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Alois Hotschnig<br />

Ludwigs Zimmer<br />

Roman<br />

________________________________________<br />

Wichtige Themen<br />

• Identität, Herkunft und Heimat<br />

• Die Arbeitslager am Loibl<br />

• Erzählen als Versteckspiel und<br />

Selbstvergewisserung<br />

Eignung<br />

Module<br />

• Das Lesen und Verstehen des Romans<br />

Ludwigs Zimmer stellt Ansprüche<br />

sowohl analytischer wie auch<br />

poetischer Art. In der Figur des Kurt<br />

Weber werden private wie kollektive<br />

Geschichte der Zeit während und nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg ineinander<br />

gewoben. Die Hauptfigur ist dabei<br />

oft Zuhörer, macht derweil eigene<br />

Erfahrungen, nicht ohne allerdings von<br />

Albträumen heimgesucht zu werden.<br />

Eine nur schwer zu ergründende<br />

Sehnsucht wie auch der Wille, Dinge<br />

zu ergründen und zu verstehen, treiben<br />

Kurt voran – hin zu Fakten, aber auch<br />

zur Selbsterkenntnis. Die Lektüre ist<br />

vor allem für höhere Schulstufen (ab<br />

16 Jahren) geeignet.<br />

• Die Erbschaft<br />

• Wer, wo, wann, warum, was?<br />

• Sehnsucht, Identität und Heimat<br />

• Wie die Vergangenheit allmählich die<br />

Gegenwart erhellt<br />

• Zweites Ankommen in Landskron<br />

Zusatzmaterialien<br />

• Komm, großer schwarzer Vogel – Ein<br />

Lied von Ludwig Hirsch<br />

• Identität – Etymologische Herleitung<br />

von Klaus Bartels<br />

Zum Buch<br />

„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass<br />

er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du<br />

lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund<br />

auch in dich hinein.“ – So lautet der Aphorismus<br />

146 aus Friedrich Nietzsches Werk Jenseits von Gut<br />

und Böse (1886). Der Satz könnte auch als Motto zu<br />

Alois Hotschnigs Roman Ludwigs Zimmer stehen<br />

(erstmals im Jahr 2000 erschienen). Das Ungeheuer<br />

allerdings, mit dem Kurt, der Protagonist und Ich-<br />

Erzähler des Romans, kämpft, ist kein anderes als er<br />

selbst; hin- und hergerissen zwischen Erinnerung und<br />

Wahrnehmung – weil es insbesondere auch darum<br />

geht, Vergangenheit und Gegenwart in Einklang zu<br />

bringen. Identität ist das Schlagwort, Existenz die<br />

Frage, Sinn die Utopie.<br />

Zum Autor<br />

Alois Hotschnig, geboren 1959 in Berg/<br />

Drautal, lebt in Innsbruck. Er wurde<br />

mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem<br />

Anton-Wildgans-Preis (2009) und dem<br />

Gert-Jonke-Preis (2011). Verfasser von<br />

Romanen, Theaterstücken und Hörspielen. Viele seiner<br />

Bücher sind im HAYMONtb erschienen, darunter<br />

auch der Roman Leonardos Hände (2008) und die<br />

Erzählungen Die Kinder beruhigte das nicht (2009).<br />

Foto: Thomas Böhm<br />

HAYMONtb 53<br />

ISBN 978-3-85218-853-9


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 1<br />

Modul 1 Die Erbschaft<br />

(Lektüre bis S. 26; bis zur Leerzeile)<br />

1 Das Danaergeschenk<br />

„Ich hätte die Erbschaft nicht antreten dürfen, damit fing es an<br />

…“ – so lautet der Beginn des Romans Ludwigs Zimmer. Ohne<br />

weiter zu lesen, weckt dieser Einstieg Neugier, ruft Assoziationen<br />

wach. Offenbar ist eine Erbschaft nicht immer Anlass zur<br />

Freude. Etwas geschenkt zu bekommen, das sich bald als etwas<br />

zeigt, woran man keine Freude hat, sondern womöglich ziemlich<br />

heftigen Ärger damit bekommt, nennt man auch Danaergeschenk.<br />

Gemeint ist damit das trojanische Pferd, eine mehrstöckige<br />

Konstruktion aus Holz, das die Griechen (Danaer) nach<br />

ihrem Rückzug vor den Toren Trojas zurückließen. Die Trojaner<br />

ihrerseits glaubten an ein Geschenk, brachten das hölzerne Ross<br />

in ihre Festung, woraus nachts dann die griechischen Krieger<br />

kamen – und die Stadt eroberten.<br />

In Ludwigs Zimmer geht es offensichtlich auch um eine Art Geschenk, um eine Erbschaft nämlich.<br />

Davon erfahren wir im Einstieg. Einem Romananfang gilt es immer besonderes Augenmerk zu<br />

widmen:<br />

Ich hätte die Erbschaft nicht antreten dürfen, damit fing es an, dieses Haus hat schon andere vor mir<br />

nicht glücklich gemacht, ich hätte nicht einziehen dürfen und Landskron und Villach und Kärnten<br />

überhaupt meiden müssen von Anfang an. Und doch habe ich dieses Haus aufgesucht und betreten und<br />

angenommen und mich gleichzeitig von allem getrennt, was mich bis dahin ausgemacht hatte, ich habe<br />

Landskron angenommen und mich von Vera getrennt, vor allem bin ich geflüchtet, vor dem ich nur<br />

flüchten konnte jemals, und habe diesen Ort aufgesucht als Versteck und mich eingenistet darin. Das<br />

Verstecken war mir immer schon eine Lust, und dieser Lust gehe ich hier nach. (S. 5)<br />

a) Lässt sich aus diesen drei Sätzen schon eine Geschichte erahnen? Welche Motive brachten den Ich-<br />

Erzähler dazu, die Erbschaft anzutreten?<br />

b) Sich verstecken als lustvolle Tätigkeit – worin könnte diese Lust bestehen?<br />

c) Auffällig ist der Wechsel der grammatikalischen Zeit im dritten Satz („und dieser Lust gehe ich<br />

nach“). Was bedeutet dieser Tempuswechsel? Welche Rückschlüsse lassen sich ziehen auf die Erzählanlage<br />

des Romans?<br />

2 Träume und schwarze Vögel<br />

Der Traum ist eines der Elemente, die Alois Hotschnig in der Folge des Romans noch des Öfteren<br />

verwendet. Es lohnt sich also, sich ein wenig Gedanken darüber zu machen, wie Träume in Beziehung<br />

zur Wirklichkeit stehen; bzw. was genau hinter Bezeichnungen wie Realität, Wirklichkeit, Vorstellung<br />

oder Traum steckt:<br />

• Realität: Das auch ohne den Menschen „Vorhandene“ (objektiv gegeben), auch das, was vom<br />

Menschen womöglich nie erkannt werden kann (hier böte sich auch ein kleiner Exkurs in die philosophische<br />

Erkenntnistheorie an; zum Beispiel anhand von Platons Höhlengleichnis. Für Fortgeschrittene<br />

stünde Kants Erkenntnistheorie zur Disposition – die Differenz zwischen transzendental<br />

und transzendent; die Welt als Erscheinung für den Menschen gegenüber dem „Ding an sich“).


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 1<br />

• Wirklichkeit: Die vom Menschen erfasste Außen- und Innenwelt. Was er, zumindest was die<br />

Außenwelt betrifft, mit andern Menschen teilt. Insofern ist die Sprache wichtigstes Medium<br />

der Wirklichkeit – bei aller Unschärfe (und Missverständnissen) findet sich doch immer wieder<br />

eine erstaunlich große Schnittmenge. Wir teilen also große Teile der Wirklichkeit miteinander,<br />

nehmen referenziell (intersubjektiv) auf diese Bezug. Wirklichkeit ist denn auch das, was auf<br />

uns wirkt (auf das wir womöglich unsererseits Einfluss nehmen können).<br />

• Vorstellung: Das vom Menschen für sich Gedachte (und Empfundene). Darunter subsumiert<br />

sich alles in irgendeiner Weise Vorstellbare: Pläne, geheime Wunschträume, Fantasien, Utopien.<br />

Die Vorstellung eines Menschen bleibt immer privat (subjektiv); will er diese vermitteln (mit<br />

Worten, mit Zeichen oder Bildern), so handelt es sich immer um eine Abstraktion der eigenen<br />

Vorstellung; eine Darstellung also, die von einem andern „gelesen“ (interpretiert, decodiert)<br />

werden muss, was im Kopf dieses andern wiederum eine Vorstellung auslöst, welche aber nur<br />

bedingt deckungsgleich ist mit der ursprünglichen.<br />

• Traum. Die Träume eines schlafenden Menschen sind noch immer ein Rätsel für die Wissenschaft.<br />

Denn was der erwachende Mensch an eigenen Träumen festhält, rekapituliert, entspricht<br />

bereits einer Rekonstruktion, die sich zwar auf das Geträumte bezieht, dieses aber nicht eins<br />

zu eins wiederzugeben vermag. Im Gegensatz zu den Vorstellungen ist sich der Mensch seiner<br />

Träume nur bedingt bewusst; vieles bleibt im Verborgenen, im Unterbewusstsein. Gleichwohl<br />

können Träume nur auf dem basieren, was einer im Kopf hat – auf den Erfahrungen, die ein<br />

Mensch gemacht hat. Einiges deutet darauf hin, dass es sich bei Träumen um einen wichtigen<br />

Verarbeitungsprozess von Gedachtem, Gefühltem und Erlebtem handelt – um ein notwendiges<br />

nächtliches Update.<br />

d) Was steckt hinter den schwarzen Vögeln, von denen Kurt träumt? (S. 24, Mitte, bis S. 26, Mitte).<br />

e) Welche Haltung nimmt der Ich-Erzähler ein? Welche Gemütslage kommt zum Ausdruck?<br />

f) Lässt sich überhaupt zweifelsfrei darlegen, ob man zu einem bestimmten Zeitpunkt träumt oder<br />

wacht?<br />

g) Eines der berühmtesten Zitate der Weltliteratur aus Shakespeares spätem Drama Der Sturm dreht<br />

sich um den Zusammenhang von Leben und Traum: „We are such stuff/As dreams are made on, and<br />

our little life/Is rounded with a sleep.“ („Wir sind solcher Zeug/Wie der zu Träumen, und dies kleine<br />

Leben/Umfasst ein Schlaf.“). Diese Übersetzung von August Wilhelm Schlegel ist eine von vielen.<br />

Siehst du Alternativen, andere Übersetzungsmöglichkeiten? Inwieweit ist die Übersetzung auch an<br />

eine Interpretation gebunden?


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 2<br />

Modul 2 Wer, wo, wann, warum, was?<br />

(Lektüre bis S. 63; bis zur Leerzeile)<br />

1 Figurenkonstellation<br />

Der Text von Ludwigs Zimmer wird bis Seite 36 sehr oft durch Leerzeilen unterbrochen; ein Textblock<br />

umfasst manchmal nur Der eine Text halbe von Ludwigs Seite, Zimmer selten wird ist bis eine Seite solche 36 sehr oft Einheit durch Leerzeilen länger als unterbrochen; zwei Seiten. ein Textblock Danach<br />

werden die Texteinheiten umfasst wesentlich manchmal nur länger. eine halbe Dieser Seite, formale selten ist eine Aspekt solche spiegelt Einheit länger sich als auch zwei inhaltlich Seiten. Danach wider;<br />

werden die Texteinheiten wesentlich länger. Dieser formale Aspekt spiegelt sich auch inhaltlich wider;<br />

es werden einzelne Episoden es werden erzählt: einzelne Episoden Erste Figuren erzählt: Erste und Figuren deren und Konstellation deren Konstellation untereinander werden<br />

vorgestellt.<br />

werden vorgestellt.<br />

a) Kläre zunächst, wie genau die Figuren in obigem Organigramm zueinander stehen.<br />

b) Mehrfach findet sich am Ende einer Aussage die rhetorische Figur „das steht fest“ (S. 9, 11, 21<br />

21 und 33). – Was könnte es damit auf sich haben?<br />

und 33). – Was könnte es damit auf sich haben?<br />

c) Alois Hotschnig gehört fraglos zu jenen Schriftstellern, die die Namen ihrer Figuren mit Bedacht<br />

wählen. – Was kündigt ein Name wie „Gärtner“ an? Was verheißt ein Name wie „Gruber“?<br />

Welche Assoziationen 2 Herr lassen Gärtner sich mit dem Familiennamen „Reger“ verbinden?<br />

2 Herr Gärtner<br />

Modul 2 Wer, wo, wann, warum, was?<br />

(Lektüre bis S. 63; bis zur Leerzeile)<br />

1 Figurenkonstellation<br />

Gruber<br />

Herr Gärtner<br />

Die Nachbarn<br />

Kurt<br />

Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 2<br />

Herr Gärtner taucht ein erstes Mal Seite 27 auf und wird dann zum treusten Begleiter Kurts. Er war<br />

(Handlungsmotive, Absichten, Ziele, aber auch Einstellungen, Vorurteile und Ängste).<br />

ein Freund von Onkel Georg und er scheint viel über die Vergangenheit von Landskron und über die<br />

Regers zu wissen. Wie lässt sich Herr Gärtner charakterisieren? – Beachte folgende Aspekte:<br />

• Äußere Charakterisierung. e) Was erfahren Beschreibt wir über seine Fakten Vergangenheit? wie Alter, Was Körperbau, über seine Gegenwart? gesellschaftliche (damalige/jetzige Stellung<br />

und Tätigkeiten, Verhalten Lebensumstände) und Aussagen der Figur.<br />

• Innere Charakterisierung. Beschreibt die Beweggründe und die Persönlichkeit einer Figur<br />

f) Zu welchen Figuren steht er in welcher Beziehung? Wie verhält sich Gärtner gegenüber Kurt?<br />

(Handlungsmotive, Absichten, Ziele, aber auch Einstellungen, Vorurteile und Ängste).<br />

d) Welchen Status hat Herr Gärtner in der Gesellschaft? Wie ist sein gesundheitlicher Zustand?<br />

Ist Herr Gärtner ein offener oder ein introvertierter Mensch?<br />

e) Was erfahren wir über seine Vergangenheit? Was über seine Gegenwart? (damalige/jetzige Lebensumstände)<br />

f) Zu welchen Figuren steht er in welcher Beziehung? Wie verhält sich Gärtner gegenüber Kurt?<br />

Hat Herr Gärtner Ziele? Äußert er Absichten?<br />

Anna<br />

Vera Georg<br />

Ludwig Die Besucherin<br />

a) Kläre zunächst, wie genau die Figuren in obigem Organigramm zueinander stehen.<br />

b) Mehrfach findet sich am Ende einer Aussage die rhetorische Figur „das steht fest“ (S. 9, 11,<br />

c) Alois Hotschnig gehört fraglos zu jenen Schriftstellern, die die Namen ihrer Figuren mit<br />

Bedacht wählen. – Was kündigt ein Name wie „Gärtner“ an? Was verheißt ein Name wie<br />

„Gruber“? Welche Assoziationen lassen sich mit dem Familiennamen „Reger“ verbinden?<br />

Herr Gärtner taucht ein erstes Mal Seite 27 auf und wird dann zum treusten Begleiter Kurts. Er war<br />

ein Freund von Onkel Georg und er scheint viel über die Vergangenheit von Landskron und über die<br />

Regers zu wissen. Wie lässt sich Herr Gärtner charakterisieren? – Beachte folgende Aspekte:<br />

Äußere Charakterisierung. Beschreibt Fakten wie Alter, Körperbau, gesellschaftliche<br />

Stellung und Tätigkeiten, Verhalten und Aussagen der Figur.<br />

Innere Charakterisierung. Beschreibt die Beweggründe und die Persönlichkeit einer Figur<br />

d) Welchen Status hat Herr Gärtner in der Gesellschaft? Wie ist sein gesundheitlicher Zustand?<br />

Ist Herr Gärtner ein offener oder ein introvertierter Mensch?<br />

Hat Herr Gärtner Ziele? Äußert er Absichten?<br />

Paul


Modul 3 Sehnsucht, Identität und Heimat<br />

(Lektüre bis S. 105; bis zur Leerzeile)<br />

1 Ich und Du, Abhängigkeit und Verheerung<br />

Der eine ist der Spiegel des andern. Identität etabliert sich<br />

nicht zuletzt durch das Verstricktsein in Geschichten; einem<br />

Beziehungsgeflecht, das die eigene Existenz bestätigt. Anders<br />

gesagt: Der Ich-Erzähler kann gar nicht anders als<br />

Weber heißen. – Eine der berühmtesten Spiegelszenen findet<br />

sich in Jean-Paul Sartres Einakter Geschlossene Gesellschaft<br />

(1944 uraufgeführt), dessen ursprünglicher Titel<br />

Les autres lautete. Die Kernaussage lautet: „L’enfer c’est les<br />

autres“ (Die Hölle, das sind die andern). Schauen wir uns<br />

eine der zentralen Passagen an:<br />

ESTELLE: Mir ist komisch. Sie betastet sich: Geht Ihnen das nicht auch so: Wenn ich mich nicht sehe, kann ich<br />

mich noch so sehr betasten, ich frage mich, ob ich eigentlich existiere.<br />

INÉS: Sie haben Glück. Ich fühle mich immer von innen her.<br />

ESTELLE: Ah ja, von innen her ... Was in den Köpfen vorgeht, ist so verschwommen, das macht mich müde.<br />

Pause. In meinem Schlafzimmer sind sechs große Spiegel. Ich sehe sie. Ich sehe sie. Aber sie sehen mich nicht.<br />

Sie spiegeln das Kanapee, den Teppich, das Fenster … wie leer das ist, ein Spiegel, in dem ich nicht bin. Wenn<br />

ich sprach, sorgte ich immer dafür, dass einer da war, in dem ich mich sehen konnte. Ich sprach, ich sah mich<br />

sprechen. Ich sah mich, wie die Leute mich sahen, das hielt mich wach. Verzweifelt: Mein Rouge! Ich bin sicher,<br />

dass es schief ist. Ich kann doch nicht für alle Ewigkeit ohne Spiegel bleiben.<br />

INÉS: Soll ich Ihnen als Spiegel dienen? Kommen Sie, ich lade Sie zu mir ein. Setzen Sie sich auf mein Sofa.<br />

ESTELLE zeigt auf Garcin: Aber …<br />

INÉS: Kümmern wir uns nicht um ihn.<br />

ESTELLE: Wir werden uns wehtun: Sie haben es selbst gesagt.<br />

INÉS: Sehe ich so aus, als wollte ich Ihnen schaden?<br />

ESTELLE: Man kann nie wissen …<br />

INÉS: Eher wirst du mir wehtun. Aber was macht das schon. Da ich nun einmal leiden muss, leide ich lieber<br />

durch dich. Setz dich. Rück näher. Noch näher. Schau mir in die Augen: Siehst du dich da?<br />

ESTELLE: Ich bin ganz klein. Ich sehe mich ganz schlecht. (…)<br />

INÉS: So ist es besser. Nein. Zieh die Linie der Lippen nach; ich werde dir die Hand führen. So, so. Jetzt ist es<br />

gut.<br />

ESTELLE: Ebenso gut wie vorhin, als ich hereinkam?<br />

INÉS: Besser, schwerer, grausamer. Dein Höllenmund –<br />

ESTELLE: Hm! Und das ist gut? Wie unangenehm, dass ich es nicht selber sehen kann. Schwören Sie mir, dass<br />

es gut ist?<br />

INÉS: Du willst nicht, dass wir uns duzen?<br />

ESTELLE: Schwörst du mir, dass es gut ist?<br />

INÉS: Du bist schön.<br />

ESTELLE: Aber haben Sie überhaupt Geschmack? Haben Sie meinen Geschmack? Wie unangenehm, wie<br />

unangenehm.<br />

a) Wie lassen sich die Abhängigkeitsverhältnisse in dieser Szene beschreiben?<br />

Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 3


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 3<br />

Für einen vertieften Vergleich eignen sich folgende beiden Textauszüge aus Ludwigs Zimmer:<br />

Meine Verwandtschaft ist eine einzige gegen mich gerichtete Infektion. Erst galt es, den Erwachsenen<br />

zu entgehen, dann habe ich den Gleichaltrigen auszuweichen versucht, jetzt weiche ich den Kindern der<br />

Gleichaltrigen aus, und mit Grund, denn jede Begegnung mit ihnen ist immer ein Rückfall gewesen, ein<br />

Absturz in eine Verfügbarkeit, aus der kein Entkommen war, nie.<br />

Dieses Zusammengehören mit Menschen, die man sich nie ausgesucht hätte, war mir immer ein<br />

Gräuel, dieses Sich-jemand-nicht-ausgesucht-Haben und doch Dazugehören-Müssen, ohne die<br />

Möglichkeit eines Absprungs, dieses Aneinander-festgezurrt-Sein durch eine blutleere und verödete<br />

Verwandtschaftsschnur, durch die nur noch Blut floss, wenn sich wieder einmal einer losgeschnitten<br />

hatte davon, diese Verwandtschaftsschnur tragen wir um den Hals, und die zieht sich zusammen bei<br />

jeder Begegnung oder schon beim bloßen Gedanken daran. (S. 76)<br />

Jeder Mensch, auf den man sich einlässt, jede Begegnung ist eine Geburt, und in Wahrheit doch nur<br />

der Anfang von etwas, das an einem verkommt, anders ist es nicht, war es nicht, nie. Man lockt einen<br />

Menschen in den Abgrund hinein, der man sich ist, durch den Gedanken an eine gemeinsame Zukunft,<br />

verstehen Sie mich, und sieht ihn in diesen Abgrund hineinstürzen und umkommen darin und geht weg,<br />

weil man es doch nicht erträgt.<br />

Andererseits war es doch immer auch eine Lust, eine Sucht eigentlich, und bedeutete Leben und war ein<br />

Verbrechen wert jedes Mal.<br />

Diese Sehnsucht nach einem Menschen, um sich doch nur aus dem Leben zu gehen lebenslang, damit es<br />

nicht wieder geschieht. Sich totwünschen zeitlebens, um sich doch nur bis ans Ende dagegen zu wehren,<br />

es auch tatsächlich zu sein, ein unaufhörliches Ansitzen und Warten darauf, dass es endlich passiert, um<br />

sich doch nur immer davonzumachen im letzten Moment. (S. 101)<br />

b) Was hält den Menschen eigentlich am Leben?<br />

c) Inwiefern treffen die Aussagen, auch wenn sie nicht von Kurt stammen, dennoch auf den<br />

Protagonisten zu? Bzw. inwieweit sind die andern im Protagonisten enthalten?<br />

d) Auf dem Buchrücken von Ludwigs Zimmer ist zu lesen, es handle sich um ein „Kammerspiel“<br />

Lässt sich diese Zuordnung anhand der im Blick stehenden Textausschnitte erörtern?<br />

2. Kurts Identität und Utopie<br />

Auf dem Buchrücken ist auch zu lesen, es handle sich um eine „düster-schöne Schilderung einer Selbstfindung<br />

und Selbstzerstörung“. Was aber genau ist Identität? Wie kommt ein Individuum zu seinem<br />

Selbst – um es sodann zu zerstören? Schauen wir uns zwei weitere Textpassagen aus Ludwigs Zimmer<br />

an und vergleichen diese dann mit dem, was der Philosoph Wilhelm Schapp (1884–1965) zum Thema<br />

Identität geschrieben hat.<br />

Aus Inges Perspektive:<br />

Und dann kommt man in diese Gegend, und alles verändert sich, und die Scheunen haben keine Toten<br />

an den Balken, und die Bäume stehen üppig und mächtig im Saft und sind nicht mehr kahl schon beim<br />

nächsten Gedanken an sie, sagte sie, so nähere ich mich diesem Ort und komme hier an in Landskron<br />

und im Haus, und es schlägt nur noch der Rhythmus des einen Gedankens an diesen damals und<br />

seither gemochten und verehrten und geliebten Menschen im Kopf und in jedem Gedanken, und man<br />

weiß, was man immer schon wusste und nicht loswerden konnte seither, dass man diesen Menschen<br />

immer noch liebt und nie aufgehört hat, ihn zu lieben, und in Wahrheit nicht ohne ihn leben konnte und<br />

kann, obwohl man es tat, tun musste und tat, eine Wahl gab es nicht, und man in dieser Nähe zu ihm<br />

und zur gemeinsamen Geschichte nicht existieren konnte und kann, ohne etwas anderes jemals noch<br />

wahrnehmen zu können als seine Abwesenheit. (S. 58)


Aus Herrn Gärtners Perspektive:<br />

Es ist eine Zeit, in der etwas geschieht. Es ist eine Zeit, in der ist etwas vorbei. An einen Ort zu gehen,<br />

an dem einmal etwas mit mir geschah, nachdem es aus war und vorbei und unerreichbar geworden war<br />

auch für mich, das habe ich immer gemocht, sagte er. Überall sonst, doch nicht hier, nicht bei Georg und<br />

Ludwig und Inge. Kandierte Gefühle. Alles ist lange her, und alles ist, wie es war. (S. 101)<br />

Wilhelm Schapp<br />

In Geschichten verstrickt<br />

Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter.<br />

Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, dass man beides vielleicht nicht<br />

einmal in Gedanken trennen kann. Die größten Werke der Menschheit haben Geschichten und Verstricktsein in<br />

Geschichten zum Gegenstande. (…)<br />

In solche Geschichten sind auch wir, unsere Nachbarn, Freunde und Bekannten, ist jeder einzelne stets verstrickt.<br />

Mit Geschichten, die uns beschäftigen, schlafen wir abends ein, sie begleiten uns und verfolgen uns bis in die<br />

Träume hinein und stehen beim Erwachen wieder neben uns. In all diesen überlieferten oder von uns selbst<br />

erlebten Geschichten gibt es den Verstrickten oder die Verstrickten, die gleichsam als Mittelpunkt die Geschichte<br />

zusammenhalten. In diesem Punkt stimmen alle Geschichten, auch wenn sie sonst keine Berührungspunkte<br />

miteinander haben, überein. (…) Die Geschichte steht für den Mann. Wir meinen damit, dass wir den<br />

letztmöglichen Zugang zu dem Menschen über Geschichten von ihm haben.<br />

(…) Das Heer Alexanders ist auf dem Marsch durch die Wüste. Das Wasser ist ausgegangen. Das ganze Heer<br />

wird vom Durst gequält. Eine Patrouille nähert sich dem König. Sie bringt Wasser, aber nur einen Becher voll,<br />

und bietet dem König den Trunk dar. Dieser nimmt den Becher, überlegt einen Augenblick und schüttet ihn dann<br />

vor den Augen des Heeres in den glühenden Sand. Mit dieser Geschichte haben wir einen Zugang zu der Seele<br />

des Königs gefunden. Die Geschichte sagt uns vielleicht mehr, als alle Bilder und Statuen, die wir von Alexander<br />

kennen, uns sagen könnten.<br />

(…) Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf<br />

als sein Eigentliches. Wenn wir einen Menschen treffen, von dem wir schon viel gehört haben, etwa einen großen<br />

Politiker in einer Wahlversammlung, so mögen wir zunächst sagen, dass wir ihn nun selbst getroffen haben.<br />

Damit wollen wir wohl zum Ausdruck bringen, dass wir in die nächste Berührung zu ihm gekommen sind, die<br />

überhaupt möglich ist. Sicher ist etwas an dieser Rede. Können wir aber andererseits nicht ebenso gut sagen,<br />

dass wir schon vorher durch die Geschichten über ihn doch noch dichter und unmittelbarer an das Eigentliche<br />

von ihm herangeführt sind, ja, dass das persönliche Kennenlernen einen letzten Halt erst gewinnt in den<br />

Geschichten, die wir bereits von ihm kennen? Ist vielleicht das persönliche Kennenlernen, wenn es nicht wieder<br />

in neuen Geschichten erfolgt, nicht viel mehr als eine Bestätigung, dass der Mann mit dieser Geschichte noch<br />

lebt, noch existiert, vielleicht noch gekrönt von einer kleinen Geschichte, dass er krank, überarbeitet aussah, oder<br />

dass er einen frischen und elastischen Eindruck machte, so dass die Begegnung nicht viel mehr bedeutet als das<br />

tägliche Zusammentreffen mit einem Bekannten, den wir aus tausend Geschichten kennen?<br />

e) Schafft sich Kurt seine Identität gerade dadurch, indem er rückblickend seine Geschichte erzählt,<br />

wie er sich in Landskron in die Gegebenheiten verstrickte, allmählich die Vergangenheit<br />

hochkam, sich so – in seinem Kopf – nach und nach eins ins andere fügte?<br />

f) Obwohl Kurt als Ich-Erzähler erkennbar ist, lesen wir mehrheitlich Aussagen von andern Figuren,<br />

sind als Leser zuweilen Herrn Gärtner oder Inge näher. Wie könnte man diese Erzählhaltung<br />

beschreiben; zumal Kurt doch auch immer mit von der Partie ist, doch phasenweise kaum das<br />

Wort ergreift?<br />

g) Inwiefern werden die Stimmen der andern zu Kurts Stimme? Welche Anhaltspunkte lassen sich<br />

für ein zumindest zeitweiliges Verschmelzen der Figuren finden?<br />

h) Wie lässt sich das zeitweilige Verschwinden des Ich-Erzählers interpretieren?<br />

Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 3


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 4<br />

Modul 4 Wie die Vergangenheit allmählich die Gegenwart erhellt<br />

(Lektüre bis S. 122; bis zur Leerzeile)<br />

1 Das Arbeitslager Loibl<br />

Vom Krieg ist in Ludwigs Zimmer schon früh die Rede, doch bleibt lange offen, in welchem Zusammenhang<br />

der Krieg zur Erzählgegenwart steht. Auf Seite 43/44 erfährt man, dass Herr Gärtner etwas<br />

mit dem Krieg zu tun gehabt hatte: „Mitgemacht, sagte er, immer wieder, in vielem, in allem eigentlich,<br />

immer, und immer wieder von Neuem, im Krieg, vor dem Krieg und danach, seit jeher, bei mir jedenfalls<br />

war es so.“ Ein weiterer Hinweis auf diese Vergangenheit findet sich auf Seite 78, als von einem<br />

Ausbildungslager und Überwachung berichtet wird. Allmählich wird klar, dass Herr Gärtner, Inge,<br />

Georg, Paul und Ludwig eine gemeinsame Geschichte haben, die mit dem Zweiten Weltkrieg zu<br />

tun hat. Auf Seite 103 erfährt man, dass Ludwig abgeholt worden war, und zwar aus dem Haus, in<br />

welches Kurt kürzlich eingezogen ist. Und von einem Spitzel der Gestapo ist die Rede, der zugleich ein<br />

Freund von Paul gewesen sein soll. Nach und nach setzen sich für Kurt die Teile, die Figuren und ihre<br />

Geschichten, zu einem Ganzen zusammen. So entdeckt er jenes Arbeitslager, das von der Waffen-SS<br />

am Loibl eingerichtet worden war, erst, als er die Fotos und Papiere genauer betrachtet, die er eigentlich<br />

schon in einen Müllsack gefüllt hatte, der aber vom Müllmann vor Kurts Füßen fallen gelassen wird.<br />

Ab Seite 105 werden die Umstände des Tunnelbaus am Loibl von 1943 bis zum Kriegsende näher geschildert.<br />

Als zusätzliche Verständnishilfe hier eine Chronik der Ereignisse:<br />

KZ zum Bau des Loibltunnels – chronologische Darstellung<br />

Ende Juli 1942 Beginn der Vermessungsarbeiten und der Trassierungsplanungen in Kärnten. Vom geplanten<br />

Loibltunnel bis zur Sapotnica soll die Straße Nummer 333 neu angelegt werden.<br />

Anfang 1943 Die SS-Organisation schließt Verträge mit der Generalunternehmung Universale Hoch- und<br />

Tiefbau AG ab. Die SS-Organisation verpflichtet sich darin, das so genannte „Menschenmaterial“ aus<br />

Mauthausen bereitzustellen.<br />

März und April 1943 Denunziation und Verhaftung politischer Gegner in Frankreich. Inhaftierung der späteren<br />

Loibl-Konzentrationäre in Compiégne (Stadt nördlich von Paris). Etwa 2000 inhaftierte Franzosen werden zum<br />

Transport nach Deutschland aneinander gekettet und ohne Zielangabe in das Konzentrationslager Mauthausen<br />

deportiert. In Mauthausen kommen diese „Neuzugänge“ in die gefürchtete, als „Sardinenlager“ bezeichnete<br />

Quarantäne.<br />

3. Juni 1943 330 Zwangsarbeiter werden mit einem Güterzug von Mauthausen bis Trzic (Neumarktl) und<br />

von da mit den Lastkraftwagen in das vorbereitete Südlager deportiert. Männer der 3. SS/T. Sturmbann<br />

Mauthausen übernehmen die Bewachung. Drei Häftlingsblöcke, ein Sanitär-, ein Küchenblock und die SS- und<br />

Polizeiunterkünfte werden im bereits vorbereiteten Südlager bezogen.<br />

14. Juli 1943 Erste Corrida. Während dieser so genannten „Corrida“, die zumeist an den Wochenenden<br />

abgehalten wurde, gibt es Prügelexzesse mit sandgefüllten Gummischläuchen.<br />

16. Juli 1943 Deportation weiterer 250 KZ-Häftlinge in die Außenstelle Loibl-Süd. 580 KZ Häftlinge sind<br />

bereits zu diesem Bauprojekt aus Mauthausen abkommandiert.<br />

August 1943 Ein neuerlicher Transport von 100 KZ-Häftlingen kommt aus Mauthausen in die Loibllager (Süd<br />

und Nord). Der Lagerarzt Hermann Richter wird vom Kärntner Standortarzt SS-Hauptsturmführer Dr. Sigbert<br />

Ramsauer und der erste Kommandant Julius Ludolf vom SS-Hauptsturmführer Jakob Winkler ersetzt.<br />

September 1943 Beim Bau des Loibltunnels und der Zufahrtsstraße sind 686 Häftlinge und 664 zivile<br />

Arbeiter, inklusive der Angestellten eingesetzt. Zur gleichen Zeit werden in Begunje inhaftierte Slowenen zur<br />

Zwangsarbeit auf die Nordseite des Loibls gebracht.<br />

Oktober 1943 Verlegung der Häftlinge in das bisher provisorisch geführte Außenlager Loibl-Nord (errichtet am<br />

Grundstück der Voigt Fironschen Forstverwaltung). Vorwiegend deportiert die SS-Organisation Osthäftlinge,<br />

das heißt Polen, Russen, Jugoslawen, aber auch Franzosen und andere in das Nordlager. Die Verlegung in das<br />

Nordlager hatte bei den Inhaftierten und deren Bewachern Strafcharakter.


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 4<br />

Herbst 1943 In den Loibllagern entsteht folgende Lagerhierarchie: Erster Kommandant SS-Untersturmführer<br />

Julius Ludolf, diesen löst im August 1943 SS-Hauptsturmführer Jakob Winkler ab. Kommandant im Nordlager<br />

ist vom Oktober 1943 bis Ende April 1944 SS-Hauptscharführer Lemmen. Dieser wird vom Kommandant-<br />

Stellvertreter und Nordlagerkommandant SS-Oberscharführer Paul Gruschwitz ersetzt. Rapportführer<br />

des Nordens ist SS-Unterscharführer Reinelt, dieser wird vom SS-Rapportführer Karl Sachse ersetzt.<br />

Kommandoführer der Arbeitskommandos im Norden ist SS-Oberscharführer Walter Briezke. Lagerältester<br />

im Nordlager ist ab April 1944 Rudolf Bruckner. SS-Standortarzt beider Lager Loibl-Süd und Nord ist SS-<br />

Hauptsturmführer Dr. Sigbert Ramsauer. SS-Wachmannschaften der 3. SS/T. Sturmbann Mauthausen und<br />

Polizeiwachmannschaften der Einheit Alpenland ergänzen die Lagerhierarchie. Im Lagerinneren führt der<br />

Lagerälteste das Kommando – die Blockkapos haben die Aufsicht in den Wohn- und Schlafstuben; die<br />

Arbeitskapos beaufsichtigen die Häftlingsgruppen (20 Häftlinge) während der Zwangsarbeit. – Mit den<br />

Namen Rudolf Bruckner, Karl Sachse und Max Skirde verbanden die französischen Zeitzeugen die Erinnerung<br />

an schwerste Misshandlungen physischer und psychischer Art (vgl. Vernehmungsprotokolle englischer<br />

Kriegsgerichte aus den Jahren 1946 und 1947).<br />

Ab Herbst 1943 Kontakte zwischen den Aktivisten dem „of“ (osvobodilna fronta) Janko Tisler und den<br />

Inhaftierten Jean Ivanoff, Marcel Aubert, Paul Kaufmann und anderen. Im weiteren Verlauf werden von den<br />

Aktivisten Fluchten geplant und Hilfssendungen aus Frankreich organisiert (184 Briefe, 37 Pakete alleine<br />

von Janko Tisler). Die slowenische Bevölkerung im Loibltal und Zell/Oberwinkel half bei den Fluchten und<br />

versteckte die geflüchteten Häftlinge vor den Waffen SS und den Polizeieinheiten. Beginn der Fluchtversuche<br />

und gelungene Fluchten, aber auch der Willkürmaßnahmen und Kollektivstrafen im Lagerinneren (vgl.<br />

Fluchterlebnisse; insgesamt gab es 29 Fluchtversuche, davon misslangen 5).<br />

3. März 1944 Neuerlich werden 200 Zwangsarbeiter auf den Loibl deportiert. In den Standesmeldungen der<br />

Lager-SS werden 882 KZ Häftlinge geführt.<br />

19. April 1944 Weitere 102 Internierte kommen von Mauthausen in die Außenstelle Loibl-Nord. Die Zahl der<br />

inhaftierten Zwangsarbeiter erhöht sich Ende Juli 1944 trotz der „Rücktransporte“ nach Mauthausen auf 1294.<br />

Die Zahl der Zivilarbeiter und Bediensteten sinkt auf insgesamt 400 (Süd 251). Zeitzeugen berichteten vom<br />

Überlaufen der Zivilarbeiter zum Partisanenwiderstand.<br />

Frühjahr 1944 bis Mai 1945 Anstelle der Krankenversorgung im Krankenrevier beginnt der Standortarzt Dr.<br />

Sigbert Ramsauer und das Lagerkommando dieses Revier zur „Selektion“ für Rücktransporte in das Stammlager<br />

Mauthausen zu benutzen. An Zwangsarbeitern, die arbeits- und transportunfähig sind, wird die Euthanasie<br />

durchgeführt. Schließlich verbrennt die Lager-SS diese Unglücklichen am Scheiterhaufen. Der Standortarzt<br />

erinnert sich im Jahre 1991 während eines Interviews an 20 bis 25 Todesfälle. Andere Zeitzeugen bezifferten die<br />

Todeszahlen der direkt am Loibl getöteten mit 33. Dass die rücktransportierten Häftlinge in Mauthausen getötet<br />

wurden, wusste der SS-Standortarzt angeblich nicht.<br />

4. Dezember 1944 Die ersten Wehrmachtsfahrzeuge befuhren den 1561 Meter langen Loibltunnel.<br />

15. April 1945 Auflösung des Nordlagers aufgrund verstärkter Partisanenangriffe. Verlegung der Lagerinsassen<br />

in das Südlager und in das provisorische Lager in Trzic. Rücktransport von ungefähr 200 Kranken<br />

undSchwachen nach Mauthausen.<br />

7. Mai 1945 Selbstbefreiung der ungefähr 953 Häftlinge aus dem Loibl-Südlager und Fußmarsch durch das<br />

Loibltal bis nach Unterbergen, noch unter der Aufsicht von circa 40 SS-Männern. 102 Jugoslawen und 21<br />

Kranke verblieben im Lager Süd.<br />

8. Mai 1945 Während dem Marsch nach Feistritz/Ros. wurden die Häftlinge vom Partisanenwiderstand<br />

endgültig befreit. Die SS-Männer wurden in der Volksschule von Feistritz/Ros. von den ehemaligen Häftlingen<br />

gefangen gehalten. Zu Mittag schlossen sich 122 ehemalige internierte Franzosen dem Partisanenwiderstand<br />

an. 76 polnische, 17 russische und 8 andere Internierte bildeten eine eigene Widerstandsgruppe. Fußmarsch der<br />

restlichen Männer nach Rosenbach. Schließlich wurden sie am 9. Mai 1945 mit der Bahn zu den Engländern<br />

nach Warmbad-Villach transportiert.<br />

1946 bis 1947 Ein englisches Kriegsgericht verurteilte am 10. November1947 die hauptverantwortlichen SS-<br />

Männer, Jakob Winkler und Walter Briezke zu Tode durch den Strang. Den Kommandanten des Nordlagers<br />

Paul Gruschwitz zu 12 Jahren und den SS-Rapportführer im Norden Karl Sachse zu 20 Jahren Haft. Sie wurden<br />

bereits 1955 vorzeitig entlassen. Der Standortarzt Dr. Sigbert Ramsauer erhielt am 10. Oktober 1947 eine<br />

„lebenslange“ Haftstrafe und wurde, wie viele Mitglieder der Lager-SS, schon 1954 aus der Haft entlassen. Viele<br />

der „SS-Bewacher“ und „Kapos“ entkamen jedoch ohne irgendeine Strafe.<br />

a) Was denkst du, welche Gründe könnten für den Autor Alois Hotschnig ausschlaggebend gewesen<br />

sein, seinen Roman Ludwigs Zimmer so eng an diese historischen Ereignisse zu knüpfen?


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 4<br />

2 Kollektive und persönliche Geschichte – Schuld und Scham<br />

Mit den Verstrickungen der einzelnen Figuren in die Geschichte rund um das Arbeitslager am Loibl<br />

lassen sich nun auch Handlungs- und Verhaltensweisen der Figuren besser verstehen. Dabei gilt es der<br />

Schuldfrage besonders nachzugehen.<br />

b) Wie lässt sich nun das Beziehungsgeflecht von Herrn Gärtner, Inge, Georg, Paul, Ludwig und<br />

Anna darstellen? Welche Ereignisse haben wen in welcher Weise betroffen?<br />

c) Wie lässt sich Herr Gärtners Aussage auf Seite 37 – „In der Wirklichkeit sterben die andern,<br />

Georg, die Frau Reger, der Mann über mir, in meinen Träumen sterbe immer nur ich, sagte er,<br />

seit dem Krieg ist das so“ – verstehen?<br />

d) Wie lässt sich Pauls Brief (S. 70) an Inge interpretieren?<br />

e) Was hat es mit Georgs Schweigen („bis zu seinem Tod“, S. 72) auf sich?<br />

f) Wie lassen sich die Worte interpretieren, die der Vater (S. 74, vor der Leerzeile) an Kurt richtet?<br />

g) Über Georg und sich berichtet Herr Gärtner von Erinnerungen, die als Berg manifest geworden<br />

sind, der seither vor der Tür steht (S. 78, unten). Welcher Berg ist gemeint? Wie lässt sich<br />

ein Zusammenhang erschließen zwischen Ablenkung, Übereinstimmung, Entsetzen und<br />

Verzweiflung, wie diese Aspekte im Fortgang des Textes (S. 78/79) genannt werden?<br />

h) Kurt stellt fest, dass sich im Keller jemand noch Jahrzehnte nach Georgs Tod mit den Dokumenten<br />

der Nazizeit befasst haben muss (S. 108). Die Vermutung liegt nahe, dass dies niemand<br />

anders als Inge war. Denn gleich anschließend berichtet sie Kurt: „Ich starb, als sie das Zimmer<br />

betraten, sagte sie, es war Mittag …“. Nachdem Inge von der Verhaftung Ludwigs erzählt hat,<br />

hält Kurt fest: „Für mich jedenfalls war sie der erste und einzige Mensch, dem gegenüber ich so<br />

etwas wie Scham empfand, ohne auch nur im geringsten zu wissen, weshalb.“ – Ja, weshalb?<br />

i) Nach dem Krieg galt Ludwig eine Zeitlang als verschollen. Doch eines Tages sieht Inge ihren<br />

einstigen Geliebten in Klagenfurt (S. 109/110). Warum kommt es zu keinem Happy End? Warum<br />

kehrt Ludwig nicht nach Landskron zurück?<br />

j) Inge äußert gegenüber Kurt, „dass ich verschont blieb, damit komme ich seither nicht zurecht“<br />

(S. 114). Wie lässt sich diese Aussage interpretieren?


Modul 5 Zweites Ankommen in Landskron<br />

(Lektüre bis zum Ende des Romans)<br />

Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 5<br />

Schaut man die drei Teile des Romans – Erstes Ankommen in Landskron (S. 5–36), Kurt zwischen Herrn<br />

Gärtner und Inge oder wie die Vergangenheit allmählich die Gegenwart erhellt (S. 36–122) und Zweites<br />

Ankommen in Landskron (S. 122–134) – gesondert und dann in Beziehung zueinander an, so lässt sich<br />

unschwer ein dialektischer Dreischritt erkennen. Das erste Ankommen Kurts ist geprägt von Kindheitserinnerungen,<br />

die Sehnsucht an diese scheinbar unbeschwerte Zeit wird wiedererweckt, mehr als einmal<br />

ist von einer „Idylle“ die Rede. Doch der Schein trügt: Der Neuankömmling ist nicht willkommen, der<br />

Ort ist von der Vergangenheit überschattet, und die Gegenwart hat mit den Vorstellungen Kurts nur wenig<br />

gemein. So lösen sich Erinnerungen auf, falsche Bilder werden ersetzt, nur Träume schaffen noch eine<br />

Verbindung zwischen verlorener Kindheit und nicht erfüllter Sehnsucht. Erst die erhellte Vergangenheit,<br />

das Stellen der schwierigen Fragen, das In-sich-Aufnehmen von Geschichte, geben dem Ort, dem Haus<br />

in Landskron seine aktuale Wirklichkeit und ermöglichen Kurt erst ein Ankommen in der Gegenwart.<br />

So treffen sich Erzählzeit und Handlungszeit, nachdem sie zu Beginn des Romans kurz deckungsgleich<br />

waren – „Ich hätte die Erbschaft nicht antreten dürfen, damit fing alles an …“ (S. 5) –, erst wieder kurz<br />

vor Ende:<br />

Inge wollte ich jetzt nicht begegnen, was konnte ich ihr denn auch sagen, bis heute weiß ich das nicht,<br />

und so fuhr ich auf der Sonnseite ans untere Ende vom See und von Steindorf auf die Schattenseite<br />

hinüber an Ossiach vorbei und am Haus von Herrn Gärtner vorbei, und als ich endlich doch ankam in<br />

Landskron, war ein abgezogener Hase an die Haustür gehängt, ein Zettel hing an einem der Läufe mit<br />

einer Einladung zum Essen. (S. 132/133)<br />

Mit dem Einschub „bis heute weiß ich das nicht“ holt sich der Ich-Erzähler selber ein. Zugleich ist<br />

in der Textpassage Kurts Ankommen durch die Einladung zum Essen markiert – offensichtlich hat sich<br />

die Meinung des Nachbarn (vgl. S. 35, oben) geändert. – Nach dem Suchen, dem Sich-Verlieren dürfte<br />

dieses zweite Ankommen Kurts in Landskron einem Sich-Wiederfinden gleichkommen.<br />

Innerlichkeit und Unendlichkeit sind zwei der Schlagworte die literarische Epoche der Romantik betreffend<br />

(ca. 1795–1830). Angestrebt wurde eine All-Einheit der Gesellschaft, regiert von der unendlichen<br />

Natur. Das Erfahren dieses allumfassenden Ganzen gelingt dem Einzelnen – der sich eine kindliche<br />

Offenheit bewahrt hat oder in der Lage ist, diese neu zu beleben – in Träumen und vermittels der eigenen<br />

Fantasie. Ursprünglich war von einer „progressiven Universalpoesie“ (Friedrich Schlegel) die Rede,<br />

die immer mehr Wirklichkeitsbereiche erfassen und diese der inneren Erfahrung anverwandeln sollte.<br />

Verbundenheit und Harmonie ist in der Liebe begründet, unter den Menschen, aber auch in der Liebe zu<br />

Gott. Der Staat wird als naturhaft-organische Institution begriffen, die Geborgenheit und Schutz bietet.<br />

Die Sehnsucht, sich im Unendlichen aufzulösen, geht mitunter bis zur Todessehnsucht. In der Vorstellung<br />

von Idylle und paradiesischen Zuständen entsteht so eine Parallelwelt, die mit der Realität nur<br />

noch bedingt in Einklang zu bringen ist, lediglich als temporärer beziehungsweise utopischer Fluchtort<br />

dienen kann. Der Bruch zwischen poetischem Konzept und nüchternen Tatsachen widerspiegelt sich<br />

dann in der Zerrissenheit der Figuren in der Spätromantik (auch Schwarze Romantik genannt, deren<br />

wichtigster Vertreter E. T. A. Hoffmann war). Interessant sind die Merkmale der Romantik, weil sie<br />

sich auch zu einem Großteil im Roman Ludwigs Zimmer finden:<br />

• Auch Kurt flüchtet sich in seine Traumwelt, erinnert den kindlichen Blick, sucht so die – der eigenen<br />

Verklärung geschuldete? – Idylle wiederzugewinnen, die Vergangenheit in Gegenwart zu transformieren.<br />

• Diese Rettungsversuche, das vergebliche Heraufbeschwören einer Harmonie – bis hin zur Todessehnsucht<br />

– zeichnet auch den Wiedergänger Kurt aus, der zunächst durchaus in den Fußstapfen seines Großonkels<br />

Georg (und jenen Herrn Gärtners) agiert, bis er nach und nach einsehen muss, dass dieser Weg nirgendwo<br />

hinführt. (Siehe auch die Textstelle S. 78, erste beiden Abschnitte, wo Herr Gärtner Idylle und Todessehnsucht<br />

thematisiert.)<br />

• Das Sich-Verlieren, das Scheitern Kurts löst eine heftige Gegenreaktion (einer kindlichen Trotzreaktion<br />

durchaus nicht unähnlich) aus, ein Auf- und Abräumen wird in Gang gesetzt, das nicht nur den Kahlschlag<br />

der Bäume im Garten zur Folge hat, im Blick steht der Wunsch nach einer tabula rasa – als ob sich auf<br />

diese Weise reiner Tisch machen ließe.


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Modul 5<br />

Alois Hotschnig scheint das romantische Konzept zu sprengen, eine All-Einheit lässt sich nicht erschließen,<br />

eine Identität – ein Zuhause – nicht finden. So gerät Kurt allmählich in das Fahrwasser eines<br />

andern „Programms“, eines, das dem Existenzialismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts näher<br />

steht. Hierzu drei Passagen aus Albert Camus’ Werk Der Mythos des Sisyphos:<br />

Ich sagte vorschnell, die Welt sei<br />

absurd. An sich ist diese Welt nicht<br />

vernünftig – das ist alles, was man von<br />

ihr sagen kann. Absurd dagegen ist der<br />

Zusammenstoß des Irrationalen mit<br />

dem heftigen Verlangen nach Klarheit,<br />

das im tiefsten Innern des Menschen<br />

laut wird.<br />

Er [der Mensch] fühlt in sich sein<br />

Verlangen nach Glück und Vernunft.<br />

Das Absurde entsteht aus diesem<br />

Zusammenstoß zwischen dem Ruf<br />

des Menschen und dem vernunftlosen<br />

Schweigen der Welt.<br />

Folglich leite ich drei Schlussfolgerungen<br />

ab vom Absurden: meine<br />

Auflehnung, meine Freiheit und meine<br />

Leidenschaft. Durch das bloße Spiel des Bewusstseins verwandle ich in eine Lebensregel, was eine Aufforderung<br />

zum Tode war – und lehne den Selbstmord ab. Ich kenne zweifellos die dumpfe Resonanz, die den Lauf der Tage<br />

begleitet. Aber ich sage mir das eine: sie ist notwendig. Wenn Nietzsche sagt: „Das Wesentliche, ‚im Himmel<br />

und auf Erden’, wie es scheint, ist (…) dass lange und in eine Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam<br />

auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst,<br />

Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, – irgend etwas Verklärendes Raffiniertes, Tollen und Göttliches“, dann<br />

erläutert er damit die Regel einer anspruchsvollen Moral. Aber er weist auch den Weg des absurden Menschen.<br />

Der Flamme gehorchen ist zugleich das Leichteste und das Schwierigste. Es ist jedoch gut, dass der Mensch,<br />

indem er sich an der Schwierigkeit misst, sich zuweilen selbst beurteilt. Er allein ist imstande, das zu tun.<br />

Und letzte Fragen zu Ludwigs Zimmer:<br />

a) Lässt sich Kurts Geschichte, sein Werdegang im Roman, als „Läuterung“ bezeichnen?<br />

b) Haben wir es gar mit einem Bildungsroman zu tun?<br />

c) Ist der Protagonist am Ende desillusioniert?<br />

d) An Erkenntnissen reicher?<br />

e) Ist er nun mit beiden Beinen im Leben angekommen?<br />

f) Hat er sich mit der Geschichte seiner Vorfahren ausgesöhnt?<br />

g) Ist Kurt noch immer ein Romantiker? Von Sehnsucht getrieben? Oder ein absurdes Wesen?


Zusatz Modul 1 (Die Erbschaft)<br />

Das Lied Komm großer schwarzer Vogel von Ludwig Hirsch handelt, wie der Titel schon anzeigt,<br />

ebenfalls von schwarzen Vögeln wie Kurts erster Traum. Welche weiteren Parallelen lassen sich ausmachen?<br />

Komm großer schwarzer Vogel<br />

Komm großer schwarzer Vogel, komm jetzt!<br />

Schau, das Fenster ist weit offen,<br />

Schau, ich hab’ Dir Zucker aufs Fensterbrett g’straht.<br />

Komm großer schwarzer Vogel, komm zu mir!<br />

Spann’ Deine weiten, sanften Flügel aus<br />

und leg’s auf meine Fieberaugen!<br />

Bitte, hol’ mich weg von da!<br />

Und dann fliegen wir rauf, mitten in Himmel rein,<br />

in a neue Zeit, in a neue Welt.<br />

Und ich wird’ singen, ich wird’ lachen,<br />

ich werd’ „das gibt’s net“, schrei’n,<br />

weil ich werd’ auf einmal kapieren<br />

worum sich alles dreht.<br />

Komm großer schwarzer Vogel, hilf mir doch!<br />

Press’ Deinen feuchten, kalten Schnabel auf<br />

meine Wunde, auf meine heiße Stirn!<br />

Komm großer schwarzer Vogel,<br />

jetzt wär’s grad günstig!<br />

Die anderen da im Zimmer schlafen fest<br />

und wenn wir ganz leise sind,<br />

hört uns die Schwester nicht?<br />

Bitte, hol mich weg von da!<br />

Und dann fliegen wir rauf, mitten in Himmel rein,<br />

in a neue Zeit, in a neue Welt.<br />

Und ich werd’ singen, ich werd’ lachen,<br />

ich werd’ „das gibt’s net“, schrei’n,<br />

weil ich werd’ auf einmal kapieren<br />

worum sich alles dreht.<br />

Ja, großer schwarzer Vogel, endlich!<br />

Ich hab’ Dich gar nicht reinkommen g’hört,<br />

wie lautlos Du fliegst mein Gott,<br />

wie schön Du bist!<br />

Auf geht’s, großer schwarzer Vogel, auf geht’s!<br />

Baba, ihr meine Lieben daham!<br />

Du, mein Mädel, und du, Mama, baba!<br />

Bitte, vergesst’s mich nicht!<br />

Auf geht’s, mitten in den Himmel eine,<br />

nicht traurig sein, na, na, na ist kein Grund zum Traurigsein!<br />

Ich werd’ singen, ich werd’ lachen, ich werd’ „das gibt’s net“ schrei’n.<br />

Ich werd’ endlich kapieren, ich werd’ glücklich sein!<br />

Ich werd’ singen, ich werd’ lachen, ich werd’ „des gibt’s net“ schrei’n.<br />

Ich werd’ endlich kapieren, ich werd’ glücklich sein!<br />

Ich werd’ singen, ich werd’ lachen, ich werd’ endlich glücklich sein!<br />

Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Zusatzmaterialien


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Zusatzmaterialien<br />

Zusatz Modul 2 (Wer, wo, wann, warum, was?)<br />

Der Tod ist in Ludwigs Zimmer omnipräsent: Der Tod Anna Regers führt Kurt überhaupt erst zum<br />

Haus am See. Überhaupt scheinen sich die Toten in Kurts Kopf eingenistet zu haben – nicht nur Anna,<br />

sondern auch Georg und Paul. Die Lebenden, mit denen er sich umgibt, insbesondere Herr Gärtner, sprechen<br />

vorzugsweise ebenfalls von den Toten; und der Friedhof ist ein bevorzugter Schauplatz. Zugleich<br />

ist Kurt von Ängsten geplagt. Diese widerspiegeln sich in seinen Träumen und werden von ihm auch<br />

immer wieder explizit thematisiert. Oft hängen Angst und Tod zusammen. Auch das folgende Gedicht<br />

spricht von diesem Zusammenhang:<br />

Angst, 21 Zeilen<br />

Angst, unsere Mitgeburt,<br />

da uns graut, aus dem warmen,<br />

dunkelbergenden Leib<br />

ausgestoßen,<br />

von nährenden Brunnen verbannt,<br />

ausgesetzt zu werden<br />

in Blendung und Kälte.<br />

Wie verwandelt sich<br />

Angst in Zutraun. Vertrauen?<br />

Abhängigkeit in Hingebung?<br />

Wie, Mutter! Kind! findet<br />

das Aug sich ins weltentblößende<br />

Licht,<br />

tastet nacktes Da-Sein nach Leben,<br />

spürt Leben Liebe, sehnt liebend sich,<br />

streift dich Glück, die Seele in Schauern<br />

ins Dunkel zurück?<br />

Wie sonst ertrügen wir, unbegreifend,<br />

so selig wie bang,<br />

lebenslang Kinder<br />

des Todes zu sein?<br />

Erika Burkart (1922–2010)<br />

Welcher Zusammenhang zwischen Leben und Tod wird im Gedicht hergestellt? Von welchen Abhängigkeiten<br />

ist die Rede? Wie lässt sich der Begriff Kind/Kinder deuten? Wie steht es um die Beziehungen<br />

des Einzelnen zu einem andern? Zur Welt? Worin genau besteht die Angst? Und welche Mittel werden<br />

dagegen vorgeschlagen?<br />

Bildet Gruppen und vergleicht die Erkenntnisse und Ergebnisse der obigen Aufgabe mit Szenen aus<br />

Ludwigs Zimmer (siehe Seitenangaben unten). – In welcher Weise wird das Thema „Leben und Tod“ in<br />

der jeweiligen Textpassage dargestellt? Welches sind die Schlüsselstellen? Welche Bezüge lassen sich<br />

zwischen der im Blick stehenden Textpassage und dem Gedicht von Erika Burkart herstellen? Gemeinsamkeiten?<br />

Unterschiede?<br />

Gruppe 1: Erste Friedhofsszene (S. 12–15)<br />

Gruppe 2: Das Räumen der Werkstatt (S. 33–36)<br />

Gruppe 3: Kurts Traum vom Sterben (S. 49–53)<br />

Gruppe 4: Herr Gärtner verlässt Hermagor (S. 59–63)<br />

Gruppe 5: Die Bootsfahrt (S. 64–66)<br />

Gruppe 6: Kurt bei den Eltern (S. 70–74)


Zusatz Modul 3 (Sehnsucht, Identität und Heimat)<br />

In einer Kolumne der Neuen Zürcher Zeitung (31.7.2010, Nr. 175) ging der Autor Klaus Bartels dem<br />

Begriff „Identität“ nach – und stieß dabei auf überraschende Erkenntnisse …<br />

Klaus Bartels<br />

Identität<br />

Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Zusatzmaterialien<br />

Die lateinische identitas ist aus drei Stücken zusammengesetzt. Das erste, das dreigeschlechtige<br />

Demonstrativpronomen is, ea, id, deutet mit dem Zeigefinger auf „den da, die da, das da“; das<br />

zweite, ein altrömisches hinweisendes em!, „sieh!“, ursprünglich wohl ein aufforderndes eme!,<br />

„nimm!“, doppelt noch mit dem Zaunpfahl nach. Die beiden Stücke haben sich früh zu einem<br />

wieder dreigeschlechtigen i(s)dem, eadem, idem mit der Bedeutung „derselbe, dieselbe, dasselbe“<br />

zusammengefunden. Dabei hat es unter den Geschlechtern noch ein Hin und Her gegeben: Nach<br />

dem Muster des Neutrums id-em, gesprochen i-dem, haben sich auch die natürlichen Geschlechter<br />

mit diesem falsch abgelösten -dem zu einem männlichen i(s)dem und einem weiblichen ea-dem<br />

aufgeputzt.<br />

Erst die spätantiken Kirchenväter haben aus diesen beiden Stücken und dem abstrahierenden<br />

lateinischen Schwanzstück -tas, entsprechend unserem „-heit“ oder „-keit“, den Begriff identitas,<br />

sozusagen „Selbigkeit“, gebildet. Damals ging es noch nicht um ein persönliches Sichausweisen,<br />

um die oberflächliche Dreiselbigkeit von Name, Passbild und leibhaftiger Erscheinung, sondern um<br />

Dogmatisches: um die substanzielle Dreiselbigkeit, Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem<br />

Geist. Mittlerweile hat das Wort über die Theologie und die Philosophie hinaus zumal in der<br />

Psychologie Bedeutung gewonnen. Da geht es um die Identität dessen, was wir sind und zu sein<br />

wähnen oder wünschen; da sprechen wir von Identitätsängsten und -krisen, von Identitätssuche und<br />

Identitätsfindung. Der römische Epigrammatiker Martial hat eine „Identität“ noch nicht gekannt; aber<br />

auch so hat er in einem feinen Katalog der „Dinge, die das Leben glücklicher machen“, als vorletztes,<br />

zweithöchstes genannt: „Dass du, was du bist, sein willst, und nichts lieber“, „Quod sis, esse velis<br />

nihilque malis“.<br />

In der frühen Neuzeit ist die spätantike identitas in der Bedeutung der „Selbigkeit“ in die neuen<br />

Sprachen eingegangen. Über anderthalb Jahrtausende hat sie ihre eigene lautliche Identität bis<br />

auf die paar Varianten im Ausklang bis heute bewahrt; (…) im 18. Jahrhundert ist noch das<br />

Adjektiv „identisch“, eigentlich „derselbig, dieselbig, dasselbig“, hinzugekommen; und seit dem<br />

19. Jahrhundert können wir einen Menschen oder eine Sache oder schließlich auch uns selbst<br />

„identifizieren“, wörtlich: „selbigmachen“. Jetzt fehlt nur noch, dass ein Superkorrekter oder<br />

eine Superkorrekte in dieser spätantiken, frühneuzeitlichen „Identität“ ein bisher unentdecktes<br />

politisch inkorrektes Maskulinum identifizieren und dieser verdächtig männlichen „Identität“ eine<br />

entsprechende weibliche „Eadentität“ zur Seite stellen wollte.


Alois Hotschnig: Ludwigs Zimmer/Zusatzmaterialien<br />

Zusatz Modul 5 (Zweites Ankommen in Landskron)<br />

Sören Kierkegaard lieferte in seinem Werk Der Begriff Angst eine Definition, die bis heute Gültigkeit<br />

hat und die sich – hier auszugsweise – mit dem Werdegang Kurts, seinen Träumen und Gedanken, gut<br />

vergleichen lässt.<br />

Sören Kierkegaard (1813–1855)<br />

Der Begriff Angst (Auszüge)<br />

Man findet den Begriff Angst kaum jemals in der Psychologie behandelt, ich muss deshalb darauf aufmerksam<br />

machen, dass er gänzlich verschieden ist von Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes<br />

beziehen, während Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist. Daher wird man<br />

beim Tier, eben weil es in seiner Natürlichkeit nicht als Geist bestimmt ist, keine Angst finden. [...]<br />

Von einem indischen Einsiedler, der sich zwei Jahre lang von Tau ernährte, wird berichtet, dass er einmal<br />

in die Stadt kam, Wein probierte und dem Trunk verfiel. Diese wie jede ähnliche Geschichte lässt sich auf<br />

vielerlei Weise verstehen, man kann sie komisch, man kann sie tragisch machen; doch ein Individuum, das<br />

sich durch die Möglichkeit bildet, das hat von einer Geschichte dieser Art genug. Ein solcher Mensch hat sich<br />

augenblicklich mit jenem Unglücklichen absolut identifiziert, er kennt keine Ausflüchte der Endlichkeit, mit<br />

deren Hilfe er entkäme. Nun hat die Angst der Möglichkeit in ihm ihre Beute, bis sie ihn abgeben muss, erlöst<br />

im Glauben; anderswo findet er nicht Ruhe, denn jeder andere Ruhepunkt ist nur Gerede, auch wenn es den<br />

Menschen klug erscheint. Sieh, deshalb ist die Möglichkeit so absolut bildend. In der Wirklichkeit ist nie ein<br />

Mensch so unglücklich geworden, dass er nicht einen Rest zurückbehalten hätte, und wie die Verständigkeit ganz<br />

richtig sagt, wenn man schlau ist, weiß man sich zu helfen. Doch wer den Kursus der Möglichkeit im Unglück<br />

durchlaufen hat, der hat alles, alles verloren, wie niemand es in der Wirklichkeit verlor. Wenn er jetzt die<br />

Möglichkeit, die ihn lehren will, nicht hinterginge, die Angst, die ihn erlösen will, nicht überredete, dann bekäme<br />

er auch alles wieder, wie niemand es in der Wirklichkeit bekam, und hätte er alles zehnfach bekommen; denn der<br />

Schüler der Möglichkeit bekäme die Unendlichkeit, der andere hätte seine Seele in der Endlichkeit ausgehaucht.<br />

In der Wirklichkeit ist niemand so tief gesunken, dass er nicht noch tiefer sinken könnte und dass nicht so<br />

mancher tiefer gesunken wäre. Doch wer in der Möglichkeit versank, dem schwindelte, dessen Blick verwirrte<br />

sich, so dass er den Maßstab nicht fasste, den Krethi und Plethi ihm als rettenden Strohhalm reichten, sein Ohr<br />

verschloss sich, so dass er nicht hörte, wie der Marktpreis für Menschen in seinem Zeitalter war, und nicht<br />

hörte, dass er genauso gut war wie die meisten. Er sank absolut, dann aber tauchte er aus der Tiefe des Abgrunds<br />

wieder auf, leichter als alles Beschwerende und Erschreckende im Leben. Nur bestreite ich nicht, dass derjenige,<br />

der sich durch die Möglichkeit bildet – im Gegensatz zu jenen, die sich durch die Endlichkeit bilden und Gefahr<br />

laufen, in schlechte Gesellschaft zu geraten und auf verschiedene Weise auszuschweifen –, einem Fall ausgesetzt<br />

ist, und das ist der Selbstmord. Wenn er mit seiner Bildung beginnt und dabei die Angst missversteht, so dass<br />

sie ihn nicht zum Glauben hin-, sondern vom Glauben wegführt, dann ist er verloren. Wer sich dem entgegen<br />

bildet, der bleibt bei der Angst, der lässt sich nicht von ihren unzähligen Verfälschungen betrügen, der entsinnt<br />

sich des Vergangenen genau; und am Ende werden die Anfälle der Angst, obgleich noch entsetzlicher, doch<br />

nicht so entsetzlich, dass er vor ihnen flieht. Die Angst wird ihm ein dienender Geist, der ihn gegen den eigenen<br />

Willen führt, wohin er will. Und wenn sie sich dann meldet, wenn sie hinterlistig tut, als hätte sie jetzt ein ganz<br />

neues Mittel des Schreckens erfunden, als wäre sie jetzt noch viel entsetzlicher als zuvor, dann zieht er sich nicht<br />

zurück, noch weniger sucht er sie durch Lärm und Verwirrung fernzuhalten, sondern er heißt sie willkommen, er<br />

begrüßt sie feierlich, wie Sokrates feierlich den Giftbecher schwenkte, er schließt sich mit ihr ein, er sagt wie ein<br />

Patient zum Operateur, wenn die Operation beginnen soll: Jetzt bin ich bereit. Dann geht die Angst in seine Seele<br />

ein und prüft alles und ängstet das Endliche und Kleinliche aus ihm heraus, und dann führt sie ihn, wohin er will.<br />

Wenn sich diese oder jene außerordentliche Begebenheit im Leben zuträgt, wenn ein Held der Weltgeschichte<br />

Helden um sich versammelt und Heldentaten vollbringt, wenn eine Krisis eintritt und alles Bedeutung erlangt,<br />

dann möchten die Menschen dabei sein, denn dieses bildet. Wohl möglich. Doch es gibt eine viel leichtere Art,<br />

wie man sich viel gründlicher bilden kann. Man nehme den Schüler der Möglichkeit und versetze ihn mitten<br />

in die jütische Heide, wo sich gar nichts ereignet und wo es als das größte Ereignis gilt, wenn ein Auerhahn<br />

lärmend auffliegt – und er wird alles vollkommener, genauer, gründlicher erleben als jener, dem man auf dem<br />

Theater der Weltgeschichte applaudierte, wenn er nicht durch die Möglichkeit gebildet war.


Diese Unterrichtsmaterialien sind dem Buch Lektüren I. Begleitmaterialien zu ausgesuchten Werken<br />

der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ISBN 978-3-7099-7041-6; <strong>Haymon</strong> <strong>Verlag</strong> 2013) von<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong> und <strong>Lara</strong> Dredge entnommen. Im Buch finden Sie zusätzlich weiterführende Materialien<br />

für Lehrerinnen und Lehrer. Ein Exemplar dieses Buchs können Sie unter office@haymonverlag.at<br />

zum Preis von € 9.95 bestellen. Für LehrerInnen ist die Bestellung kostenlos.<br />

Lektüren I bietet Begleitmaterialien zu acht wichtigen Werken der Gegenwartsliteratur aus Österreich,<br />

Südtirol und der Schweiz, die inhaltlich wie formal für die Behandlung im Deutschunterricht prädestiniert<br />

sind. <strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong> und <strong>Lara</strong> Dredge, die aus langjähriger Praxiserfahrung im Deutschunterricht schöpfen,<br />

haben zu diesen Texten didaktische Hilfestellungen ausgearbeitet, die Lehrerinnen und Lehrern in<br />

der Vorbereitung ihres Unterrichts bestmöglich unterstützen. In geschlossene Module gegliedert, ermöglichen<br />

die Begleitmaterialien einen flexiblen Einsatz im Rahmen eines zeitgemäßen Literaturunterrichts.<br />

<strong>Lara</strong> Dredge-Zehnder, lic. phil. I, geboren 1968, Studium der Germanistik und Anglistik, Zürich. Lehrerausbildung<br />

Sekundarstufe II.<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong>, lic. phil. I, geboren 1969. Studium der Philosophie und Germanistik, Zürich. Autor und<br />

Herausgeber.<br />

Beide unterrichten seit Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau.

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