Analytiker zu bezeichnen, das sich in dieser Form nur<br />
in der Praxis der Psychoanalyse einstellt; denkbar ist auch, dass der Arzt<br />
Freud bei der Prägung des Begriffes die Übertragung von Krankheiten,<br />
im Fall der kranken Psyche die Neurose, im Sinn hatte. Abschließend zu<br />
klären ist der Sachverhalt an dieser Stelle nicht. Beide – Medientheorie<br />
und Psychoanalyse – sind als Wissenschaftsdiskurse entwicklungsgeschichtlich<br />
jedoch in jedem Falle jünger als die anderen Disziplinen und<br />
verdanken ihre Auffassung von Übertragung damit notwendigerweise<br />
den älteren Diskursen.<br />
Auch wenn es zunächst fraglich scheint, ob das Begriffsgebäude der<br />
Psychoanalyse den seelischen Phänomenen, welche die Verwendung<br />
der neuen Medien hervorgebracht hat, eine Behausung bieten kann – da<br />
Freud die neuen Medien gar nicht gekannt hat –, finden sich wesentliche<br />
Kernaussagen psychoanalytischen Umgangs mit der Schriftform schon bei<br />
Freud. Entsprechend wird sein schriftlich niedergelegter Diskurs sowohl<br />
zur Übertragung als auch zur Bedeutung der Schriftsprache einem Diskurs<br />
25 Vgl. Leiser (2002), S. 81 f.<br />
26 Kittler (2001), S. 181.
Vorgehensweise 17<br />
der Medientheorie gegenübergestellt, der psychoanalytische Diskursformationen<br />
aufgreift, um sie in ein Verständnis von Medien zu integrieren,<br />
dem ein psychoanalytischer Zugang nicht gänzlich fremd ist. Der in Frage<br />
kommende, medientheoretische Ansatz liegt in Kittlers Arbeiten zu<br />
»Grammophon Film Typewriter« und den »Aufschreibesystemen« vor. Sie<br />
zeichnen sich vor allem auch dadurch aus, dass in ihnen die neuzeitliche<br />
Entwicklung der Technologien des Schreibens (Handschrift, Buchdruck,<br />
Schreibmaschine, Computer) kulturgeschichtlich nachgezeichnet wird,<br />
welche auch vor den beiden Arbeitszimmern des Psychoanalytikers nicht<br />
haltmacht: Dem Behandlungsraum und dem Schreibraum.<br />
Als Bindeglied zwischen freudscher Psychoanalyse und kittlerscher<br />
Medientheorie bietet sich Jacques Lacan als Freudleser und (medientheoretischer<br />
und systematischer) Weiterentwickler freudscher Theorie<br />
und Praxis an. Das gilt in besonderem Maße, da Lacan Freuds Theorie<br />
technischer Medien als »Prothesen« menschlicher Organe mit Blick auf<br />
die Kybernetik (und mit ihr den Diskurs der universalen diskreten<br />
Maschine Turings) weiterentwickelte, zumal er sowohl die linguistische<br />
Zeichentheorie als auch die Mathematik in den Diskurs der frankophonen<br />
Psychoanalyse implementierte.<br />
In weniger umfangreichem Maße werde ich die Theoriebildung<br />
des Begründers der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und<br />
Gegenspielers Lacans, Michael Balint, nachzeichnen, dessen Begriffsbildungen<br />
»Oknophilie« und »Philobathie« bereits zu Beginn der achtziger<br />
Jahre des 20. Jahrhunderts eine der wenigen relevanten psychoanalytischen<br />
Beschäftigungen mit dem Computermedium nach sich zog.<br />
Alle genannten Autoren verwenden den Begriff Übertragung – und<br />
alle verwenden ihn anders. Dieser Sachverhalt erzwingt eine genaue<br />
Textarbeit mit dem Ziel, die Strukturen schriftsprachlicher Übertragung<br />
nicht aus dem experimentellen Feld, sondern aus den Quellen abzuleiten.<br />
Ein solches Herangehen erfordert vor allem, dass die unterschiedlichen<br />
medialen Aggregatzustände von Schrift und gesprochener Sprache,<br />
wie sie einerseits im analytischen Gespräch und andererseits im Chat zu<br />
beobachten sind, einander nicht angenähert werden, sondern getrennte<br />
Betrachtung erfahren. Der Bestrebung, in der Schriftsprache, wie sie beim<br />
Chatten zur Anwendung kommt, eine gewisse oralsprachliche Strukturähnlichkeit<br />
auszumachen, so, als versuche diese Art der Schriftsprache,<br />
die Oralsprache vor allem und in jeder Hinsicht zu imitieren, 27 wird bei<br />
der Auseinandersetzung mit Zeichen- und Schrifttheorien eine Absage<br />
erteilt. Es geht im Gegenteil darum, die spezifischen Unterschiede von<br />
27 Vgl. Beißwenger (2000), S. 123.
18 Einleitung<br />
gesprochenem und geschriebenem Wort in ihrer Wirkungsweise auf das<br />
Unbewusste (bzw. aus diesem heraus) zu erarbeiten und zu zeigen,<br />
dass die Versuche, orale Sprachvollzüge schriftlich zu imitieren, neue<br />
sprachliche Formationen und mit ihnen neue Formen von Bewusstsein<br />
(und Unbewusstem) hervorbringen. In anderen Worten werden<br />
Schriftsprache und gesprochene Sprache stets als zwei verschiedene<br />
sprachliche Manifestationen verstanden, etwa so, wie in Physik und<br />
Chemie zwischen festen und gasförmigen Stoffen unterschieden wird. So<br />
werden Argumente dafür zusammengetragen, dass es nach freudscher<br />
Maßgabe statthaft ist, Schrift als Ausgangsmaterial psychoanalytisch-<br />
therapeutischen Handelns und das Schreiben als psychisch relevanten<br />
Akt zu betrachten.<br />
Daran anknüpfend werde ich den Begriff psychoanalytisch verstandener<br />
Übertragung im Hinblick auf die Möglichkeiten darstellen, wie<br />
die beim Chat-Vorgang technisch sich vollziehende Datenübertragung<br />
psychoanalytisch aufzufassen ist. Die aus dieser Darstellung resultierende<br />
Differenzierung des Übertragungsgeschehens beim Chatten in<br />
drei unterschiedliche Register wird dazu überleiten, den aus dieser<br />
Unterscheidung resultierenden Diskursen nacheinander nachzugehen.<br />
Dazu zählt neben der Theorie der »Thrills am Computer« (im Anschluss<br />
an Balint) vor allem der Schriftspracherwerb in seiner Bedeutung für<br />
das Unbewusste des heranwachsenden Subjekts. Aus den in diesem<br />
Zusammenhang resultierenden Erkenntnissen ergibt sich für mich die<br />
Annahme eines »literalen Stadiums« in Anlehnung an und Ergänzung<br />
zu Lacans Konzeption des Spiegelstadiums. Aus meiner Sicht wird<br />
anhand einer solchen Konzeption eine psychoanalytische Betrachtung<br />
aller schriftsprachlicher Vorgänge, damit auch des Chats, in Aussicht<br />
gestellt. Auf dieser Grundlage wird das Wirkungsgefüge des Chats<br />
einer erneuten Betrachtung mit dem Ziel unterzogen, theoretische und<br />
praktische Eckpunkte von »Hitech-Psychoanalyse«, wie sie von Kittler<br />
formuliert worden sind, für das Chat zu diskursivieren.<br />
Es geht dem damit umrissenen, interdisziplinären Paradigma entsprechend<br />
darum, Medientheorie und Psychoanalyse – und auch die<br />
unterschiedlichen Diskurse der Psychoanalyse – nicht gegeneinander<br />
auszuspielen, sondern sie voneinander profitieren zu lassen. Der Sinn<br />
einer derart unorthodoxen, durchaus als eklektizistisch zu bezeichnenden<br />
Vorgehensweise besteht darin, eine psychoanalytische Betrachtung<br />
neuer, medial vermittelter Unterhaltungs- und Begegnungstechniken,<br />
wie sie das Chat darstellt, ebenso zu ermöglichen, wie die vermehrt<br />
auftretenden »neuen Pathologien« »von innen heraus« begreifbar werden<br />
zu lassen.
Vorgehensweise 19<br />
Die Interdisziplinarität des Ansatzes macht es unumgänglich, bisweilen<br />
unbequeme Fragen zu stellen und Blicke in wissenschaftliche<br />
Grauzonen und Hinterhöfe der Diskurse von Medientheorie und<br />
Psychoana lyse zu werfen. Die unterschiedlichen begrifflichen Formalisierungen<br />
(vor allem der verschiedenen psychoanalytischen Schulen)<br />
sind dabei das größte zu überwindende Hindernis.