MODUL 10 Geschichte der europäischen Integration - Europa
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<strong>MODUL</strong> <strong>10</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> <strong>Integration</strong><br />
Erst die wirtschaftliche, dann die politische Einigung<br />
Inhalt:<br />
Die Vorgeschichte bis 1945<br />
<strong>Europa</strong> in Bewegung<br />
Gründung des <strong>Europa</strong>rats<br />
Drei Versuche zur politischen Einigung<br />
Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft<br />
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft<br />
Die Schritte zur Europäischen Union<br />
Der Durchbruch nach 1980<br />
Erster Verfassungsentwurf<br />
Die Gründung <strong>der</strong> Europäischen Union<br />
Souveränitätsverlust ist immer noch ein Problem<br />
Der Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s<br />
Der Vertrag von Lissabon<br />
Die Staatsschuldenkrise in <strong>der</strong> Eurozone<br />
Die Vorgeschichte bis 1945<br />
Nach dem Ersten Weltkrieg (1914 – 1918) wurden verschiedene Konzepte für eine politi-<br />
sche Neuordnung <strong>Europa</strong>s entwickelt. Bis heute nachwirkend blieb die Idee des jungen<br />
Österreichers Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, <strong>der</strong> 1923 die „Paneuropa-<br />
Union“ gründete. Nach kurzer Zeit gehörten ihr Tausende von Parlamentariern aus Euro-<br />
pa und einflussreiche Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Kultur an. Alle <strong>europäischen</strong><br />
Staaten sollten zu einem politischen und wirtschaftlichen Verband vereint werden. Aber<br />
die Pläne blieben Programm. Selbst <strong>der</strong> vormalige französische Ministerpräsident Aristide<br />
Briand scheiterte, als er im November 1929 vor dem Völkerbund in Genf den Plan für eine<br />
fö<strong>der</strong>ative Union <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> Staaten vorschlug und im deutschen Außenminister<br />
Gustav Stresemann einen Mitstreiter gefunden hatte.<br />
Im Zweiten Weltkrieg (1939 – 1945) waren es Gelehrte, Politiker und Schriftsteller aus<br />
vielen <strong>europäischen</strong> Staaten, die in <strong>der</strong> Vereinigung <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> Staaten die wich-
tigste Aufgabe <strong>der</strong> Nachkriegszeit sahen. Die Aufteilung <strong>Europa</strong>s in mehr als zwei Dut-<br />
zend souveräne Nationalstaaten wurde mitverantwortlich gemacht für den Ausbruch <strong>der</strong><br />
beiden Weltkriege. Die Wi<strong>der</strong>standsorganisationen gegen die Nazi-Herrschaft for<strong>der</strong>ten,<br />
die absolute Souveränität <strong>der</strong> Staaten müsse enden und ein europäischer Bundesstaat<br />
gegründet werden. Nachhaltige Bedeutung erlangte das „Manifest von Ventotene“, das<br />
Altiero Spinelli 1941 mit zwei an<strong>der</strong>en Mitgefangenen während seiner Haft auf <strong>der</strong> Insel<br />
Ventotene verfasst hat.<br />
Nach 1945: <strong>Europa</strong> in Bewegung<br />
2<br />
Im September 1946, nur 16 Monate nach Kriegsende, for<strong>der</strong>te Winston Churchill in einer<br />
Rede in <strong>der</strong> Züricher Universität die Regierungen auf, die Vereinigten Staaten von <strong>Europa</strong><br />
zu schaffen. Kern <strong>der</strong> Vereinigung müsse eine Partnerschaft zwischen Frankreich und<br />
Deutschland sein. Als erster Schritt sollte ein <strong>Europa</strong>rat gegründet werden. Die britische<br />
Insel sollte sich wegen ihrer Verpflichtungen im Commonwealth nicht beteiligen. Zur sel-<br />
ben Zeit veröffentlichten Europäer aus fünf Staaten am Vierwaldstätter See ihr „Her-<br />
tensteiner Programm“ mit 12 Thesen zur Europäischen Union. 1946 begannen in Brüssel<br />
auch die Vorbereitungen zur Bildung <strong>der</strong> Zollunion Benelux aus Belgien, den Nie<strong>der</strong>lan-<br />
den und Luxemburg. Die Idee des vereinten <strong>Europa</strong>s faszinierte die Jugend. An <strong>der</strong><br />
deutsch-französischen Grenze verbrü<strong>der</strong>ten sich Studenten aus beiden Län<strong>der</strong>n und ho-<br />
ben Grenzschranken aus den Angeln.<br />
1948 schlossen Frankreich, Großbritannien und die Beneluxlän<strong>der</strong> den Brüsseler Vertrag<br />
über wirtschaftliche Zusammenarbeit und kollektiven Beistand, falls Deutschland noch<br />
einmal angreifen sollte. Ebenfalls 1948 gründeten Fö<strong>der</strong>alisten aus Parteien, Gewerk-<br />
schaften und Wirtschaft in Den Haag die „Europäische Bewegung“. Sie for<strong>der</strong>ten, die Re-<br />
gierungen <strong>der</strong> Staaten sollten Hoheitsrechte auf überstaatliche Organe übertragen und<br />
ein vereintes <strong>Europa</strong> bilden, ein Europäisches Parlament und einen Gerichtshof schaffen.<br />
(Hierzu Video Pierre Pflimlin 1)<br />
Die Zeit schien reif zu sein, die Idee <strong>der</strong> Vereinigten Staaten von <strong>Europa</strong> zu verwirklichen.<br />
Die Regierungen <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> Staaten aber waren dazu noch nicht bereit. Viele hat-<br />
ten ihre nationale Eigenständigkeit und Souveränität im Weltkrieg verloren und eben erst<br />
wie<strong>der</strong> erlangt. Sie nun erneut aufzugeben und an<strong>der</strong>en Regierungen ein Mitspracherecht<br />
in wichtigen Bereichen <strong>der</strong> Politik einzuräumen, fiel ihnen schwer. Außerdem wurde bald<br />
deutlich, dass die wachsende Konfrontation zwischen Ost und West nur eine Union aus<br />
freien west<strong>europäischen</strong> Staaten zuließ.
Gründung des <strong>Europa</strong>rats<br />
Der <strong>Europa</strong>rat wurde am 5. Mai 1949 gegründet. Die Bundesrepublik Deutschland, ge-<br />
gründet am 24. Mai 1949, wurde 1950 Mitglied des <strong>Europa</strong>rates. Die Frage blieb offen,<br />
was das Ziel <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> <strong>Integration</strong> sein sollte: ein Bundesstaat (Fö<strong>der</strong>ation) mit<br />
Souveränitätsverzicht o<strong>der</strong> ein Staatenbund (Konfö<strong>der</strong>ation), in <strong>der</strong> alle Mitglie<strong>der</strong> ihre<br />
volle Souveränität behalten.<br />
3<br />
Winston Churchill im <strong>Europa</strong>rat<br />
Die Idealisten wollten die baldige Gründung <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> Fö<strong>der</strong>ation. Die Nationalis-<br />
ten wollten allenfalls eine Konfö<strong>der</strong>ation. Der Zwist ließ nur die einzige realisierbare Lö-<br />
sung zu: Gleichberechtigte Staaten freiwillig zur Einschränkung ihrer Hoheitsrechte zu<br />
bringen, war nur langsam und schrittweise möglich. In diesem Prozess musste es stets<br />
möglich sein, einen Schritt zu korrigieren, zu verzögern o<strong>der</strong> zurückzunehmen. Es gab ja<br />
in <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>Europa</strong>s nichts Vergleichbares, worauf man hätte aufbauen, woraus<br />
man hätte lernen können. Und so wurden in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
nur die ersten Schritte auf dem Weg zum erwünschten Ziel vertraglich geregelt. Am ein-<br />
fachsten war dies auf dem Gebiet <strong>der</strong> Wirtschaft. Hier schien den Staaten am ehesten<br />
schneller Lohn für die Preisgabe von Teilen ihrer Souveränität zu winken. (Hierzu Video<br />
Pierre Pflimlin 2)<br />
Drei Versuche zur politischen Einigung<br />
Ein Jahr nach Gründung des <strong>Europa</strong>rats, am 9. Mai 1950, erklärte Frankreichs Außenmi-<br />
nister Robert Schuman in Paris, „<strong>Europa</strong> lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen.“ Er
4<br />
schlug vor, „die Gesamtheit <strong>der</strong> französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion unter<br />
eine gemeinsame Hohe Behörde zu stellen, in einer Organisation, die den an<strong>der</strong>en Län-<br />
<strong>der</strong>n zum Beitritt offen steht“. Heute, rund sechzig Jahre später, kann die historische Be-<br />
deutung dieses „Schumanplans“ immer noch nachempfunden werden: Frankreich bot<br />
dem einstigen Kriegsgegner und Erbfeind nur fünf Jahre nach Kriegsende eine gemein-<br />
same Politik ausgerechnet auf dem Wirtschaftsgebiet an, das die Rohstoffe <strong>der</strong> klassi-<br />
schen Rüstungsindustrie lieferte. Gemeinsame Politik bedeutete auch gemeinsame Kon-<br />
trolle – ein großer Schritt zu Sicherheit und Frieden, wenigstens im freien Teil <strong>Europa</strong>s.<br />
Der deutsche Bundeskanzler Adenauer stimmte dem Schumanplan zu.<br />
Robert Schuman verkündet den Schumanplan<br />
Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft<br />
Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Weltkugel war am 25. Juni 1950 <strong>der</strong> Koreakrieg ausgebrochen.<br />
In <strong>Europa</strong> trennte <strong>der</strong> Eiserne Vorhang Ost und West. Ein Überfall kommunistischer Trup-<br />
pen wie in Korea konnte für <strong>Europa</strong> nicht mehr ausgeschlossen werden. Im freien Teil<br />
<strong>Europa</strong>s sollte deshalb eine integrierte <strong>Europa</strong>-Armee aufgebaut werden, <strong>der</strong> auch deut-<br />
sche Militäreinheiten angehören sollten. Churchill versuchte im August 1950, den <strong>Europa</strong>-<br />
rat dafür zu mobilisieren, ohne Erfolg. Im November 1950 schlug Frankreichs Premiermi-<br />
nister René Pleven vor, eine europäische Armee unter Beteiligung <strong>der</strong> (damals noch ent-<br />
militarisierten) Bundesrepublik Deutschland zu schaffen („Pleven-Plan“). Es sollte eine<br />
Europäische Verteidigungs-Gemeinschaft (EVG) entstehen. Schumanplan und Pleven-<br />
Plan wurden nebeneinan<strong>der</strong> zur Vertragsreife gebracht. (Hierzu Video Pierre Pflimlin 3)<br />
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />
Am 4. April 1951 wurde in Paris <strong>der</strong> Vertrag zur Gründung <strong>der</strong> Europäischen Gemein-<br />
schaft für Kohle und Stahl (EGKS) von sechs Staaten unterzeichnet, neben Frankreich<br />
und <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland auch von Italien und den drei Beneluxlän<strong>der</strong>n Bel-<br />
gien, den Nie<strong>der</strong>landen und Luxemburg. Der Vertrag trat am 23. Juli 1952 in Kraft.
Der EVG-Vertrag wurde im Mai 1952 in Paris von den sechs EGKS-Staaten unterzeich-<br />
net. Er sah in Artikel 38 die Gründung einer „späteren bundesstaatlichen o<strong>der</strong> staaten-<br />
5<br />
bündischen“ Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) vor, die „auf dem Grundsatz<br />
<strong>der</strong> Gewaltenteilung beruhen und insbeson<strong>der</strong>e über ein Zweikammernsystem verfügen<br />
soll“. Der Vertrag wurde von fünf Staaten ratifiziert, scheiterte aber im August 1954 am<br />
Nein <strong>der</strong> französischen Nationalversammlung. Der Souveränitätsverlust im militärischen<br />
Bereich war für Frankreichs Abgeordnete nicht hinnehmbar. Das lähmte für lange Zeit alle<br />
Bemühungen um politische <strong>Integration</strong>.<br />
So begann die europäische Einigung zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet. (Hierzu Video<br />
Pierre Pflimlin 4) Die Übertragung nationaler Hoheitsrechte auf übernationale Organe fiel<br />
den Staaten leichter, wenn damit keine sensiblen politischen Bereiche wie Innen- o<strong>der</strong><br />
Außenpolitik berührt wurden. Dass es nur ein erster Schritt war, dem weitere folgen muss-<br />
ten, war den Grün<strong>der</strong>n <strong>der</strong> EGKS klar. In <strong>der</strong> Präambel des Vertrags erklärten sie, „durch<br />
die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere<br />
und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen“.<br />
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft<br />
Die EGKS-Staaten beschränkten sich weiter auf die <strong>Integration</strong> ihrer Wirtschaft. 1957<br />
gründeten sie in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). (Hierzu Video<br />
Unterzeichnung Rom; zusätzlich: Erläuterungen zum kommentarlosen Video) Die ge-<br />
meinschaftliche Politik wurde damit auf alle Bereiche <strong>der</strong> Wirtschaft einschließlich Land-<br />
wirtschaft ausgedehnt.<br />
Unterzeichnung <strong>der</strong> Römischen Verträge
Die Schritte zur Europäischen Union<br />
6<br />
Zu Beginn <strong>der</strong> sechziger Jahre wurde ein neuer Anlauf zur politischen Einigung <strong>Europa</strong>s<br />
genommen. Die Staats- und Regierungschefs setzten eine Kommission unter Leitung des<br />
französischen Politikers Fouchet ein. Sie arbeitete einen Plan zur Gründung einer Politi-<br />
schen Union aus, <strong>der</strong> eine lockere Form des Zusammenschlusses vorsah. In den vorge-<br />
sehenen Bereichen gemeinsamer Politik (Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Kultur, Men-<br />
schenrechte) sollte ein Gremium, das aus allen nationalen Regierungen zu bilden wäre,<br />
die Entscheidungen treffen. Das ging Frankreich zu weit. Ein zweiter Fouchet-Plan redu-<br />
zierte die <strong>Integration</strong> ganz auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Das ging den ande-<br />
ren Staaten nicht weit genug. Die Fouchet-Pläne verschwanden in <strong>der</strong> Schublade.<br />
In den siebziger Jahren blieb die EWG wirtschaftlich weiter erfolgreich. Rascher als vor-<br />
gesehen war die erste Stufe <strong>der</strong> <strong>Integration</strong> erreicht: die Zollunion (1968). Vier weitere<br />
Staaten <strong>Europa</strong>s (Dänemark, Großbritannien, Irland, Norwegen) hatten inzwischen bean-<br />
tragt, <strong>der</strong> EWG beizutreten. 1970 verkündeten die Staats- o<strong>der</strong> Regierungschefs <strong>der</strong><br />
sechs Grün<strong>der</strong>staaten ihren Willen, auch in <strong>der</strong> Außenpolitik zusammenzuarbeiten. Dies<br />
war <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf zwischenstaatli-<br />
cher Basis. Bis 1980 sollte eine Europäische Union entstehen. Aber die Frage, ob sie ein<br />
bundesstaatsähnliches Gebilde o<strong>der</strong> eine Art Staatenbund werden sollte, blieb weiter of-<br />
fen. Der belgische Außenminister Tindemans wurde beauftragt, Form, Rechte und Orga-<br />
ne dieser Union zu beschreiben. Sein Bericht (1975) sah vor, die bestehenden Verträge<br />
(EGKS, EWG, EURATOM) so zu än<strong>der</strong>n, dass vorhandene Gemeinsamkeiten in <strong>der</strong> Au-<br />
ßenhandels-, Wirtschafts- und Währungspolitik verstärkt werden und das Europäische<br />
Parlament in das Gesetzgebungsverfahren einbezogen wird. Auch dieser Vorschlag fand<br />
keine Zustimmung unter den nun neun EG-Staaten. 1973 waren Großbritannien, Irland<br />
und Dänemark <strong>der</strong> Gemeinschaft beigetreten. In Norwegen hatte das Volk den Beitritt<br />
abgelehnt.<br />
Der Durchbruch nach 1980<br />
Trotz feierlichen Erklärungen und anschließendem Rückzug: Die gescheiterten Bemü-<br />
hungen um politische Einheit in <strong>Europa</strong> waren nicht nutzlos. Sie hielten fest, was zur je-<br />
weiligen Zeit als machbar galt und zeigten, was noch zu än<strong>der</strong>n war, um den Weg zur<br />
Europäischen Union frei zu machen. Die Belebung <strong>der</strong> Idee einer Europäischen Union in<br />
den achtziger Jahren wäre nicht denkbar gewesen ohne die Vorarbeiten seit 1960.
Anfang <strong>der</strong> achtziger Jahre legten die Außenminister <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />
und Italiens, Genscher und Colombo, dem Europäischen Parlament (EP) einen neuen<br />
7<br />
Plan zur politischen Einigung vor, <strong>der</strong> nach ihnen benannt wurde. 1983 gaben die Staats-<br />
o<strong>der</strong> Regierungschefs <strong>der</strong> neun EG-Staaten auf einem Gipfeltreffen in Stuttgart eine „Fei-<br />
erliche Erklärung zur Europäischen Union" ab. Doch es fehlte immer noch eine ausrei-<br />
chend genaue Beschreibung dessen, was die Union denn letztlich sein, welche Befugnis-<br />
se und welche Organe sie haben sollte.<br />
Erster Verfassungsentwurf<br />
Diesem Mangel half das Europäische Parlament ab. Ein Ausschuss des Parlaments unter<br />
Vorsitz des Abgeordneten Spinelli (Italien) hatte einen Vertrag zur Gründung <strong>der</strong> Europäi-<br />
schen Union entworfen. Er wurde vom EP im Februar 1984 mit großer Mehrheit ange-<br />
nommen. Damit lag erstmals ein Vorschlag für eine verfassungsähnliche Grundlage <strong>der</strong><br />
Union vor. Die Staats- und Regierungschefs <strong>der</strong> EG-Län<strong>der</strong> haben daraufhin, um das Heft<br />
in <strong>der</strong> Hand zu behalten, im Juni 1984 einen Ausschuss unter Vorsitz des Italieners Pietro<br />
Adonnino eingesetzt. Er sollte Empfehlungen ausarbeiten, wie die Gemeinschaftsarbeit<br />
und die außenpolitische Zusammenarbeit verbessert werden könnten. Der „Adonnino-<br />
Bericht“ wurde 1985 vorgelegt, ein Jahr vor dem Beitritt Spaniens und Portugals; er über-<br />
nahm auch Vorschläge des Spinelli-Entwurfs. Die Empfehlungen des Berichts gingen<br />
weitgehend in die „Einheitliche Europäische Akte“ (EEA) von 1986 ein. Diese erste um-<br />
fassende Reform <strong>der</strong> Gründungsverträge <strong>der</strong> Gemeinschaft setzte das Datum für die<br />
Vollendung des Binnenmarktes: 31. 12. 1992. (Hierzu Video Pierre Pflimlin 5)<br />
Anfang 1988 konnte <strong>der</strong> Europäische Rat jahrelang angestaute Probleme lösen: die über-<br />
fällige Reform <strong>der</strong> Agrarpolitik, die Finanzierung des wachsenden Haushalts für zwölf Mit-<br />
gliedstaaten, die Überwindung sozialer und regionaler Ungleichheiten, die sich nach den<br />
Beitritten <strong>der</strong> Mittelmeerlän<strong>der</strong> Griechenland, Spanien und Portugal vergrößert hatten. Die<br />
Mitgliedstaaten verstärkten zugleich ihre zwischenstaatliche Kooperation in <strong>der</strong> Europäi-<br />
schen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die in <strong>der</strong> EEA vertraglich geregelt worden war.<br />
Das Tempo auf dem Weg zum Binnenmarkt und zur Europäischen Union hat sich danach<br />
spürbar beschleunigt – beson<strong>der</strong>s aber nach dem Fall <strong>der</strong> Berliner Mauer (1989).
8<br />
Die EWG 1958 (links), die EG-12 (Mitte), die EU heute (rechts)<br />
Die Gründung <strong>der</strong> Europäischen Union<br />
1990/91 haben zwei Regierungskonferenzen Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gemeinschafts-Verträge<br />
ausgearbeitet, um die Wirtschafts- und Währungsunion und den Aufbau einer Politischen<br />
Union verwirklichen zu können. Daraus ist <strong>der</strong> „Vertrag über die Europäische Union“ ge-<br />
worden, <strong>der</strong> im Februar 1992 in Maastricht unterzeichnet wurde („Maastrichter Vertrag“).<br />
Er ist am 1. November 1993 in Kraft getreten. Zum ersten Mal wurden in diesem Vertrag<br />
nicht hauptsächlich wirtschaftliche, son<strong>der</strong>n auch politische Ziele genannt. Die wichtigen<br />
Bereiche Außen- und Innenpolitik blieben aber weiterhin <strong>der</strong> zwischenstaatlichen Zusam-<br />
menarbeit vorbehalten. Sie wurden nicht in den Vertrag zur Gründung <strong>der</strong> Europäischen<br />
Gemeinschaft eingefügt. Die neu gegründete Europäische Union war gewissermaßen das<br />
Dach über drei unterschiedlich starken Pfeilern: Europäische Gemeinschaft, Gemeinsame<br />
Außen- und Sicherheitspolitik sowie Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inne-<br />
res.<br />
Der Maastrichter Vertrag verlangte, dass 1996, nach dem Beitritt Österreichs, Finnlands<br />
und Schwedens, eine weitere Regierungskonferenz einberufen wird, die überprüfen sollte,<br />
ob eine Fortentwicklung des EU-Vertrags nötig und möglich sei. Diese „Regierungskonfe-<br />
renz zur Revision des Maastrichter Vertrags“ ist 1996 in Turin eröffnet worden. Sie musste<br />
vor allem drei Aufgaben lösen: Die EU sollte bürgernäher und effizienter werden und fähig<br />
sein, Staaten Mittel- und Osteuropas aufzunehmen. (Hierzu Video Pierre Pflimlin 6)<br />
– Bürgernähe sollte erreicht werden durch mehr Transparenz und durch Vereinfachung<br />
<strong>der</strong> Entscheidungsverfahren. Probleme, die den Menschen vorrangig wichtig waren (z. B.<br />
Arbeitsmarkt, Umwelt, innere Sicherheit) sollten verstärkt aufgegriffen werden. Das<br />
werden.<br />
, das <strong>der</strong> Maastrichter Vertrag eingeführt hatte, sollte strikt angewandt
– Das Gemeinschaftshandeln sollte effizienter werden. Die bisher zwischenstaatlichen<br />
9<br />
Arbeitsfel<strong>der</strong> <strong>der</strong> Außen- und Innenpolitik sollten in das Gemeinschaftsverfahren einbezo-<br />
gen werden. Außerdem sollten die Entscheidungsverfahren gestrafft und ihre Vielfalt re-<br />
duziert werden. Mehrheitsentscheidungen sollten im Rat zur Regel und einstimmige Ent-<br />
scheidungen zu immer selteneren Ausnahmen werden.<br />
– Die absehbare auf 25 und mehr Staaten durfte nicht zum Kollaps<br />
ihres Entscheidungssystems führen. Dessen Reform wurde für unabdingbar gehalten; die<br />
Anzahl <strong>der</strong> Kommissionsmitglie<strong>der</strong> sollte begrenzt, die Ratsstimmen für die qualifizierte<br />
Mehrheit sollten neu gewichtet werden.<br />
Souveränitätsverlust ist immer noch ein Problem<br />
Der im Juni 1997 in Amsterdam unterzeichnete Vertrag zur Än<strong>der</strong>ung des Maastrichter<br />
Vertrags hat viele Erwartungen enttäuscht. Vor allem für die Zusammensetzung und Grö-<br />
ße <strong>der</strong> Kommission und die Stimmengewichtung im Rat konnte kein Konsens gefunden<br />
werden. In den Beitrittsverhandlungen 1998 wurde deutlich, dass die ost<strong>europäischen</strong><br />
Staaten, die lange unter kommunistischer Vorherrschaft gestanden hatten, nun ebenso<br />
wenig ihre frisch erworbene Souveränität einschränken wollten, wie die west<strong>europäischen</strong><br />
Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb musste 2000 eine weitere Regierungskon-<br />
ferenz versuchen, die Defizite des Amsterdamer Vertrags zu beheben. Das gelang wie<strong>der</strong><br />
nur zum Teil im Vertrag von Nizza. Die Entscheidung über Zusammensetzung und Ver-<br />
kleinerung <strong>der</strong> Kommission wurde vertagt, für die Stimmengewichtung im Rat wurde ein<br />
komplizierter Kompromiss gefunden, die Verringerung <strong>der</strong> 70 Fälle, in denen vertraglich<br />
Einstimmigkeit vorgeschrieben war, gelang nur zur Hälfte. Erleichtert wurde die Möglich-<br />
keit verstärkter Zusammenarbeit einer Gruppe von Staaten auf bestimmten Gebieten<br />
(Flexibilität; Art. 43 bis 45 EUV-Nizza, jetzt Art. 20 EUV).<br />
Der Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s<br />
Die Ergebnisse <strong>der</strong> Regierungsverhandlungen für die Verträge von Amsterdam und Nizza<br />
waren enttäuschend. Deshalb sollten die Vorarbeiten für Vertragsreformen künftig nicht<br />
mehr weisungsgebundenen Regierungsvertretern überlassen werden. Statt dessen sollte<br />
eine breitere und transparentere Plattform geschaffen werden, ähnlich dem 62-köpfigen<br />
Konvent von 1999/2000 zur Ausarbeitung <strong>der</strong> Grundrechte-Charta <strong>der</strong> EU. Der Europäi-<br />
sche Rat von Laeken setzte im Dezember 2001 einen „Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s“ ein,<br />
dem neben Regierungsvertretern auch Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> nationalen Parlamente und des Eu-<br />
ropäischen Parlaments sowie <strong>der</strong> Kommission angehörten. Er erhielt das Mandat, die<br />
Handlungsfähigkeit <strong>der</strong> Union zu stärken und ihre Strukturen demokratischer und transpa-
<strong>10</strong><br />
renter zu machen. Den Vorsitz führte <strong>der</strong> ehemalige französische Präsident Valéry Gis-<br />
card d’Estaing.<br />
Der Vertrag von Lissabon<br />
Giscard d’Estaing spricht vor dem Konvent zur Zukunft <strong>Europa</strong>s<br />
Die Vorschläge des Konvents waren vielversprechend und wurden weitgehend von <strong>der</strong><br />
Regierungskonferenz übernommen, die vertragsgemäß (Art. 48 EUV Nizza) die Än<strong>der</strong>un-<br />
gen endgültig vereinbaren musste. Das Ergebnis war <strong>der</strong> Vertrag über eine Verfassung<br />
für <strong>Europa</strong>, <strong>der</strong> am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs <strong>der</strong><br />
Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde. Er sollte die bisherigen Verträge <strong>der</strong> EU und <strong>der</strong> EG<br />
ersetzen und am 1. November 2006 in Kraft treten. Sein weiteres Schicksal ist bekannt:<br />
Er wurde 2005 in Volksabstimmungen in Frankreich und den Nie<strong>der</strong>landen abgelehnt.<br />
Wesentliche Teile sind jedoch in den Vertrag von Lissabon eingegangen, <strong>der</strong> am 13. De-<br />
zember 2007 unterzeichnet wurde. Er ist wie<strong>der</strong>um ein Reformvertrag, än<strong>der</strong>t also die<br />
bestehenden Verträge, ersetzt sie aber nicht wie ein Verfassungsvertrag. Er sollte am 1.<br />
Januar 2009 in Kraft treten, was durch ein irisches Referendum im Juni 2008 verhin<strong>der</strong>t<br />
wurde. Im wie<strong>der</strong>holten Referendum im Oktober 2009 sprach sich eine deutliche Mehrheit<br />
<strong>der</strong> Iren für den Vertrag aus.<br />
In Deutschland machte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 den<br />
Weg frei für die Unterschrift des Bundespräsidenten Horst Köhler unter die Ratifikations-<br />
urkunde. In <strong>der</strong> Tschechischen Republik setzte <strong>der</strong> Präsident Václav Klaus nach Einfü-<br />
gung eines weiteren Protokolls in den Vertrag seine Unterschrift am 3. November 2009<br />
unter die Urkunde, die als letzte <strong>der</strong> 27 am 13. November 2009 in Rom hinterlegt wurde.<br />
Damit konnte <strong>der</strong> Vertrag über die Europäische Union (EUV) mit dem Vertrag über die<br />
Arbeitsweise <strong>der</strong> Europäischen Union (AEUV) am 1. Dezember 2009 in Kraft treten, „am<br />
ersten Tag des auf die Hinterlegung <strong>der</strong> letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats“,<br />
wie es Artikel 54 Absatz 2 EUV und Artikel 357 AEUV vorsehen.
Die Staatsschuldenkrise in <strong>der</strong> Eurozone<br />
11<br />
Ab 20<strong>10</strong> hat die Staatsverschuldung in einigen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Eurozone, zunächst in Grie-<br />
chenland, dann auch in Irland, Portugal, Spanien und Italien, die EU und insbeson<strong>der</strong>e die<br />
Eurostaaten zu umfangreichen Hilfsmaßnahmen und zu Reformen des Stabilitäts- und<br />
Wachstumspakts gezwungen. Näheres dazu in den Zusatzthemen zu Modul 6.<br />
Siehe zur <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> <strong>Integration</strong> auch: Video Historie; zusätzlich:<br />
Erläuterungen zum kommentarlosen Video<br />
Zusatzthemen zu Modul <strong>10</strong><br />
Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft<br />
Die wichtigsten Vertragsreformen bis zur Einheitlichen Europäischen Akte<br />
Die Bedeutung <strong>der</strong> Souveränität für Nationalstaaten<br />
Die Politik des leeren Stuhls<br />
Die Luxemburger Vereinbarung<br />
Der Kompromiss von Ioannina<br />
Der <strong>Europa</strong>rat<br />
Hintergrundinformationen zu Modul <strong>10</strong><br />
Ideen zur <strong>europäischen</strong> Einigung vor 1914<br />
<strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>europäischen</strong> Einigung vor 1950<br />
Die Europäische Bewegung<br />
Die Europäische Politische Zusammenarbeit