Intervalle - Einsnull
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Inhalt<br />
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
1 Tönender Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
1 Tonstufen 9 2 Trommel und Pauke 17 3 Kreisen 27 4 Farbe und<br />
Gestalt 30 5 Schmiede, Schmelzer und Alchemisten 36<br />
2 Zweite Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />
1 Zerstückelung 40 2 Leben 42 3 Triebschicksale 44 4 poiesis 46<br />
5 Begriff und Terminus 49<br />
3 Körperbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
1 Ichpsychologie 55 2 Spiel 56 3 Gegliederter Kosmos 57 4 Zeichen am<br />
Himmel 60 5 Innen /Außen 61 6 Bewusstes/Unbewusstes 64 7 Geometrie<br />
und Psychologie 68<br />
4 Bestimmung des Unbestimmten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
1 Zahl 70 2 Das Groß-Kleine 72 3 Überfließen 74 4 Bruchstellen 76<br />
5 Klangraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />
1 Ton und Farbe 79 2 Ding-Klang 82 3 Prosodie 86 4 Zittern 88<br />
5 Diastema 96 6 Musik in der Sprache 104 7 Inklination 108 8 Aristoxenos<br />
109 9 Vokale 114<br />
6 Schlagen 119<br />
1 Vibration 119 2 Falte 121 3 Tastsinn 122 4 Metapher Laute 128<br />
5 Vorbild für die Seele 134 6 punctus 136<br />
7 Hand und Mund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138<br />
1 Begriff und Be-Greifen 139 2 Richtung 141 3 Be-Stimmen 145 4 Acht<br />
149 5 Sauglaut 157 6 Dichte 159 7 Phonetik 162<br />
8 Neuropsychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164<br />
1 Kognitive Konzepte der Bewegung 164 2 Klang und Sprache 167 3 Selbstwahrnehmung<br />
169 4 déjà vue 170<br />
9 Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174<br />
1 Stimme 174 2 Übergänge 178 3 Echo 183 4 Verkettung 185 5 Traum<br />
und Schlaf 188
6 Inhalt<br />
10 Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190<br />
1 Subjekt/Objekt 190 2 Körperschema 192 3 Vestibuläre Effekte 197<br />
4 Luft und Atmen 202<br />
11 Entschlüsseln des Klangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206<br />
1 Ältere auditorische Systeme 206 2 Unbewusste Obertöne 209 3 Ton als<br />
Ziel 211 4 Der Wurf und das Nun 215 5 Hören im Jetzt 218<br />
12 Philosophie des Tons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223<br />
1 Irrfahrt und Übergang 223 2 Katastrophenlage 226 3 Zurück zum Urgrund<br />
230 4 Projektion 231 5 Tanz der Sterne 234<br />
13 Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240<br />
1 Doppelte Bewegung 240 2 Homöostase 241 3 Leib-Bewusstsein 246<br />
4 Sein und Werden 250 5 Erinnerung 255<br />
14 Einer, der er-zählt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263<br />
1 Orthogonal 263 2 Subjekt und Überschuss 268<br />
Anhang: Die Quarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279<br />
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Einleitung<br />
Der antike Begriff der Harmonie hat eine musikalische und eine strukturelle<br />
Bedeutung der Weltbeschreibung als Ordnung durch Einheit des Verschiedenen.<br />
Bereits im mesopotamischen Kulturkreis gilt der Kosmos als harmonische Konstruktion.<br />
Die Planeten, heißt es in Zeugnissen griechischer Autoren, würden in<br />
<strong>Intervalle</strong>n einer Tonleiter klingen – musiktheoretische Begriffe, die allerdings<br />
von keinem Keilschrifttext belegt werden können und eher dem griechischen<br />
Denken entspringen. Die Bewegung der Planeten steht in untergründigem Verhältnis<br />
zu den Tönen, die nach antiken Quellen ebenfalls aus Bewegungen bestehen,<br />
für die es je nach Theorie allerdings unterschiedliche Konzepte gibt. Die<br />
Korrelation von Musik und Planetenbewegungen legt nahe, dass der auf die<br />
Musik angewandte Bewegungsbegriff im Sinne der Emotion nicht nur metaphorisch<br />
gemeint sein kann. Zentrale Begriffe der Musiktheorien zeugen von ihrer<br />
Herkunft aus Körperempfindungen als Anzeiger für die Bereitschaftspotentiale<br />
innerer Organe wie Herz und Atmung als Teile eines Bewegungssystems, in<br />
dem sie zum Beispiel zu Fluchtbewegungen ihren erhöhten Takt schlagen. Diese<br />
Wahrnehmung des organisch Inneren ist die Voraussetzung für eine Konstruktion,<br />
die zunächst schöpfungsmythologisch als raumschaffend, dann zunehmend<br />
geometrisch-mathematisch in Erscheinung tritt und als zweite Schöpfung im<br />
Sinne einer Rekonstruktion der Welt als Abkehr von einer subjektiv sinnlichen<br />
Erfahrung hin zu einer formal logischen Interpretation der Erscheinungen bezeichnet<br />
werden kann. So enthält das Bewusstsein zwei Wahrnehmungstypen,<br />
die offenbar verschränkt rhythmisch abgestimmt arbeiten und eine Homöostase<br />
von Körper und Umwelt intendieren. Der in musiktheoretischen Spekulationen<br />
früh auftretende Begriff des Schlagens ist somit weniger als Vorgriff auf<br />
eine Pulsationstheorie im Sinne von Schwingungen zu verstehen, als er auf der<br />
Parallelführung geteilter »Welten« und unterschiedlicher Systeme gründet. Das<br />
älteste System, das im Inneren den Status der Außenwelt signalisiert, auf die der<br />
Körper mit Bewegungen reagiert, ist das vestibuläre System mit seinem auditorischen<br />
Nachbarn. Raumorientierung und taktile Empfindung sind deshalb für<br />
kategoriale Begriffe früher Musiktheorien wie Steigen und Sinken, Schlagen und<br />
Pulsieren, Spannen und Entspannen wesentlich. Die Hinwendung zur Innenwelt<br />
erlaubt zudem den teilweise bewussten Zugang zu Aufzeichnungen zeitlicher Abläufe,<br />
die als Bewegungsspur gelesen werden müssen, in der das Unveränderliche<br />
des Gewesenen mit dem Fluss der Gegenwart zusammengespannt ist.
Kapitel 1<br />
Tönender Himmel<br />
1 Tonstufen<br />
Töne begleiten die Himmelskonstruktionen früher Kulturen. Philo von Alexandrien<br />
schreibt in De migratione Abrahami:<br />
Die Chaldäer brachten die irdischen Dinge mit den himmlischen zusammen und suchten<br />
dann aus den wechselseitigen Beziehungen dieser nur räumlich, nicht wesentlich<br />
geschiedenen Teile des Weltalls auch den harmonischen Einklang des Alls durch Töne<br />
der Musik nachzuweisen. 1<br />
Die Übersetzung »Töne der Musik« für di¦ mousikÁj lÒgwn ist interpretationsbedürftig.<br />
»Im musiktheoretischen Kontext begegnet Logos... in der eindeutigen<br />
mathematischen Bedeutung von ›Zahlenverhältnis‹.« 2 Damit sind die <strong>Intervalle</strong><br />
gemeint, zum Beispiel die Quarte mit 4:3 oder der Ganzton mit 9:8. Der »Ton«<br />
ist auf diese Weise eingespannt ins Tonsystem und Teil von Relationen. »Hinsichtlich<br />
des Tonsystems sind es die Logoi, die wie Klammern das Element – den<br />
einzelnen Ton – und das ganze System zusammen spannen; die Logoi determinieren<br />
die Töne und konstituieren das Tonsystem.« 3 Damit sind wir mitten in<br />
der griechischen Musiktheorie, die über das, was es an babylonischer Systematik<br />
gegeben haben mag, nur vage Auskunft gibt. Der Begriff Intervall ist so wenig<br />
überliefert wie Vorstellungen von Klangproportionen. Keilschrifttexte über die<br />
Stimmung der Lyra lassen außerordentlich breiten Spielraum für Interpretationen.<br />
Angegeben werden nur Saitenpaare, die aber keinen Hinweis bieten, ob<br />
es sich um <strong>Intervalle</strong> im Sinne antiker Begriffe wie beispielsweise diapente für<br />
die Quinte handelt. Das musikalische »Elementarereignis« beschränkt sich auf<br />
Paarigkeit und bezieht sich nicht auf das Intervall im systemischen Sinne, das<br />
transpositionsinvariant sein muss. 4 Das Intervall als musikalischer Strukturbe-<br />
1 Kapitel 32, zit. in: Alfred Jeremias, Handbuch der altorientalischen Geisteskultur, 2. Auflage<br />
1929, S. 183<br />
2 Albrecht Riethmüller, Logos und Diastema in der griechischen Musiktheorie. Archiv für Musikwissenschaft,<br />
Jahrgang XLXX, Heft 1, 1985, S. 20<br />
3 Riethmüller S. 20<br />
4 Mathias Bielitz, Über die babylonischen theoretischen Texte zur Musik, Neckargemünd<br />
2000. Auch M. L. West kommt zu dem Schluss, »the babylonian musician has no term for a fifth<br />
or a forth in the abstract distance, only for fifths and forths established between particular pairs of<br />
strings« (The Babylonian Musical Notation and the Hurrian Melodic Texts, Music and Letters, Vol.<br />
LXXV, 1994, S. 163).
10 Tönender Himmel<br />
griff erfordert ein formales System, das mit dem gehörten Klangbild, also der<br />
Wahrnehmung, ein Projektionsverhältnis eingeht, keine Abbildungsidentität;<br />
hier entsteht eine »Lücke«, die Pythagoras bald erleben musste, weil auch Inkommensurabilität<br />
Ausdruck des Projektionsverhältnisses ist. Es handelt sich<br />
bei den Keilschrifttexten also allenfalls<br />
um eine systematische Auflistung der Schritte beim Vorgang des Stimmens von Saiten,<br />
also um eine direkte ›Nachzeichnung‹ eines solchen Vorgangs durch Repräsentierung der<br />
Schritte einmal durch Paarnamen, durch Saiten, durch die Reihenfolge, und schließlich<br />
durch die direkte Handlungsanweisung ›rein/unrein‹ … 5<br />
Daraus lässt sich schwerlich eine Theorie konstruieren.<br />
Man kann nicht einfach unbeachtet lassen, dass noch die mittelbyzantinische ›Theorie‹<br />
unfähig ist, den mit Sicherheit in der melodischen Wirklichkeit vorauszusetzenden<br />
Unterschied zwischen Halb- und Ganztonintervall anzugeben, aber auch, dass der<br />
Intervallbegriff für den ältesten erhaltenen arabischen Traktat noch ebenso unbekannt<br />
ist wie schon für die babylonischen Texte. 6<br />
In altbabylonischen Monumentaltexten bezeichnet das Pentagramm Himmelsstufen,<br />
7 das gezackte Sternbild kann aber auch Welt- oder Innenräume bezeichnen.<br />
Peter Jensen spricht von tup(u)kati und »Weltinnenräumen« (tupuktu gleich<br />
Innenraum, der innerhalb einer Mauer gelegene Raum). 8 Laut Eisler gehört das<br />
sumerische Zeichen zur älteren Fünfersymbolik und einer »Fünf-Fingerwoche«,<br />
die der Siebentagewoche voranging. 9 Im Bildzeichen ist die ursprünglich gemeinte<br />
Bewegung stillgestellt und zurück bleiben Positionen, die in Relation<br />
zueinander doppeldeutig sind, einmal räumliche Abstände und ein andermal<br />
Markierungen von Bewegungen bezeichnen, ein Phänomen, das die Begriffe der<br />
antiken Musiktheorie durchsetzt. Da allein die Relationen der fernen Himmelskörper<br />
untereinander einen Beobachter erst auf Bewegungen aufmerksam machen<br />
(Sonne und Mond sind für ihn erdorientiert), haben sie auch nur im Gefüge<br />
eine Bedeutung. Der Anschauung bietet sich der Sternhimmel als Objektbereich<br />
mit hohem Abstraktionsgrad und dem Hintergrund als nur einer Dimension<br />
für Konstellationen. Die Unsicherheit in den Zuordnungen von Tonhöhen und<br />
Richtungen des Raumes, der klaren Definition, was hoch und tief bei Tönen<br />
5 Bielitz, Babylonische Texte, S. 7<br />
6 Mathias Bielitz, Antikes Denken und mittelalterliche Musiktheorie, Teil II, Zur Bedeutung antiker<br />
philosophischer Systematik für spätere mittelalterliche Musiktheorie; Heidelberg 2011; HeiDok,<br />
Heidelberger Dokumentenserver der Universitätsbibliothek Heidelberg, S. 30, Anm. 18<br />
7 Robert Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt, 1910, S. 304<br />
8 Kosmologie der Babylonier, S. 165<br />
9 Die Stadt Erech hieß »die Stadt der sieben tupukati« und war »in der mythologisierten Geographie<br />
von sieben Mauern umringt als Abbild der himmlischen Sphärenwelt. Erech hat das gleiche Ideogramm<br />
wie der den Sphären entsprechende Regenbogen: AN.TER.AN.NA...)« Jeremias, Geisteskultur, 1. Auflage<br />
1913, S. 50 f. Eine andere Lesart für Anteranna ist der Tierkreis, der Kreisel oder himmlische Wald.
Tonstufen 11<br />
bedeutet, verwundert angesichts des Einflusses der frühen Astronomie auf die<br />
Musik nicht. Der Neupythagoreer Nikomachos von Gerasa schreibt:<br />
Die Namen der Töne sind in glaubwürdiger Weise nach den sieben am Himmel wandelnden<br />
und um die Erde sich bewegenden Sternen benannt... Nach der Bewegung des<br />
Kronos (= Saturn), die von uns aus die oberste (¢nwt£tou) ist, wurde der am tiefsten<br />
klingende (barÚtatoj) Ton des Oktavraums Hypate (›höchste‹) genannt; das Oberste<br />
ist nämlich am ›höchsten‹. Nach der dem Mond eigenen untersten (katwt£tou) und<br />
erdnächsten Bewegung die Nete (›unterste‹); das Unterste (katètaton) ist nämlich am<br />
›untersten‹ (nšaton)... Nach der mittelsten Bewegung, die der Sonne eignet und von<br />
beiden Seiten her die vierte Stelle einnimmt, die Mese... 10<br />
Nach einer anderen Quelle hat Hermes die Saiten den Sphären der Planeten<br />
zugeordnet, und hier entspricht die Nete dem Saturn.<br />
Ausschlaggebend für die Bezeichnungen hoch und tief wäre die Ferne, derzufolge<br />
die Spannung von der Ausdehnung abhängig ist. Die Parallele von Planetenkreisen<br />
und Saiten bestünde darin, dass<br />
beide Systeme einen feststehenden Pol haben: dort die Erde, um die die Planeten kreisen,<br />
hier der ›Anhang‹, von dem die Saite ausgeht. In beiden Systemen sind es die relativen<br />
Abstände vom feststehenden Pol, die das harmonische Gefüge bestimmen. Als beherrschendes<br />
Zentrum macht sich dort die Zentralsonne, hier der Zentralton geltend. 11<br />
Die Vorstellung einer Vertikale, auf der die Höhen und Tiefen bestimmt werden<br />
können, ist an den Beobachter gebunden und nicht »an sich«. Da die antike<br />
Bewegungstheorie von der Kreisbewegung ausgeht, die vermutlich eine primitivere<br />
ballistische Vorstellung verdeckt, liegt eine generelle Begriffsunschärfe bei<br />
Bestimmungen von Tonräumen nahe, wenn sie in Beziehung von Planetenbahnen<br />
gesetzt werden. Für die Kreisform mag sich der Beobachter als Mittelpunkt<br />
setzen, so, wie es die antike Kosmologie tat, doch ist eine stabile Orientierung<br />
von Raumrelationen, die auf der Richtung der Schwerkraft beruhen, mit dem<br />
Kreis schwerlich kompatibel. Das sphärenharmonische Gedankengebilde leidet<br />
unter der Schwerkraft, der der Beobachter ausgesetzt ist, und die theoretischen<br />
Ansätze scheinen mal dieser und mal jener Seite zuzuneigen, weil Denken und<br />
Sein eben nicht dasselbe und nur bedingt kommensurabel sind.<br />
Es wird zu klären sein, ob mit den Abbildungsversuchen von Planetenbewegungen<br />
auf musikalische Strukturen nicht die animistischen Projektionen<br />
des Körpers auf den Himmel wieder auf die Erde zurückkehren und bei der<br />
Konstruktion des Musikinstruments und der Erschließung des Tonraumes mitwirken.<br />
Denn was für die Spannung der Saite gilt, gilt ebenso für die »Spannung«<br />
des körperlichen Hohlraums, der der Geometrie der Sphären zugrundeliegen<br />
10 Frieder Zaminer, Hypate, Mese und Nete im frühgriechischen Denken. Archiv für Musikwissenschaft,<br />
XLI, Heft 1, 1984, S. 10.<br />
11 Zaminer, S. 23 f.
12 Tönender Himmel<br />
mochte. Mit den physiologischen Ausdrücken Systole und Diastole, die bei den<br />
Griechen auf jedes Organ mit einem Hohlraum bezogen wurden – nicht nur<br />
auf das schlagend wahrgenommene Herz – sind auch Vokale bezeichnet worden.<br />
Die Spannung ergibt sich aus dem Vorgang einer Muskelkontraktion beim<br />
Festhalten, die Entspannung beim Lösen.<br />
So finden wir... in der hebräisch-phonetischen Terminologie, die ja auch auf physiologischen<br />
Beobachtungen aufgebaut ist, dass die Ausdrücke für die Dehnung des Vokals<br />
zugleich die Bedeutung ›festhalten, ergreifen‹ haben. 12<br />
Den Vokal dehnen heißt zugleich, ihn nach oben (unser Unten) zu modulieren,<br />
das Zusammenziehen wird als Zusammenfalten verstanden, es tritt eine Tonverkürzung<br />
(acutus genannt, dem entspricht der kurze oder auch klein genannte<br />
i-Vokal) ein. Für die alten Grammatiker sind Akzente auch Dehnungszeichen,<br />
die »bei den an und für sich quantitativ indifferenten Vokalen deshalb gedehnte<br />
Aussprache bewirken«. 13<br />
Die Bewegungen der Planeten dienen einer Strukturierung der unbestimmt<br />
fließenden Zeit und einer genaueren Bestimmung als durch die Einteilung der<br />
Naturphänomene in Jahreszeiten. Wie wichtig diese Einteilung einmal war, zeigt<br />
sich an der Astrologie, die die Chaldäer dem Mithraskult überlieferten. »Alle<br />
Abschnitte der als erste Ursache betrachteten Zeit haben sie angebetet: Jahrhunderte,<br />
Jahre, Jahreszeiten, Monate, Tage und Stunden.« 14 Die zwölf Zeichen<br />
des Tierkreises unterstellten »bei ihrer täglichen Umdrehung die Wesen ihren<br />
entgegengesetzten Einflüssen«. 15 Die Entgegensetzung wird zum Prinzip der Konstruktion<br />
der gezackten Sternzeichnungen wie Pentagramm oder Heptagramm<br />
bei dem römischen Geschichtsschreiber Cassius Dio, der in seiner Römischen<br />
Geschichte beschreibt, wie das Heptagramm konstruiert werden muss: als Sprünge<br />
von Quarten innerhalb eines Kreises, wobei mit Quarte ein musikalisches<br />
Intervall gemeint ist:<br />
Wenn man das musikalische Intervall di¦ tess£rwn auf die sieben Planeten nach ihrer<br />
Umlaufzeit anwendet und dann dem Saturn, dem äußersten von allen, die erste Stelle<br />
anweist, so trifft man zunächst auf den vierten, dann auf den siebten und erhält so die<br />
Planeten in der Ordnung, wie sie als Namen der Wochentage aufeinander folgen. 16<br />
Das Heptagramm ergibt sich aus sieben Punkten auf der Kreislinie, die durch<br />
Diagonalen miteinander verbunden werden, so dass jeweils unter Auslassung von<br />
12 Eberhard Hommel: Untersuchungen zur Hebräischen Lautlehre, Leipzig 1917, S. 118<br />
13 Hommel, Lautlehre, S. 101<br />
14 Franz Cumont: Mysterien des Mithra, Darmstadt 1975, S. 110<br />
15 Cumont, S. 110<br />
16 Cassius Dio: Römische Geschichte XXXVII, 18; zit. in Eisler, Weltenmantel, S. 304. Vitruv I,1:<br />
»Similiter cum astrologis et musicis est disputatio communis de sympathia stellarum et symphoniarum<br />
in quadratis et trigonis diatessaron et diapente« (Eisler, Weltenmantel, S. 339)
Tonstufen 13<br />
zwei Punkten der vierte Punkt zählt. Setzt man den Saturn für den Grund- und<br />
Ausgangston, so erhält man nach sieben Quarten (Sonne, Mond, Mars, Merkur,<br />
Jupiter, Venus) hintereinander und in einer Kette wieder den Grundton. Acht<br />
konzentrische Kreise und deren Bewegungen personifiziert Platon im 10. Buch<br />
des Staates (616b ff.) durch die Sirenen. 17 Im 7. Buch (530a,b) geht es Platon um<br />
das Verhältnis von Sternkunde und Musik, weil beiden eine nicht sichtbare oder<br />
hörbare Logik zugrunde liege, die es eher kennenzulernen gelte. Die Logik, so<br />
könnte man psychologisch interpretieren, liegt nicht in dem Sichtbaren, sondern<br />
beruht auf Projektionen, für die der Nachthimmel besonders gut geeignet ist.<br />
Das »Verhältnis der Nacht zum Tage und dieser zum Monat und des Monats<br />
zum Jahr und der anderen Gestirne zu diesen und unter sich« erfolge immer<br />
auf die gleiche Weise.<br />
Die etwas kompliziert wirkende Konstruktion von Wochentagen benutzt mit<br />
dem Heptagramm die erweiterte Form eines altbabylonischen Schriftzeichens<br />
für den Innenraum, woraus zu schließen ist, dass der Kosmos als geschlossenes<br />
räumliches Gebilde mit entsprechender Orientierung verstanden wurde – vor<br />
allem mit einer symbolisch akzentuierten Vertikale der Macht, der »Bewegungsachse«<br />
von oben nach unten, die im Penta- oder Heptagramm nicht vorkommt,<br />
denn es gelten hier im Kreislauf offenbar andere Gesetze. Der Himmel, den die<br />
Babylonier mit dem Zeichen für Oben schrieben, bietet sich den Augen der<br />
Astronomen eher als unspezifische Dimension dar, strukturiert allein durch die<br />
Bewegungen und Konstellationen der Himmelskörper. Die Sprünge von Punkt<br />
zu Punkt auf dem Kreis folgen keiner kontinuierlichen Linie, und die Geraden<br />
des Heptagramms führen sozusagen durch das unbestimmte Innere, das auch<br />
die Planeten durchlaufen.<br />
Die Beziehungen, die zwischen den Phonemen der Sprache und der Musik<br />
bestehen, lassen leicht übersehen, dass die Schriftentwicklung und das Lautwerden<br />
von stummen Bildern und Zeichen im Übergang von der Piktographie<br />
zum phonetischen Alphabet gehörigen Anteil an diesen Beziehungen hatte. Die<br />
Schrift tendiert zur Auflösung des statischen Bildes. Liest man die Aufzeichnung<br />
eines Prozesses als Spur, dann liegt ein gravierender Systemwechsel vom Gegenstandsbild<br />
zur phonetischen Verkettung vor, in der die Zeit einmal in der Konstruktion<br />
der Verkettung als Aufzeichnung und einmal als laufende Gegenwart<br />
in Erscheinung tritt. Die auch Pentalpha genannten Stern-Konstruktionen zeigen<br />
das Verhältnis eines ganzen Bewegungsraumes zu seinen Teilen oder Stationen,<br />
sind Bild eines Vollzuges, der sich bei Cassius Dio wie eine Rekonstruktionsanleitung<br />
liest. Das einzelne Zeichen für die Höhlung, angewandt sowohl auf den<br />
Himmel als auf die Erde, besteht bei den Babyloniern aus einem Winkelhaken<br />
17 Hommel, Lautlehre, S. 70
14 Tönender Himmel<br />
über einem Kreissegment mit der Bedeutung »Höhlung«. 18 Die Oppositionen<br />
der Quarten vollenden sich mit dem Schritt von der siebten zur achten Stufe,<br />
und erst die ganze Bewegung teilt den einzelnen Tonstufen ihre spezifischen<br />
Bewegungen zu, die man Quarten nennt. So deuten auch die Raumvorstellungen,<br />
soweit sie mit Stufen oder Skalen in Verbindung gebracht werden, auf eine dem<br />
Raum zugrunde liegende Bewegung hin, die allerdings nicht kontinuierlich beschrieben<br />
werden kann, sondern sich in Sprüngen vollzieht. Das sumerische UB,<br />
das als Pentagramm geschrieben wird, taucht in Verbindung mit der Siebenzahl<br />
auf: »In den Keilschrifttexten kenne ich nur ›sieben tupukati‹. Die Stadt Erech<br />
heißt UB VII... die Stadt der VII tupukati.« 19 Wenn es sich, wie es bei Jensen<br />
präzisierend heißt, bei den tupukati um Zwischenräume handelt, liegt ein komplexer<br />
Raumbegriff zugrunde. Die Teilung von innen und außen schafft einen<br />
solchen Raum, der in gewissem Sinne absolut zu sein scheint, weil er als Grenze<br />
entweder keiner Seite oder beiden Seiten angehört und ein Zwischen markiert,<br />
das zwischen den Gegensätzen des Innen und Außen als Drittes existiert, das<br />
nicht bezeichnet werden kann, es sei denn als Intervall. Es klingt vielleicht nicht<br />
allzu mystisch, wenn man diesen dritten Wert als denjenigen annimmt, den<br />
Aristoteles in seiner zweiwertigen Logik ausgeschlossen hat.<br />
Der griechische Philosoph Demetrius Phaleron berichtet in dem stilkritschen<br />
Text peri hermeneias (§ 71), »in Ägypten preisen die Priester sogar die Götter<br />
durch die sieben Vokale, indem sie diese der Reihe nach ertönen lasen, und statt<br />
Aulos und Kithara wird der Schall dieser Buchstaben gehört wegen ihres Wohlklangs,<br />
so daß der, welcher diese Klangfolge (t¾n sÚnkrousin) herausnähme,<br />
nichts anderes als einfach Musik und Kunst aus der Rede herausnehmen würde.«<br />
Zu Ludwig Radermachers Übersetzung von synchrousin mit Klangfolge wäre an<br />
den Ursprung des Wortes im Schlagen (zu kroÚw »schlagen, stoßen, stampfen«)<br />
zu erinnern, das hier bezeichnenderweise für die Folge von Vokalen und nicht<br />
für das Anschlagen der Saiten gebraucht wird. 20 Bei Eusebius (de evangelica<br />
praeparatione, XI, 6, 37) heißt es:<br />
Die ägyptischen Priester, denen die Griechen begegneten, sangen dem Hermes-Thot<br />
die sieben Urlaute, die sieben Vokale, als Lobgesang und ließen Hermes-Thot in einem<br />
seiner Hymnen sagen: ›Mich, den unvergänglichen Gott, preisen die sieben Buchstaben<br />
der Urlaute als den unermüdlichen Urvater alles Seienden. Ich, des Weltenbauers<br />
unzerstörbare Leier, habe die Singstimmen der Drehungen des Himmels geordnet<br />
zum Einklang‹. 21<br />
18 Jeremias, Geisteskultur, 1. Ausgabe 1913, S. 35. Eisler verweist auf den dritten Buchstaben der<br />
alten Alphabete, ein nach oben offener spitzer Winkel, gamlu im Sumerischen, gimel im Hebräischen<br />
und gamma im Griechischen, als dritter Buchstabe auch die Zahl drei bezeichnend.<br />
19 Jeremias, Geisteskultur, 1913, S. 50<br />
20 Zit. in: Dornseiff, Franz: Das Alphabet in Mystik und Magie, 1925/1979, S. 14.<br />
21 Zit. in: Jeremias, Geisteskultur, 2. Auflage, S. 182. Eusebius, Werke, Bd. 8, Hrsg. von Heinz Bertold:<br />
˜pt£ me fwn»enta qeÕn mšgan ¥fqiton a„ne‹ gr£mmata, tÕn p£ntwn ¢k£maton patšra. e„mˆ d' gë<br />
p£ntwn cšluj ¥fqitoj, ¿ t¦ lurèdh ¹rmos£mhn d…nhj oÙran…oio mšlh.
Tonstufen 15<br />
Im griechischen Original stößt man mit dem eimi d’ ego auf den Stil einer Ich-<br />
Prädikation (»Ich bin, der...«), die ein hohes Alter hat 22 und als Antwort auf die<br />
Anrufung einer Gruppe gegeben wird. Da es sich um sieben Laute handelt, ist<br />
die Gesamheit des Alls als Begriff für die Idee eines abgeschlossenen Ganzen<br />
und einer Bewegungseinheit in der Verkettung angesprochen; die Sieben steht<br />
bereits in Babylon für das Universum und im Wechsel mit der Vier. Das All ist<br />
ein geeintes (pantos) Ganzes und nicht nur alles. Allerdings handelt es sich bei<br />
dem Angerufenen um einen überschüssigen und variablen Faktor als interne<br />
Austauschmöglichkeit und »Bewegung« der Elemente.<br />
Johann Gottfried Herder geht kritisch mit dem Zitat um:<br />
Dass diese Gesangszahl Sieben etwas zur Schöpfung gehöriges sei, zeigen alle von<br />
Jablonski 23 und Geßner gesammelte Stellen. So wie’s nach dem ewigen Gedichte der<br />
alten Welt ›Harmonie war, die allein die Schöpferkräfte der allwürkenden Gottheit<br />
ausdrückte:‹ so war, all bekannter maassen, diese grosse harmonische Zahl des Weltenklangs<br />
Sieben! ›Mich loben führt Eusebius (Euseb. Praep. Ev. I. XI. c. 6) jene alte<br />
Stimme der Gottheit an, mich loben die sieben tönenden Buchstaben (gr£mmata) mich<br />
den grossen Gott, den unermüdlichen Vater des Weltalls.‹ ›Und bin, führt Clemens so<br />
weiter, bin die grosse unzerstörbare Leier des Weltalls, die die Sangweisen der Himmel<br />
stimmte.‹ Die Stellen, und wie viel andere der Pythagoreer sind Zeugen. 24<br />
Dass es sich bei den Sieben um Planeten handelt, »vielleicht, oder nicht vielleicht«<br />
meint Herder, und er findet die Ansicht Jablonskis überzeugend, dass<br />
»die Ägypter nicht sieben Planeten, als Hauptgötter, sondern Kräfte und Glieder<br />
der Welt! der fühl- und unsichtbaren Welt! kurz, die großen Töne des Gesanges<br />
der Wesen verehret«. Dennoch: »Es sind die sieben Töne der Leier des Weltalls,<br />
was diese auch seyn mögen.« Platon übernimmt die Analogie einer Harmonie<br />
der Stimmlaute und ihrer entsprechenden Buchstaben mit der Harmonie der<br />
Tonleiter und bezieht sich ebenfalls auf Hermes, jedoch denkt Platon bereits an<br />
eine Harmonie von Proportionen der Anzahl von Vokalen, Konsonanten und<br />
stummen Zeichen in dem griechischen Alphabet, das somit als proportional<br />
konstruierte Elementenreihe auftritt. 25<br />
Der Unterschied von Tönen und Vokalen ist unklar, zumal Herder Irenaeus<br />
(I, 14) zitiert:<br />
22 Johannes Hehn: Siebenzahl und Sabbat, S. 64<br />
23 Es handelt sich um Paul Ernst Jablonski, der im 1752 erschienenen dritten Teil des Pantheon<br />
Aegyptiorum über Thot und in den Prolegomena XXIV ff. über die Siebenzahl bei den Ägyptern<br />
geschrieben hat.<br />
24 Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, Ägypten, Sieben heilige Laute; Riga 1774, S. 166 ff.<br />
25 Das hebräische qôl »Laut, Stimme, Geräusch« steht ebenso für den Donner wie für »Stimme<br />
des Herrn«. Dem Fluss der Musik kommen einige Vorstellungen der Kabbala von Gottes Wort noch<br />
nahe, wenn es über die 10 Gebote heißt: »Die zehn Worte gingen in einer Stimme aus Gottes Mund<br />
hervor... und die Stimme teilte sich in sieben Stimmen« (Gershom Scholem: Ursprung und Anfänge<br />
der Kabbala, 2001, S. 122). Bestimmte Zahlen wie die Sieben, die Acht oder auch die Fünf sind generell<br />
mit Bedeutung aufgeladen und treten deshalb in vielen Zusammenhängen in Erscheinung, so dass der<br />
Musikbezug eher beliebig wirkt, auch wenn man bei sieben Stimmen an eine Tonleiter denkt.
16 Tönender Himmel<br />
Der erste Klang A, zwei und drei E und H: der vierte und mittlere der Sieben tönt die<br />
Kraft I: der fünfte und sechste O und U: der siebte endlich und vom Mittlern der Vierte<br />
tönt das Element W: Also die Kräfte gegen einander gewebt und gestellet, tönen und<br />
preisen sie den Schöpfer.<br />
Arrangiert ergibt es eine Figur, bei der A, I und W untereinander stehen, die<br />
anderen, »wo zwei Töne nur Eins sind« (E und H, O und U) zur linken und<br />
rechten Seite der mittleren drei. Als Erfinder gilt auch Herder »Hermes, Theut,<br />
Thot, Thaaut – man stosse sich an dem Namen nicht: er heißt nichts als Monument,<br />
Säule, Denkmal« und erfand auch die Zahlen, »Zahlen, die ja nicht<br />
schlechte Rechenziffern waren: sondern Inhalt, Kraft, Maas, aller Dinge, wofür sie<br />
auch den Pythagoreern ewig galten«. Die der Bewegung in den kosmologischen<br />
Konstruktionen zugehörige Kreisform geht neben diesen sehr alt anmutenden<br />
Identifikationen von Kräften, Göttern und Zahlen Hand in Hand mit musiktheoretischen<br />
Spekulationen, wobei Bewegung und Kraft einander bedingen.<br />
Die Zahl ist ursprünglich ein energetischer Begriff, meint Kraft und Dynamik.<br />
K…nhsij ist »das Schlagwort zur Bezeichnung des beginnenden Lebens.« 26 Noch<br />
Philolaos spricht von der Natur, fÚsij, und der Kraft, dÚnamij, der Zahl. 27 Begriffe,<br />
die im Objektbereich keine Entsprechung haben, können nur von innen<br />
kommen, aus dem Körper. Cornford schreibt in seinem Timaios-Kommentar:<br />
It may be added that some of the older terms in Greek mathematics have biological<br />
associations: cro…a (skin) for surface, dÚnamij (power) for square, aÜxh (growth) for<br />
dimension, sîma for solid. These terms were applied to numbers as well as to figures.<br />
They were taken from living things and fit in with the Pythagorean conception of the<br />
unit as the ›seed spšrma or eternal root (_…za) from which ratios grow or increase<br />
aÜxontai reciprocally on either side‹ [Iambl. in Nicom., p. 11 Pistelli]. 28<br />
Als vorwissenschaftlicher Begriff rangiert die Zahl unter den Projektionen, die<br />
aus dem Inneren kommen.<br />
A number is not something in the visible world but an act of the human mind. Saying<br />
that there are three apples on the table says nothing about each apple and nothing about<br />
apples in general... It is the human mind that is capable of the activity of numbering<br />
and that imprints it on reality. 29<br />
26 »The early philosophers most likely to have regarded cosmogony in the same light as the development<br />
of the embryo or the egg are those most interested in the origin an nature of the human<br />
body« (H. C. Baldry: Embryological Analogies in Early Cosmogony. Classical Quarterly 1932, S. 29).<br />
Abhandlungen des Corpus Hippokraticum über Embryologie und die Natur des Kindes enthalten<br />
Analogien zwischen Kosmologie und Embryologie.<br />
27 Diels, Fragmente der Vorsokratiker, 32 B 11<br />
28 Francis Macdonald Cornford: Plato’s Cosmology. Commentary of the Timaeus of Plato, 1937/2001,<br />
S. 50<br />
29 Clarisse Herrenschmidt: Writing between Visible and Invisible Worlds in Iran, Israel and Greece:<br />
in: Ancestors of the West, Chicago 2000, S. 75
Trommel und Pauke 17<br />
Rechensteine werden mentalen Prozessen wie dem Zählen zugeordnet, sie repräsentieren<br />
Zahlen, mit anderen Worten: Sie sind Projektionsflächen mentaler Prozesse.<br />
»Once the products of human mental activity were made visible – numbers<br />
by calculi – writing, duplicating that first representation in signs, unfolded.« 30<br />
So steht nicht das Bild des Objektes am Anfang der Schrift, sondern die Repräsentation<br />
eines mentalen Phänomens durch Objekte, ein dem Animismus<br />
ähnlicher Vorgang. Die zeitlich angeordneten Elemente einer Zählreihe werden<br />
in der Rückschau, der Erinnerung, zum Muster mit räumlich angeordneten<br />
Stellenwerten. Die Zusammenfassung von Einheiten durch Zählen fußt auf dem<br />
Festhalten des Gezählten. Dabei spielt der Hohlraum als Metapher des Inneren<br />
eine entscheidende Rolle und steht auch am Anfang der Schriftentwicklung. Die<br />
Aufzeichnung von Inhalten des Gedächtnisses scheint Techniken provoziert zu<br />
haben, die das Verhältnis von innen und außen, Gefäß und Inhalt nachbilden.<br />
Umgekehrt wird das Gedächtnis als Gefäß empfunden. Entsprechend ist die<br />
Schrift vermutlich aus Marken entstanden, die als Stellvertreter für Dinge in<br />
Tonkugeln aufbewahrt wurden. 31 Wie bei der Zahl das Zählen und seine Zeitfolge<br />
aufgehoben ist und die Zahl sich im Raum erstreckt wie eine Zahlfigur, ist das<br />
Bild einer Geschichte eine der Zahl analoge Form. Dass die erinnerte Geschichte<br />
zwangsläufig wieder er-zählt werden muss, rückt ihre Form in die Nähe des<br />
Zählens als Folge, und die Buchstaben wie Wörter arbeiten wie die Zahlenreihe,<br />
die immer ein Ende haben muss, weil das Erinnerte »abgesteckt«, terminiert ist.<br />
Im Ritus tritt dieses enge Verhältnis von strenger Folge, also Zahlschritt, und<br />
»Texthandlung« besonders in Erscheinung.<br />
Es wird sich bei Platons Reflexionen über die Begrenzung des Unbegrenzten<br />
und das Wesen der Zahl zeigen, dass die Grenzen Schnittstellen im Kontinuum<br />
bedeuten und damit auf spezifische Weise mit einem negativen Vorzeichen versehen<br />
sind. Andererseits tritt mit den Schnittstellen die Gestalt hervor und definiert<br />
alles, was nicht zur Gestaltung gehört, als negativ. Eine Folge identifizierbarer<br />
Tonhöhen lässt sich als Schnittstellenreihe auf einem Glissando lesen, und die<br />
Sternbilder sowie die Bahnen der Planeten als Grenzen und Schnittstellen in<br />
den Kontinua Raum und Zeit.<br />
2 Trommel und Pauke<br />
In Keilschrifttexten wird das Lied mit den Zeichen für »Pauke und gleichsein«<br />
geschrieben, was auf einen Zusammenklang von Pauke und Stimme schließen<br />
lässt. »Die Musik muss monophon-geradlinig gewesen sein. Vokal- und Instru-<br />
30 Herrenschmidt, S. 75 f.<br />
31 Martin Kuckenburg: Die Entstehung von Sprache und Schrift. 1989, S. 146: »Dieser Prozess<br />
begann etwa um 8000 v. Chr., in der Frühphase menschlicher Sesshaftigkeit, als in einigen der ersten<br />
Siedlungen Syriens und des Irans auch die frühesten Tonmarken auftraten.«
18 Tönender Himmel<br />
mentalmusik waren demgemäß im Prim- oder Oktavintervall gesetzt.« 32 Die<br />
Griechen kannten ein in Oktaven gestimmtes Saiteninstrument, die dreieckige<br />
magadis, von der das Verb »magadisieren« abgeleitet ist, ein antiphones Musizieren<br />
in Oktaven. Von allen »Symphonien« könnten nur Oktaven magadisiert<br />
werden, schreibt der Pseudo-Aristoeteles in den Problemata (XIX, 18). 33 Der<br />
Schlag der Pauke ist archaisch, Jaritz vermutet Reste schamanistischer Praktiken,<br />
ohne dass ekstatische Praktiken sich nachweisen ließen, es sei denn die<br />
Bedeutung von NAR.BALAG (Sänger + Pauke) »Beschwörer« würde in diese<br />
Richtung zeigen. Der mesopotamische Gott Ea, Herrscher der Tiefe und der<br />
dortigen Wasser, wird mit einem Zeichen geschrieben, das als balag gelesen wird,<br />
Ramman befehligt Donner und Winde, ihm entspricht die Riedflöte ebenso wie<br />
Ishtar, während Tammuz Sänger war, Gott der zärtlichen Stimme. 34 Antithetisch<br />
sind Trommel und Flöte organisiert:<br />
Their psalms tell of strength in the ›gigantic steer‹ and weakness in the ›crouching<br />
reed‹. This symbolism of puissance and docility, force and persuasion, was reflected<br />
in the deafening roar of the drum (i. e. the bull) and in the plaintive sigh of the pipe<br />
(i. e. the reed), for they were the ›outward visible sign‹ of an ›inward spiritual grace‹.<br />
Being a highly imaginative people they resorted to symbolism in many ways, but none<br />
is more intriguing than their use of sound for this purpose... 35<br />
Der Klang der Trommel wird sehr unterschiedlich empfunden, je nach Instrument,<br />
die metallene lilissu (= lilissu – Gott) »renew its brilliance like the moon,<br />
be glorious forever like the sun«. Diese Trommel sowie alû und halhallatu bringen<br />
tiefe und donnergleiche Klänge hervor, sie können singen. In einer Fabel über<br />
Wolf, Fuchs und Hund wird der Trommelbeat mit einer der sehr verschieden<br />
klingenden Tierstimmen verglichen – der Wolf heult zum Beispiel, was nicht<br />
nur durch Schlagen mit den Händen oder Trommelstöcken zustande kommen<br />
kann. Ein Beispiel einer Trommel ist überliefert, die nicht geschlagen wurde,<br />
sondern gerieben oder gestrichen. Sowohl diese Techniken als auch die vermutete<br />
perkussive Verwendung des Resonators der Harfe deuten auf eine komplexe<br />
Klangerzeugung hin, die viel mit der Nachahmung von Naturgeräuschen<br />
32 Alfred Jaritz: Schriftarchäologie der altmesopotamischen Kultur, Graz 1967, S. 493<br />
33 Das Wort soll semitischen Ursprungs sein, und da es auch für den Steg des Instrumentes gebraucht<br />
wurde, deutet magadis auf ein hebräisches ma’agad »Verbindung« hin (Heinrich Lewy: Die<br />
semitischen Fremdwörter im Griechischen, Berlin 1895, S. 161 f.).<br />
34 Henry George Farmer: The Music of Ancient Mesopotamia; in: The Oxford History of Music.<br />
I, Ancient and Oriental Music, 1960, S. 231. Farmer liest balag als Trommel, inzwischen scheint klar,<br />
wie es zu der schwankenden Lesung des Wortes zwischen Trommel und Harfe kommen konnte:<br />
»Some terms, like alû (à-là) and Balaggu (balag), seem to represent both stringed instruments and<br />
percussion instruments; we have tried to find a way around this confusion by understanding that the<br />
sound boxes of balaggu ›harp‹ or the alû instrument could have been used as drummable resonators<br />
and stringed instruments at the same time, and that the names were associated with the percussion<br />
instruments alone.« (Anne Kilmer: Musik A. I. In Mesopotamien, Reallexikon der Assyrologie, 8; siehe<br />
auch ebenda »Pauke und Trommel«)<br />
35 Farmer, S. 230
Trommel und Pauke 19<br />
gemeinsam hat, mit einer Abbildung der Objektklänge durch das Instrument.<br />
Die große Kesseltrommel scheint fähig, durch »den Schrecken verbreitenden,<br />
beängstigenden Sound« alles Böse vertreiben zu können, darin dem jungsteinzeitlichen<br />
Schwirrholz (bullroarer, rhombos) ähnlich. Doch auch Geräusche des<br />
Körpers wie der Herzschlag vertritt die Trommel: »It has been suggested that the<br />
heartbeat was expressed by the sound of the uppu drum...« So heißt es einmal:<br />
»The kettledrum is his heart.« 36<br />
Die enge Beziehung von Göttern und Musikinstrumenten in Mesopotamien<br />
ist nur eine alternative Lesart der Harmonie des Kosmos und der tönenden Planeten.<br />
Die Rede von der Himmelsschrift lässt den Schluss zu, dass die Erfindung<br />
der phonetischen Schrift durch die Vorstellung vom tönenden Himmel erleichtert<br />
wurde. Klang und Schrift, Laut und Buchstabe dürften somit eine originäre Quelle<br />
in der Himmelsschrift haben, die auf Sternen basiert 37 und zu einer Analogie von<br />
Vokalen und Tönen führen konnte. Die sumerische Schrift verkettet Piktographie<br />
und Phonetik, als sei die Zuordnung von Objekten und Klängen auch die Basis<br />
für die Entwicklung einer phonetischen Schrift geworden, diese wiederum die<br />
Fortsetzung einer Sprache, in der Laute und Bewegungen verknüpft sind, das<br />
Deiktische stummer Gesten dem Phonetischen bei der Entwicklung von Sprache<br />
als Basis diente. Mit der Schrift wird die stumme Zeichensprache älterer Zeiten<br />
wiederbelebt; später, mit der Erfindung des phonetischen Alphabets, geht das<br />
Zeichen in den Laut über, der jedoch mit »Körperbewegungen« der Sprechwerkzeuge<br />
ausgeführt werden muss, um Klang zu werden. Den entstehenden Laut als<br />
abhängig von der Stellung der Sprechwerkzeuge zu sehen, bietet die Möglichkeit,<br />
den Laut auch in Abhängigkeit von intentionalem Verhalten der Werkzeuge zu<br />
deuten. Der Laut bedeutet etwas, weil die Bewegungen, die ihn hervorbringen,<br />
auf Absichten gründen. Der Laut ist Metapher:<br />
Metaphor is the major law of symbolic organization and growth... In essence, this means<br />
that all symbol codes, including language, are complexly organized at a deep-structural<br />
level in ways that are nonarbitrary. The law of metaphor is a biological necessity for<br />
the cognitive functioning of Homo Sapiens. 38<br />
Ferdinand de Saussures Position der willkürlichen Bedeutungszuordnung von<br />
Zeichen findet hier keine Zustimmung.<br />
36 Anne Draffkorn Kilmer, Reallexikon der Assyrologie 10, S. 370<br />
37 Das Schreiben von Zahlen geht der schriftlichen Repräsentation der Dinge voraus; siehe Herrenschmidt,<br />
Ancestors, S. 76<br />
38 Mary LeCron Foster: The Growth of Symbolism in Culture, in: Symbol as Sense. New Approaches<br />
to the Analysis of Meaning, 1980, S. 372
20 Tönender Himmel<br />
The conclusion of Saussure (1959) that the meaningful unit of language was sign rather<br />
than symbol, because of the arbitrary relationship between phonological representation<br />
and meaning, becomes questionable once a motivation is discovered for assignment of<br />
a particular meaning to a particular phonological unit. 39<br />
Einer der frühen Theoretiker, die die Sprache auf eine überschaubare Zahl von<br />
Phonemen zurückführen, die ihre Bedeutung von der Bewegung und Stellung<br />
der Sprachwerkzeuge zueinander haben, also metaphorisch zu deuten sind, ist der<br />
Isländer Alexander Johannesson. Er versucht eine Rekonstruktion der Sprachentstehung<br />
auf evolutionärer Basis und dem Vergleich nicht miteinander verwandter<br />
Sprachen, um gemeinsame Wortwurzeln oder Stämme mit Bedeutungen zu<br />
finden, die auf einen gemeinsamen Sinn schließen lassen. Vor dem Hintergrund<br />
evolutionärer Basis der Sprache ergeben sich eher geringfügige Abweichungen<br />
der grundlegenden Phoneme und ihrer Bedeutungen. Vorarbeiten für diese<br />
doch eher spekulative Theorie leisteten die Grammatiker der indoeuropäischen<br />
Sprachen im 19. Jahrhundert. »A great part of human speech has originated as<br />
an imitation by the organs of speech of patterns in nature, especially the shape<br />
and movement of things.« 40 Die meisten sumerischen Silben der piktografischphonetischen<br />
Schrift bestehen aus einer Kombination von Konsonant – Vokal,<br />
Vokal – Konsonant oder aus Dreierkombinationen aus Vokalen und Konsonanten<br />
– Elemente, deren Artikulation mit Lippen, Zunge und Gaumen Bewegungen<br />
nachahmen. Johannesson unterscheidet expirative von inspirativen Bewegungen,<br />
letztere sind zum Beispiel aus dem Sauglaut hervorgegangen, beginnen im vorderen<br />
Mundbereich und enden im hinteren Gaumen wie beim sumerischen tag<br />
oder englischen take. »We see conformity both in form and meaning between<br />
Sumerian, Arch. Chinese an IE. The original signification seems to have been<br />
›to take food in the mouth and then close the mouth‹ – with inspiration.« Ein<br />
expiratorischer Typ liegt vor bei caput; g oder k beginnen im hinteren Gaumen.<br />
Diesen zweiten Typ sieht Johannesson in Wörtern, die Rundungen und Hohlformen<br />
bezeichnen. Es handelt sich bei Johannesson um Beobachtungen, die so alt<br />
sind wie die Bemühungen der Grammatiker. Bei der Unterscheidung des Wesens<br />
von Vokalen und Konsonanten ist die griechische Musiktheorie oder hebräische<br />
Akzenttheorie nicht weit: »The vowels are posture sounds, remaining static when<br />
they have formed; the consonants are gesture-sounds, sounds of movement.« 41<br />
Oder: »In many words in different languages the use of designating flat (Engl.<br />
flat from IE. *pelā, griech. pšlanoj...) and »i« a designating high or little (IE:<br />
*rēig- ›make right‹, Engl. reach) is to be seen.« 42 Dem »u« entspricht tief, groß<br />
39 Foster, S. 83<br />
40 Alexander Johannesson: The third stage in the creation of human language, 1963, S. 51<br />
41 Alexander Johannesson: Gestural Origin of Language, 1952, S. 10<br />
42 Johannesson, Origin, S. 10 f.
Trommel und Pauke 21<br />
oder dunkel; man findet solche Zuordnungen, wie später zu sehen ist, bei den<br />
hebräischen Grammatikern. 43<br />
Es gibt eine stabile Tradition der Ansprache transmundaner Geister mithilfe<br />
von Klängen. Das mystische Pfeifen und Schnalzen in Mysterienkulten dürfte<br />
auf sehr frühe akustische Provokationsmuster zurückgehen; spät sind die ihren<br />
Herrn unentwegt mit Gesang huldigenden Engelschöre, und es ist die Frage,<br />
ob die Verbindung von Planeten und »Tönen« nicht ebenso auf eine Huldigung<br />
zurückgeht, die die Bewegung der Planeten als Götter in Babylon im tönenden<br />
Umkreisen leistet. Bewegung scheint noch nicht abgelöst vom Sinn, der<br />
in Körperbewegungen enthalten ist, die als Grundlage für die Interpretation<br />
eines von anthropomorphen Kräften in Ordnung gehaltenen Kosmos dienen.<br />
Das heißt: Bewegung hat einen Grund und ein Ziel, bevor sie im Zuge der<br />
Verwissenschaftlichung des Weltbildes von allen anthropomorphen Absichten<br />
gereinigt wird. Da in der Überlieferung kaum scharf zwischen Vokalen und<br />
Tönen im Sinne von Tonstufen (hoch/tief, hell/dunkel) unterschieden wird,<br />
tritt die Schrift als Mitspieler bei der Entwicklung von Musiksystemen auf. Der<br />
Vokal ist ein Element mit Bezug zur Schrift, ein zeichenloser Name insofern,<br />
als er die Konsonantenzeichen als »musikalische« Zutat, als Akzent (prosodie,<br />
adcantus, accentus) begleitet. Der Schrift wächst mit der Phonetisierung ein<br />
uraltes Moment der Geisterbeschwörung zu, die wie ein archaischer Rückgriff<br />
eines modernen Mediums wirkt. Das stumme Zeichen, das das Ding vertritt,<br />
wird belebt. Die stumme Schrift, die sich im zweidimensionalen Raum entfaltet<br />
und auf die Geschicklichkeit der Hand angewiesen ist, zählt zum gestischen<br />
Potential menschlicher Kommunikation. Die Aufmerksamkeit, die in einer Konsonantenschrift<br />
wie der semitischen dem Vokal entgegengebracht werden muss,<br />
ist ohne die Phonetisierung der Schrift im Alphabet kaum denkbar, auch wenn<br />
der Vokal vor der Ausbildung des griechischen Alphabets keinen Zugang zur<br />
Schrift hat. Der doppelsinnige Begriff »Konsonant«, der Stummes und Tönendes<br />
vereint, eine stumme Mundbewegung mit einem Klang verbindet, wiederholt<br />
das Klangspektrum, das von den Dingen der Natur ausgeht, den spezifischen<br />
Geräuschen der Objekte. 44<br />
Aristoxenos vergleicht in den Harmonischen Elementen die Anordnung der<br />
Buchstaben einer Silbe mit dem melodischen Fortschreiten der Stimme. »Es<br />
besteht in Betreff des harmonisch Anwendbaren und Nichtanwendbaren eine<br />
solche Ordnung, wie auch in Betreff der Zusammensetzung der Buchstaben im<br />
43 Mary LeCron Foster bietet in ihren Texten ausführlichere Analysen, so in dem 1978 erschienen<br />
Sammelband »Human Evolution. Biosocial Perspectives: The symbolic structure of primordial<br />
language.«<br />
44 Es ist möglich, dass Philos eingangs zitiertes Begriffskompositum von Musik und Logos auf die<br />
umfassendere Bedeutung der Musik im Sinne einer »Grammatik« bezogen werden muss, der Lehre<br />
von der Kombination von Buchstaben, Silben, Wörtern usf.
22 Tönender Himmel<br />
Sprechen; denn nicht durch jede Art von Zusammensetzung der Buchstaben<br />
entsteht eine Silbe...« Dass das Sprechen in Buchstaben zerlegt werden kann,<br />
gilt als vorausgesetzt. Der Buchstabe scheint Vehikel für die Zerteilung des<br />
phonetischen Stroms zu sein und die Schrift wirkt auf den Klang der Sprache<br />
insofern ein, als sie ein Bewusstsein schafft für deren interne logische Struktur<br />
als sinnvolle Folge von Zeichen, also als Anordnung von Elementen. Die alten<br />
Grammatiker bestehen auf einer Analogie von Buchstabenfolge und Melos, weil<br />
das Wort aus einer einzigen den Phonemen übergeordneten Bewegung besteht<br />
und die Buchstabenfolge dieser zerlegten Bewegung eine Zeitfolge abbildet, oder<br />
auch: eine Stellenfolge, in der jede Stelle einen bestimmten Wert hat und diesen<br />
Wert den darauf liegenden Einheiten mitteilt. Dass man alternativ zur »Rede«,<br />
zum Wort, zur Buchstabenfolge auch Zahlen setzen kann, liegt auf der Hand, so<br />
dass der etymologische Zusammenhang von Zählen und Erzählen darin gründet,<br />
dass es nicht gleichgültig ist, wo etwas steht und welche Einheit auf welche folgt,<br />
womit die Struktur einem Zeitfaktor unterliegt. Die in eine Richtung (von links<br />
nach rechts zum Beispiel) gehende Folge bildet die Zeit geometrisch im Raum<br />
ab. Mit der Einführung des phonetischen Alphabets wird die piktographische<br />
Zuordnung von Bildzeichen und Objekt abgelöst durch die Zuordnung von<br />
Zeichen und Elementen der Stimme, die offenbar den Zeitfaktor oder den Stellenwert<br />
wie ein Vorzeichen mit sich führen. Das Wort für Element, stoicheion (bei<br />
Nikomachos fwn»enta sto‹cea), beinhaltet die Partikularisierung des Sounds<br />
unter Berücksichtigung des Stellenwertes und der Zeit. Damit ist vor allem eine<br />
Wortgattung gemeint: das Verb als Ausdruck einer Bewegung.<br />
Bis heute sind die meisten Interpretationen mesopotamischer Zeugnisse einer<br />
Musikkultur von der späteren griechischen Musiktheorie inspiriert; Gleiches<br />
dürfte für die antiken Autoren gelten. Es ist fraglich, ob es über die Stimm- und<br />
Spielpraxis hinaus ein Bewusstsein struktureller Beziehungen zwischen <strong>Intervalle</strong>n<br />
und Tonleitern unabhängig vom Instrument gab, wie wir sie in ihrer auch<br />
spekulativen, kosmologisch gedeuteten Form von den Griechen kennen. Deren<br />
Abstraktionsniveau für Mesopotamien nicht voraussetzen zu müssen, verlangt<br />
eine enge geistige Bindung der Klangproduktion an das Gerät mit zu bedenken,<br />
das die Klänge erzeugt. Die Bindung musikalischer Strukturen an das Instrument<br />
und dessen Handhabung ist wesentlich, eine Bindung, die in der pythagoreischen<br />
Sicht verlorengeht, weil letztlich Zahl und Proportion das Reich der Musik dominieren<br />
und die Rede von der Harmonie der Sphären nicht viel mehr als ein<br />
Bild ist oder ein Modell. Mesopotamische Keilschrifttexte über das Stimmen<br />
der Harfe erlauben wenig mehr als Rückschlüsse auf die Anzahl von Saiten, ihre<br />
Lage zueinander und die Prozedur des Stimmens im Abgleich zweier Saiten. 45<br />
45 Mathias Bielitz: Über die babylonischen theoretischen Texte zur Musik, Neckargemünd 2000.<br />
Der Begriff des Intervalls ist angesichts dieses Quellenmaterials obsolet, ebenso wenig lässt sich laut<br />
Bielitz daraus die Existenz einer diatonischen Skala rekonstruieren. Es findet sich kein Begriff für
Trommel und Pauke 23<br />
Dass es sich bei den Texten um die Beschreibung eines musikalischen Prozesses<br />
handelt, scheint allein an der Bezeichnung rein/unrein für alternative Positionen<br />
des Zusammenklangs der Saiten ablesbar zu sein, die gestimmt werden sollen.<br />
Für die frühe Musikpraxis ergibt sich somit eine »Äußerung des Gegenstandes«,<br />
des zum Klingen gebrachten Instrumentes, das über eine Grundstimmung<br />
der Spannung der Saiten verfügt, und variabel erzeugten Tönen. Diese Unterscheidung<br />
zwischen statischem und variablem Sein, Essenz und Akzidenz,<br />
die die gesamte Ontologie durchzieht, kehrt als fundamentale Unterscheidung<br />
im Gegenstandsklang wieder. Er ist identifizierbar durch eine bestimmte wie<br />
unveränderliche Mischung an »Tönen«, die als Rahmen variabler Abweichungen<br />
erhalten bleiben. Dieser Dualismus des Fixen und Variablen wird von der<br />
Skala oder der Stimmung des Instruments als fixer »Kanon« und dem Spiel als<br />
Variable realisiert. 46 Die Unterscheidung von rein und unrein wird auf einem<br />
Glissando getroffen, auf dem bestimmte Orte bevorzugt sind und als rein bezeichnet<br />
werden, weil sie zusammen mit anderen ein besonderes »Hörerlebnis«<br />
zeitigen, eine Konsonanz mit der Oktave als höchstem Verschmelzungsgrad. In<br />
der Saitenspannung werden die Ausgangspunkte fixiert, die sie in ein bestimmtes<br />
Klangverhältnis setzen, so dass Saiten-Spannung und Ton oder Zusammenklang<br />
eine Wahrnehmungseinheit bilden. Der Unterschied rein/unrein bezeichnet die<br />
Grenze zweier Welten, von denen eine als Negation der anderen zu lesen ist.<br />
Die Gliederung durch die Skala löscht das Glissando aus, im Glissando gehen<br />
die Stufen buchstäblich unter. Dass die Stufen etwas Besonderes bedeuten, liegt<br />
an ihrem Widerpart, dem Glissando und den unscharfen Geräuschen, denen<br />
die Stufen wie eine Ordnung im Chaos des Unbestimmten gegenübertreten.<br />
Insofern vertreten die Stufen das konstruktive Moment des Schöpfungsmythos.<br />
Der Klang der Gegenstände kann als deren Stimme empfunden werden,<br />
und im gehauchten Namen der Stimme (Anselm von Canterbury: flatus vocis)<br />
erleben sie eine zweite Schöpfung, die die antiken Philosophen freilich für die<br />
erste gehalten haben, so, wie die Namen oder Schriftzeichen bis in die frühen<br />
Hochkulturen hinein ein zweites Sein der Dinge bedeuteten entsprechend der<br />
Teilung, die aus der Schöpfung hervorging. Für das Musikinstrument gilt das<br />
nachdrücklich und in ihm lebt der Sound als »anima of all phenomena« (Farmer)<br />
weiter, vor allem dann, wenn Töne wie Sprachlaute in Beziehung gesetzt<br />
Intervall und keiner für den einzelnen Ton. Zu dem Schluss kommt bereits Hans Martin Kümmel:<br />
»Terminologische Vorsicht gebietet den Gebrauch des rein instrumentaltechnisch definierten ›Doppelgriffs‹<br />
anstelle von ›Intervall‹, da offenbar die babylonischen Bezeichnungen lediglich von der Lage<br />
der Saiten innerhalb der Harfe und der Zahl der dazwischenliegenden Saiten ausgehen, nicht dagegen<br />
<strong>Intervalle</strong> akustisch als deren Schwingungsverhältnisse meinen« (Zur Stimmung der babylonischen<br />
Harfe, Orientalia, Vol. 39, Nova Series, 1970, S. 252).<br />
46 Zu erinnern ist an die Rede von beweglichen und festen Tönen bei der Konstruktion von Leitern<br />
und der Einteilung der Oktave in zwei Quartsprünge, die von einem Ganzton getrennt sind. Die<br />
Töne innerhalb der Quarte sind je nach gestimmtem Tongeschlecht »beweglich«, was die Position<br />
der Halbtonschritte betrifft.
24 Tönender Himmel<br />
werden, was andererseits wieder zur Strukturierung der Sprache nach quasi<br />
musikalischen Proportionen geführt hat, wie es Platon im Philebos als Erfindung<br />
des ägyptischen Theuth beschreibt. Die Buchstaben bilden ein Band (desmÒj),<br />
das proportional gegliedert ist. Die acht zwischen vier Vokalen und zwölf echten<br />
Konsonanten stehenden »Sonanten« des 24 Buchstaben umfassenden Alphabets<br />
bilden das arithmetische Mittel. 47 Der in der Musik herrschenden Kombinatorik<br />
von proportional geordneten harmonischen <strong>Intervalle</strong>n steht eine ähnlich proportionale<br />
Kombinatorik von Lautformen gegenüber, auch wenn die Ableitung<br />
aus dem Ägyptischen auf einem Mythos beruht, denn die Phonetisierung hat<br />
zwar in Mesopotamien und Ägypten gewisse Fortschritte erlebt, konsequent ist<br />
in der Zuordnung einzelner Schriftzeichen zu kurzen einfachen Lauten jedoch<br />
erst die phönikische Alphabetschrift. Damit löst sich die Schrift vom Bild mit<br />
syllabischen Lautwerten und tritt als Abbild eines phonetischen Prozesses der<br />
Sprechwerkzeuge in Erscheinung, die eng an den Körper und dessen Motorik<br />
(Bewegungen) gebunden sind. Es ist von Bedeutung, dass die Musik lange Zeit,<br />
seit der mesopotamischen Kultur bis zu den Griechen, nicht allein, sondern nur<br />
in Verbindung mit der Sprache und zu kultischen Zwecken ausgeübt wurde – als<br />
Klage- und als Freudenmusik. 48 Die Analogie von Instrument und Körper kommt<br />
in einem Text zum Ausdruck, in dem es heißt, »er ließ daraus [aus dem balag-<br />
Instrument] keine Klage herauskommen«. Auch die später im griechischen Epos<br />
gepflegte Analogie zwischen Körperinnerem und Instrument zeigt sich deutlich<br />
in der sumerischen Klagemusik, die das Herz des Gottes – als eine ominöse<br />
Kraft aus dem Inneren – beruhigen und seinen Zorn besänftigen soll: »Die<br />
›Herzberuhigung‹ gehörte zu den wichtigsten kultischen Aufgaben des gala.« 49<br />
Das Bewusstsein erfährt die Präsenz des Herzschlags als eine der fundamentalen<br />
Bewegungen im doppelten Sinne der Emotion und des Schlagens.<br />
Oskar Fleischer beschreibt eine Handpauke aus neolithischer Zeit, auf der<br />
sich Zeichen befinden, die er als Planetenzeichen identifiziert. 50 Typisch ist eine<br />
in vielen Sprachen und Kulturen vorkommende ähnlich klingende Silbe, die für<br />
die Pauke oder Trommel als Schlaginstrument steht wie das hebräische toph vt<br />
(oder tuppim), das griechische tympanon – tÚmpanon zu tÚptw »schlagen« –,<br />
im Sanskrit bedeutet die Wurzel tup »schlagen«, altägyptisch heißt das Tamburin<br />
tabn, indogermanisch stehen dhup, dhub für »hohl, tief«, ahd. tof, topf ist der Kreisel<br />
usf., allen diesen Wort-Formen liegen Wurzeln wie tup, tib, tap, tap mit oder<br />
ohne Nasalierung zugrunde. 51 Seit prähistorischen Zeiten kommen die Pauken<br />
47 Robert Eisler: Platon und das ägyptische Alphabet, Archiv für Philosophie. I. Abteilung: Archiv<br />
für Geschichte der Philosophie. XXXIV. Band, 1. u. 2. Heft, S. 3 ff.<br />
48 Henrike Hartmann: Die Musik der sumerischen Kultur, Frankfurt 1960, S. 62<br />
49 Hartmann, S. 63<br />
50 Oskar Fleischer: Eine astronomisch-musikalische Zeichenschrift in neolithischer Zeit, Memnon<br />
1915, S. 9<br />
51 Fleischer, S. 3
Trommel und Pauke 25<br />
nach Fleischer in Zwillingsform vor, was auf intervallische Verwendung schließen<br />
lässt. Jaritz hat das Zeichen für die Trommel mit der Bedeutung »gleichsein«<br />
ähnlich gedeutet und wird in seiner Vermutung der mantischen Verwendung<br />
durch Fleischer bestätigt, der von Praktiken des Wahrsagens mithilfe der Trommel<br />
berichtet. 52 Im Akkadischen erhält das Zeichen der Pauke Lautwerte wie dúb<br />
»Gesang, Lied« und túb »zersprengen«. 53 Das althebräische takah (aqT scheint die<br />
Bedeutungsambivalenz des Tönens am besten zu treffen mit »schlagen, einschlagen,<br />
stoßen, blasen«. Das Blasen eines Widderhorns, schofar, gleicht unserem »ins<br />
Horn stoßen«; tka’ah hykt. Die beiden Konsonanten »tk« kehren gern in Wörtern<br />
mit Fugencharakter wieder, wobei das englische take, anders als etwa aind. taksan<br />
(»Zimmermann«), auf »berühren« zurückzuführen ist: »...take also in earliest use<br />
touch«. 54 Wie verhält sich dazu t’kuffah hpUq:T »Umdrehung, Umlauf, Ablauf«<br />
im Althebräischen und »Epoche, Kreislauf, Jahreszeit«? Wie sich später zeigen<br />
wird, entstehen nach Platon Wahrnehmungen wie Töne oder Farben aus einer<br />
aus dem Werfen oder Stoßen hervorgehenden Bewegungsart. Das Zusammentreffen<br />
von Wahrnehmen und Wahrgenommenem in der Wahrnehmung wird<br />
mit Wörtern beschrieben, die Bewegungen des Werfens, Stoßens und Schlagens<br />
ausdrücken, wovon in Platons Theaitetos noch eine wesentliche Spur enthalten<br />
ist. Den frühen Beschreibungen von Objekt-Bewegungen liegen alltägliche Körpererfahrungen<br />
zugrunde. Dass die Wiederholung auch als ein Rückwärtsgehen<br />
gedeutet wird, liegt der Aufzeichnung, d. h. einer Erinnerungsspur zugrunde, die<br />
zu der seltsamen Kombination von Seelenwanderung und Wissen führt, einem<br />
Kernstück der griechischen Philosophie. Das Gewesene ist dem Wesen gleich und<br />
die Musik hat ihren Anteil daran, weil in ihr das »Wider« im Intervall ebenso<br />
konstruiert wird wie das »Wieder«. In Wörtern, die für Wiederholung stehen,<br />
sind oftmals auch Bedeutungen der Gegenläufigkeit zu finden wie »wieder«<br />
und »wider«, die erst spät unterschiedlichen Sinn annehmen wie das englische<br />
»again«und »against«; das englische »country« geht auf »lying opposite of facing<br />
52 Fleischer, S. 10 ff.<br />
53 Zu erwägen wäre eine Nachbarschaft des bereits oben erwähnten Pentagramms mit dem Zeichenwert<br />
UB »Himmelsstufen« und dem Lautwert tubku, tupkati. Anton Deimel führt im Sumerischen<br />
Glossar (1934) UB als homophones Zeichen für Raum, Innenraum und Himmelsgegend (tubku);<br />
für die homophone Silbe führt er weitere, ähnliche Bedeutungen an wie ub 3<br />
, akk. uppu »Trommel,<br />
Pauke«; ub 4<br />
»Brunnen Tiefe«; ub 8<br />
tamtu »Meer«. Das hebräische tehom stammt aus dem akkadischen<br />
tiamtu, abgeleitet von dem sumerischen vorweltlichen Meerungeheuer Ti-amat. »The normal form<br />
of the basic Akkadian word is tiamtu or tâmtu, the word for sea. The name can be written in this<br />
more phonetic orthography; but in the texts of Enuma Elish we also find it in the form of taw(a)tu.<br />
And we can see how Tawtu would become Thetys in Greek.« (Walter Burkert: Babylon, Memphis,<br />
Persepolis: eastern contexts of Greek culture, 2004, S. 31.) Bei den Ägyptern vertritt Atum diesen Zustand,<br />
dessen Name schon von ihnen von tm »vollständig sein« abgeleitet wurde. Der »chaotischen,<br />
vorweltlichen Existenz zufolge hat Atum noch einen negativen Aspekt (vgl. Negationsverbum tm).«<br />
(Otto Harrassowitz: Lexikon der Ägyptologie, Atum) Er wurde auch Vater der Götter genannt und<br />
war allein im Urgewässer. Auch dieser Figur haftet die Gegensätzlichkeit an, deren Wahrnehmung<br />
die Spaltung des Opfers provoziert.<br />
54 The Oxford Dictionary of English Etymology, ed, by C. T. Onions
26 Tönender Himmel<br />
one« zurück. 55 Die Art und Weise, wie das Penta- oder Heptagramm zustande<br />
kommt, beruht auf einer Verbindung von gegenüberliegenden Positionen, die<br />
sprunghaft erreicht werden (siehe Dio Cassius). Harmonie, so betont vor allem<br />
Heraklit, ist ein Phänomen von Gegensätzen. Die spätere Betonung auf die Einheit<br />
vernachlässigt das Ursprüngliche der aneinanderstoßenden Gegensätze. »Denn<br />
es könnte keine Harmonia geben, wenn nicht Hohes und Tiefes wäre...« 56 Diese<br />
Gegensätzlichkeit scheint eine Variante des Zusammenstoßens zu sein, die – wie<br />
später zu zeigen ist – in Platons Theaitetos (156b ff.) für die Wahrnehmung in<br />
Anspruch genommen wird, für die Wirkendes und Leidendes zusammentreffen<br />
müssen. Diesen Topos der Unterscheidung zwischen dem Bewegen und dem<br />
Bewegten als Ziel der Bewegung ist von Johannes Scottus in einem Kommentar<br />
über den römischen Enzyklopädisten Martianus Capella überliefert:<br />
Hier findet sich eine der wesentlichen aus der Antike weitergegebenen Stellen, in denen<br />
die phänomenologische Gleichartigkeit von instrumental und vokal erzeugtem Ton als<br />
Grundlage eines abstrakten, d.h nicht an die strikte Vokalität und Wortverkündung<br />
gebundenen Musikbegriffs weitergegeben wird, nämlich da, wo die Unterscheidung<br />
eines agens und eines patiens und des Ergebnisses hinsichtlich der Tonerzeugung<br />
und Tonhöhe mitteilt, also die zur Bestimmung des antiken, rationalen Tonbegriffs<br />
notwendigen Faktoren definiert, d. h. Tonhöhe und Bewegung differenziert... Anspannung<br />
etc. ist als faciens Erzeuger einer Tonhöhe, während diese selbst Höhe oder Tiefe<br />
erleidet. Der Ton selbst, sonus bzw. phtongos ist dabei eindeutig als das definiert, das<br />
die entsprechende Bewegung bzw. Aktion der Stimme erzwingt... 57<br />
Der kosmologische Charakter der Trommel, auf den die Planetenzeichen hinweisen,<br />
die auf ihnen bereits in neolithischer Zeit zu finden sind, scheint auf<br />
die Astrologie als mantische Technik zu verweisen. Es handelt sich allemal um<br />
ein Hervortreten eines zu dem Zeitpunkt Verborgenen, da »wahr« gesagt wird.<br />
Das Verborgene bekommt eine Zeitmarkierung erst dann, wenn es offenbar<br />
wird, im »Jetzt« erscheint und eine Distanz mitführt, die zwischen dem Jetzt<br />
als »Erscheinungsdatum« und dem zeitlosen Zurückliegenden als Bewegung<br />
eingeführt wird. Diese Erscheinungsstruktur ist musikalisch, weil der Ton ohne<br />
Rückbindung an das Klangreservoir, aus dem er geschöpft wird, keine Basis hat.<br />
Er tönt hohl wie die wahrsagende Rede. Dazu lässt sich eine Parallele finden. Das<br />
hebräische dabar »Wort, Rede« mit dem Sinn eines Sichereignens des Wortes<br />
hat eine ähnliche Bedeutung, die im alten Testament zu den »symbolischen<br />
Aktionen« zählt:<br />
55 C. T. Onions: The Oxford Dictionary of English Etymology, 1966<br />
56 Heraklit, zit. in: Thrasybulos Georgiades: Nennen und Erklingen, 1985, S. 61, mit weiteren<br />
Beispielen einer Vorstellung des »übereinstimmenden Auseinandertönens« der mittelalterlichen Musiktheorie<br />
(concorditer dissonans).<br />
57 Mathias Bielitz: Zum Bezeichneten der Neumen, insbesondere der Liqueszenz, Neckargemünd<br />
1998, S. 69
Kreisen 27<br />
These consciously, purposely, and intentionally executed actions authenticate the coming<br />
event which already is breaking into history both in them and in the prophetic word.<br />
They are anticipatory proclamations of action, and active word event. They are an event<br />
as word, that is, a word event in the fullest sense of an authentic rbd (dabar = word). 58<br />
Für alte und rezente orale Kulturen gilt nach Malinowski, »that language is a<br />
mode of action and not simply a countersign of thought.« 59 Die Ereignishaftigkeit<br />
des Wortes überwiegt die Spur des Begriffs; »...the word, a textual, visual<br />
representation of a word is not a real word, but a secondary modeling system.« 60<br />
3 Kreisen<br />
Die aus der Obertonreihe abgeleiteten Leitertöne sind ein Beispiel dafür, wie sich<br />
eine Gestalt (der Ton) aus einem Kontinuum herausbilden kann, das als Form<br />
und Gestalt nicht in Erscheinung tritt und nur als Abwesenheit, als Loch oder gar<br />
Abgrund definiert wird; in der Terminologie der Griechen: als »Unbegrenztes«,<br />
apeiron (¢peiron, zu pšraj, »Ende, Grenze, Ziel« zu pšrar, das laut Frisk 61 zur<br />
großen Sippe pe…rw »durchbohren, durchdringen« gehöre; pÒroj »Durchgang,<br />
Meerenge«). Dem steht allerdings das pšri »ringsum« entgegen und fügt sich<br />
nicht der Logik der Geometrie. Die kreisförmig umlaufende Bewegung entspricht<br />
nicht der durch etwas hindurchgehenden, sondern erst die Spur des Umlaufens<br />
bildet das Lochartige des Raumes. Peripher wird die Umschwungslinie des Kreises<br />
wie der Planetenbahnen und des Quintenzirkels genannt, auf dem die Töne<br />
oder Vokale »gehen«, wie später zu zeigen sein wird. Dass die Bewegung an die<br />
Kreisform gebunden ist und eine Leere als Öffnung setzt, die ebenso eine Schließung<br />
bedeutet, deutet auf eine ursprünglich komplexere Vorstellung des Kreises<br />
als die geometrische hin. Verbirgt sich hinter der Kreisbewegung, die ein bereits<br />
fortgeschrittenes Abstraktionsvermögen erfordert, eine vom Subjekt ausgehende<br />
und erweiterte Wurfbahn, dann gilt, dass das Ziel aus dem Startpunkt heraus<br />
»entfaltet« wird. Die Distanz ist im Punkt eingefaltet. In der Bewegung zum Ziel<br />
öffnet sich zwar der Raum, doch ist er geschlossen. Aus dem Wurf ergibt sich für<br />
die antiken Bewegungstheorien offenbar das Darstellungsproblem einer Distanz,<br />
die keine ist. Die mesopotamischen Planetengötter stehen in einem auffälligen<br />
Zusammenhang mit sakralen Umwandlungsriten wie der Circumambulatio oder<br />
dem griechischen amphipolos. In einer älteren Sprachschicht, aus der der Pol<br />
hervorgegangen ist (pelomai), besteht zwischen dem Drehen und Werfen kein<br />
großer Unterschied, und selbst das Schlagen, pello, gehört noch dazu.<br />
58 Horst Dietrich Preuss, Leo G. Perdue: Old Testament Theology, 1996, S. 81<br />
59 Walter Ong: Orality and Literality. The Technologizing of the Word, 1982, S. 32<br />
60 Jurji Lotman: The Structure of the Artistic Text, 1977<br />
61 Hans Frisk: Griechisches etymologisches Wörterbuch, Stuttgart, 1973