Michael Vester, Andrea Lange-Vester und Christel Teiwes-Kügler ...
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<strong>Michael</strong> <strong>Vester</strong>, <strong>Andrea</strong> <strong>Lange</strong>-<strong>Vester</strong> <strong>und</strong> <strong>Christel</strong> <strong>Teiwes</strong>-<strong>Kügler</strong> (Hannover)<br />
Die “Illusion der Chancengleichheit”:<br />
Soziale Ungleichheit in den sozialwissenschaftlichen Studierendenmilieus<br />
Abstract eines möglichen Beitrags<br />
für die Gemeinsame Tagung der DGS-Sektionen “Soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Sozialstrukturanalyse” <strong>und</strong> "Bildung <strong>und</strong> Eriehung"<br />
in Rostock 10.-12. Juli 2003 zum Thema “Bildung <strong>und</strong> soziale Ungleichheit in der Wissensgesellschaft”<br />
"Zu meinen, wenn man allen gleiche wirtschaftliche Mittel bereitstelle, gäbe man auch allen ...<br />
gleiche Chancen ..., hieße in der Analyse der Hindernisse auf halbem Wege stehenbleiben<br />
<strong>und</strong> übersehen, daß die ... Fähigkeiten weit mehr als durch natürliche 'Begabung' ... durch die<br />
mehr oder minder große Affinität zwischen den kulturellen Gewohnheiten einer Klasse <strong>und</strong><br />
den Anforderungen des Bildungswesens oder dessen Erfolgskriterien bedingt sind. ... Für<br />
Kinder von Arbeitern, Bauern, Angestellten <strong>und</strong> Einzelhändlern bedeutet Schulbildung immer<br />
zugleich Akkulturation. ... Das kulturelle Erbe ist so ausschlaggebend, daß auch ohne<br />
audrückliche Diskriminierungsmaßnahmen die Exklusivität grarantiert bleibt, da hier nur<br />
ausgeschlossen scheint, wer sich selbst ausschließt." - Trifft diese gr<strong>und</strong>legende<br />
Feststellung, die Bourdieu <strong>und</strong> Passeron (1971: 40, 44) in "Les Héritiers" 1964 für Frankreich<br />
trafen, heute noch <strong>und</strong> auch für die B<strong>und</strong>esrepublik zu?<br />
Nach den Erhebungen des Deutschen Studentenwerks <strong>und</strong> repräsentativer Erhebungen<br />
sind die genannten sozialen Gruppen bei uns immer noch, wenn auch weniger als in den<br />
1960er Jahren, in ihren Studierchancen benachteiligt. Auf welche Motive <strong>und</strong> welche sozialen<br />
Barrieren ist die immer noch ungleiche Bildungsbeteiligung zurückzuführen? Bourdieu <strong>und</strong><br />
Passeron unterscheiden drei mögliche Mechanismen der Bildungsselektion: Einkommens-<br />
<strong>und</strong> Kostenbarrieren, Barrieren in der Organisationsstruktur des Bildungswesens <strong>und</strong><br />
Mechanismen der sozio-kulturellen Auslese.<br />
In der Debatte um die Studienfinanzierung werden die Ursachen der ungleichen<br />
Bildungsbeteiligung, der Studienabbrecher <strong>und</strong> der Langzeit-Studierenden vor allem in<br />
wirtschaftlichen Kriterien gesucht. Anhänger der neoliberalen Humankapital-Schule<br />
behaupten, wenn die Wohlhabenden ihr Studium bezahlten, studierten sie auch besser, <strong>und</strong><br />
den Kindern von sozial benachteiligten Eltern könne durch Bildungsguthaben eine gleiche<br />
Startchance im Wettlauf um die Berufschancen gegeben werden. Ihre Gegner hoffen statt<br />
dessen, daß allein die kostenlose Bildung <strong>und</strong> ein erhöhtes Bafög ausreichen würden, um<br />
Chancengleichheit zu schaffen. Sie unterstellen damit, daß der Erfolg bei ausreichender<br />
Finanzierung wesentlich eine Frage der individuellen "Begabung" <strong>und</strong> der aufgewandten<br />
Arbeitsmühe sei. Für viele gilt der Bestand des kostenlosen Bildungssystems bereits als<br />
Beweis dafür, daß der Abbruch bzw. die Verlängerung des Studiums nur aufgr<strong>und</strong><br />
individuellen Versagens möglich sei. Auch die Kritiker des Neoliberalismus nähren so die<br />
"Illusion der Chancengleichheit".<br />
Demgegenüber weisen Untersuchungen immer wieder darauf hin, daß die drei von<br />
Bourdieu <strong>und</strong> Passeron festgestellten Selektionsmechanismen, durch die sich die ungleichen<br />
Bildungschancen der Klassenmilieus reproduziert, immer noch wirksam sind, wenn auch in<br />
verschobenen Proportionen. Zwar sind seit der Öffnung des Bildungssystems von der<br />
Eliminierung vom Studium die Frauen kaum noch <strong>und</strong> die Angehörigen benachteiligter<br />
Klassenmilieus <strong>und</strong> Ethnien (etwas) weniger betroffen als früher. Aber die sozio-kulturellen<br />
Mechanismen - Abdrängung auf Fächer mit geringeren Berufsperspektiven <strong>und</strong> unsichere<br />
Studienorientierung (bei Abbrechern <strong>und</strong> Verlängerern) - treffen diese Gruppen später doch.<br />
Unsicher ist jedoch, durch welche Mechanismen im Studiensystem <strong>und</strong> im Feld der<br />
universitären Milieus dies geschieht <strong>und</strong> wie diese Bedingungen sich nach Fächern <strong>und</strong><br />
Einrichtungen unterscheiden.
2<br />
Diesen internen Abdrängungsmechanismen geht das Forschungsprojekt über die<br />
Studierendenmilieus der Sozialwissenschaften <strong>und</strong> der Wirtschaftswissenschaften an der<br />
Universität Hannover nach, über das in dem weiteren Referat berichtet werden soll. Beide<br />
Fächerfelder enthalten einen deutlichen Anteil von Studierenden aus den kleinbürgerlichen<br />
oberen Milieus <strong>und</strong> den bildungsnahen Volksmilieus. Die Sozialwissenschaften haben aber,<br />
anders als die Wirtschaftswissenschaften, eine sehr hohe Quote von Studienabbrechern. Ihr<br />
Studium ist eher unstrukturiert <strong>und</strong> spielt daher mit der Ideologie des selbstgesteuerten<br />
Studierens zusammen. Dem entspricht, so die Hypothese, eine stärkere soziokulturelle<br />
Dominanz von Studierenden aus den bildungsbürgerlichen (<strong>und</strong> "bildungskleinbürgerlichen")<br />
Milieus, die der Ideologie des freien Intellektuellen anhängen <strong>und</strong> der geforderten<br />
Selbstorganisation des Studiums auch eher genügen können. Sie nehmen oft die Orientierungsprobleme,<br />
die die Studierenden aus den Volks- <strong>und</strong> Arbeitnehmermilieus mit der willkürlichen<br />
Struktur des Studienangebotes haben, weniger ernst oder werten sie als Neigung<br />
zur "Verschulung" ab.<br />
Die Untersuchung geht davon aus, daß - wie die Studien des Deutschen Studentenwerkes<br />
anzeigen - seit der Öffnung der Universitäten aus beiden Herkunftsgruppen ein größerer<br />
Prozentsatz studiert, von den obersten Gruppen teilweise um 70% statt um 50% eines<br />
Jahrgangs, von den unteren teilsweise um mehr als 10%. Damit hat sich, wie Bourdieu <strong>und</strong><br />
Passeron (1971: 148ff) festgestellt haben, zwar nicht das Gefälle der Ungleichheit, wohl aber<br />
das intellektuelle Habitusprofil verändert. Von den unteren Gruppen studieren nicht mehr nur<br />
die Hochbegabten, von den oberen nun auch diejenigen, die die Leitbilder der intellektuellen<br />
Brillanz <strong>und</strong> Substanz weniger oder eher prätentiös verkörpern. Die einzelnen Studierendenmilieus<br />
werden sich nach ihrem Habitus vermutlich anders unterscheiden als früher, was<br />
sich wiederum auf die diskutierten Kompetenzen (Orientierung im wissenschaftlichen Feld,<br />
Lernstil, Sprache, Lebensplanung, Berufsstrategien usw.) auswirkt.<br />
Die Untersuchung knüpft methodologisch nicht an die in der Studierendenforschung<br />
üblichen Schichtmodelle, sondern insbesondere an Fachkultur-Untersuchungen wie die von<br />
Engler (1993) <strong>und</strong> Apel (1993) an, die von milieu- <strong>und</strong> klassenkulturellen Habitustypen<br />
ausgehen. Nach der Methode der typenbildenden Habitusanalyse sollen, mit dem Instrument<br />
der "Gruppenwerkstatt" (Bremer 2001), in Hannover das gesamte Feld des sozialwissenschaftlichen<br />
Studiums <strong>und</strong> vergleichbare Teile des Wiso-Studiums exploriert werden. In<br />
der Diagnose des Feldes, das die Studierendenmilieus miteinander <strong>und</strong> zusammen mit dem<br />
Lehrangebot bilden, werden die Mechanismen der Integration <strong>und</strong> der Abdrängung für die<br />
Milieus wie auch für die Geschlechts- <strong>und</strong> Ethnogruppen herausgearbeitet.<br />
Der Vortrag soll die bisherigen Ergebnisse dieser Studie vorstellen <strong>und</strong> die Möglichkeiten<br />
einer Reform des Studiersystems <strong>und</strong> einer “rationalen Pädagogik" (Bourdieu) klären, die die<br />
verschiedenen Habitusdispositionen ernst nimmt anstatt von hegemonialen Mustern der<br />
ständischen Gebildetenkultur auszugehen. Diese differenzierende Pädagogik, die<br />
verschiedene Bildungsweisen fördert, ist wichtiger als eine Beschleunigungspädagogik für<br />
kleine Eliten.<br />
Bisher sind allein in den Sozialwissenschaften (Soziologie, Politische Wissenschaft <strong>und</strong><br />
Sozialpsychologie) mehr als zehn Studierendenmilieus identifiziert worden, deren<br />
biographische Strategien <strong>und</strong> Bildungsstile sich deutlich voneinander unterscheiden <strong>und</strong> die<br />
in ausgeprägten, wenn auch selten unkaschiert ausgetragenen Konkurrenz- <strong>und</strong><br />
Konfliktbeziehungen miteinander stehen. Sie streuen, nach ihrer Herkunft <strong>und</strong> ihren<br />
Bildungsmustern, über den gesamten sozialen Raum Bourdieus <strong>und</strong> umfassen die
3<br />
verschiedensten Fraktionen der oberen, mittleren <strong>und</strong> unteren sozialen Milieus. Die<br />
Projektergebnisse unterstützen zugleich die Annahme, daß die abgedrängten <strong>und</strong> unterrepräsentierten<br />
Milieus nicht weniger, sondern anders "gebildet" sind.<br />
Damit bestätigen die Untersuchung auch, daß selbst in einem formell wenig regulierten <strong>und</strong><br />
scheinbar offenen fachlichen Feld die gleichen ständischen Segregationsmechanismen<br />
wirken, die zuletzt in den PISA-Studien als typisch für die international so auffälligen<br />
Chancenunterschiede im deutschen Bildungssystem nachgewiesen worden sind.