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Soziale Ungleichheit – kulturelle Unterschiede

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Ferdinand Sutterlüty<br />

Institut für Sozialforschung Frankfurt a. M.<br />

<strong>Ungleichheit</strong>ssemantiken und <strong>Ungleichheit</strong>spragmatiken.<br />

Das Beispiel von Deutungskämpfen zwischen der autochthonen<br />

Bevölkerung und erfolgreichen Migranten<br />

Vortragsexposé<br />

für die Nachmittagssitzung der Sektion <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> und Sozialstrukturanalyse<br />

»<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>–</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Unterschiede</strong>«<br />

auf dem 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie<br />

vom 4. bis 8. Oktober 2004 in München<br />

Zusammenfassung: In dem Vortrag möchte ich das Konzept der »<strong>Ungleichheit</strong>spragmatik«<br />

vorstellen und dieses als Komplementärbegriff zu dem der »<strong>Ungleichheit</strong>ssemantik« (Berger<br />

1989; Neckel 2003) erläutern. Beide Konzepte werde ich an Wittgensteins Sprachtheorie anbinden,<br />

in deren Gefolge die Unterscheidung zwischen sprachlicher Semantik und Pragmatik<br />

eingeführt wurde. Die Relevanz der Unterscheidung zwischen <strong>Ungleichheit</strong>ssemantiken und<br />

<strong>Ungleichheit</strong>spragmatiken möchte ich anhand von Bewertungs- und Anerkennungskämpfen<br />

zwischen erfolgreichen Migranten und ihren deutschen Nachbarn aufzeigen, wie sie in multiethnischen,<br />

dichten Sozialräumen gegenwärtig häufig anzutreffen sind. Am Beispiel eines<br />

Stadtteils im nördlichen Ruhrgebiet möchte ich die Genese von Deutungsmustern aufzeigen,<br />

die sich auf relativ neue soziale Konstellationen an der Schnittstelle zwischen vertikalen und<br />

horizontalen <strong>Ungleichheit</strong>en (insbes. Ethnizität) beziehen. Hintergrund des Vortrags ist das<br />

ethnographisch angelegte Forschungsprojekt »Negative Klassifikationen. Ideologien der Ungleichwertigkeit<br />

in den symbolischen Ordnungen gegenwärtiger Sozialgruppen«, das seit Juni<br />

2002 unter der Leitung von Sighard Neckel am Frankfurter Institut für Sozialforschung<br />

durchgeführt wird.<br />

Der Vortrag geht davon aus, dass objektive soziale <strong>Ungleichheit</strong>en und Statusdifferenzen im<br />

sozialen Alltag immer mit bestimmten Erwartungen, Deutungen und Bewertungen verbunden<br />

sind, die wiederum Auswirkungen auf die Teilhabe- und Partizipationschancen der betreffenden<br />

Akteure oder Gruppen haben. In der Sozialstruktur repräsentiert sich nicht nur eine Verteilungsordnung<br />

materieller Güter, sondern zugleich ein System wertender Kategorisierungen.<br />

Mit der Sozialstruktur geht demnach immer auch eine symbolische Ordnung einher, die sozialen<br />

Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß Anerkennung und Wertschätzung zuteilt. Symbolische<br />

Ordnungen sind stets umkämpft und konstituieren sich in der Interaktion zwischen verschiedenen<br />

Akteuren und sozialen Gruppen.<br />

Solche Auseinandersetzungen um die »Durchsetzung der legitimen Weltsicht« (Bourdieu<br />

1992: 147) markieren den soziologischen Ort für die Unterscheidung zwischen Un-<br />

1


gleichheitssemantiken und -pragmatiken. Die beiden Begriffe verweisen wechselseitig aufeinander,<br />

sind aber analytisch zu trennen, will man die semantischen Strukturmuster sowie die<br />

Produktions- und Reproduktionsprozesse symbolischer Ordnungen gleichermaßen in den<br />

Blick bekommen. Während <strong>Ungleichheit</strong>ssemantiken, die einer »graduell-quantitativen« oder<br />

einer »kategorial-exklusiven« Logik folgen können (Berger 1989), auf den Gehalt und die<br />

formale Struktur von Bewertungen bestimmter Merkmale von Akteuren und Sozialgruppen<br />

zugeschnitten sind, fasst der Begriff der <strong>Ungleichheit</strong>spragmatiken den Gebrauch dieser Bewertungen<br />

in der kommunikativen Alltagspraxis. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird<br />

zwar, wie Wittgenstein (1984/1953) gezeigt hat, durch ihre Anwendungen in bestimmten<br />

Kontexten konstituiert; insofern lassen sich Semantik und Sprachpragmatik ohne einander gar<br />

nicht explizieren (vgl. Pitkin 1972; Cavell 1976; Wellmer 1989). Aber in den einzelnen Anwendungen<br />

vollzieht sich der Bedeutungswandel sprachlicher Ausdrücke; sie sind die Arena,<br />

in der sich semantische Innovationen durch einen veränderten Sprachgebrauch vollziehen.<br />

Bezogen auf das Thema des Vortrags bedeutet dies: <strong>Ungleichheit</strong>spragmatiken führen den<br />

Wandel von <strong>Ungleichheit</strong>ssemantiken herbei.<br />

Mit besonderem Blick auf negative Zuschreibungen <strong>–</strong> auf die diskriminierenden Aspekte<br />

symbolischer Ordnungen also <strong>–</strong> werde ich die eben skizzierten Überlegungen am Beispiel<br />

von Deutungskonflikten zwischen der autochthonen Bevölkerung und aufstrebenden Migranten<br />

veranschaulichen. Dabei stütze ich mich auf Daten aus einem traditionellen Arbeiterviertel<br />

im Ruhrgebiet, das nunmehr mit den regionalen Strukturproblemen zu kämpfen hat. An diesem<br />

Stadtteil lässt sich zeigen, dass die Struktur der Über- und Unterordnung zwischen<br />

Migranten und der Mehrheitsbevölkerung viel komplexer wird, als sie dies noch bis vor kurzem<br />

war. In dem Stadtteil ist eine neue symbolische Ordnung sozialer <strong>Ungleichheit</strong> im Entstehen<br />

begriffen, die mit dem selbstbewussten Auftreten und den ökonomischen Erfolgen vor<br />

allem türkischstämmiger Akteure und Gruppen zusammenhängt. Unter den veränderten sozialen<br />

Bedingungen tauchen neue Kategorisierungen und Bewertungen auf, alte wechseln ihre<br />

Adressaten und erfahren eine Bedeutungsverschiebung. Dies hat damit zu tun, dass die »avancierenden<br />

Fremden« (Hüttermann 2000) etablierte Statushierarchien irritieren, indem sie<br />

die kulturell sedimentierte Erwartung unterlaufen, dass das Merkmal »türkisch« stets mit der<br />

Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Schichten verbunden ist. In den daran anknüpfenden<br />

Auseinandersetzungen lässt sich direkt beobachten, wie sich <strong>Ungleichheit</strong>ssemantiken im<br />

Durchgang durch die neuartigen Verwendungskontexte bzw. durch die Pragmatik des Sprachgebrauchs<br />

verändern. Dazu nun einige Hinweise.<br />

Im besagten Stadtteil lässt sich ein ganzes Bündel stigmatisierender Bewertungen identifizieren,<br />

die sich auf gut positionierte Migranten beziehen: auf türkischstämmige Unternehmer<br />

und Hausbesitzer, die deutschen Sozialhilfeempfängern als Vermieter gegenübertreten,<br />

oder auch auf den türkischen Fußballclub, der einen maroden deutschen Traditionsverein beerbt.<br />

Diesen Gruppen werden von der autochthonen Bevölkerung »kriminelle Machenschaften«<br />

und expansive Machtansprüche vorgeworfen <strong>–</strong> sie seien durch »illegale Geschäfte« zu<br />

Geld gekommen und wollten im Stadtteil »alles von uns übernehmen«, heißt es dann etwa.<br />

Weiterhin attestieren die unteren Einkommensklassen der deutschen Bevölkerung den tür-<br />

2


kischstämmigen Unternehmern eine arbeitsame, verzichtbereite und durch familiäre Disziplin<br />

geprägte Lebensführung; sie schreiben ihnen eine »protestantische Ethik im islamischen Gewand«<br />

(Wohlrab-Sahr 1998) zu und begreifen diese als einen vormodernen, in der eigenen<br />

Geschichte längst überwundenen Traditionsbestand, der die unternehmerisch agierenden<br />

Migranten zu gefährlichen Konkurrenten macht und ihnen unverdiente ökonomische Vorteile<br />

bringt.<br />

Die türkischen Aufsteiger wiederum führen das Zurückbleiben der unteren Schichten<br />

der deutschen Bevölkerung auf permanente Kneipengänge, eine konsumorientierte Lebensführung<br />

sowie auf ein Sexualverhalten zurück, das Familien zerstöre und damit auch deren<br />

finanzielle Basis ruiniere. Die türkischen Geschäftsleute rücken die Lebensweise der deutschen<br />

Unterschichten in die Nähe des »Asozialen« und bringen damit durchaus eigene Überlegenheitsvorstellungen<br />

zum Ausdruck. Dies verstärkt sich noch, wenn türkischstämmige<br />

Hausbesitzer und Vermieter verständnisvoll darauf verweisen, dass jene Teile der deutschen<br />

Bevölkerung, die ihren Aufstieg missbilligen, »meist aus den untersten und den ungebildeten<br />

Schichten« kommen.<br />

Ein weiterer Typus negativer Bewertungen gilt türkischen Kulturvereinen und dem türkisch<br />

dominierten Ausländerbeirat, die sich verstärkt um soziale Integration von Migranten<br />

und ihre Verankerung im kommunalen Leben bemühen. Sie werden als »rationale Schmarotzer«<br />

(Zilian/Moser 1989) dargestellt. Wenn sie etwa Mitspracherechte und finanzielle Mittel<br />

im Rahmen eines öffentlich geförderten Stadterneuerungsprogramms einfordern, sehen sie<br />

sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sich nie um den Stadtteil gekümmert zu haben und nun,<br />

da es »etwas zu holen« gibt, plötzlich »unverschämte Forderungen« zu stellen. Die türkischen<br />

Organisationen haben im Stadtteil wiederum eine Position, aus der heraus sie den autochthonen<br />

Interessenvertretern gegenüber jederzeit wirkungsvoll die Karte »Ausländerfeindlichkeit«<br />

ziehen können. Damit verfügen sie über eine gewichtige symbolische Ressource in der sozialen<br />

Auseinandersetzung.<br />

Dies ist auch ein Hinweis darauf, dass selbst Klassifikationen, die einer kategorial exkludierenden<br />

Logik folgen, nicht per se ausschließende soziale Folgen haben müssen. Integrationserfolge<br />

der einen Gruppe bringen, wie sich im untersuchten Stadtteil beobachten lässt,<br />

Ausschlussversuche und Stigmatisierungen der anderen Gruppe hervor. Die Konflikte bieten<br />

hier ein Vexierbild, in dem einmal die eine und dann wieder die andere Gruppe auf der besseren<br />

Seite der Etablierten/Außenseiter-Figuration (Elias/Scotson 1990) zu stehen scheint. Es ist<br />

noch nicht zu erkennen, in welchen Bereichen sich hier ein Vorgang der »konfliktvermittelten<br />

Integration« (vgl. Simmel 1992/1908: 284 ff.; Dubiel 1997) abspielt und in welchen Bereichen<br />

die Strategien der »sozialen Schließung« (Parkin 1983) die Oberhand gewinnen. Abschließend<br />

möchte ich einige Bedingungen benennen, unter denen der Gebrauch abwertender<br />

Zuschreibungen integrative Wirkungen zeitigen kann, um dann im Lichte des hier vorgestellten<br />

Fallbeispiels zu klären, in welchem Verhältnis die zentralen analytischen Kategorien des<br />

Vortrags <strong>–</strong> <strong>Ungleichheit</strong>ssemantiken, <strong>Ungleichheit</strong>spragmatiken, soziale Folgen <strong>–</strong> zueinander<br />

stehen.<br />

3


Literatur<br />

Berger, Peter A. 1989: <strong>Ungleichheit</strong>ssemantiken. Graduelle <strong>Unterschiede</strong> und kategoriale Exklusivitäten,<br />

in: Archives Européennes de Sociologie, Jg. 30, S. 48<strong>–</strong>60.<br />

Bourdieu, Pierre 1992: <strong>Soziale</strong>r Raum und symbolische Macht, in: Ders.: Rede und Antwort. Frankfurt<br />

a. M.: Suhrkamp, S. 135−154.<br />

Cavell, Stanley 1976: Must We Mean What We Say?, in: Ders.: Must We Mean What We Say? A Book<br />

of Essays. Cambridge: Cambridge University Press, S. 1−43.<br />

Dubiel, Helmut 1997: Unversöhnlichkeit und Demokratie, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Was hält<br />

die Gesellschaft zusammen? Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 425<strong>–</strong>444.<br />

Elias, Norbert/John L. Scotson 1990: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.<br />

Hüttermann, Jörg 2000: Der avancierende Fremde. Zur Genese von Unsicherheitserfahrungen und<br />

Konflikten in einem ethnisch polarisierten und sozialräumlich benachteiligten Stadtteil, in: Zeitschrift<br />

für Soziologie, Jg. 29, S. 275<strong>–</strong>293.<br />

Neckel, Sighard 2003: Kampf um Zugehörigkeit. Die Macht der Klassifikation, in: Leviathan, Jg. 30,<br />

S. 159<strong>–</strong>167.<br />

Parkin, Frank 1983: Strategien sozialer Schließung und Klassenbildung, in: <strong>Soziale</strong> Welt, Sonderband<br />

2 »<strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong>en«, hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen: Schwartz, S. 121<strong>–</strong>135.<br />

Pitkin, Hanna Fenichel 1972: Wittgenstein and Justice. On the Significance of Ludwig Wittgenstein<br />

for Social and Political Thought. Berkeley u. a.: University of California Press.<br />

Simmel, Georg 1992: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt<br />

a. M.: Suhrkamp (zuerst 1908).<br />

Wellmer, Albrecht 1989: Was ist eine pragmatische Bedeutungstheorie?, in: Axel Honneth u. a. (Hrsg.):<br />

Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt<br />

a. M.: Suhrkamp, S. 318−370.<br />

Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen (zuerst 1953), in: Ders.: Werkausgabe,<br />

Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 225<strong>–</strong>580.<br />

Wohlrab-Sahr, Monika 1998: »Protestantische Ethik« im islamischen Gewand. Habitusreproduktion und<br />

religiöser Wandel <strong>–</strong> Das Beispiel der Konversion eines Afroamerikaners zum Islam, in: Ralf<br />

Bohnsack/Winfried Marotzki (Hrsg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. Opladen: Leske +<br />

Budrich, S. 183<strong>–</strong>201.<br />

Zilian, Hans Georg/Johannes Moser 1989: Der rationale Schmarotzer, in: Prokla, Jg. 19, Heft 77, S.<br />

33<strong>–</strong>54.<br />

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