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Gesamtausgabe DJ 2010 - Deutschland Journal

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1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

10<br />

indonesischen Kolonialreich einverleiben. Selbst das<br />

unbedeutende Belgien konnte sich noch 1885 das<br />

gewaltige Kongobecken aneignen. Wenn Bismarck,<br />

der Gastgeber der Kongokonferenz (1884/85), darauf<br />

gedrungen hätte, wäre wohl uns diese reiche Kolonie<br />

zugefallen. Aber wir Deutschen wollten nicht. Wir<br />

konnten seit Martin Behaim (1490) zwar die Weltkugel<br />

abbilden und seit Gerhard Mercator (1512–94) maßstabgerechte<br />

Weltkarten zeichnen, wir konnten aber<br />

nicht im Weltmaßstab denken.<br />

III. Kampf um die Hegemonie in Europa<br />

1. Fremde Mächte in <strong>Deutschland</strong><br />

Nicht nur in der Welt, auch in Europa war <strong>Deutschland</strong><br />

abgeschlagen. Der größte Block in Mitteleuropa<br />

war bis 1870 Gegenstand, nicht Teilnehmer im Kampf<br />

um die Hegemonie in Mitteleuropa. <strong>Deutschland</strong>s<br />

Stellung um 1850 gegenüber den Mächten (Frankreich,<br />

England, Rußland und mit Einschränkungen Österreich)<br />

ähnelte der, in welcher sich China um 1900 gegenüber<br />

den Großmächten befand: Halb-kolonial. Ein machtloses<br />

politisches Gebilde, in welchem fremde Mächte<br />

unkontrollierbare Sonderrechte hatten. England<br />

besaß Hannover 15 und das 1807 eroberte Helgoland.<br />

Dänemark hatte Holstein und Lauenburg. Schweden,<br />

das sich im Westfälischen Frieden bedeutende Stücke<br />

Norddeutschlands genommen hatte, besaß immer<br />

noch gewisse Ansprüche auf Wismar. 16 Luxemburg, Teil<br />

des Deutschen Bundes, schien Frankreich zuzufallen.<br />

England hatte seit etwa 1700 im protestantischen<br />

<strong>Deutschland</strong> prägenden Einfluß ausgeübt. Dieser<br />

gründete sich politisch auf die Personalunion der<br />

englischen Könige mit Hannover. Nach deren Beendigung<br />

durch die Thronbesteigung von Königin Victoria<br />

(1830) 17 wurde dieser Einfl uß neu begründet durch die<br />

vom englischen Prinzgemahl Albert v. Sachsen-Coburg<br />

arrangierte Heirat seiner, der englischen Königstochter<br />

Victoria, mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich,<br />

später Kaiser Friedrich III. Die zeitgenössischen Berichte<br />

über diese Heirat erinnern an das Bild eines etwas unbeholfenen<br />

Bräutigams, der „nach oben“ heiratet. Der Prinz<br />

aus dem armen Preußen wird von dem viel reicheren<br />

und vornehmeren englischen Königshaus als Schwiegersohn<br />

in Gnaden akzeptiert, freilich in der deutlich<br />

ausgesprochenen Erwartung 18 , daß er als künftiger<br />

preußischer König den englischen Forderungen ebenso<br />

geneigt sein werde, wie es Brandenburg-Preußen im-<br />

15 Eigentlich war es umgekehrt: Der Kurfürst von Hannover besaß<br />

die englische Krone.<br />

16 Förmlich wurde Wismar mit Umland erst 1903 wieder Teil <strong>Deutschland</strong>s.<br />

17 In Hannover war weibliche Erbfolge ausgeschlossen; in England<br />

seit jeher möglich.<br />

18 Vgl. Briefe des Prinzgemahls Albert an den preußischen König.<br />

mer gewesen war. 19 Mit Selbstverständlichkeit redeten<br />

Engländer in der Schleswig-Holstein-Frage mit und<br />

gaben uns im Londoner Protokoll v. 1852 auf, was zu<br />

geschehen habe. Bis heute scheint niemand zu fragen:<br />

Was ging sie das eigentlich an?<br />

Frankreich hatte sich unter Napoleon III. zu überraschender<br />

Höhe erhoben. Die deutschen Kleinstaaten<br />

nahmen daran Maß und suchten lieber dort Schutz vor<br />

Preußen und Österreich, als in diesen deutsche Brüder<br />

zu sehen. Frankreich griff wieder massiv in die querelles<br />

allemandes ein und wirkte, diese zu verstärken. Es<br />

konnte daran denken, das zu <strong>Deutschland</strong> gehörende<br />

Luxemburg zu annektieren, spielte mit dem Gedanken,<br />

sich Belgien zu nehmen, und die Rheingrenze – ja, die<br />

war sowieso das Ziel, welches auch Victor Hugo trotz<br />

grundsätzlicher Deutschfreundlichkeit in Le Rhin als<br />

natürliche Forderung Frankreichs ansieht. Dieses Ziel<br />

war wieder in erreichbare Nähe gerückt. Die französische<br />

Hegemonie auf dem Kontinent war im Grunde<br />

unangefochten.<br />

Zu Rußland bestanden nicht nur in Preußen, sondern<br />

in verschiedenen deutschen Kleinstaaten (Hessen, Oldenburg,<br />

Mecklenburg, Sachsen-Weimar, Württemberg)<br />

enge dynastische Beziehungen. Der mächtige russische<br />

Zar stand als Schatten hinter den Partikularinteressen<br />

seiner Vettern vor den eventuellen Übergriff en einer<br />

etwa entstehenden Zentralmacht wie Preußen. An sich<br />

war der Zar, als der reichere Verwandte, Preußen bis zum<br />

Krimkrieg wohlwollend verbunden. 20 Er erwartete freilich<br />

als Gegenleistung gewisse Freundschaftsdienste,<br />

die Bismarck allerdings als Vasallenpfl ichten empfand.<br />

Zar Alexander II. nahm es Preußen übel, nicht mit ihm<br />

in den Krimkrieg eingetreten zu sein, obwohl es darin<br />

nichts gewinnen konnte. 21<br />

2. <strong>Deutschland</strong> als Kulturstaat ohne Macht<br />

Die folgende Bemerkung aus dem Jahre 1942 von<br />

Vansittart, einem der Haupttreiber gegen <strong>Deutschland</strong><br />

unter Churchill, kann nur völliger Nichtkenntnis<br />

deutscher Verhältnisse zugeschrieben werden, denn<br />

nicht einmal böser Wille kann sich derartig vergreifen:<br />

Der Deutsche ... war immer der Barbar, der Bewunderer<br />

des Krieges, der Feind – heimlich oder off en – der Menschenfreundlichkeit,<br />

des Liberalismus und der christlichen<br />

Zivilisation; und das Hitler-Regime ist kein zufälliges Phänomen,<br />

sondern die logische Konsequenz der deutschen<br />

Geschichte, des Deutschen in excelsis. Vansittart muß<br />

19 Vgl. die Tagebücher des Bräutigams, des späteren Kaisers Friedrich<br />

III.; auch die von Botschafter Schweinitz, damals Friedrichs<br />

Adjutant.<br />

20 Vgl. Tagebücher v. Schlözer; Botschafter v. Schweinitz u. a.<br />

21 Das war eine ähnliche Konstellation wie 2003, als die USA erwarteten,<br />

daß <strong>Deutschland</strong> im Irakkrieg für amerikanische Interessen<br />

mitkämpfen würde. In beiden Fällen war die Folge eine nachhaltige<br />

Entfremdung, die durch Rhetorik überdeckt wurde. Was damals<br />

im Verhältnis Preußen/<strong>Deutschland</strong> zu Rußland die Beschwörung<br />

der dynastischen Verbundenheit war, ist heute im Verhältnis zur<br />

USA die ebenso hohle Berufung auf die sogenannte Atlantische<br />

Wertegemeinschaft.

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