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Streber, Petzer, Sündenböcke - Abitur-Hilfe.de

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Horst Kasper<br />

<strong>Streber</strong>, <strong>Petzer</strong>, <strong>Sün<strong>de</strong>nböcke</strong><br />

Wege aus <strong>de</strong>m täglichen Elend<br />

<strong>de</strong>s Schülermobbings


Die Schule nach PISA, die Schule nach Erfurt<br />

Anmerkungen zur 3. aktualisierten Auflage<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

zwei Themen bestimmen die Diskussionen um Bildung<br />

und Schule in unserem Land. Die im internationalen<br />

Vergleich schlechten Leistungen und die zunehmen<strong>de</strong><br />

Gewalt: PISA und die Folgeuntersuchungen und <strong>de</strong>r Amoklauf von Erfurt<br />

am 26.4.2002.<br />

Nun scheint sich so ganz allmählich eine Einsicht durchzusetzen:<br />

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>m menschlichen Klima<br />

an unseren Schulen und <strong>de</strong>m, was sie leisten.<br />

Und es gibt eine zweite Einsicht: Es ist besser eine entschie<strong>de</strong>ne Prävention<br />

gegen die kleine Gewalt und eine aktive Arbeit für ein besseres menschliches<br />

Klima zu betreiben, als allein mit Druck, Drohung und verschärften<br />

Sanktionen auf aktuelle Ereignisse zu reagieren.<br />

Immer mehr Kolleginnen und Kollegen, aber auch engagierte Eltern<br />

begreifen, dass in einem Klima <strong>de</strong>r Erniedrigung und Beschämung kein Mut<br />

zur Zukunft und kein Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit ge<strong>de</strong>ihen<br />

kann. Sie suchen nach Wegen aus <strong>de</strong>m Teufelskreis und eine Umkehr <strong>de</strong>s<br />

Zustan<strong>de</strong>s hin zu einem Klima <strong>de</strong>s menschlichen Miteinan<strong>de</strong>rs und <strong>de</strong>r<br />

gegenseitigen För<strong>de</strong>rung.<br />

Dieses Buch und <strong>de</strong>r damit zusammenhängen<strong>de</strong> Smob-Fragebogen als<br />

Diagnoseinstrument <strong>de</strong>r kleinen Gewalt in <strong>de</strong>r Schule (mit Anleitung und<br />

Auswertungshilfe, Bestell-Nr. A713) haben sich als konstruktive Beiträge dazu<br />

bewährt. Die bei<strong>de</strong>n Publikationen zum schulischen Konfliktmanagement<br />

(Bestell-Nr. A019 und A037) för<strong>de</strong>rn ganz direkt Ihre Arbeit für ein besseres<br />

Schulklima und bessere Ergebnisse.<br />

Allen <strong>de</strong>primieren<strong>de</strong>n Befun<strong>de</strong>n dieser Zeit zum Trotz gibt es gute Hoffnung<br />

auf einen Wan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Bedingungen vor Ort zum Besseren und allen Grund,<br />

diese Aufgabe mit Mut und Zuversicht, mit Geduld und langem Atem in<br />

Angriff zu nehmen.<br />

Horst Kasper


Inhaltsverzeichnis<br />

Teil I: Das ist Schülermobbing<br />

1. Ein ernstes Anliegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

2. Jochen T. – Fallgeschichte I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />

3. Was Schülermobbing be<strong>de</strong>utet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

4. Wie es zum Mobbing in <strong>de</strong>r Schule kommt . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

5. Wie sich Mobbing in <strong>de</strong>r Klasse zeigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

6. Marie – Fallgeschichte II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

Teil II: Die Schülermobbinguntersuchung<br />

7. Der Smob-Fragebogen – ein Instrument für die Schule . . . . . . 40<br />

8. Ergebnisse <strong>de</strong>r Smob-Befragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />

• Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

• Der Stoff, aus <strong>de</strong>m das Mobbing ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63<br />

• Indikatoren <strong>de</strong>s Konfliktgeschehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />

9. Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Smob-Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

Teil III: Handlungsmöglichkeiten gegen Mobbing<br />

10. Was tun gegen Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />

11. Arbeitsstrukturen für Prävention und Intervention . . . . . . . . . . . 89<br />

• Schulebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />

– Schulprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />

– Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

– Personalstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94<br />

– Schulorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96<br />

– Schülerstreitschlichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />

3


4<br />

• Klassenebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />

– Smob-Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101<br />

– Teamentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102<br />

– Maßnahmen im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103<br />

– Klassenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104<br />

– Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

• Persönliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108<br />

– Nie<strong>de</strong>rschwellige <strong>Hilfe</strong>n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

– Schülerbeistand: O- und T-Partner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

• Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112<br />

12. Praktische Arbeit gegen Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />

• Was je<strong>de</strong>r Lehrer tun kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114<br />

• Was Lehrer einer Klasse gemeinsam tun können . . . . . . . . . 116<br />

• Umgang mit <strong>de</strong>m Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />

• Unterrichtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118<br />

• Wenn Kollegen ihre Macht missbrauchen . . . . . . . . . . . . . . 121<br />

13. Eltern für ihre Söhne und Töchter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />

14. Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126<br />

15. Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128<br />

16. Danke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130


Teil I<br />

Das ist Schülermobbing<br />

1. Ein ernstes Anliegen<br />

„Schülermobbing? Doch nicht in meiner Klasse!“ – meinen Sie, liebe<br />

Kollegin? Dann brauchen Sie dieses Buch nicht; <strong>de</strong>nn Sie arbeiten auf<br />

einer <strong>de</strong>r wenigen Inseln im Meer <strong>de</strong>r kleinen Gewalt, in einer von vielleicht<br />

zehn Schulklassen, von <strong>de</strong>r man das sagen kann. Wenn Ihnen als Mutter<br />

o<strong>de</strong>r Vater noch nichts von täglichen Gemeinheiten in <strong>de</strong>r Klasse Ihres<br />

Kin<strong>de</strong>s zu Ohren gekommen ist, haben Sie ebenfalls beson<strong>de</strong>res Glück.<br />

Es gehört wohl zu <strong>de</strong>r glücklichen Min<strong>de</strong>rheit von Kin<strong>de</strong>rn dieser Klasse,<br />

das von sich sagen kann, das passiere ihm nie. Es kann aber auch sein,<br />

dass Sie lei<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>, seien Sie Lehrerin o<strong>de</strong>r Mutter, keine Ahnung davon<br />

haben, was wirklich geschieht. Dann schauen Sie doch lieber einmal rein<br />

in dieses kleine Buch. Vielleicht kommt Ihnen bei <strong>de</strong>r Lektüre das eine<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Ereignis in <strong>de</strong>n Sinn, das Sie erlebt haben, und Sie wer<strong>de</strong>n<br />

etwas nach<strong>de</strong>nklich, wollen dann doch genauer wissen, was bei <strong>de</strong>n<br />

lieben Kleinen o<strong>de</strong>r Großen in <strong>de</strong>r Schule wirklich läuft.<br />

Das Grundgesetz <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>srepublik Deutschland sichert je<strong>de</strong>m<br />

einzelnen Kind <strong>de</strong>n Schutz vor Verletzung seiner Wür<strong>de</strong> und seiner<br />

Person zu. Die UN-Kin<strong>de</strong>rkonvention 1 bekräftigt die Rechte auf Schutz<br />

und För<strong>de</strong>rung seiner Entwicklung. Bis zum vollen<strong>de</strong>ten achtzehnten<br />

Lebensjahr genießen so alle Kin<strong>de</strong>r einen beson<strong>de</strong>ren rechtlichen Schutz,<br />

ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot eingeschlossen. 2<br />

„Je<strong>de</strong>s Kind hat ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche<br />

Bestrafungen, seelische Verletzungen und an<strong>de</strong>re entwürdigen<strong>de</strong><br />

Maßnahmen sind unzulässig“, lautet die seit Herbst 2000 gelten<strong>de</strong><br />

Ergänzung von § 1631 Abs. 2 BGB.<br />

Dennoch haben viele Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Schule schwere Beeinträchtigungen<br />

zu ertragen. Die Schülermobbingforschung ermittelte Zahlen Betroffener,<br />

wonach je<strong>de</strong>s zehnte, gar bis je<strong>de</strong>s fünfte Kind diskriminieren<strong>de</strong>n<br />

5


Handlungen ausgesetzt ist, die seine Entwicklung schwer gefähr<strong>de</strong>n<br />

können. Auch die Entwicklung zum Mobber, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r quält und<br />

unterdrückt, gehört zu <strong>de</strong>m, was manche Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Schule lernen.<br />

Zwar möchte das niemand, doch wer verhin<strong>de</strong>rt es? So wer<strong>de</strong>n Handlungsmuster<br />

zur Gewohnheit, die das künftige Leben von Angreifern wie<br />

Angegriffenen negativ prägen können.<br />

Eine häufige Feststellung aller, die sich weltweit mit <strong>de</strong>n Phänomenen <strong>de</strong>s<br />

Schülermobbing befasst haben und noch befassen, gilt <strong>de</strong>m verbreiteten<br />

Desinteresse, mit <strong>de</strong>m Lehrer und Schulleiter damit umgehen. Solcher<br />

Kin<strong>de</strong>rkram ist lästig und Lehrer wollen sich auf das Wesentliche, nämlich<br />

die Vermittlung <strong>de</strong>s Wissensstoffs konzentrieren. Es ist bequem, sich als<br />

Erwachsener für unzuständig zu erklären mit <strong>de</strong>r Formel: „Kin<strong>de</strong>r müssen<br />

frühzeitig lernen, ihre Konflikte selbst zu regeln. Deshalb soll man sich<br />

da gar nicht einmischen.“ Zwar ist <strong>de</strong>m ersten Satz ohne Einschränkung<br />

zuzustimmen, nicht aber <strong>de</strong>r Folgerung. Diese stellt einen folgenschweren<br />

Irrtum und frommen Selbstbetrug dar. Mobbing vergeht nicht von<br />

alleine, schon gar nicht bei Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen. Es kommt im<br />

Gegenteil durch das Übersehen <strong>de</strong>r Vorkommnisse von Seiten <strong>de</strong>r Lehrer<br />

erst richtig in Gang.<br />

Gleichgültigkeit<br />

gegenüber Unrecht<br />

ist das Tor zur<br />

6<br />

Hölle<br />

„Gleichgültigkeit gegenüber Unrecht ist das Tor<br />

zur Hölle“, lautet das Motto <strong>de</strong>r Organisation Ärzte<br />

ohne Grenzen. 4 Es könnte als Mahnung auch die<br />

Lehrerzimmer <strong>de</strong>r Republik zieren! Kin<strong>de</strong>r müssen<br />

tatsächlich frühzeitig lernen, ihre Konflikte friedlich<br />

zu lösen, doch dazu brauchen sie die Begleitung<br />

durch Erwachsene, <strong>de</strong>nen sie vertrauen können<br />

und die bereit sind zu helfen, wo das nötig wird.<br />

Dem Schülermobbing kann, so die allgemeine Erkenntnis, nur am<br />

Ort <strong>de</strong>s Geschehens wirksam begegnet wer<strong>de</strong>n. Es geschieht im Verantwortungsbereich<br />

<strong>de</strong>r einzelnen Schule. Daher muss sich das Bemühen<br />

um Abwehr wie um Prävention auf die einzelne Schule konzentrieren. Dies<br />

in <strong>de</strong>n Blickpunkt <strong>de</strong>s Interesses zu rücken und gleichzeitig einige Handlungsmöglichkeiten<br />

darzustellen, ist das Anliegen dieses Buches. Es will


eitragen zum sozialen Lernen in <strong>de</strong>r Schulklasse und will die Arbeit an<br />

<strong>de</strong>r inneren Entwicklung <strong>de</strong>r einzelnen Schule unterstützen. Es wen<strong>de</strong>t<br />

sich in dieser Absicht an Lehrer, an Eltern und an Berater.<br />

Dazu sind konkrete Einblicke in das Geschehen notwendig. Hier wird<br />

eine einfach zu praktizieren<strong>de</strong> und überall in <strong>de</strong>n Schulen anwendbare<br />

Möglichkeit dargestellt, mit <strong>de</strong>r die Sachverhalte in <strong>de</strong>r einzelnen Klasse<br />

erfasst wer<strong>de</strong>n können. Diese Metho<strong>de</strong> ist etwa ab Klassenstufe 4 bis zur<br />

beruflichen Schule und zur gymnasialen Oberstufe einsetzbar. Auch in<br />

<strong>de</strong>r individuellen Schülerberatung kann dieses Instrument gut eingesetzt<br />

wer<strong>de</strong>n. So kann eine soli<strong>de</strong> Informationsgrundlage für Intervention<br />

wie Prävention gewonnen wer<strong>de</strong>n. Die Ergebnisse <strong>de</strong>r Untersuchungen<br />

ermöglichen direkte Vergleiche mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Schulen, die das dazu<br />

entwickelte und erprobte Instrument, <strong>de</strong>n Smob-Fragebogen, bei sich<br />

nutzen wollen. 5<br />

Schließlich wollen Sie die im dritten Teil dargestellten konkreten Vorschläge<br />

darin unterstützen, <strong>de</strong>m Mobbing in <strong>de</strong>n Schulklassen wie an<br />

<strong>de</strong>r ganzen Schule, aber auch im Einzelfall wirksam zu begegnen. Die<br />

vorgeschlagenen Mittel und Wege stellen Möglichkeiten dar, welche die<br />

resignative Haltung in <strong>de</strong>n Kollegien gegenüber dieser Art Störungen<br />

tatkräftig und mit nachhaltiger Wirkung überwin<strong>de</strong>n helfen. Sie wollen<br />

auch dazu anregen, die eigenen Möglichkeiten zu erweitern und <strong>de</strong>n<br />

eigenen Weg zu einer allmählichen Kultivierung<br />

<strong>de</strong>r zwischenmenschlichen Beziehungen in je<strong>de</strong>r Je<strong>de</strong> Schule kann<br />

Schulklasse zu bereiten. Je<strong>de</strong> Schule kann so das<br />

Gesetz <strong>de</strong>s pädagogischen Han<strong>de</strong>lns gegenüber das Gesetz <strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Formen und Erscheinungen <strong>de</strong>r<br />

pädagogischen<br />

psychischen wie physischen Gewalt im Schulalltag<br />

gewinnen. Sie kann ihre innere Entwicklung zum Han<strong>de</strong>lns gewinnen<br />

Wohle aller ihrer Schülerinnen und Schüler för<strong>de</strong>rn<br />

– aus eigener Kraft. Einige Kolleginnen und Kollegen müssen es nur<br />

ernsthaft wollen, dann sind nachhaltige Erfolge auch bei Ihnen möglich.<br />

Die Kultur <strong>de</strong>s gemeinsamen sozialen Lernens ge<strong>de</strong>iht an Ihrer Schule,<br />

sobald es gelingt die Arbeit zu verstetigen. Sie muss außer<strong>de</strong>m jährlich<br />

7


neu ansetzen; <strong>de</strong>nn je<strong>de</strong>r nachwachsen<strong>de</strong> Jahrgang von Kin<strong>de</strong>rn stellt<br />

Ihre Schule erneut vor diese wichtige Aufgabe.<br />

Das Hin- und Herschieben <strong>de</strong>s Schwarzen Peters zwischen Schule, Elternhaus<br />

und Medien hilft <strong>de</strong>r Schule nicht weiter. Die Schule muss die Sache<br />

<strong>de</strong>r Schule selbst tun und je<strong>de</strong> einzelne Schule kann ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten<br />

erweitern, unter <strong>de</strong>ren Einfluss die „kleine Gewalt“<br />

<strong>de</strong>s Schülermobbing immer mehr an Bo<strong>de</strong>n verliert. Dies konkret zu för<strong>de</strong>rn<br />

ist das Anliegen dieses Buches.<br />

Eltern, die das unterstützen, machen diese Arbeit noch effektiver. An<br />

vielen Schulen kommen seit Jahren entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Impulse für eine gute<br />

Entwicklung von engagierten Eltern. Warum nicht auch in Ihrem Fall?<br />

Eltern und Lehrer haben gemeinsam wesentlich mehr Handlungsmöglichkeiten<br />

zur Verbesserung <strong>de</strong>r Situation. Wo man sich zu gemeinsamer<br />

Arbeit am gemeinsamen Problem entschließt, statt in je<strong>de</strong>m neu entgleisen<strong>de</strong>n<br />

Konfliktfall nach <strong>de</strong>n jeweils Schuldigen zu suchen, hat die<br />

Entwicklung zum Besseren schon begonnen. Eltern betroffener Kin<strong>de</strong>r<br />

und Jugendlicher und jene, die sich für eine gute Arbeit <strong>de</strong>r Schule ihrer<br />

Kin<strong>de</strong>r engagieren, können aus diesem Buch und <strong>de</strong>r Beschäftigung mit<br />

<strong>de</strong>m Schülermobbing auch direkten Nutzen ziehen. Sie können Ihrerseits<br />

<strong>de</strong>n Fragebogen ausfüllen lassen und so eine gute Basis für klären<strong>de</strong><br />

Gespräche mit <strong>de</strong>n Lehrern erhalten.<br />

2. Jochen T. 6 – Fallgeschichte I<br />

Heute, da er dies berichtet, ist Jochen 24 Jahre alt. Seine Schulerlebnisse<br />

sind typisch für Tausen<strong>de</strong> von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen. Sie belegen<br />

auch in dieser Kürze, dass für viele junge Menschen die Schule nicht<br />

<strong>de</strong>shalb zur Qual wird, weil sie sich beim Lernen überfor<strong>de</strong>rt fühlen, son<strong>de</strong>rn<br />

weil sie von einigen Mitschülern ständig schikaniert und ge<strong>de</strong>mütigt<br />

wer<strong>de</strong>n. Dazu kommt die Art, wie manche Lehrerinnen und Lehrer mit<br />

diesem „Kin<strong>de</strong>rkram“ umgehen. Das meist uneingestan<strong>de</strong>ne Vorurteil in<br />

schulischer Umgebung, wonach Mobbingopfer irgendwie selbst schuld<br />

seien, gilt offenbar ganz beson<strong>de</strong>rs für manche Lehrer gegenüber<br />

8


so genannten Außenseitern unter <strong>de</strong>n Schülern. Dieser Fall zeigt daher<br />

beispielhaft, wie es vielen Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen in <strong>de</strong>r Schule<br />

mit Mitschülern, mit Lehrern und Schulleitern ergeht. Er for<strong>de</strong>rt uns<br />

Lehrer zum genaueren Hinsehen auf und zu mehr Empathie für die<br />

Opfer jugendlicher Schikanöre, vor allem aber zur Hilfsbereitschaft<br />

gegen <strong>de</strong>n ganz alltäglichen Psychoterror in unseren Schulklassen.<br />

Kin<strong>de</strong>r sind schließlich zum Lernen in <strong>de</strong>r Schule. Dazu gehören auch<br />

Umgangsformen und Möglichkeiten <strong>de</strong>r konstruktiven Konfliktregelung.<br />

Lesen Sie also Jochens Bericht, wie er ihn auf Tonband gesprochen und<br />

in seiner vom Autor adaptierten Fassung autorisiert hat:<br />

„Wahrscheinlich begann alles schon mit <strong>de</strong>m Schulanfang in einer<br />

Grundschule <strong>de</strong>r ländlichen Kleinstadt im Großraum Stuttgart, in <strong>de</strong>r<br />

ich aufgewachsen bin. Aus irgendwelchen Grün<strong>de</strong>n, die ich nicht mehr<br />

weiß, kam ich nicht in die gleiche Klasse wie die an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r meiner<br />

früheren Kin<strong>de</strong>rgartengruppe. Die Klassenkamera<strong>de</strong>n dagegen waren<br />

alle schon im Kin<strong>de</strong>rgarten zusammen. So fühlte ich mich von Anfang<br />

an ziemlich allein. Dazu kam, dass ich gleich <strong>de</strong>n Eindruck bekam, die<br />

Lehrerin mag mich nicht. Je<strong>de</strong>nfalls fühlte ich mich<br />

von ihr benachteiligt. Außer<strong>de</strong>m bekam ich von <strong>de</strong>n Dabei hat die<br />

an<strong>de</strong>rn ständig Prügel. Dabei hat die Lehrerin nur<br />

Lehrerin nur<br />

zugesehen. Trotz<strong>de</strong>m war ich in <strong>de</strong>r Grundschule<br />

ganz gut. Es hat meine Leistungen damals nicht zugesehen<br />

beeinträchtigt, dass ich ständig verprügelt wor<strong>de</strong>n<br />

bin. Aber ich entwickelte, allein gelassen wie ich war, eigene Maßnahmen<br />

zu meinem Schutz. So rannte ich oft zu Beginn <strong>de</strong>r großen Pause nach<br />

Hause, ich wohnte ja nicht weit von <strong>de</strong>r Schule; <strong>de</strong>nn ich hatte ständig<br />

berechtigte Angst, verprügelt zu wer<strong>de</strong>n. Dann musste mich meine<br />

Mutter wie<strong>de</strong>r zur Schule bringen. Ich traute mich nicht, alleine wie<strong>de</strong>r<br />

zur Schule zu gehen, da die an<strong>de</strong>ren mich abgefangen und angegriffen<br />

hätten. Auch nach <strong>de</strong>r Schule auf <strong>de</strong>m Nachhauseweg fingen sie mich<br />

immer wie<strong>de</strong>r ab und drohten mir Prügel an. Ich hatte keine Möglichkeit,<br />

<strong>de</strong>m Terror zu entgehen. Als ich später mit <strong>de</strong>m Fahrrad zur Schule fuhr,<br />

erlebte ich oft, dass ich dieses nach <strong>de</strong>r Schule „gelüftet“ vorfand, also<br />

mit herausgeschraubten und weggeworfenen Ventilen. Mit einigen meiner<br />

Klassenkamera<strong>de</strong>n hatte ich stets beson<strong>de</strong>re Probleme. Diese waren auch<br />

9


sehr frech zu meiner Mutter. Ich erinnere mich auch, dass es bei uns zu<br />

Hause in dieser Zeit <strong>de</strong>r Grundschule Telefonterror gab. Ich hätte Drogen<br />

genommen, behaupteten zum Beispiel die anonymen Anrufer o<strong>de</strong>r sie<br />

drohten: ‚T., wir holen dich!‘ Sie taten alles, um mich herunterzubuttern,<br />

obgleich ich ganz gut war in <strong>de</strong>r Grundschule.<br />

In <strong>de</strong>r dritten und vierten Klasse war es besser. Ich hatte damals einen<br />

ein Jahr älteren Freund in einer Klasse über mir, <strong>de</strong>r mich beschützte.<br />

Allerdings war ich zu jener Zeit auch schon aggressiver, durch welche<br />

Umstän<strong>de</strong> auch immer. Je<strong>de</strong>nfalls habe ich damals selbst auch ganz<br />

schön rumgeprügelt. Doch ich weiß heute nicht mehr, ob ich mich nur<br />

gegen die Angriffe an<strong>de</strong>rer gewehrt habe o<strong>de</strong>r ob ich von mir aus an<strong>de</strong>re<br />

angegriffen habe. Ich war je<strong>de</strong>nfalls auch in diesen Klassen drei und<br />

vier „Außenseiter“ und hatte es schwer, mich in die Klassengemeinschaft<br />

einzufügen.<br />

Beson<strong>de</strong>rs schlimm fand ich immer die<br />

Beson<strong>de</strong>rs schlimm Mannschaftsbildung im Sport. Ich war eigentlich<br />

fand ich immer die<br />

ganz gut im Sport, aber wenn gewählt wur<strong>de</strong> – und<br />

es wur<strong>de</strong> immer gewählt – blieb ich stets als Letzter<br />

Mannschafts-<br />

übrig, als <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n niemand in <strong>de</strong>r Mannschaft<br />

haben wollte. Das fand ich immer ganz schrecklich<br />

bildung im Sport<br />

und ungerecht. Dabei spielte es keine Rolle, ob es<br />

da um Fußball o<strong>de</strong>r Basketball o<strong>de</strong>r um ein an<strong>de</strong>res<br />

Spiel ging. Auch wenn eine Mannschaft zu einem Turnier zu bil<strong>de</strong>n war,<br />

durfte ich nie mitmachen. Ich gehörte einfach nicht dazu!<br />

Dann kam die Entscheidung, in welches Gymnasium ich gehen sollte.<br />

Weil ich die geschil<strong>de</strong>rten Probleme hatte, dachte ich, ich gehe nicht in<br />

das Gymnasium, in das alle an<strong>de</strong>rn gehen, son<strong>de</strong>rn in ein an<strong>de</strong>res. Ich<br />

hatte also einen neuen Start. In <strong>de</strong>n ersten Wochen ging es da auch ganz<br />

gut. Aber bald ging die Geschichte mit <strong>de</strong>m ,Fahrradlüften‘ los. Da waren<br />

am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Unterrichts, wenn ich zum Fahrradstän<strong>de</strong>r kam, die Ventile<br />

weg und ich durfte mein Rad zwei Kilometer nach Hause schieben. Das<br />

passierte immer wie<strong>de</strong>r. Manchmal wur<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>shalb auch von <strong>de</strong>n Eltern<br />

abgeholt. Abgesehen davon hatte ich aber in diesen drei Jahren, also<br />

10


in <strong>de</strong>n Klassen fünf bis sieben, mit <strong>de</strong>m Gemobbtwer<strong>de</strong>n nicht so viele<br />

Probleme. Doch einige <strong>de</strong>r Klassenkamera<strong>de</strong>n waren schon auch darauf<br />

aus.<br />

Woran ich mich jedoch in dieser Zeit sehr unangenehm erinnere, ist <strong>de</strong>r<br />

Spitzname ,Klofisch‘, eine Verballhornung meines richtigen Namens, auf<br />

<strong>de</strong>n er sich reimt. Daraus wur<strong>de</strong> später gar <strong>de</strong>r ,Tiefseetoilettentaucher‘.<br />

Bei<strong>de</strong>s empfand ich als sehr kränkend. Das hat sich später auch in <strong>de</strong>r<br />

Realschule fortgesetzt, in die ich vom Gymnasium wechseln musste. Die<br />

wussten das schon, bevor ich angekommen war. Noch heute sagt einer<br />

<strong>de</strong>r damaligen Klassenkamera<strong>de</strong>n, wenn ich wie<strong>de</strong>r einmal in meinem<br />

Heimatstädtchen bin und er mich sieht: ,Da ist ja <strong>de</strong>r Klofisch!‘ Als ich<br />

im Alter zwischen 21 und 24 das <strong>Abitur</strong> nachholte, haben sie mich mit<br />

Spitznamen Jürgi genannt. Das war in Ordnung.<br />

Im Gymnasium bekam ich bald Schwierigkeiten. Ich hatte von Anfang an<br />

keine guten Noten. Dazu kam, dass ich auch schlechte Verhaltensnoten<br />

bekam. Zwar hatte ich nun keine Angst mehr vor Angriffen. Hatte ich doch<br />

gelernt mich aggressiv zur Wehr zu setzen. Aber gera<strong>de</strong> dies brachte<br />

mich nun in Konflikt mit <strong>de</strong>n Lehrern, bei <strong>de</strong>nen ich wohl als gewaltbereiter<br />

Schüler galt, <strong>de</strong>n man disziplinieren musste. Immer wie<strong>de</strong>r prügelte<br />

ich mich mit Mitschülern. In <strong>de</strong>r siebten Klasse wur<strong>de</strong> es mit meinen<br />

Leistungsnoten so trostlos, dass ich in die Realschule wechseln musste.<br />

Ich ging in die entferntere <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n örtlichen Realschulen, nicht in die<br />

direkt ums Eck bei mir gelegene.<br />

In <strong>de</strong>r Realschule hat das dann die schlimmste Wen<strong>de</strong> genommen und<br />

zwar während <strong>de</strong>r ganzen Klassen acht bis zehn. Ich wur<strong>de</strong> in eine Klasse<br />

eingewiesen, in <strong>de</strong>r bereits vorher ein Cousin von mir war. Mit <strong>de</strong>m habe<br />

ich mich von klein auf nie verstan<strong>de</strong>n. Sonst kannte ich niemand. Das<br />

war mir nach <strong>de</strong>n Erfahrungen in <strong>de</strong>r Grundschule ganz recht. Aber die<br />

an<strong>de</strong>ren waren von Anfang an abweisend zu mir. Ich bekam manchmal<br />

in <strong>de</strong>r Klasse einen Zettel zugeschoben, auf <strong>de</strong>m stand: ‚Heute Nachmittag<br />

bist du tot!‘ Das war sehr beängstigend und hat mich sehr heruntergebracht.<br />

11


Mein Cousin Sven und die an<strong>de</strong>ren machten sich einen Spaß daraus, mich<br />

während <strong>de</strong>s Unterrichts fertig zu machen. Sie unterstellten mir, mich als<br />

etwas Besseres zu fühlen, weil ich vom Gymnasium gekommen war. Doch<br />

das stimmte überhaupt nicht.<br />

Ich fühlte mich in dieser Klasse zunehmend isoliert, musste auch die<br />

Pausen auf <strong>de</strong>m Hof allein verbringen. Dazu kam, dass es Einträge<br />

im Klassenbuch gehagelt hat. Ich wollte mir die Gemeinheiten <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren eben nicht gefallen lassen. Wenn ich dann aufbrauste, wur<strong>de</strong><br />

ich von <strong>de</strong>n Lehrerinnen und Lehrern gemaßregelt. Ich bekam wegen<br />

meines Verhaltens ständige Ermahnungen und auch wie<strong>de</strong>r schlechte<br />

Verhaltensnoten. Zwar gab es in <strong>de</strong>r Klasse praktisch keine Schlägereien<br />

mehr, diese wur<strong>de</strong>n auf nach <strong>de</strong>r Schule verschoben, so dass man nicht<br />

sagen kann, es seien überhaupt keine Schlägereien mehr vorgekommen,<br />

aber die verbalen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen, die beständigen Kränkungen<br />

und die Isolierung durch die an<strong>de</strong>ren haben mich<br />

Nirgends gehörte schwer belastet. Außer<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> ich praktisch von<br />

allem ausgeschlossen. Nirgends gehörte ich dazu.<br />

ich dazu<br />

Zwar war ich gar nicht so schlecht im Sport, doch<br />

ich durfte nirgends mitmachen und wur<strong>de</strong> wie früher in <strong>de</strong>r Grundschule<br />

schon bei keiner Mannschaftsaufstellung berücksichtigt.<br />

Schlimm war <strong>de</strong>r Nachhauseweg. Hatte es während <strong>de</strong>s Vormittags in<br />

<strong>de</strong>r Klasse Probleme gegeben, wur<strong>de</strong> das nach <strong>de</strong>r Schule ausgetragen.<br />

So wur<strong>de</strong> ich immer wie<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Nachhauseweg abgefangen und<br />

verprügelt. Die an<strong>de</strong>ren machten mich regelrecht fertig. Sie warteten<br />

oft auf mich bei <strong>de</strong>n Fahrrä<strong>de</strong>rn, um mich anzugreifen. Bis ich das Rad<br />

aufgeschlossen hatte, hatten sie mich umringt und bedrohten mich. Oft<br />

versuchte ich <strong>de</strong>shalb, mich einem <strong>de</strong>r Lehrer anzuschließen, dann ging<br />

das. Doch das war <strong>de</strong>n Lehrerinnen und Lehrern meist gar nicht recht.<br />

Sie weigerten sich gar, mit mir zu <strong>de</strong>n Fahrrä<strong>de</strong>rn zu gehen. Sie waren <strong>de</strong>r<br />

Meinung, die Jugendlichen müssten in diesem Alter ihre Angelegenheiten<br />

selbst regeln und ihre Konflikte unter sich austragen. So war das auch in<br />

<strong>de</strong>n Klassen acht bis zehn. Wer sich nicht richtig verhalten konnte und mit<br />

<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn laufend in Streit geriet, war in ihren Augen selbst schuld und<br />

musste sehen, wie er das Problem löst.<br />

12


‚Fahrradlüften‘ war bald gera<strong>de</strong>zu an <strong>de</strong>r Tagesordnung. Dabei konnte ich<br />

ja mit <strong>de</strong>m platt gemachten Fahrrad nicht einfach weglaufen. Manchmal<br />

ließ ich daher das Rad einfach liegen, rannte davon und wartete, bis sie<br />

weg waren, um es dann zu holen. Kam ich später zurück, um es zu holen,<br />

dann waren manchmal sogar die Rä<strong>de</strong>r verbogen.<br />

Symptomatisch für meine ganze Situation war, dass ich praktisch keine<br />

Freundschaft aufbauen konnte. Ich hatte in dieser ganzen Zeit keinen<br />

einzigen Freund. Nur mit einem aus dieser Realschulklasse treffe ich<br />

mich heute noch ab und zu, sonst mit nieman<strong>de</strong>m. Dabei war das doch<br />

durchaus üblich, dass je<strong>de</strong>r seine Freun<strong>de</strong> hatte. Nur ich gehörte nirgends<br />

dazu, war praktisch immer ein ‚Außenseiter‘. Manchmal war ich das noch<br />

nicht einmal so ungern. Ich wollte auch nicht so sein wie die an<strong>de</strong>rn. In<br />

Klasse 8 gab es je<strong>de</strong>nfalls eine Menge Konflikte. Gegen En<strong>de</strong> aber hatte<br />

ich mich einigermaßen eingelebt.<br />

In Klasse 9 wur<strong>de</strong> die alte Klasse geteilt. Ich bin aus<br />

meiner Klasse rausgeschmissen wor<strong>de</strong>n. Ein Lehrer Aber es hat eben<br />

meinte später, man hätte <strong>de</strong>n Sven rausschmeißen<br />

mich getroffen<br />

müssen. Aber es hat eben mich getroffen. Nun<br />

hatte ich an<strong>de</strong>re Lehrer, mit <strong>de</strong>nen ich ganz gut klarkam. Aber da gab es<br />

Mitschüler, die mir diese Zettel geschrieben und mich bedroht haben. Das<br />

Fahrradlüften wur<strong>de</strong> hier ganz schlimm.<br />

In jener Zeit hatte ich das schlimmste Erlebnis meiner ganzen Schulzeit.<br />

Mein Cousin Sven, mit <strong>de</strong>m ich ja nun nicht mehr in eine Klasse ging, hat<br />

mich eines Tages völlig überraschend zu sich nach Hause eingela<strong>de</strong>n. Er<br />

hatte einen neuen AMIGA-Computer und sagte, er wolle ihn mir zeigen.<br />

Ich freute mich, dachte, jetzt wer<strong>de</strong> alles besser mit Sven. Als wir spielten,<br />

kam ein an<strong>de</strong>rer Junge. Der war total vermummt und trug ein Samurai-<br />

Schwert. Da haben die zwei mit mir Entführung gespielt. Sie fesselten<br />

mich und nahmen mir die Schuhe weg. Sie zwangen mich, mit ihnen aus<br />

<strong>de</strong>m Haus zu gehen, in <strong>de</strong>m Sven wohnte. Draußen kam noch ein an<strong>de</strong>rer<br />

dazu. Da merkte ich, dass die das vorher so geplant hatten. Ich musste<br />

total <strong>de</strong>mütigen<strong>de</strong> und erniedrigen<strong>de</strong> Sachen machen. So musste ich<br />

ihnen die Füße abschlecken. Der dritte Beteiligte trug ein Luftgewehr<br />

13


mit sich. Damit schossen sie zum Schein auf mich,<br />

Ich musste ihnen die spielten Hinrichtung mit mir. Meine Sachen waren<br />

Füße abschlecken<br />

im Haus geblieben und ich konnte nicht einfach<br />

weglaufen, barfuß wie ich war und ohne Jacke.<br />

Was wie ein nettes Angebot ausgesehen hatte, entwickelte sich zu einer<br />

ganz gemeinen Aktion. Sie hatten mir freundlich die netten Kamera<strong>de</strong>n<br />

vorgespielt und machten dann <strong>de</strong>rartig schlimme Sachen mit mir. Heute<br />

weiß ich, dass ich zwar durch dieses böse Spiel nicht traumatisiert wor<strong>de</strong>n<br />

bin. Doch erinnere ich mich sehr ungut daran.<br />

Es sollte sich an an<strong>de</strong>rer Stelle noch einmal wie<strong>de</strong>rholen. Ein an<strong>de</strong>rer<br />

Klassenkamerad namens Daniel hatte mich zu sich eingela<strong>de</strong>n. Er hatte<br />

ebenfalls seine Freun<strong>de</strong> zu sich eingela<strong>de</strong>n, ohne mir vorher etwas davon<br />

zu sagen. Sie nahmen mich gefangen, hielten mich gegen meinen Willen<br />

fest und schlugen mich. Auch hier war die Einladung nur ein Vorwand,<br />

um mich zu quälen, mich zu verprügeln und an<strong>de</strong>re Sachen mit<br />

mir zu machen. Sehe ich diese Burschen heute, wenn ich wie<strong>de</strong>r einmal<br />

zu Hause im Städtchen bin, dann kann ich mich zwar ganz vernünftig mit<br />

ihnen unterhalten. Aber ich muss immer dabei an diese Quälereien <strong>de</strong>nken.<br />

Wenn ich einmal versuchte, an<strong>de</strong>re zu mir einzula<strong>de</strong>n, zum Beispiel<br />

zu einer Geburtstagsfeier, lehnten die einfach ab. Ich wur<strong>de</strong> nie zu netten<br />

Gelegenheiten eingela<strong>de</strong>n und umgekehrt wollten die nie zu mir kommen.<br />

Ich bin halt ein Mensch, <strong>de</strong>r sich leicht und stark aufregt und <strong>de</strong>r leicht<br />

wütend wer<strong>de</strong>n kann. Auch zu Hause gibt es bei uns in <strong>de</strong>r Familie<br />

häufig unsachlich geführte Konflikte, möglicherweise stark durch mich<br />

hervorgerufen. Vielleicht ist das auch durch meine schulischen Erfahrungen<br />

so gekommen. Ich <strong>de</strong>nke heute oft: Wenn es nur <strong>de</strong>n einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

unter <strong>de</strong>n Lehrern gegeben hätte, <strong>de</strong>r einen hätte richtig beraten können,<br />

wären manche Dinge sicher nicht so weit gegangen. Statt <strong>de</strong>ssen erinnere<br />

ich mich an zwei Lehrer, die ich in <strong>de</strong>r achten Klasse <strong>de</strong>r Realschule gehabt<br />

habe. Der Mathematiklehrer war mir gegenüber sehr negativ eingestellt.<br />

Mathematik, das könne ich sowieso nicht, meinte er einmal. Er war<br />

mit <strong>de</strong>r Klasse im Schuljahr zuvor im Schullandheim gewesen und war<br />

ganz für die an<strong>de</strong>ren eingenommen, während er mich ablehnte. Er hat<br />

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mich manchmal vor <strong>de</strong>r ganzen Klasse lächerlich gemacht und hat mich<br />

zur Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren regelrecht verarscht. Als am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Klasse 8<br />

diese Neuverteilung von Schülern erfolgte, war ein an<strong>de</strong>rer Lehrer, <strong>de</strong>r<br />

in <strong>de</strong>r Klasse unterrichtete, <strong>de</strong>r Meinung, dass eher die an<strong>de</strong>ren, die<br />

Unruhestifter aus <strong>de</strong>r Klasse in eine an<strong>de</strong>re kommen sollten, aber <strong>de</strong>r<br />

Mathematiklehrer hat sich durchgesetzt und ich wur<strong>de</strong> in die Parallelklasse<br />

verwiesen. So trugen manche Lehrer zu meiner Isolierung noch bei.<br />

Als ich nach <strong>de</strong>r Realschule in die Berufsschule kam, erging es mir auch<br />

nicht viel besser. Auch hier war ich ein Außenseiter, mit <strong>de</strong>m niemand<br />

etwas zu tun haben wollte. Auch in <strong>de</strong>n drei Jahren Gymnasium zwischen<br />

1995 und 1998, das ich auf <strong>de</strong>m zweiten Bildungsweg besuchte, hatte ich<br />

Probleme mit <strong>de</strong>r Kommunikation mit meinen Klassenkamera<strong>de</strong>n.“<br />

3. Was Schülermobbing be<strong>de</strong>utet<br />

Angesichts <strong>de</strong>r Popularität <strong>de</strong>s Begriffes Mobbing erscheint es wichtig<br />

zu sagen, was genau damit gemeint ist. Es ist ja nicht einfach ein an<strong>de</strong>res<br />

Wort für Konflikt o<strong>de</strong>r Streit. Mobbing entsteht aus einer Konfliktsituation,<br />

die sich ausweitet und weiter entwickelt. Die meisten Konflikte klingen<br />

bald wie<strong>de</strong>r ab, wer<strong>de</strong>n beigelegt o<strong>de</strong>r abgebrochen. Einige wenige aber<br />

leben weiter, gewinnen eine Eigendynamik, weiten sich aus und bringen<br />

ständige Angriffe über eine längere Zeit mit sich. Ist ein solcher ausufern<strong>de</strong>r<br />

Konflikt durch das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, das<br />

heißt von Überlegenheit <strong>de</strong>r einen und Unterlegenheit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn Seite<br />

gekennzeichnet, dann sprechen wir von Mobbing.<br />

Jochens Erlebnisse weisen alle Merkmale <strong>de</strong>s Mobbing auf:<br />

1. Es han<strong>de</strong>lt sich um einen Konflikt, <strong>de</strong>r sich verfestigt hat.<br />

2. Von zwei Kontrahenten ist einer in die Unterlegenheit geraten.<br />

3. Die Angriffe geschehen häufig.<br />

4. Sie geschehen während längerer Zeit.<br />

5. Der Gemobbte hat kaum die Möglichkeit, aus eigener Kraft aus<br />

seiner Lage herauszukommen.<br />

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