Download Handreichung (Markus Bundi/Lara ... - Haymon Verlag
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Sepp Mall<br />
Wundränder<br />
Roman<br />
________________________________________<br />
Wichtige Themen<br />
• Sprechen und Sprache<br />
• Generationenkonflikt<br />
• Freiheitskampf Südtirol<br />
• Das Schweigen der Männer<br />
Eignung<br />
• Die Geschichte nimmt den Südtiroler<br />
Freiheitskampf als Kulisse, um das<br />
befremdliche Zusammenleben in<br />
zwei Familien zu thematisieren, die<br />
Beklemmung, den Aufbruch der<br />
Jugend, das Erwachen der Liebe<br />
und Fußball als Leidenschaft. Die<br />
Lektüre setzt eine Lust voraus, den<br />
vielen Verweisen und Bezugnahmen<br />
zu folgen, die Spuren zu lesen und<br />
auf verschiedenen Fährten den<br />
ProtagonistInnen folgen zu wollen.<br />
Alter: ca. 15 Jahre.<br />
Module<br />
• Wundränder – die Erzählanlage<br />
• Sprechen – Stottern – Schweigen<br />
• Familienbande<br />
• Zeitzeichen<br />
Zum Buch<br />
Der Roman Wundränder zeigt vor dem Hintergrund<br />
der Südtiroler Freiheitskämpfe die beklemmende<br />
Wirklichkeit zweier Familien, die z. T. nicht erst<br />
durch die „Bumser“-Ereignisse ihr gemütliches<br />
familiäres Geplauder eingebüßt haben. Ein Vater<br />
verschwindet von einem Tag auf den andern, ein<br />
Bruder zieht aus und kommt nicht mehr lebendig<br />
zurück. Die Zurückbleibenden (und Erzählenden)<br />
stückeln erzählend den Sinn zusammen und tasten die<br />
Wundränder ab.<br />
Zum Autor<br />
Sepp Mall ist 1955 in Graun/<br />
Südtirol geboren, er lebt und<br />
arbeitet in Meran. Seit 1971<br />
schreibt er Lyrik, Prosa und Hörspiele. 1990 erhielt<br />
er den Preis für Lyrik der Stadt Innsbruck, 1996 den<br />
Lyrikpreis Merans.<br />
Zuletzt erschien von ihm bei <strong>Haymon</strong> der Roman<br />
Berliner Zimmer (2012).<br />
Foto: Claudia Pircher<br />
HAYMONtb 75<br />
ISBN 978-3-85218-875-1
Sepp Mall: Wundränder/Modul 1<br />
Modul 1 Wundränder – die Erzählanlage<br />
(Lektüre Kapitel 1 bis 4, bis S. 21)<br />
1 Spielerischer Einstieg<br />
Der Titel des Romans von Sepp Mall stammt aus der Medizin: Wundrand ist der Rand einer Wunde und<br />
markiert den Übergang zum unverletzten Gewebe.<br />
a) Beschreibe das Foto, den Gesichtsausdruck des Jungen.<br />
b) Welche Aussage(n) wird/werden mit der Verknüpfung von Titel und Foto gemacht?<br />
c) Welche Erwartungen lässt das Bild auf der Umschlagseite bei dir aufkommen? Begründe.<br />
2 Die Erzähler und die zwei Handlungsstränge<br />
Die Figur Paul<br />
d) „Sein Vater habe sich in Luft aufgelöst, sagte der Junge, von einem Tag auf den anderen.“<br />
(S. 5)<br />
So lautet der erste Satz des Romans. Er gibt uns Rätsel auf. Zum Beispiel dasjenige der Erzählstimme.<br />
Was lässt sich über die Erzählstimme, Erzählperspektive sagen?<br />
e) „Sie hätten an diesem Tag gegen den FC Merania spielen sollen.“ (S. 8) Einstieg ins zweite<br />
Kapitel. Was hat es mit diesem „hätten“ auf sich? Wer sagt das? Welche Funktion erfüllt es?<br />
Was bedeutet es, dass im Indikativ weitergefahren wird?<br />
f) Fasse in drei bis vier Sätzen die bisherige Geschichte Pauls zusammen.<br />
Die Figur Johanna<br />
g) Ein „Ich“ tritt auf. Wer ist dieses „Ich“? Welche Geschichte erfahren wir aus den Kapiteln drei<br />
und vier? Fasse in drei bis vier Sätzen zusammen.<br />
h) „Vielleicht hätten wir gleich wieder wegziehen sollen, dann wäre alles nicht passiert.“ (S. 15)<br />
Unterscheidet sich dieses „hätte“ und „wäre“ vom Konjunktiv aus Frage 2? Inwiefern?<br />
i) In den ersten vier Kapiteln werden Spuren gelegt und Spannung wird aufgebaut. Lassen sich<br />
Verknüpfungen denken zwischen dem Paul-Erzählstrang und dem Johanna-Erzählstrang? Welche?<br />
Begründe.
Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />
Modul 2 Sprechen – Stottern – Schweigen<br />
(Lektüre Kapitel 5 bis 12, bis S. 56)<br />
1 Schischyphusch<br />
Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus Wolfgang Borcherts<br />
Text Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels. Zwei<br />
Männer leiden an einer Sprachstörung. Zwei Männer, die<br />
unterschiedlicher kaum sein könnten. Lies den Text und beantworte<br />
die untenstehenden Fragen.<br />
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Mein Onkel hatte, wie ich schon sagte, einen<br />
Zungenfehler. Nicht bedeutend, aber immerhin<br />
deutlich genug. Er konnte kein s sprechen. Auch kein<br />
z oder tz. Er brachte das einfach nicht fertig. Immer<br />
wenn in einem Wort so ein harter s-Laut auftauchte,<br />
dann machte er ein weiches feuchtwässeriges sch<br />
daraus. Und dabei schob er die Lippen weit vor,<br />
dass sein Mund entfernte Ähnlichkeit mit einem<br />
Hühnerpopo bekam. Der Kellner stand also an unserem Tisch und wedelte mit seinem<br />
Taschentuch die Kuchenkrümel unserer Vorgänger von der Decke. (Erst viele Jahre später erfuhr<br />
ich, dass es nicht sein Taschentuch, sondern eine Art Serviette gewesen sein muss.) Er wedelte<br />
also damit und fragte kurzatmig und nervös:<br />
«Bitte schehr? Schie wünschen?»<br />
Mein Onkel, der keine alkoholarmen Getränke schätzte, sagte gewohnheitsmässig:<br />
«Alscho: Schwei Aschbach und für den Jungen Schelter oder Brausche. Oder wasch haben<br />
Schie schonscht?»<br />
Der Kellner war sehr blass. Und dabei war es Hochsommer und er war doch Kellner in einem<br />
Gartenlokal. Aber vielleicht war er überarbeitet. Und plötzlich merkte ich, dass mein Onkel<br />
unter seiner blanken braunen Haut auch blass wurde. Nämlich als der Kellner die Bestellung der<br />
Sicherheit wegen wiederholte:<br />
«Schehr wohl. Schwei Aschbach. Eine Brausche. Bitte schehr.»<br />
Mein Onkel sah meine Mutter mit hochgezogenen Brauen an, als ob er etwas Dringendes von<br />
ihr wollte. Aber er wollte sich nur vergewissern, ob er noch auf dieser Welt sei. Dann sagte er<br />
mit einer Stimme, die an fernen Geschützdonner erinnerte:<br />
«Schagen Schie mal, schind Schie wahnschinnig? Schie? Schie machen schich über mein<br />
Lischpeln luschtig? Wasch?»<br />
Der Kellner stand da und dann fing es an, an ihm zu zittern. Seine Hände zitterten. Seine<br />
Augendeckel. Seine Knie. Vor allem aber zitterte seine Stimme. Sie zitterte vor Schmerz und<br />
Wut und Fassungslosigkeit, als er sich jetzt Mühe gab, auch etwas geschützdonnerähnlich zu<br />
antworten:<br />
«Esch ischt schamlosch von Schie, schich über mich schu amüschieren, taktlosch ischt dasch,<br />
bitte schehr.»
Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />
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Nun zitterte alles an ihm. Seine Jackenzipfel. Seine pomadenverklebten Haarsträhnen. Seine<br />
Nasenflügel und seine sparsame Unterlippe.<br />
An meinem Onkel zitterte nichts. Ich sah ihn ganz genau an: Absolut nichts. Ich bewunderte<br />
meinen Onkel. Aber als der Kellner ihn schamlos nannte, da stand mein Onkel doch wenigstens<br />
auf. Das heisst, er stand eigentlich gar nicht auf. Das wäre ihm mit seinem einen Bein viel zu<br />
umständlich und beschwerlich gewesen. Er blieb sitzen und stand dabei doch auf. Innerlich<br />
stand er auf. Und das genügte auch vollkommen. Der Kellner fühlte dieses innerliche<br />
Aufstehen meines Onkels wie einen Angriff und er wich zwei kurze zittrige unsichere Schritte<br />
zurück. Feindselig standen sie sich gegenüber. Obgleich mein Onkel sass. Wenn er wirklich<br />
aufgestanden wäre, hätte sich sehr wahrscheinlich der Kellner hingesetzt. Mein Onkel konnte<br />
es sich auch leisten, sitzen zu bleiben, denn er war noch im Sitzen ebenso gross wie der Kellner<br />
und ihre Köpfe waren auf gleicher Höhe.<br />
So standen sie nun und sahen sich an. Beide mit einer zu kurzen Zunge, beide mit demselben<br />
Fehler. Aber jeder mit einem völlig anderen Schicksal.<br />
Klein, verbittert, verarbeitet, zerfahren, fahrig, farblos, verängstigt, unterdrückt: der Kellner.<br />
Der kleine Kellner. Ein richtiger Kellner: Verdrossen, stereotyp höflich, geruchlos, ohne<br />
Gesicht, nummeriert, verwaschen und trotzdem leicht schmuddelig. Ein kleiner Kellner.<br />
Zigarettenfingrig, servil, steril, glatt, gut gekämmt, blaurasiert, gelbgeärgert, mit leerer Hose<br />
hinten und dicken Taschen an der Seite, schiefen Absätzen und chronisch verschwitztem Kragen<br />
– der kleine Kellner.<br />
Und mein Onkel? Ach, mein Onkel! Breit, braun, brummend, basskehlig, laut, lachend,<br />
lebendig, reich, riesig, ruhig, sicher, satt, saftig – mein Onkel!<br />
Der kleine Kellner und mein grosser Onkel. Verschieden wie ein Karrengaul vom Zeppelin.<br />
Aber beide kurzzungig. Beide mit demselben Fehler. Beide mit einem feuchten wässerigen<br />
weichen sch. Aber der Kellner ausgestossen, getreten von seinem Zungenschicksal, bockig,<br />
eingeschüchtert, enttäuscht, einsam, bissig.<br />
Und klein, ganz klein geworden. Tausendmal am Tag verspottet, an jedem Tisch belächelt,<br />
belacht, bemitleidet, begrinst, beschrien. Tausendmal an jedem Tag im Gartenlokal an jedem<br />
Tisch einen Zentimeter in sich hineingekrochen, geduckt, geschrumpft. Tausendmal am Tag bei<br />
jeder Bestellung an jedem Tisch, bei jedem «bitte schehr» kleiner, immer kleiner geworden. Die<br />
Zunge, gigantischer unförmiger Fleischlappen, die viel zu kurze Zunge, formlose zyklopische<br />
Fleischmasse, plumper unfähiger roter Muskelklumpen, diese Zunge hatte ihn zum Pygmäen<br />
erdrückt: kleiner, kleiner Kellner!<br />
Und mein Onkel! Mit einer zu kurzen Zunge, aber: als hätte er sie nicht. Mein Onkel, selbst am<br />
lautesten lachend, wenn über ihn gelacht wurde. Mein Onkel, einbeinig, kolossal, slickzungig.<br />
Aber Apoll in jedem Zentimeter Körper und jedem Seelenatom. Autofahrer, Frauenfahrer,<br />
Herrenfahrer, Rennfahrer. Mein Onkel, Säufer, Sänger, Gewaltmensch, Witzereisser,<br />
Zotenflüsterer, Verführer, kurzzungiger sprühender, sprudelnder spuckender Anbeter von Frauen<br />
und Kognak. Mein Onkel, saufender Sieger, prothesenknarrend, breitgrinsend, mit viel zu kurzer<br />
Zunge, aber: als hätte er sie nicht!<br />
So standen sie sich gegenüber. Mordbereit, todwund der eine, lachfertig, randvoll mit<br />
Gelächtereruptionen der andere. Ringsherum sechs- bis siebenhundert Augen und Ohren,
Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />
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Spazierläufer, Kaffeetrinker, Kuchenschleckerer, die den Auftritt mehr genossen als Bier und<br />
Brause und Bienenstich. Ach, und mittendrin meine Mutter und ich. Rotköpfig, schamhaft, tief<br />
in die Wäsche verkrochen. Und unsere Leiden waren erst am Anfang.<br />
«Schuchen Schie schofort den Wirt, Schie aggreschiver Schpatsch, Schie. Ich will Schie lehren,<br />
Gäschte schu inschultieren.»<br />
Mein Onkel sprach jetzt absichtlich so laut, dass den sechs- bis siebenhundert Ohren kein Wort<br />
entging. Der Asbach regte ihn in angenehmer Weise an. Er grinste vor Wonne über sein grosses<br />
gutmütiges breites braunes Gesicht. Helle salzige Perlen kamen aus der Stirn und trudelten<br />
abwärts über die massiven Backenknochen. Aber der Kellner hielt alles an ihm für Bosheit,<br />
für Gemeinheit, für Beleidigung und Provokation. Er stand mit faltigen hohlen leise wehenden<br />
Wangen da und rührte sich nicht von der Stelle.<br />
«Haben Schie Schand in den Gehörgängen? Schuchen Schie den Beschitscher, Schie<br />
beschoffener Schpaschvogel. Losch, oder haben Schie die Hosche voll, Schie mischgeschtalteter<br />
Schwerg?»<br />
Da fasste der kleine kleine Pygmäe, der kleine slickzungige Kellner, sich ein grossmütiges,<br />
gewaltiges, für uns alle und für ihn selbst überraschendes Herz. Er trat ganz nah an unsern<br />
Tisch, wedelte mit seinem Taschentuch über unsere Teller und knickte zu einer korrekten<br />
Kellnerverbeugung zusammen. Mit einer kleinen männlichen und entschlossen leisen Stimme,<br />
mit überwältigender zitternder Höflichkeit sagte er: «Bitte schehr!» und setzte sich klein, kühn<br />
und kaltblütig auf den vierten freien Stuhl an unserem Tisch. Kaltblütig natürlich nur markiert.<br />
Denn in seinem tapferen kleinen Kellnerherzen flackerte die empörte Flamme der verachteten<br />
gescheuchten missgestalteten Kreatur. Er hatte auch nicht den Mut, meinen Onkel anzusehen.<br />
Er setzte sich nur so klein und sachlich hin und ich glaube, dass höchstens ein Achtel seines<br />
Gesässes den Stuhl berührte. (Wenn er überhaupt mehr als ein Achtel besass – vor lauter<br />
Bescheidenheit.) Er sass, sah vor sich hin auf die kaffeeübertropfte grauweisse Decke, zog seine<br />
dicke Brieftasche hervor und legte sie immerhin einigermassen männlich auf den Tisch. Eine<br />
halbe Sekunde riskierte er einen kurzen Aufblick, ob er wohl zu weit gegangen sei mit dem<br />
Aufbumsen der Tasche, dann, als er sah, dass der Berg, mein Onkel nämlich, in seiner Trägheit<br />
verharrte, öffnete er die Tasche und nahm ein Stück pappartiges zusammengeknifftes Papier<br />
heraus, dessen Falten das typische Gelb eines oftbenutzten Stück Papiers aufwiesen. Er klappte<br />
es wichtig auseinander, verkniff sich jeden Ausdruck von Beleidigtsein oder Rechthaberei und<br />
legte sachlich seinen kurzen abgenutzten Finger auf eine bestimmte Stelle des Stück Papiers.<br />
a) Welche Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl hat die Sprachstörung beim Kellner?<br />
b) Welche Gründe dürfte es geben, dass der Onkel nicht unter denselben Auswirkungen leidet?<br />
c) Was bedeutet der Titel?<br />
d) Welche Parallelen kannst du erkennen, wenn du den Kellner mit Alex vergleichst?<br />
e) Johanna übernimmt Alex’ Sprechen, auch als Ich-Erzählerin. Was geschieht dadurch? Welche<br />
Auswirkungen hat dies?
Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />
2 Johanna erzählt, Alex schweigt<br />
Johanna erzählt. Für wen erzählt sie? Wozu erzählt sie? Was vermag ihr Sprechen? Und was wird über<br />
die Sprache und das Sprechen gesagt? Diskutiere die Fragen anhand folgender Textstellen.<br />
Textauszug 1<br />
So viele Wörter in der Küche auf einmal, die Erika ausschüttete, ein Wortmeer, in dem wir<br />
schwammen, Erika mit dem Schimmerhaar und ich. Ich fragte und sie erzählte. Und wenn ich nichts<br />
fragte, begann sie wieder von vorne. Die Kaffeeflecken auf dem Tischtuch trockneten ein, die Woge<br />
der Wörter schwappte in die beginnende Dämmerung hinein und ich ließ mich mitreißen. Wir sassen,<br />
bis Alex zurückkam […] Irgendetwas hatte er von draussen hereingebracht, eine Novemberkälte, ein<br />
Zögern und Abwarten, das unseren Wörtern ihre Leichtigkeit nahm und ihren Fluss. (S. 52)<br />
Textauszug 2<br />
Und von Tag zu Tag wurde der Friedhof der Wörter größer, die erstickten Silben, die Steißlagen, die<br />
nicht herauswollten, die Totgeburten. Ein riesiger Haufen aus Wortleichen, der sich absetzte in ihm,<br />
der zu modern begann und ihn anfraß von innen, seine Organe, Herz und Lunge, bis es nicht mehr<br />
auszuhalten war. Wenn er doch kotzen könnte, habe ich mir gedacht. (S. 34f.)<br />
Textauszug 3<br />
Ja, hatte Alex gesagt, unser schönes Land. Die Wörter waren über seine Zunge geschlüpft, ein ganzer<br />
Satz, glatt und gleitend, ohne hängen zu bleiben.<br />
Zu Hause saßen wir uns gegenüber und sahen uns an. Ich wartete darauf, dass es weiterging, dass er<br />
mir noch einen Satz schenkte, mir und ihm. Irgendwann wird der Damm brechen, sagte ich mir, sagte<br />
es in mir. […] Ich sehe zu, wie er in sich hineinfällt, in das, was heute gewesen ist, und manchmal geht<br />
sein Blick über den Rand des Buches hinaus, ins Leere. Nur die Finger geben vor, bei den Buchstaben<br />
zu sein, in einer Abhandlung, die ihn packt und festhält. Alex, rufe ich ihn, aber er ist schon zu weit<br />
weg. (S. 36f.)<br />
Textauszug 4<br />
Und dann war dieser Dezembertag. […] Und Alex kam und packte. […] Und als ich neben ihm stand<br />
und seinen Blick suchte, war es wieder da.<br />
Das Atemreissen, Ansetzten, Vornüberkippen. Der Laut, der keine Luft kriegt, keinen Raum, keinen<br />
Klang. Und die Hände, die das gebügelte Hemd zerknüllen und Halt suchen, irgendwo: Muss gehen.<br />
Der Luftstau, der Körper, der sich windet, der die Muskeln spannt, bis die Arme krampfen, und dann<br />
das Drücken aus dem Bauch, dem Zwerchfell, bis endlich die Membran platzt, springt: Muss gehen.<br />
Wohin, schreie ich ihn an, wohin? (S. 55f.)
Sepp Mall: Wundränder/Modul 3<br />
Modul 3 Familienbande<br />
(Lektüre Kapitel 13 bis 24, bis S. 104)<br />
1 Das verstehst du nicht!<br />
Nicht nur Alex schweigt, auch in Pauls Familie wird oft und anhaltend geschwiegen. Wo zum Beispiel?<br />
Finde Textstellen, die das belegen.<br />
2 Rollenbiographien<br />
Wenn man sich in eine Figur hineinversetzen muss, z. B. im Theater oder im Film, entnimmt man einer<br />
literarischen Vorlage oder einem Drehbuch Details wie Denkweisen, Vorlieben, Verhalten, Aussehen,<br />
Sprachgewohnheiten etc. Das nennt man auch Rollenbiographie. Entscheide dich für eine der Figuren<br />
aus Pauls Familie und trage alle Informationen zusammen, die für das Verständnis der Figur wichtig<br />
sind.<br />
3 Lüge und Selbstschutz<br />
Sieht man sich die Geheimnisse und Lügen genauer an, stellt sich die Frage, wer aus welchen Absichten<br />
und Motiven zu Verheimlichung und Lüge greift. Gehe dieser Frage mithilfe der erarbeiteten Rollenbiographien<br />
nach und diskutiere sie.<br />
4 Lügen für Fortgeschrittene<br />
Es soll Leute geben, die von sich sagen, sie würden niemals lügen – eine faustdicke Lüge, wie jeder<br />
weiß. Die Fähigkeit zur Lüge ist ein evolutionärer Vorteil, wie der amerikanische Journalist Jeff Wise<br />
feststellt. Als Beleg führt Wise eine psychologische Studie an, die zeigt, dass die beliebtesten Kinder<br />
zugleich die effizientesten Lügner sind. Der deutsche Philosoph Ludwig Wittgenstein erklärte denn auch<br />
in seinen Philosophischen Untersuchungen: „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie<br />
jedes andre.“ – Studiere die folgenden zehn Grundsätze. In der anschließenden Diskussion in der Klasse<br />
solltest du Stellung beziehen können – für oder gegen diese zehn Gebote!<br />
Zehn Grundsätze<br />
1. Lüge nicht grundlos! Je weniger du lügst, desto kleiner ist die Chance, dass du damit auffliegst<br />
„Gefängnisse sind voll mit schlechten Lügnern“, behauptet der Psychologe Charles Ford, und weiter:<br />
„Lügen sollte man nur dann, wenn es wirklich einen Nutzen hat.“<br />
2. Sei vorbereitet! Überlege dir nach Möglichkeit vorher, was du sagen willst. Improvisation ist beim<br />
Lügen eine gefährliche Tugend. Auch hier hat Wise eine Studie zur Hand, die gezeigt hat, dass jene<br />
Lügner signifikant mehr Erfolg hatten, die sich zuvor eingehend mit den Einzelheiten ihrer Geschichten<br />
befasst hatten.<br />
3. Täusche mit der Wahrheit! Am schwierigsten sind jene Lügen aufzudecken, die eigentlich gar keine<br />
sind. Erzähle also – wenn immer möglich – die Wahrheit, aber in einer Weise, die dein Opfer in die Irre<br />
führt. Das ist technisch gesehen, wie Wise anfügt, lediglich eine Tatsachenverdrehung; also nur eine<br />
halbe Sünde.
Sepp Mall: Wundränder/Modul 3<br />
4. Kenne dein Opfer! Gute Lügner müssen über ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen verfügen.<br />
Damit findest du nicht nur leichter heraus, was dein Opfer hören möchte; es hilft dir auch dabei, jene<br />
Dinge zu vermeiden, die dessen Misstrauen erregen.<br />
5. Erinnere dich an die Fakten! Effizientes Lügen ist harte Arbeit. Gute Lügner wissen, dass sie die<br />
Details ihrer Lügengeschichten genau kennen müssen. Nötigenfalls muss man sich sogar Notizen machen.<br />
Oft fliegen Lügen auf, weil man verschiedenen Leuten verschiedene Versionen der Geschichte<br />
erzählt hat. Wenn die miteinander reden, kommen sie schnell dahinter, dass etwas nicht stimmt.<br />
6. Bleib dabei! Sergeant John Yarbrough, Verhörspezialist der Mordkommission von Los Angeles, erklärt:<br />
„Wenn ich einen Lügner erwischen will, achte ich darauf, wie sehr er hinter dem steht, was er mir<br />
erzählt.“ Wer beispielsweise Zeichen von Erleichterung zeigt, wenn der Verhörende das Thema wechselt,<br />
hat schon verloren. Der Grund für ein solches Verhalten sei die Tatsache, dass die meisten Leute<br />
sich beim Lügen unwohl fühlen und froh sind, wenn sie damit aufhören können. Richtig gute Lügner<br />
hingegen genießen es, jemanden zu täuschen.<br />
7. Achte auf deine Körpersprache! Fast alle Leute haben schon davon gehört, dass unbewusste Körpersignale<br />
den Lügner verraten. Solche Signale sind zum Beispiel nervöses, unruhiges Verhalten oder<br />
Stottern. Verdächtig macht sich auch, wer den Augenkontakt abbricht oder vermeidet und wer sich beim<br />
Sprechen an die Nase fasst. Achte also darauf, deinem Opfer in die Augen zu schauen und nicht zu viel<br />
zu gestikulieren.<br />
8. Erhöhe den Druck! Wenn dein Opfer Verdacht geschöpft hat, solltest du den emotionalen Druck<br />
erhöhen. Sergeant Yarbrough erwähnt als perfektes Beispiel dafür jene Szene aus dem Film Basic Instinct<br />
(1992), in der Sharon Stone den sie verhörenden Polizisten kurz einen Einblick unter ihren Rock<br />
gewährt – und sie so effektvoll ablenkt. „Sie hat sie erregt“, sagt Yarbrough, „und das ist eine Form der<br />
Manipulation – sexuelle oder emotionale Erregung einzusetzen, um den Fragenden abzulenken.“<br />
9. Gehe zum Gegenangriff über! Angriff ist bekanntlich die beste Verteidigung. Die meisten Leute<br />
fühlen sich freilich nicht wohl dabei, wenn sie andere angreifen – ein Umstand, der dem Lügner hilft.<br />
Stan Walters, Autor des Buchs The Truth About Lying, schreibt: „Man sieht oft, wie Politiker aggressiv<br />
auf Vorwürfe reagieren. Damit treiben sie Kritiker von der heiklen Angelegenheit weg und zwingen sie<br />
dazu, ihre Energie in ein nebensächliches Gefecht zu stecken.“<br />
10. Verhandle! Auch wenn das Spiel eigentlich aus ist – Lügner schaffen es oft, den schlimmsten Konsequenzen<br />
zu entkommen, indem sie verhandeln. So gelingt es ihnen, das Gefühl der Verantwortung für<br />
die Lüge zu mildern oder sogar ganz loszuwerden.<br />
Quelle: 20 Minuten, 7. Mai 2010
Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />
Modul 4 Zeitzeichen<br />
(Lektüre bis Schluss)<br />
1 Spurensuche<br />
Wenn du Wundränder liest (und nun gelesen<br />
hast), lassen sich einige Gattungen benennen, aus<br />
denen der Roman Züge trägt, so etwa: Jugendroman,<br />
Familienroman, Coming-of-Age-Roman<br />
etc. Man kann aber auch anderen Spuren folgen,<br />
die Mall ausgelegt hat. Z. B. politischen, oder<br />
fußballerischen: Was weißt du über das zitierte<br />
Weltmeisterschafts-Endspiel und das berüchtigte<br />
Tor? Recherchiere im Internet.<br />
2 Südtirol zwischen zwei Fronten<br />
Mit der zeitlichen Situierung können wir auch die Spuren lesen, die v. a. Pauls Vater und Alex eingeschrieben<br />
sind. Und auch das in Johannas’ Aussage Angesprochene wird greifbarer:<br />
„Als ich das erste Mal von den Anschlägen hörte, war es, als ob es mich nichts anginge, warum<br />
auch. Schon wieder ein Denkmal in die Luft geflogen, sagte die blonde Verkäuferin in der Bäckerei<br />
und legte mein Brot auf die Theke. Sie sagte es so beiläufig, wie man zwischen einem Kunden und<br />
dem nächsten miteinander spricht, und ich hörte kaum hin.“ (S. 53)<br />
a) Was besagen diese Sätze? Weshalb die Beiläufigkeit? Warum bloß „als ob es mich nichts anginge“?<br />
Diskutiere.<br />
Im untenstehenden Artikel kannst du dich über die Geschichte Südtirols orientieren. Lies den Artikel<br />
und markiere wichtige Ereignisse und Zahlen. Bearbeite im Anschluss die Fragen.<br />
b) Stelle chronologisch die wichtigen Jahreszahlen mit den dazugehörigen Ereignissen in der Geschichte<br />
Südtirols dar.<br />
c) Wofür kämpft das deutschsprachige Volk im Südtirol? Was will es erreichen?<br />
d) Welche Differenzen zwischen dem italienischen Vaterland und der deutschsprachigen Bevölkerung<br />
haben zur angespannten Lage wesentlich beigetragen? Welche Ursachen für die gegenseitige<br />
Ablehnung werden genannt?<br />
e) Mit welchen Mitteln versucht es diese Zukunft wirklich zu machen?<br />
f) Warum gestaltet sich eine politische Lösung so schwierig? Wer hat – gemäß Artikel – welchen<br />
Anteil daran, dass keine Einigung erreicht werden kann?
Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />
3 Männer lieben das Volk, und Frauen?<br />
g) Warum ist Alex zum Attentäter und Terroristen geworden? Lies die Textstelle auf Seite 152, als<br />
Erika und Johanna Erikas Vater zur Rede stellen. Gibt sie Auskunft?<br />
h) „Mein liebes Fräulein, sagt Kammerer, er legt mir die Hand auf den Arm, beschwichtigend, wie<br />
um mich zum Schweigen zu bringen. Davon versteht ihr nichts. Von der Liebe zum Volk, vom<br />
Opfergang, und schon gar nichts davon, wie einer zum Mann wird, ein armer Teufel, ein Stotterer<br />
wie Alex.“ (S. 153)<br />
Wer ist „ihr“? Was bedeutet diese Aussage?<br />
i) Was bedeutet Erikas Erwiderung: „Du brauchst uns nichts vorzumachen, schreit sie ihren Vater<br />
an, hör auf mit deinen Phrasen. Du warst es doch, der Alex’ Naivität ausgenutzt hat. Du hast<br />
dich seiner angenommen, ihn bearbeitet, ihm zugesetzt. Ich hör dich doch, wie du ihm vorgesagt<br />
hast, was er nachplappern sollte, deine Kriegsparolen, deine Kampfsprüche. Unser schönes,<br />
geknechtetes Land, höhnt Erika mit Vaters Stimme. Und ich habe geglaubt, es sei aus reiner<br />
Freundlichkeit.“<br />
j) Welche Seite nimmt Mall durch seine Darstellung in Wundränder ein?
Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />
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40<br />
45<br />
50<br />
55<br />
SPIEGEL 46/1966<br />
SÜDTIROL / VOLKSTUM<br />
Deutsch san mir<br />
Ein italienischer Polizist – blaue Uniform,<br />
Schnauzbart – winkte den weißen Porsche an den<br />
Straßenrand. „La patente, prego“, bat er den Fahrer,<br />
Rechtsanwalt Dr. Hugo Gamper, 33, aus Bozen.<br />
Gamper, der in der Innenstadt von Bozen mit<br />
Abblendlicht statt mit Standlicht gefahren war, zum<br />
SPIEGEL: „Jetzt will ich Ihnen einmal zeigen, was<br />
Südtirolern passiert, wenn sie in Südtirol Deutsch<br />
sprechen.“<br />
Und zum Polizisten: „Wie bitte? Würden Sie es bitte<br />
auf Deutsch sagen?“<br />
Das Gesicht über dem Schnauzbart verfärbte sich.<br />
„La patente! Die Fahrkarte!“ Das war ein Befehl.<br />
„Ich fahre Auto, ich habe keine Fahrkarte.<br />
Meinen Sie vielleicht den Führerschein?“ – „Ja,<br />
Führerschein!“<br />
„Strafe!“, stelzte betont langsam um den weißen<br />
Wagen, zog umständlich Block und Kugelschreiber<br />
aus der Tasche, notierte Namen und Kennzeichen.<br />
Dann, nach beinahe zehn Minuten, reichte er einen<br />
vorgedruckten grünen Zettel mit italienischem Text<br />
durchs Fenster – das Protokoll für „Drhugo“ (statt<br />
Dr. Hugo) Gamper. Strafe: 3000 Lire, etwa 20 Mark.<br />
Gamper („Bei denen heiße ich grundsätzlich<br />
‚Drhugo‘“) bat um eine Erklärung für die<br />
ungewöhnlich harte Bestrafung („normal sind 1000<br />
Lire“) und um ein deutschsprachiges Protokoll.<br />
Hochrot vor Wut fauchte der Italiener ihn an:<br />
„Kommissariat.“<br />
„Drhugo“ resignierte, ging nicht mit aufs<br />
Kommissariat: „Hätte ich ihn gleich auf Italienisch<br />
angesprochen und mich fürs Abblendlicht<br />
entschuldigt, er hätte an seine Mütze getippt und uns<br />
weiterfahren lassen. Aber, bittschön, auf Italienisch!<br />
Man begreift, warum unsere Bauern oben im<br />
Pustertal, im Passeiertal oder im Vinschgau, die kein<br />
Wort Italienisch können, die Italiener so gern haben.“<br />
Gampers provoziertes Sprach-Malheur ist nur ein<br />
Symptom für den Abgrund an Mißtrauen, der sich<br />
zwischen den 232‘000 deutschsprachigen Südtirolern<br />
und den 130‘000 Romanen in der nördlichsten<br />
Provinz Italiens auftut.<br />
Ungefähr zur gleichen Zeit schossen Alpini-Soldaten<br />
fern jeder vor Südtiroler Terroristen zu schützenden<br />
Anlage den 18-jährigen Peter Wieland aus Olang<br />
nieder, der den Weg von einer Musikprobe ins<br />
Wirtshaus nicht auf der Straße zurückgelegt,<br />
sondern über eine Wiese abgekürzt hatte. Aus Angst,<br />
die dunkle Wiese zu betreten, stoppten sie – die<br />
rauchenden Waffen im Anschlag – einen Autofahrer<br />
und zwangen ihn, den Wiesengrund mit seinen<br />
Scheinwerfern zu beleuchten. Zwei Stunden dauerte<br />
es, bis die Uniformierten den tödlich Verwundeten<br />
durchsucht hatten, zwei Stunden und 50 Minuten, bis<br />
Peter Wieland tot war. Dem Toten, so erzählen sich<br />
die Südtiroler, fehlte die Brieftasche.<br />
In Bozen ließen sich Karabinieri von einem<br />
geheimnisvollen Anrufer mitteilen, daß im Hotel<br />
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„Weißes Kreuz“ am Kornplatz Sprengstoff<br />
lagere – unter dem Wandschrank im Zimmer 4.<br />
Der Sprengstoff war vorhanden, das Zimmer<br />
– comme il faut – von einem Österreicher<br />
gemietet, das Auftauchen der Italiener so plötzlich<br />
und termingerecht, daß Dr. Friedl Volgger,<br />
stellvertretender Parteiobmann der Südtiroler<br />
Volkspartei (SVP), dem zuständigen italienischen<br />
Sicherheitsoffizier, sobald er ihm begegnet, sagen<br />
will: „Sie haben hervorragen de Arbeit geleistet und<br />
alles gefunden, was Sie versteckt haben.“<br />
In Rom trommelte die „Neofaschistische<br />
Sozialbewegung“ mehr als 6000 Menschen zu einer<br />
Kundgebung für die „Italianität“ Südtirols auf die<br />
Straße. Geschmückt mit Fahnen und Ehrenzeichen<br />
aus ihrer faschistischen Vergan genheit, hoben sie<br />
die Hände zum faschisti schen Gruß und gelobten<br />
die Verteidigung der „heiligen“ Brennergrenze.<br />
Fürst Valerio Borghese, einst Kommandeur einer bis<br />
zuletzt Mussolini-treuen Marine-Einheit, forderte<br />
44 Jahre nach des Duces „Marsch auf Rom“ einen<br />
„Marsch auf Bozen“.<br />
Ebenfalls in Rom ging ein österreichischer<br />
Touristenbus, von rechter Hand entzündet,<br />
in Flammen auf. Deutschland und Österreich<br />
wurden der rechtsradikalen und revanchis tischen<br />
Verschwörung gegen Italien bezichtigt. Die Fiat-<br />
Zeitung „Stampa“ schrieb: „Die (deutschen)<br />
Pangerma nis ten und Neonazis ten [...] haben sich mit<br />
dem Südtiroler Terrorismus das große Manöverfeld<br />
ausgewählt.“ Die italienische Regierung ersuchte<br />
Bonn und Wien, dem Terrorismus auf Südtiroler<br />
Boden Einhalt zu gebieten.<br />
Nördlich des Brenner aber mahnen seit langem große<br />
Plakate – ähnlich denen des Kuratoriums Unteilbares<br />
Deutschland – dreisprachig: „Niemals vergessen –<br />
ein Tirol“.<br />
Und in Innsbruck nahmen die Abgeordneten des<br />
Tiroler Landtags – 46 Jahre nach dem Verlust<br />
Südtirols – stehend eine Erklärung ihres Präsidenten<br />
Dr. Lugger entgegen: „Der 10. Oktober läßt in<br />
besonderem Maße unsere Gedanken nach dem<br />
verlorenen Landesteil im Süden hinlenken... Am<br />
heutigen Tage geben wir in feierlicher Weise der<br />
Hoffnung Ausdruck, daß die im Gang befindlichen<br />
Verhandlungen mit Italien dazu beitragen mögen,<br />
daß [...] das Tiroler Volkstum erhalten bleibe und für<br />
die Zukunft die Selbstverwaltung Südtirols gesichert<br />
werde.“<br />
Der Kampf des „verlorenen Landesteiles im<br />
Süden“ um Selbstverwaltung, Erhaltung des<br />
„Tiroler Volkstums“ und Gleichberechtigung mit<br />
dem italienischen Staatsvolk hat die Formen eines<br />
Freistil-Ringkampfes angenommen, eines Catchas-catch-can<br />
zwischen den Nato-Partnern Italien<br />
und Deutschland, zwischen den Nachbarn Italien<br />
und Österreich, zwischen 52 Millionen stolzen, von<br />
nationalem Sendungsbewußtsein erfüllten Italienern<br />
und fast einer Viertelmillion knorrigen, halsstarrigen<br />
und deutsch sprachi gen Südtirolern – und zwischen<br />
den Südtirolern selbst.<br />
Seit zehn Jahren wird in Südtirol geschossen,<br />
gesprengt, gefoltert; seit fünf Jahren wird über<br />
Südtirol verhandelt. Aber eine endgültige,<br />
gerechte und dauerhafte Lösung des alpinen<br />
Minderheitenproblems, ein innenpolitischer Frieden
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für „dieses wundervolle Bergland“ (Winston<br />
Churchill) ist noch immer nicht in Sicht.<br />
Zwischen Brenner und Salurn, wo ängstliche<br />
italienische Ordnungshüter, Carabinieri und Alpini,<br />
Finanzieri und Questurini, auch tagsüber nur in<br />
Gruppen auftreten, wo eine deutschsprachige<br />
Frau im Restaurant „Stroblhof“ bei Eppan beim<br />
Erscheinen von acht italienischen Gästen verängstigt<br />
flüstert: „Oje, jetzt kommen die Italiener“, dort, im<br />
Ferienparadies ältlicher deutscher Touristin nen, ist<br />
Angst und Mißtrauen zur beherrschenden Charaktereigenschaft<br />
geworden.<br />
Dort fühlen sich die Südtiroler seit nunmehr 46<br />
Jahren „verkauft“ (so der Londoner „Observer“)<br />
– verkauft von den Siegern des Ersten Weltkriegs,<br />
verkauft von Hitler, verkauft von den Siegern des<br />
Zweiten Weltkriegs.<br />
Dort fühlen sich die Italiener seit nunmehr 46 Jahren<br />
unverstanden weil sie selbst nicht verstehen, daß in<br />
ihrem Staat eine teutonische Volksgruppe besteht,<br />
schwerblütig und in zurückgebliebenen Älpler-<br />
Traditionen verhaftet, die eine andere Sprache<br />
spricht und keine Spaghetti mag.<br />
Dort müssen sie mit anschauen, wie die<br />
deutschsprachigen Südtiroler während der<br />
Fußballweltmeisterschaft die Niederlage Ita liens<br />
gegen Nordkorea bejubeln, wie sie die asiatischen<br />
Fußballzwerge bis drei Uhr in der Frühe hochleben<br />
lassen und erwägen, ihnen ein Wein-Präsent zu<br />
übersenden.<br />
„Italien“, so konstatierte der gescheite römische<br />
Journalist Indro Montanelli unter dem Wutgeheul<br />
seiner Landsleute, „hat in Südtirol zwei Fehler<br />
gemacht: den ersten, als es hingegangen, den<br />
zweiten, als es geblieben ist.“<br />
Hingegangen sind die Italiener anno 1920. Die<br />
Südtiroler mußten den Tribut dafür zahlen, daß<br />
Österreich einen Weltkrieg auf der falschen Seite<br />
mitentfacht hatte: Das Land an Eisack und Etsch (die<br />
seitdem Isarco und Adige heißen) fiel an Italien –<br />
wenn auch erst nach einem Advokatentrick.<br />
Vittorio Emmanuele Orlando, der Chef der<br />
italienischen Delegation auf der Friedenskonferenz<br />
von St. Germain, hatte den genialen Einfall. Mit<br />
Hilfe manipulierter Landkarten, auf denen alle<br />
Ortsnamen der Provinz Bozen nur in Italienisch<br />
verzeichnet waren, verhinderte er eine gründliche<br />
Beratung, überzeugte die Siegermächte von der<br />
„Italianità“ Südtirols und luchste ihnen das Land<br />
südlich des Brenner ab. […]<br />
Mussolinis Faschisten marschierten nicht nur auf<br />
Rom, sondern auch zum Brenner. Am 12. Juli<br />
1928 weihten sie in Bozen ihr Siegesdenkmal ein<br />
– ausgerechnet an jenem Platz, den die Tiroler für<br />
die Ehrung ihrer im Kampf gegen Italien gefallenen<br />
Kaiserjäger vorgesehen hatten. „Eine größere<br />
Demütigung“, so klagten jetzt die „Südtiroler<br />
Nachrichten“ des Südtiroler Parlamentsabgeordneten<br />
Hans Dietl, „konnte den Südtirolern kaum angetan<br />
werden.“<br />
1910 lebten nur 7000 Italiener in Südtirol,<br />
1939 waren es bereits 81 000. Und ihr Anteil<br />
an der Bevölkerung wuchs weiter. Denn mit<br />
Adolf Hitler vereinbarte Mussolini 1939<br />
ein „Umsiedlungsabkommen“, das den<br />
deutschsprachigen Südtirolern die Wahl zwischen<br />
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„Heimkehr ins Reich“ und Verlust ihres Volkstums<br />
freistellte. 213 000 Südtiroler (86 Prozent) stimmten<br />
für die Auswanderung; bis 1943 hatten rund 70 000<br />
ihre Heimat verlassen.<br />
Im Zweiten Weltkrieg standen die Österreicher<br />
zum zweitenmal auf der falschen Seite, und die<br />
Südtiroler zahlten 1946 zum zweitenmal Tribut: Ihr<br />
Land blieb bei Italien. Vergebens unterschrieben<br />
158‘628 Südtiroler eine Denkschrift, die am 22.<br />
April 1946 dem Wiener Kanzler Figl verriet: „Es<br />
ist unser unerschütterlicher Wunsch und Wille, daß<br />
unser Heimatland Südtirol [...] mit Nordtirol und<br />
Österreich wiedervereinigt werde.“<br />
Immerhin schlossen Wiens Außenminister Gruber<br />
und Roms Premier de Gasperi auf britisches<br />
Betreiben am 5. September 1946 in Paris ein<br />
50-Zeilen-Abkommen: Die ausgewanderten<br />
Südtiroler durften zurückkehren, und den<br />
deutschsprachigen Einwohnern wurde „volle<br />
Gleichberech tigung mit den italienischsprachigen<br />
Einwohnern im Rahmen besonderer Maßnahmen<br />
zum Schutze des Volks charakters und der<br />
kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des<br />
deutschsprachigen Bevölkerungsteiles“ zugesichert.<br />
Des demokratischen Italiens erste „besondere<br />
Maßnahme zum Schutze des Volkscharakters“ war<br />
kaum geeignet, angeborenes Mißtrauen abzubauen:<br />
1948 vereinigte Rom die Provinzen Bozen und<br />
Trient, 232 000 Südtiroler werden heute in der neuen<br />
Region „Trentino/ Alto Adige“ von mehr als einer<br />
halben Million Italiener in allen entscheiden den<br />
Fragen majorisiert.<br />
Der Pariser Vertrag verspricht die „Gleichstellung<br />
der deutschen und italienischen Sprache in den<br />
öffentlichen Ämtern und amtlichen Urkunden“. Aber<br />
Italienisch ist die Amtssprache. […]<br />
In den Abschlußklassen der Gymnasien, Lyzeen<br />
und höheren Lehranstalten sitzen doppelt so viele<br />
italienische wie Südtiroler Kinder, obwohl die<br />
italienische Jugend nur halb so stark ist wie die<br />
deutschsprachige. Vielleicht ist sie begabter – aber<br />
im ganzen Eisacktal gibt es für den Südtiroler<br />
Nachwuchs keine einzige höhere Lehranstalt, für die<br />
italienischen Kinder hinge gen wurde in Sterzing ein<br />
Gymnasium gebaut – mit zwei Klassen zu je fünf<br />
Eleven.<br />
Industriebetriebe dürfen in bestimmten<br />
Größenordnungen nur mit Zustimmung der<br />
italienischen Regierung errichtet werden – und so<br />
fehlen den Südtirolern mittlere Industrie betriebe.<br />
Die Italiener dagegen errichteten unrentable<br />
Zweigniederlassungen, wie das Lancia-Werk in<br />
Bozen, weil sie auf diese Art italienische Arbeiter<br />
ins Land bringen und so ihren Bevölkerungsanteil in<br />
Bozen auf 80 Prozent steigern konnten. […]<br />
Die Südtiroler haben sich gegen solche Behandlung<br />
gewehrt. Anfangs mit lautstarken Versammlungen<br />
[...].<br />
Dann schließlich mit Dynamit und Pistolen.<br />
Gottesfürchtig und rauflustig, wie ihre Vorfahren<br />
unter Führung des legendären Gastwirts Andreas<br />
Hofer gegen Napoleon und die Bayern fochten,<br />
sprengten die „Bumser“ innerhalb von vier<br />
Jahren 103 Hochpannungsmasten, verübten 38<br />
Bombenanschläge auf italienische Industrieanlagen.<br />
Wohnhäuser und Denkmäler, so auch auf den
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Aluminium-Duce, ein Reiterstandbild Mussolinis in<br />
Waidbruck, und 13 Feuerüberfälle auf Carabinieri<br />
und Finanzieri. Auch ihr Held fiel: Das Andreas-<br />
Hofer-Denkmal auf dem Berg Isel bei Innsbruck<br />
wurde gesprengt – wie sie behaupten, von Italienern.<br />
Denn die sahen in jedem Protest, in jeder Explosion<br />
einen Beweis dafür, daß es den Südtirolern gar nicht<br />
um die Autonomie gehe, sondern um die Loslösung<br />
von Italien.<br />
Die Südtiroler, so schien es ihnen, wollten<br />
immer noch „Heim ins Reich“. Und wenn ein<br />
deutschsprachiger Mittel schullehrer abends in<br />
einem Restaurant der Bozener Altstadt deutsche<br />
Journalisten beim Arm packt und sich ereifert:<br />
„Deutsch san mir, deutsch, deutsch! Das müssen<br />
Sie schreiben!“, dann werden Schlagworte wie<br />
Pangermanismus, Neonazismus, Großdeutsches<br />
Reich oder Alpenfreistaat beinahe verständlich. Dr.<br />
Egmont Jenny freilich, Chef der oppositionellen<br />
„Sozialen Fortschritts partei“, erregt sich: „Wenn<br />
man an der Drususbrücke die faschistischen<br />
Adler und Hoheitszeichen sieht oder hinter der<br />
Talferbrücke: das Siegesdenkmal aus 20 Meter<br />
hohen Liktorenbündeln, wenn man dem Faschismus<br />
hier selbst Tag für Tag begegnet, dann kommen uns,<br />
ehrlich gesagt, Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser<br />
Vorwürfe, dann wirken sie lächerlich.“<br />
Die Italiener haben zurückgeschossen. Denn für sie<br />
ist die Provinz Bozen nicht nur wegen der strategisch<br />
unübertrefflichen Brennergrenze so wichtig. Für<br />
sie ist Südtirol auch ein wirtschaftlicher Faktor,<br />
mit dem sich gut rechnen läßt. Ganze 0,5 Prozent<br />
des italienischen Weines bauen die Südtiroler an,<br />
ihr Anteil am italienischen Weinexport aber liegt<br />
bei 24 Prozent. Millionen fließen jährlich aus<br />
dem Südtiroler Fremdenverkehr in die römische<br />
Staatsschatulle, und vor allem: Aus den Bergwässern<br />
Südtirols kommen zwölf Prozent der gesamten<br />
italienischen Energie.<br />
Zwei italienische Divisionen zogen zum Kampf<br />
gegen die „Bumser“ nach Norden, verbarrikadierten<br />
sich mit Sand säcken und Stacheldraht, lauerten mit<br />
entsicherten Gewehren auf verdächtige Bewegungen<br />
und Laute, schossen auf Tiere, Schatten und eigene<br />
Kameraden. […]<br />
Sie verhaften, wo immer sich ein Verdächtiger regt.<br />
Der junge Konrad Auer zum Beispiel, 19 Jahre alt;<br />
vom Unterkehrerhof in Kehren bei Pfalzen, war im<br />
August zum Wildern ausgezogen, wie es alle tun, die<br />
da oben im Pustertal wohnen […].<br />
Konrad wurde mit seiner Wilderer-Büchse erwischt,<br />
und bei der Haussuchung entdeckten die Carabinieri<br />
drei weitere Büchsen unter dem Fußboden:<br />
Jagdgewehre. Sie wurden konfisziert – und<br />
mitgenommen wurde auch Konrads Bruder Paul, 23.<br />
Drei Tage blieb Paul im Gefängnis von Bruneck,<br />
hörte aus dem Nachbarraum die Schreie seines<br />
jüngeren Bruders. Die Carabinieri suchten ihn<br />
einzuschüchtern – „Das passiert schon mal, daß<br />
plötzlich im Vernehmungsraum ein Wasserrohr<br />
platzt“ –, er versprach schließlich, auszupacken und<br />
ihnen ein geheimes Waffenlager zu zeigen.<br />
Zu Fuß, an einen Carabiniere gefesselt, ging’s hinauf<br />
in die Berge. Vor einem Felsspalt blieb Paul Auer<br />
stehen. „Dort drüben ist es, aber zusammengebunden<br />
können wir da kaum ’rüberspringen. Ihr müßt’s mich<br />
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schon losbinden.“ Die Carabinieri banden ihn los<br />
und zogen ihm zur Sicher heit auch die Schuhe aus,<br />
um eine Flucht zu verhindern. Paul sprang – und<br />
meldete sich drei Tage später bei der Polizei im<br />
österreichischen Lienz. Barfuß hatte er sich nachts<br />
40 Kilometer weit durch die Berge gequält. […]<br />
Lehnten Verdächtige ein Geständnis ab, so<br />
wurden sie häufig nach mittelalterlicher Manier<br />
gefoltert – mit der berüchtigten Cassetta. Der<br />
Häftling wird mit zurückgeboge nem Kopf auf ein<br />
Holzgerüst gebunden. Über sein Gesicht stülpen<br />
die Folterknechte eine Gasmaske, durch deren<br />
Mundstück sie Salzwasser rinnen lassen, bis der Leib<br />
des Häftlings zu einem Ballon angeschwollen ist.<br />
Dann quet schen sie den Bauch zusammen, bis das<br />
Wasser wieder he rauskommt, und fangen von vorn<br />
an. Die Glut ihrer Ziga retten drücken sie am nackten<br />
Körper des Häftlings aus.<br />
Zehn italienische Polizisten wurden 1963 wegen<br />
solcher Foltermethoden angeklagt. Acht sprach ein<br />
Mailänder Gericht frei, die beiden anderen fielen<br />
unter eine inzwi schen erlassene Amnestie.<br />
Südtiroler kamen nicht so glimpflich davon. In<br />
zwei Mailänder Terroristen-Prozessen, 1963/64 und<br />
1966, wurden 148 Personen angeklagt – und rund 50<br />
erhielten vier bis 30 Jahre Gefängnis.<br />
Doch die meisten Angeklagten waren flüchtig. Nur<br />
verstohlen wagen sie sich heute bei Nacht in ihre<br />
Heimat, wo jeder Carabiniere ihren Steckbrief kennt.<br />
Die ursprüngliche „Bumser“-Organisation BAS ist<br />
zersprengt, heute sprengen, morden und schießen<br />
fanatische Einzelgänger, die jede Annäherung<br />
zwischen Südtirolern und Italienern verhindern<br />
wollen, verwirrte Jugendliche, von rechtsradikalen<br />
Ideen infiziert, die ihnen nicht nur aus Deutschlands<br />
NPD oder Österreichs FPÖ, sondern auch von<br />
Italiens Neofaschisten zufließen.<br />
Wie „Schmeißfliegen auf einer eitrigen Wunde“<br />
(so Dr. Jenny zum SPIEGEL) tummeln sie sich in<br />
Südtirol, um eine eigene Ideenwelt durchzusetzen,<br />
die mit den Interessen Südtirols nichts mehr gemein<br />
hat. Südtirol, so scheint es, ist zum Schuttabladeplatz<br />
für Ideologien geworden, die anderswo nicht mehr<br />
gedeihen.<br />
„Die Bimserei“, so versichert aber Rechtsanwalt<br />
Dr. Gartner, Parteiausschußmitglied der SVP, der in<br />
Mailand die „Bumser“ vor Gericht verteidigte, „hat<br />
das Südtirol-Problem immerhin vor die Uno und uns<br />
dahin gebracht, wo wir heute stehen.“<br />
Sie stehen heute da, wo sie vor zwanzig Jahren<br />
auch standen, angewiesen auf den guten Willen der<br />
Italiener, die jede Konzession nicht als Pflicht aus<br />
dem Pariser Abkommen von 1946 ansehen, sondern<br />
als freiwilliges innerstaatliches Geschenk.<br />
Sie stehen da als Nachbarn und Schutzbefohlene<br />
Österreichs, dessen nur noch schwarze Regierung<br />
„müde geworden ist“ (so der Südtiroler Assessor für<br />
Landwirt schaft, Dr. Peter Brugger) und das Südtirol-<br />
Problem ohne Rücksicht auf Verluste möglichst<br />
schnell aus der Welt schaffen möchte.<br />
Sie stehen da als ethnische, aber schon lange nicht<br />
mehr als politische Einheit.<br />
Denn zusammen mit den Österreichern sind auch<br />
ihre Führer müde geworden. Fünf Jahre lang haben<br />
sie jede Vereinbarung zwischen Österreich und<br />
Italien abgelehnt, immer war es ihnen – so das
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Südtiroler Motto – „zu wenig, zu spät“.<br />
Nun aber, nach Geheimverhandlungen zwischen den<br />
Außenministern Toncic, Sorinj und Fanfani, wollen<br />
die Italiener 115 Zugeständnisse machen – und die<br />
Südtiroler sollen so viel Entgegenkommen damit<br />
bezahlen, daß sie freiwillig auf eine internationale<br />
Verankerung des „Pakets“ verzichten. SVP-Chef<br />
Dr. Silvius Magnago glaubt, dies sei Italiens letztes<br />
Angebot. Deshalb machte er das Paket zu seinem<br />
Paket, reiste nach Rom, um noch 14 Punkte zu<br />
„klären“, über ihre Ausdehnung zu feilschen, und<br />
drohte gegenüber Freunden sogar mit seinem<br />
Rücktritt, wenn die Südtiroler wieder ablehnten.<br />
Landeshauptmann Magnago, der im Zweiten<br />
Weltkrieg als Gebirgsjägerleutnant der Deutschen<br />
Wehrmacht ein Bein verlor und den sie heute hinter<br />
der Hand den „Reserve herrgott für Südtirol“ nennen,<br />
beschwört seine Landsleute, ihm zu folgen.<br />
Der Pfarrer beschwört sie sonntags von der Kanzel,<br />
das Paket anzunehmen, denn von Magnago weiß er<br />
sich gut behandelt: Der Regionalhaushalt vergibt in<br />
Artikel 27 elf Millionen Lire für „Instandsetzung,<br />
Ausrüstung und Einrichtung von Bibliotheken,<br />
Ausstellungssälen, Museen und anderer Räume, die<br />
für kulturelle Tätigkeit bestimmt sind“. 5,4 Millionen<br />
Lire, 15 von 28 Positionen verzeich nen kirchliche<br />
Organisationen als Empfänger. Und auch der Bischof<br />
Gargitter in Brixen beschwört seine Landsleute, das<br />
Paket anzunehmen.<br />
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Doch die Tiroler sind ein „herzhaftes Volk“, sie<br />
wollen sich nicht wieder wie schon mehrfach seit<br />
46 Jahren mit Versprechungen abspeisen lassen, die<br />
Italien nach eigenem Ermessen auslegen kann. Sie<br />
verlangen eine Garantie, daß Rom diese Versprechen<br />
einhält – und sie verlangen, daß ihre politischen<br />
Führer diese juristische Garantie durchsetzen. […]<br />
Die Südtiroler nehmen ihre Gegensätze aber auch so<br />
persönlich, daß sie drohen, sich nicht mehr um das<br />
traditionelle Edelweiß zu scharen, sondern die SVP zu<br />
sprengen, wenn der Dr. Magnago jetzt ein Abkommen<br />
durchpeitschen will, das ihnen nur Versprechungen<br />
bietet, aber keine Garantien.
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Herausgeber.<br />
Beide unterrichten seit Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau.