Frau sein. Ein Risiko? Auch bei Alkoholismus? - Forel Klinik
Frau sein. Ein Risiko? Auch bei Alkoholismus? - Forel Klinik
Frau sein. Ein Risiko? Auch bei Alkoholismus? - Forel Klinik
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung, Tagung vom 15.09.2005<br />
<strong>Frau</strong> <strong>sein</strong>. <strong>Ein</strong> <strong>Risiko</strong>? <strong>Auch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Alkoholismus</strong>?<br />
Sonja Ott Seifert, Psychotherapeutin SVG<br />
Thema Abstinenz:<br />
Au<strong>sein</strong>andersetzung mit dem persönlichen Trinkentscheid. <strong>Ein</strong> Fall<strong>bei</strong>spiel<br />
In der <strong>Forel</strong> <strong>Klinik</strong> gehen wir vom Verständnis einer «Abstinenz gestützten Therapie» aus. Das<br />
heisst: Wir konzeptualisieren die «Abstinenz» nicht als Ziel, sondern als Methode, als ein Mittel,<br />
um ein besseres biopsychosoziales Gleichgewicht erreichen zu können. Bei der Behandlung<br />
geht es zentral um folgende Aufgaben:<br />
• eine Behandlungsmotivation aufzubauen<br />
• die psychische, physische und soziale Stabilisierung zu erreichen<br />
• das Selbstwertgefühl zu stärken,<br />
• die Autonomie zu fördern<br />
• die Beziehung zum eigenen Körper zu verbessern, und das bedeutet auch, körperliche<br />
und/oder sexuelle Gewalterfahrung aufzuar<strong>bei</strong>ten und die Geschlechtsrollenidentität zu reflektieren.<br />
Während in der Vergangenheit <strong>bei</strong> suchtkranken Männern vorrangig die Bereiche Ar<strong>bei</strong>t und<br />
Beruf bear<strong>bei</strong>tet wurden, erachtete man für die Suchttherapie von <strong>Frau</strong>en die Themen Partnerschaft<br />
und Familie als relevant. Nach den Ergebnissen neuerer Studien ist die traditionelle Annahme,<br />
dass die Suchtentwicklung <strong>bei</strong> <strong>Frau</strong>en vorwiegend auf Partnerschaftskonflikte sowie<br />
familiäre Belastungen zurückzuführen sei und <strong>bei</strong> Männern berufliche Schwierigkeiten im Vordergrund<br />
stünden, nicht mehr haltbar.<br />
Nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch in unserer klinischen Praxis sind die Themenbereiche<br />
Selbständigkeit, Abgrenzung und Selbstbehauptung von den Patientinnen genannte Ziele.<br />
<strong>Frau</strong>en leben in vielfältigen Abhängigkeiten. Selbstbestimmung als Therapieziel ist daher als<br />
eine Aufgabe zu sehen, welche über die Unabhängigkeit von Suchtmitteln hinausgeht.<br />
<strong>Ein</strong>e Änderung des Trinkverhaltens oder Abstinenz kann deshalb nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung<br />
der genannten Themen und Ziele erreicht werden. Oder anders formuliert: Das<br />
Konsumverhalten als ausschliessliches Erfolgskriterium greift zu kurz. Der Behandlungserfolg<br />
sollte sich eher an der sozialen, psychischen und physischen Gesamtbefindlichkeit<br />
als an einer bestimmten Verhaltensweise orientieren.<br />
Abstinenz bedeutet Enthaltsamkeit, Verzicht. Die Enthaltsamkeit als freie Entscheidung – totale<br />
Abstinenz, begrenzter Verzicht für ca. ein Jahr oder die Entscheidung kontrolliert zu trinken –<br />
sollte dennoch im therapeutischen Setting Raum zur Au<strong>sein</strong>andersetzung finden.<br />
In den gruppentherapeutischen Sitzungen erlebe ich häufig, dass Patientinnen, die sich für eine<br />
totale Abstinenz entschieden haben, andere Patientinnen, die sich in einer ambivalenten Haltung<br />
befinden oder das kontrollierte Trinken favorisieren, heftig attackieren. Da<strong>bei</strong> mögen unterschiedliche<br />
Gründe eine Rolle für dieses Verhalten spielen:<br />
<strong>Frau</strong> <strong>sein</strong> - <strong>Ein</strong> <strong>Risiko</strong>? <strong>Auch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Alkoholismus</strong>?<br />
Seite 1/6
<strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung, Tagung vom 15.09.2005<br />
<strong>Ein</strong>e Patientin <strong>bei</strong>spielsweise, die seit Jahren die Sucht als Zwang und Getrieben<strong>sein</strong> erlebt,<br />
einige Therapie in Anspruch genommen jedoch Rückschläge erlitten hat, und sich nun vor dem<br />
Hintergrund ihrer Erfahrungen für eine definitive Abstinenz entscheidet, reagiert auf Mitpatientinnen,<br />
die in ihrer Ambivalenz gefangen sind, mit Ungeduld und Unverständnis.<br />
Während meiner langjährigen therapeutischen Ar<strong>bei</strong>t in der frauenspezifischen Abteilung<br />
konnte ich viele <strong>Frau</strong>en begleiten, die sich mit den Zusammenhängen ihrer Lebensgeschichte<br />
und ihrer Suchtentwicklung au<strong>sein</strong>andergesetzt haben, und die sich<br />
auch vor der Au<strong>sein</strong>andersetzung mit dem persönlichen Trinkentscheid nicht gescheut<br />
haben.<br />
<strong>Ein</strong>e dieser <strong>Frau</strong>en möchte ich Ihnen nun vorstellen.<br />
Ich habe eine Patientin ausgewählt, die seit Jahren versucht, ihren Weg aus der Sucht zu gehen,<br />
sich mit der Frage «kontrolliertes Trinken" oder "totale Abstinenz» au<strong>sein</strong>andersetzt,<br />
Rückschläge erleidet, sich mit Unterstützung wieder stabilisieren kann und mutig ihren Weg<br />
geht.<br />
Ich nenne sie <strong>Frau</strong> Schneider: Sie war seit 1996 insgesamt viermal in der <strong>Forel</strong> <strong>Klinik</strong> hospitalisiert,<br />
zweimal in Ellikon und zweimal in der frauenspezifischen Abteilung in Turbenthal.<br />
<strong>Frau</strong> Schneider kommt nach der siebten Hospitalisation seit 1992, zum Teil auch per FFE, wegen<br />
Alkoholintoxikation im Februar 1996 erstmals in die <strong>Forel</strong> <strong>Klinik</strong> auf die damalige Mittelzeitabteilung.<br />
1. Aufenthalt Februar bis Mai 1996:<br />
Bei <strong>Ein</strong>tritt war sie ar<strong>bei</strong>tslos und ohne festen Wohnsitz, die damals fünfjährige Tochter wurde<br />
im September 1996 durch die Vormundschaftsbehörde in einer Pflegefamilie platziert. Kurz vor<br />
<strong>Klinik</strong>eintritt hatte <strong>Frau</strong> Schneider begonnen, wieder vermehrt Kontakt mit ihrem Ex-Ehemann<br />
aufzunehmen, von dem sie seit zwei Jahren geschieden war. Sie plante, mit ihm eine Wohnung<br />
zu suchen und mit dem Kind zusammen zu wohnen.<br />
<strong>Ein</strong>ige Daten zur Lebensgeschichte:<br />
<strong>Frau</strong> Schneider wurde 1969 geboren und ist das ältere von drei Kindern; ein Bruder ist zwei<br />
Jahre jünger, eine Schwester vier Jahre jünger. Aus der Kindheit sind keine Störungen bekannt.<br />
Die Eltern liessen sich nach zehnjähriger Ehe scheiden. Die Patientin erinnerte sich,<br />
dass Alkohol- und Medikamentenprobleme der Mutter den Anlass dazu gaben. Die <strong>bei</strong>den Kinder<br />
wurden der Mutter zugesprochen. Der Vater, ein Schreiner, zog ins Tessin. Er hatte ein<br />
monatliches Besuchsrecht, das er aber nur unregelmässig in Anspruch nahm. Die Mutter,<br />
kaufmännische Angestellte, musste ar<strong>bei</strong>ten gehen und die Kinder waren oft sich selbst oder<br />
Nachbarn überlassen. Als Jugendliche wurde <strong>Frau</strong> Schneider von der Mutter in die Apotheke<br />
geschickt, um ihr Schlaf- und Beruhigungsmittel zu holen. Sie war oft Partnerersatz für die Mutter<br />
und hat von ihr wenig altersentsprechende Zuwendung und Förderung erhalten.<br />
Als 13-Jährige erlitt sie einen schweren Unfall mit Schädelhirntrauma und mehrfachem Beckenbruch.<br />
Sie war über Monate hospitalisiert.<br />
<strong>Frau</strong> <strong>sein</strong> - <strong>Ein</strong> <strong>Risiko</strong>? <strong>Auch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Alkoholismus</strong>?<br />
Seite 2/6
<strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung, Tagung vom 15.09.2005<br />
<strong>Frau</strong> Schneider besuchte die Primar- und Sekundarschule. Die Lehre als kaufmännische Angestellte<br />
sei eine Notlösung gewesen. Sie selbst wäre gerne Krankenschwester geworden.<br />
Nach der Lehre ar<strong>bei</strong>tete sie <strong>bei</strong> verschiedenen Banken in der Buchhaltung und im Personalwesen.<br />
Mit 22 Jahren heiratete sie einen um fünf Jahre älteren Mann. 1991 wurde die Tochter geboren.<br />
1994 erfolgte die Scheidung.<br />
Zum Verlauf des ersten Aufenthaltes in der <strong>Forel</strong> <strong>Klinik</strong> :<br />
Bezüglich ihrer Therapie- und Lebensziele und dem Kennenlernen der Hintergründe ihrer<br />
Sucht verhielt sie sich hilflos-passiv und reagierte auf Konfrontation mit Rückzug und Trotz,<br />
schwankte zwischen Anpassung und gemeinsamem Suchen nach Lösungen in Bezug auf ihre<br />
Tochter. Es fanden Paargespräche statt. Das Paar lernte sich klarer gegenseitig Unterstützung<br />
zu geben, die Bedürfnisse des anderen zu respektieren.<br />
Zur Austrittssituation:<br />
<strong>Frau</strong> Schneider hatte eine eigene Wohnung gemietet, zusammen mit ihrem Partner. Sie hatte<br />
sich für dreimonatige Abstinenz mit anschliessendem kontrolliertem Trinken an besonderen<br />
Anlässen entschieden.<br />
Sie besuchte die Nachsorgegruppe der <strong>Forel</strong> <strong>Klinik</strong> sowie <strong>Ein</strong>zel- und Paargespräche <strong>bei</strong> einem<br />
Psychiater.<br />
Der zweite Aufenthalt in der <strong>Forel</strong> <strong>Klinik</strong> erfolgte von Oktober 1998 bis Februar 1999<br />
Zwischenanamnese: Alkohol<br />
Zwei Wochen nach Austritt war der erste Alkoholkonsum erfolgt, kurze Zeit später erfolgte der<br />
erste Absturz mit Fehlen am Ar<strong>bei</strong>tsplatz. Danach war <strong>Frau</strong> Schneider während drei Monaten<br />
unter Antabus stabil. Wegen Schwangerschaft setzte sie das Antabus ab und war während der<br />
Schwangerschaft und bis vier Monate nach der Geburt des zweiten Kindes stabil. Ab November<br />
1999 trank sie wiederholt während der Abwesenheit des Ehemannes, um Stimmungslöcher<br />
zu füllen, um sich zu beruhigen. Sie entwickelte ambivalente Gefühle dem Mann gegenüber.<br />
Während den Ferien im August 1999 erlebte sie erstmals auch körperliche Gewalt. Seither war<br />
die Paarbeziehung instabil. <strong>Frau</strong> Schneider kann keine konkreten Auslöser für den Rückfall<br />
angeben, trinkt oft in psychisch instabilen Phasen, oft <strong>bei</strong> Allein<strong>sein</strong> und in Überforderungssituationen.<br />
Im Dezember 1997 kam die Tochter wieder in die mütterliche Obhut, im Januar 1998 erfolgte<br />
die Wiederverheiratung mit dem Ex-Mann, im Juli 1998 wurde das zweite Kind geboren. Ab<br />
Januar 1999 erfolgte die Aufhebung der Beistandschaft für die Kinder.<br />
<strong>Frau</strong> <strong>sein</strong> - <strong>Ein</strong> <strong>Risiko</strong>? <strong>Auch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Alkoholismus</strong>?<br />
Seite 3/6
<strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung, Tagung vom 15.09.2005<br />
<strong>Ein</strong>en Monat später wurde sie erneut rückfällig mit Alkohol und Benzodiazepinen. Danach wurde<br />
die Beistandschaft neu installiert. Beide Kinder lebten unter der Woche in verschiedenen<br />
Tagespflegestellen, seit ihrem <strong>Ein</strong>tritt in die <strong>Forel</strong> <strong>Klinik</strong> in einer Pflegefamilie.<br />
Im April 1999 kam es zur elften Hospitalisation in einer psychiatrischen <strong>Klinik</strong>. <strong>Ein</strong>e länger dauernde,<br />
im Gesamtkontext sinnvolle und indizierte, frauenspezifische Behandlung lehnte <strong>Frau</strong><br />
Schneider zu diesem Zeitpunkt entschieden ab.<br />
Zum Verlauf:<br />
<strong>Frau</strong> Schneider zeigte sich klarer in ihrer Behandlungsmotivation, aber eher passiv und ratlos<br />
gegenüber der Beziehung. Kurz nach <strong>Ein</strong>tritt begann sie eine intime Beziehung zu einem Mitpatienten.<br />
Es wurde klar, dass sie diese Beziehung brauchte, um sich zu stabilisieren und den<br />
Mut zu finden, den Ehemann mit ihrer Entscheidung der Trennung zu konfrontieren. Danach<br />
war ihr Verhalten in der Gruppe einerseits von emotionalem Rückzug in die Paarbeziehung<br />
geprägt und anderseits von starken Hochs und Tiefs als Folge der emotionalen Belastung<br />
durch die Trennung.<br />
Nach Austritt im März 2000 war <strong>Frau</strong> Schneider nur wenige Wochen abstinent. Im April begann<br />
sie an einer neuen Ar<strong>bei</strong>tsstelle, die sie am zweiten Tag bereits wieder verlor, da sie betrunken<br />
zur Ar<strong>bei</strong>t erschienen war. Daraufhin erfolgten, wie schon früher, mehrere Tage dauernde Alkoholexzesse<br />
mit völligem Kontrollverlust und Filmrissen. Im Sommer 2000 war sie unter Antabus<br />
abstinent, begann aber vermehrt Dormicum und Stilnox zu konsumieren, die ihr der Freund<br />
besorgt hatte. Im Mai wurde sie wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand aktenkundig, im<br />
November ging die Beziehung zum ehemaligen Patienten in die Brüche.<br />
Im Februar 2001 kam es zur notfallmässigen <strong>Ein</strong>weisung ins Spital wegen Intoxikation mit<br />
Distraneurin und Stilnox.: Die Exzesse traten in immer kürzeren Abständen auf und nahmen<br />
ein noch schwierigeres Ausmass an als früher. Wenn <strong>Frau</strong> Schneider nicht trank, kam es auch<br />
mit Benzodiazepinen zu exzessivem Konsum mit Kontrollverlust. Die Suchtmittel schienen nun<br />
völlig austauschbar. Die Suchtmittelabhängigkeit war als eines von mehreren Symptomen innerhalb<br />
einer komplexen psychischen Störung zu sehen.<br />
Im April 2001 trat <strong>Frau</strong> Schneider in die <strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung Turbenthal ein und blieb<br />
dort während sieben Monaten. Die Kinder, die einen Beistand hatten, waren in einer Pflegefamilie<br />
untergebracht. Vom Ehemann lebte sie seit Herbst 1999 getrennt.<br />
Bei <strong>Ein</strong>tritt bestand ein hängiges Verfahren wegen FiaZ (Fahren in angetrunkenem Zustand),<br />
während des <strong>Klinik</strong>aufenthaltes erhielt <strong>Frau</strong> Schneider eine stationäre Massnahme. <strong>Frau</strong><br />
Schneider hatte zwischenzeitlich wieder Kontakt zum Ehemann aufgenommen. In Paargesprächen<br />
äusserten <strong>bei</strong>de Partner den Wunsch und die Absicht, längerfristig wieder als Familie<br />
leben zu wollen.<br />
<strong>Frau</strong> <strong>sein</strong> - <strong>Ein</strong> <strong>Risiko</strong>? <strong>Auch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Alkoholismus</strong>?<br />
Seite 4/6
<strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung, Tagung vom 15.09.2005<br />
<strong>Frau</strong> Schneider engagierte sich in hohem Mass für den Kontakt zu ihren Kindern. Das Vertrauensverhältnis<br />
der Kinder zur Mutter konnte während des siebenmonatigen Aufenthaltes sukzessive<br />
wieder aufgebaut und stabilisiert werden. Dies bestätigten sowohl die Beiständin der<br />
Kinder als auch die Pflegeeltern.<br />
<strong>Frau</strong> Schneider hatte während des <strong>Klinik</strong>aufenthaltes an psychischer Stabilität gewonnen. Sie<br />
liess sich aber <strong>bei</strong> unvorgesehenen Ereignissen noch schnell verunsichern und reagierte mit<br />
heftigen Emotionen. Sie spürte ihre Belastungsgrenzen, diese zu akzeptieren, bereiteten ihr<br />
noch Schwierigkeiten.<br />
Im November 2001 wurde <strong>Frau</strong> Schneider aus der stationären Massnahme entlassen. Sie hatte<br />
während des siebenmonatigen stationären Aufenthaltes keinen Rückfall, weder mit Alkohol<br />
noch mit Medikamenten. Sie hatte sich von der <strong>Klinik</strong> aus als Sachbear<strong>bei</strong>terin in einer Baufirma<br />
beworben und erhielt diese Stelle, so dass sie nach Austritt bereits eine Teilzeitanstellung<br />
hatte. Die Kinder waren weiterhin <strong>bei</strong> den Pflegeltern.<br />
Sie nahm an unserer klinikinternen Nachbehandlungsgruppe für <strong>Frau</strong>en teil und ging regelmässig<br />
zur <strong>Ein</strong>zeltherapie. Sie entschied sich für eine mehrjährige Abstinenz von Alkohol und<br />
suchtbildenden Medikamenten – auf eine genaue Jahreszahl wollte sie sich nicht festlegen.<br />
<strong>Frau</strong> Schneider war nach <strong>Klinik</strong>austritt über 3 1/2 Jahre psychisch stabil. Sie konnte ihrer Mutterfunktion<br />
nachkommen und zeigte sich am Ar<strong>bei</strong>tsplatz stabil. Zur psychischen Krise und<br />
darauf folgend zu einem massiven Rückfallgeschehen (Intoxikationstrinken, Medikamentenmissbrauch)<br />
kam es ab Sommer 2004. Auslöser waren massivste Probleme im Beziehungsgeschehen,<br />
das heisst, nach der Trennung von einem Mann, mit dem sie eine mehrmonatige Beziehung<br />
gelebt und in der sie sich sehr abhängig gefühlt hatte, und auch nach der definitiven<br />
<strong>Ein</strong>reichung des Scheidungsverfahrens durch den Ehemann.<br />
<strong>Frau</strong> Schneider trat im Februar 2005 wieder für vier Monate in die <strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung<br />
unserer <strong>Klinik</strong> ein.<br />
Sie betonte, dass sie mehrere Monate benötige, um sich wirklich genügend stabilisieren zu<br />
können. Sie müsse sich mit ihrer Gesamtsituation nochmals au<strong>sein</strong>ander setzen. Die Ambivalenz<br />
in Bezug auf die langjährige Beziehung zum Ehemann und die damit verbundenen inneren<br />
Konflikte wurden in der Therapie bear<strong>bei</strong>tet. Kurz vor dem gerichtlichen Scheidungstermin,<br />
während der Realitätstage zu Hause, wurde <strong>Frau</strong> Schneider rückfällig (Alkohol und Medikamente),<br />
konnte diesen Rückfall aus eigener Kraft stoppen und kehrte in die <strong>Klinik</strong> zurück.<br />
<strong>Frau</strong> Schneider benannte das Wiedererlangen ihres Selbstwertgefühles und ihrer Autonomie<br />
als wichtiges Ziel. Da ich <strong>bei</strong> ihrem ersten Aufenthalt die zuständige <strong>Ein</strong>zeltherapeutin war und<br />
sie auch aus der Nachbehandlungsgruppe für <strong>Frau</strong>en kannte, erleichterte dies die Wiederaufnahme<br />
der therapeutischen Beziehung erheblich. <strong>Frau</strong> Schneider war in ihrer persönlichen<br />
Entwicklung gereift, was sich unter anderem deutlich in der Übernahme der Verantwortung für<br />
die <strong>bei</strong>den Kinder zeigte. Die Kinder wurden weiterhin an drei Tagen der Woche in der Pflegefamilie<br />
betreut, <strong>Frau</strong> Schneider war zu 50 Prozent berufstätig. Die Ar<strong>bei</strong>tsstelle blieb ihr erhalten.<br />
<strong>Frau</strong> Schneider hatte von der <strong>Klinik</strong> aus erfolgreich einen Ar<strong>bei</strong>tsversuch unternommen.<br />
Der Ar<strong>bei</strong>tgeber war mit ihren Leistungen vollumfänglich zufrieden.<br />
<strong>Frau</strong> <strong>sein</strong> - <strong>Ein</strong> <strong>Risiko</strong>? <strong>Auch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Alkoholismus</strong>?<br />
Seite 5/6
<strong>Frau</strong>enspezifische Abteilung, Tagung vom 15.09.2005<br />
Für die kommende schwierige Zeit hatte sich <strong>Frau</strong> Schneider für ein Antidepressivum zur<br />
Stimmungsstabilisierung entschieden..<br />
Bei Austritt entschied sich <strong>Frau</strong> Schneider erneut für eine mehrjährige Abstinenz und wollte<br />
sich auch dieses Mal nicht auf eine Jahreszahl festlegen. Sie wird weiter zur vorbehandelnden<br />
Psychotherapeutin gehen und nahm inzwischen wieder an unserer Nachbehandlungsgruppe<br />
teil.<br />
<strong>Frau</strong> Schneider hatte meines Erachtens mehrheitlich gelernt, schwierige Situationen auch ohne<br />
die <strong>Ein</strong>nahme von Medikamenten und Alkohol zu bewältigen.<br />
Als unterstützend und stabilisierend hatten sich da<strong>bei</strong> folgende Faktoren erwiesen:<br />
• Kontinuität und der gute Kontakt mit der Pflegefamilie<br />
• therapeutische Begleitung durch die gleiche Psychotherapeutin im ambulanten Setting seit<br />
2001<br />
• die Zufriedenheit mit der beruflichen Situation<br />
• Freizeitgestaltung<br />
• Zunahme der Bewältigungsfertigkeiten in Belastungssituationen.<br />
<strong>Risiko</strong>faktoren werden weiterhin <strong>sein</strong>:<br />
• unvorhergesehene, belastende Ereignisse<br />
• familiäres Umfeld belastet durch die Abhängigkeitserkrankung der Mutter (Medikamente,<br />
Alkohol)<br />
• Doppel- und Dreifachbelastung als allein erziehende, berufstätige Mutter.<br />
In den gruppentherapeutischen Sitzungen ar<strong>bei</strong>teten wir zur Rückfallprophylaxe unter anderem<br />
mit dem Bewältigungskreis und dem „alten“ und „neuen Denken“ nach Körkel (siehe Folien). In<br />
einer Gruppentherapiesitzung hatten wir die Patientinnen gebeten, sich einen Satz des „neuen<br />
Denkens“ auszusuchen, der im Moment am ehesten ihrer Situation entsprechen würde. <strong>Frau</strong><br />
Schneider wählte den Satz: «Der Weg aus der Sucht braucht Zeit.»<br />
<strong>Frau</strong> <strong>sein</strong> - <strong>Ein</strong> <strong>Risiko</strong>? <strong>Auch</strong> <strong>bei</strong> <strong>Alkoholismus</strong>?<br />
Seite 6/6