01.11.2013 Aufrufe

Download Handreichung (Markus Bundi/Lara ... - Haymon Verlag

Download Handreichung (Markus Bundi/Lara ... - Haymon Verlag

Download Handreichung (Markus Bundi/Lara ... - Haymon Verlag

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Sepp Mall<br />

Wundränder<br />

Roman<br />

________________________________________<br />

Wichtige Themen<br />

• Sprechen und Sprache<br />

• Generationenkonflikt<br />

• Freiheitskampf Südtirol<br />

• Das Schweigen der Männer<br />

Eignung<br />

• Die Geschichte nimmt den Südtiroler<br />

Freiheitskampf als Kulisse, um das<br />

befremdliche Zusammenleben in<br />

zwei Familien zu thematisieren, die<br />

Beklemmung, den Aufbruch der<br />

Jugend, das Erwachen der Liebe<br />

und Fußball als Leidenschaft. Die<br />

Lektüre setzt eine Lust voraus, den<br />

vielen Verweisen und Bezugnahmen<br />

zu folgen, die Spuren zu lesen und<br />

auf verschiedenen Fährten den<br />

ProtagonistInnen folgen zu wollen.<br />

Alter: ca. 15 Jahre.<br />

Module<br />

• Wundränder – die Erzählanlage<br />

• Sprechen – Stottern – Schweigen<br />

• Familienbande<br />

• Zeitzeichen<br />

Zum Buch<br />

Der Roman Wundränder zeigt vor dem Hintergrund<br />

der Südtiroler Freiheitskämpfe die beklemmende<br />

Wirklichkeit zweier Familien, die z. T. nicht erst<br />

durch die „Bumser“-Ereignisse ihr gemütliches<br />

familiäres Geplauder eingebüßt haben. Ein Vater<br />

verschwindet von einem Tag auf den andern, ein<br />

Bruder zieht aus und kommt nicht mehr lebendig<br />

zurück. Die Zurückbleibenden (und Erzählenden)<br />

stückeln erzählend den Sinn zusammen und tasten die<br />

Wundränder ab.<br />

Zum Autor<br />

Sepp Mall ist 1955 in Graun/<br />

Südtirol geboren, er lebt und<br />

arbeitet in Meran. Seit 1971<br />

schreibt er Lyrik, Prosa und Hörspiele. 1990 erhielt<br />

er den Preis für Lyrik der Stadt Innsbruck, 1996 den<br />

Lyrikpreis Merans.<br />

Zuletzt erschien von ihm bei <strong>Haymon</strong> der Roman<br />

Berliner Zimmer (2012).<br />

Foto: Claudia Pircher<br />

HAYMONtb 75<br />

ISBN 978-3-85218-875-1


Sepp Mall: Wundränder/Modul 1<br />

Modul 1 Wundränder – die Erzählanlage<br />

(Lektüre Kapitel 1 bis 4, bis S. 21)<br />

1 Spielerischer Einstieg<br />

Der Titel des Romans von Sepp Mall stammt aus der Medizin: Wundrand ist der Rand einer Wunde und<br />

markiert den Übergang zum unverletzten Gewebe.<br />

a) Beschreibe das Foto, den Gesichtsausdruck des Jungen.<br />

b) Welche Aussage(n) wird/werden mit der Verknüpfung von Titel und Foto gemacht?<br />

c) Welche Erwartungen lässt das Bild auf der Umschlagseite bei dir aufkommen? Begründe.<br />

2 Die Erzähler und die zwei Handlungsstränge<br />

Die Figur Paul<br />

d) „Sein Vater habe sich in Luft aufgelöst, sagte der Junge, von einem Tag auf den anderen.“<br />

(S. 5)<br />

So lautet der erste Satz des Romans. Er gibt uns Rätsel auf. Zum Beispiel dasjenige der Erzählstimme.<br />

Was lässt sich über die Erzählstimme, Erzählperspektive sagen?<br />

e) „Sie hätten an diesem Tag gegen den FC Merania spielen sollen.“ (S. 8) Einstieg ins zweite<br />

Kapitel. Was hat es mit diesem „hätten“ auf sich? Wer sagt das? Welche Funktion erfüllt es?<br />

Was bedeutet es, dass im Indikativ weitergefahren wird?<br />

f) Fasse in drei bis vier Sätzen die bisherige Geschichte Pauls zusammen.<br />

Die Figur Johanna<br />

g) Ein „Ich“ tritt auf. Wer ist dieses „Ich“? Welche Geschichte erfahren wir aus den Kapiteln drei<br />

und vier? Fasse in drei bis vier Sätzen zusammen.<br />

h) „Vielleicht hätten wir gleich wieder wegziehen sollen, dann wäre alles nicht passiert.“ (S. 15)<br />

Unterscheidet sich dieses „hätte“ und „wäre“ vom Konjunktiv aus Frage 2? Inwiefern?<br />

i) In den ersten vier Kapiteln werden Spuren gelegt und Spannung wird aufgebaut. Lassen sich<br />

Verknüpfungen denken zwischen dem Paul-Erzählstrang und dem Johanna-Erzählstrang? Welche?<br />

Begründe.


Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />

Modul 2 Sprechen – Stottern – Schweigen<br />

(Lektüre Kapitel 5 bis 12, bis S. 56)<br />

1 Schischyphusch<br />

Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus Wolfgang Borcherts<br />

Text Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels. Zwei<br />

Männer leiden an einer Sprachstörung. Zwei Männer, die<br />

unterschiedlicher kaum sein könnten. Lies den Text und beantworte<br />

die untenstehenden Fragen.<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

Mein Onkel hatte, wie ich schon sagte, einen<br />

Zungenfehler. Nicht bedeutend, aber immerhin<br />

deutlich genug. Er konnte kein s sprechen. Auch kein<br />

z oder tz. Er brachte das einfach nicht fertig. Immer<br />

wenn in einem Wort so ein harter s-Laut auftauchte,<br />

dann machte er ein weiches feuchtwässeriges sch<br />

daraus. Und dabei schob er die Lippen weit vor,<br />

dass sein Mund entfernte Ähnlichkeit mit einem<br />

Hühnerpopo bekam. Der Kellner stand also an unserem Tisch und wedelte mit seinem<br />

Taschentuch die Kuchenkrümel unserer Vorgänger von der Decke. (Erst viele Jahre später erfuhr<br />

ich, dass es nicht sein Taschentuch, sondern eine Art Serviette gewesen sein muss.) Er wedelte<br />

also damit und fragte kurzatmig und nervös:<br />

«Bitte schehr? Schie wünschen?»<br />

Mein Onkel, der keine alkoholarmen Getränke schätzte, sagte gewohnheitsmässig:<br />

«Alscho: Schwei Aschbach und für den Jungen Schelter oder Brausche. Oder wasch haben<br />

Schie schonscht?»<br />

Der Kellner war sehr blass. Und dabei war es Hochsommer und er war doch Kellner in einem<br />

Gartenlokal. Aber vielleicht war er überarbeitet. Und plötzlich merkte ich, dass mein Onkel<br />

unter seiner blanken braunen Haut auch blass wurde. Nämlich als der Kellner die Bestellung der<br />

Sicherheit wegen wiederholte:<br />

«Schehr wohl. Schwei Aschbach. Eine Brausche. Bitte schehr.»<br />

Mein Onkel sah meine Mutter mit hochgezogenen Brauen an, als ob er etwas Dringendes von<br />

ihr wollte. Aber er wollte sich nur vergewissern, ob er noch auf dieser Welt sei. Dann sagte er<br />

mit einer Stimme, die an fernen Geschützdonner erinnerte:<br />

«Schagen Schie mal, schind Schie wahnschinnig? Schie? Schie machen schich über mein<br />

Lischpeln luschtig? Wasch?»<br />

Der Kellner stand da und dann fing es an, an ihm zu zittern. Seine Hände zitterten. Seine<br />

Augendeckel. Seine Knie. Vor allem aber zitterte seine Stimme. Sie zitterte vor Schmerz und<br />

Wut und Fassungslosigkeit, als er sich jetzt Mühe gab, auch etwas geschützdonnerähnlich zu<br />

antworten:<br />

«Esch ischt schamlosch von Schie, schich über mich schu amüschieren, taktlosch ischt dasch,<br />

bitte schehr.»


Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

70<br />

Nun zitterte alles an ihm. Seine Jackenzipfel. Seine pomadenverklebten Haarsträhnen. Seine<br />

Nasenflügel und seine sparsame Unterlippe.<br />

An meinem Onkel zitterte nichts. Ich sah ihn ganz genau an: Absolut nichts. Ich bewunderte<br />

meinen Onkel. Aber als der Kellner ihn schamlos nannte, da stand mein Onkel doch wenigstens<br />

auf. Das heisst, er stand eigentlich gar nicht auf. Das wäre ihm mit seinem einen Bein viel zu<br />

umständlich und beschwerlich gewesen. Er blieb sitzen und stand dabei doch auf. Innerlich<br />

stand er auf. Und das genügte auch vollkommen. Der Kellner fühlte dieses innerliche<br />

Aufstehen meines Onkels wie einen Angriff und er wich zwei kurze zittrige unsichere Schritte<br />

zurück. Feindselig standen sie sich gegenüber. Obgleich mein Onkel sass. Wenn er wirklich<br />

aufgestanden wäre, hätte sich sehr wahrscheinlich der Kellner hingesetzt. Mein Onkel konnte<br />

es sich auch leisten, sitzen zu bleiben, denn er war noch im Sitzen ebenso gross wie der Kellner<br />

und ihre Köpfe waren auf gleicher Höhe.<br />

So standen sie nun und sahen sich an. Beide mit einer zu kurzen Zunge, beide mit demselben<br />

Fehler. Aber jeder mit einem völlig anderen Schicksal.<br />

Klein, verbittert, verarbeitet, zerfahren, fahrig, farblos, verängstigt, unterdrückt: der Kellner.<br />

Der kleine Kellner. Ein richtiger Kellner: Verdrossen, stereotyp höflich, geruchlos, ohne<br />

Gesicht, nummeriert, verwaschen und trotzdem leicht schmuddelig. Ein kleiner Kellner.<br />

Zigarettenfingrig, servil, steril, glatt, gut gekämmt, blaurasiert, gelbgeärgert, mit leerer Hose<br />

hinten und dicken Taschen an der Seite, schiefen Absätzen und chronisch verschwitztem Kragen<br />

– der kleine Kellner.<br />

Und mein Onkel? Ach, mein Onkel! Breit, braun, brummend, basskehlig, laut, lachend,<br />

lebendig, reich, riesig, ruhig, sicher, satt, saftig – mein Onkel!<br />

Der kleine Kellner und mein grosser Onkel. Verschieden wie ein Karrengaul vom Zeppelin.<br />

Aber beide kurzzungig. Beide mit demselben Fehler. Beide mit einem feuchten wässerigen<br />

weichen sch. Aber der Kellner ausgestossen, getreten von seinem Zungenschicksal, bockig,<br />

eingeschüchtert, enttäuscht, einsam, bissig.<br />

Und klein, ganz klein geworden. Tausendmal am Tag verspottet, an jedem Tisch belächelt,<br />

belacht, bemitleidet, begrinst, beschrien. Tausendmal an jedem Tag im Gartenlokal an jedem<br />

Tisch einen Zentimeter in sich hineingekrochen, geduckt, geschrumpft. Tausendmal am Tag bei<br />

jeder Bestellung an jedem Tisch, bei jedem «bitte schehr» kleiner, immer kleiner geworden. Die<br />

Zunge, gigantischer unförmiger Fleischlappen, die viel zu kurze Zunge, formlose zyklopische<br />

Fleischmasse, plumper unfähiger roter Muskelklumpen, diese Zunge hatte ihn zum Pygmäen<br />

erdrückt: kleiner, kleiner Kellner!<br />

Und mein Onkel! Mit einer zu kurzen Zunge, aber: als hätte er sie nicht. Mein Onkel, selbst am<br />

lautesten lachend, wenn über ihn gelacht wurde. Mein Onkel, einbeinig, kolossal, slickzungig.<br />

Aber Apoll in jedem Zentimeter Körper und jedem Seelenatom. Autofahrer, Frauenfahrer,<br />

Herrenfahrer, Rennfahrer. Mein Onkel, Säufer, Sänger, Gewaltmensch, Witzereisser,<br />

Zotenflüsterer, Verführer, kurzzungiger sprühender, sprudelnder spuckender Anbeter von Frauen<br />

und Kognak. Mein Onkel, saufender Sieger, prothesenknarrend, breitgrinsend, mit viel zu kurzer<br />

Zunge, aber: als hätte er sie nicht!<br />

So standen sie sich gegenüber. Mordbereit, todwund der eine, lachfertig, randvoll mit<br />

Gelächtereruptionen der andere. Ringsherum sechs- bis siebenhundert Augen und Ohren,


Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />

75<br />

80<br />

85<br />

90<br />

95<br />

100<br />

105<br />

Spazierläufer, Kaffeetrinker, Kuchenschleckerer, die den Auftritt mehr genossen als Bier und<br />

Brause und Bienenstich. Ach, und mittendrin meine Mutter und ich. Rotköpfig, schamhaft, tief<br />

in die Wäsche verkrochen. Und unsere Leiden waren erst am Anfang.<br />

«Schuchen Schie schofort den Wirt, Schie aggreschiver Schpatsch, Schie. Ich will Schie lehren,<br />

Gäschte schu inschultieren.»<br />

Mein Onkel sprach jetzt absichtlich so laut, dass den sechs- bis siebenhundert Ohren kein Wort<br />

entging. Der Asbach regte ihn in angenehmer Weise an. Er grinste vor Wonne über sein grosses<br />

gutmütiges breites braunes Gesicht. Helle salzige Perlen kamen aus der Stirn und trudelten<br />

abwärts über die massiven Backenknochen. Aber der Kellner hielt alles an ihm für Bosheit,<br />

für Gemeinheit, für Beleidigung und Provokation. Er stand mit faltigen hohlen leise wehenden<br />

Wangen da und rührte sich nicht von der Stelle.<br />

«Haben Schie Schand in den Gehörgängen? Schuchen Schie den Beschitscher, Schie<br />

beschoffener Schpaschvogel. Losch, oder haben Schie die Hosche voll, Schie mischgeschtalteter<br />

Schwerg?»<br />

Da fasste der kleine kleine Pygmäe, der kleine slickzungige Kellner, sich ein grossmütiges,<br />

gewaltiges, für uns alle und für ihn selbst überraschendes Herz. Er trat ganz nah an unsern<br />

Tisch, wedelte mit seinem Taschentuch über unsere Teller und knickte zu einer korrekten<br />

Kellnerverbeugung zusammen. Mit einer kleinen männlichen und entschlossen leisen Stimme,<br />

mit überwältigender zitternder Höflichkeit sagte er: «Bitte schehr!» und setzte sich klein, kühn<br />

und kaltblütig auf den vierten freien Stuhl an unserem Tisch. Kaltblütig natürlich nur markiert.<br />

Denn in seinem tapferen kleinen Kellnerherzen flackerte die empörte Flamme der verachteten<br />

gescheuchten missgestalteten Kreatur. Er hatte auch nicht den Mut, meinen Onkel anzusehen.<br />

Er setzte sich nur so klein und sachlich hin und ich glaube, dass höchstens ein Achtel seines<br />

Gesässes den Stuhl berührte. (Wenn er überhaupt mehr als ein Achtel besass – vor lauter<br />

Bescheidenheit.) Er sass, sah vor sich hin auf die kaffeeübertropfte grauweisse Decke, zog seine<br />

dicke Brieftasche hervor und legte sie immerhin einigermassen männlich auf den Tisch. Eine<br />

halbe Sekunde riskierte er einen kurzen Aufblick, ob er wohl zu weit gegangen sei mit dem<br />

Aufbumsen der Tasche, dann, als er sah, dass der Berg, mein Onkel nämlich, in seiner Trägheit<br />

verharrte, öffnete er die Tasche und nahm ein Stück pappartiges zusammengeknifftes Papier<br />

heraus, dessen Falten das typische Gelb eines oftbenutzten Stück Papiers aufwiesen. Er klappte<br />

es wichtig auseinander, verkniff sich jeden Ausdruck von Beleidigtsein oder Rechthaberei und<br />

legte sachlich seinen kurzen abgenutzten Finger auf eine bestimmte Stelle des Stück Papiers.<br />

a) Welche Auswirkungen auf sein Selbstwertgefühl hat die Sprachstörung beim Kellner?<br />

b) Welche Gründe dürfte es geben, dass der Onkel nicht unter denselben Auswirkungen leidet?<br />

c) Was bedeutet der Titel?<br />

d) Welche Parallelen kannst du erkennen, wenn du den Kellner mit Alex vergleichst?<br />

e) Johanna übernimmt Alex’ Sprechen, auch als Ich-Erzählerin. Was geschieht dadurch? Welche<br />

Auswirkungen hat dies?


Sepp Mall: Wundränder/Modul 2<br />

2 Johanna erzählt, Alex schweigt<br />

Johanna erzählt. Für wen erzählt sie? Wozu erzählt sie? Was vermag ihr Sprechen? Und was wird über<br />

die Sprache und das Sprechen gesagt? Diskutiere die Fragen anhand folgender Textstellen.<br />

Textauszug 1<br />

So viele Wörter in der Küche auf einmal, die Erika ausschüttete, ein Wortmeer, in dem wir<br />

schwammen, Erika mit dem Schimmerhaar und ich. Ich fragte und sie erzählte. Und wenn ich nichts<br />

fragte, begann sie wieder von vorne. Die Kaffeeflecken auf dem Tischtuch trockneten ein, die Woge<br />

der Wörter schwappte in die beginnende Dämmerung hinein und ich ließ mich mitreißen. Wir sassen,<br />

bis Alex zurückkam […] Irgendetwas hatte er von draussen hereingebracht, eine Novemberkälte, ein<br />

Zögern und Abwarten, das unseren Wörtern ihre Leichtigkeit nahm und ihren Fluss. (S. 52)<br />

Textauszug 2<br />

Und von Tag zu Tag wurde der Friedhof der Wörter größer, die erstickten Silben, die Steißlagen, die<br />

nicht herauswollten, die Totgeburten. Ein riesiger Haufen aus Wortleichen, der sich absetzte in ihm,<br />

der zu modern begann und ihn anfraß von innen, seine Organe, Herz und Lunge, bis es nicht mehr<br />

auszuhalten war. Wenn er doch kotzen könnte, habe ich mir gedacht. (S. 34f.)<br />

Textauszug 3<br />

Ja, hatte Alex gesagt, unser schönes Land. Die Wörter waren über seine Zunge geschlüpft, ein ganzer<br />

Satz, glatt und gleitend, ohne hängen zu bleiben.<br />

Zu Hause saßen wir uns gegenüber und sahen uns an. Ich wartete darauf, dass es weiterging, dass er<br />

mir noch einen Satz schenkte, mir und ihm. Irgendwann wird der Damm brechen, sagte ich mir, sagte<br />

es in mir. […] Ich sehe zu, wie er in sich hineinfällt, in das, was heute gewesen ist, und manchmal geht<br />

sein Blick über den Rand des Buches hinaus, ins Leere. Nur die Finger geben vor, bei den Buchstaben<br />

zu sein, in einer Abhandlung, die ihn packt und festhält. Alex, rufe ich ihn, aber er ist schon zu weit<br />

weg. (S. 36f.)<br />

Textauszug 4<br />

Und dann war dieser Dezembertag. […] Und Alex kam und packte. […] Und als ich neben ihm stand<br />

und seinen Blick suchte, war es wieder da.<br />

Das Atemreissen, Ansetzten, Vornüberkippen. Der Laut, der keine Luft kriegt, keinen Raum, keinen<br />

Klang. Und die Hände, die das gebügelte Hemd zerknüllen und Halt suchen, irgendwo: Muss gehen.<br />

Der Luftstau, der Körper, der sich windet, der die Muskeln spannt, bis die Arme krampfen, und dann<br />

das Drücken aus dem Bauch, dem Zwerchfell, bis endlich die Membran platzt, springt: Muss gehen.<br />

Wohin, schreie ich ihn an, wohin? (S. 55f.)


Sepp Mall: Wundränder/Modul 3<br />

Modul 3 Familienbande<br />

(Lektüre Kapitel 13 bis 24, bis S. 104)<br />

1 Das verstehst du nicht!<br />

Nicht nur Alex schweigt, auch in Pauls Familie wird oft und anhaltend geschwiegen. Wo zum Beispiel?<br />

Finde Textstellen, die das belegen.<br />

2 Rollenbiographien<br />

Wenn man sich in eine Figur hineinversetzen muss, z. B. im Theater oder im Film, entnimmt man einer<br />

literarischen Vorlage oder einem Drehbuch Details wie Denkweisen, Vorlieben, Verhalten, Aussehen,<br />

Sprachgewohnheiten etc. Das nennt man auch Rollenbiographie. Entscheide dich für eine der Figuren<br />

aus Pauls Familie und trage alle Informationen zusammen, die für das Verständnis der Figur wichtig<br />

sind.<br />

3 Lüge und Selbstschutz<br />

Sieht man sich die Geheimnisse und Lügen genauer an, stellt sich die Frage, wer aus welchen Absichten<br />

und Motiven zu Verheimlichung und Lüge greift. Gehe dieser Frage mithilfe der erarbeiteten Rollenbiographien<br />

nach und diskutiere sie.<br />

4 Lügen für Fortgeschrittene<br />

Es soll Leute geben, die von sich sagen, sie würden niemals lügen – eine faustdicke Lüge, wie jeder<br />

weiß. Die Fähigkeit zur Lüge ist ein evolutionärer Vorteil, wie der amerikanische Journalist Jeff Wise<br />

feststellt. Als Beleg führt Wise eine psychologische Studie an, die zeigt, dass die beliebtesten Kinder<br />

zugleich die effizientesten Lügner sind. Der deutsche Philosoph Ludwig Wittgenstein erklärte denn auch<br />

in seinen Philosophischen Untersuchungen: „Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie<br />

jedes andre.“ – Studiere die folgenden zehn Grundsätze. In der anschließenden Diskussion in der Klasse<br />

solltest du Stellung beziehen können – für oder gegen diese zehn Gebote!<br />

Zehn Grundsätze<br />

1. Lüge nicht grundlos! Je weniger du lügst, desto kleiner ist die Chance, dass du damit auffliegst<br />

„Gefängnisse sind voll mit schlechten Lügnern“, behauptet der Psychologe Charles Ford, und weiter:<br />

„Lügen sollte man nur dann, wenn es wirklich einen Nutzen hat.“<br />

2. Sei vorbereitet! Überlege dir nach Möglichkeit vorher, was du sagen willst. Improvisation ist beim<br />

Lügen eine gefährliche Tugend. Auch hier hat Wise eine Studie zur Hand, die gezeigt hat, dass jene<br />

Lügner signifikant mehr Erfolg hatten, die sich zuvor eingehend mit den Einzelheiten ihrer Geschichten<br />

befasst hatten.<br />

3. Täusche mit der Wahrheit! Am schwierigsten sind jene Lügen aufzudecken, die eigentlich gar keine<br />

sind. Erzähle also – wenn immer möglich – die Wahrheit, aber in einer Weise, die dein Opfer in die Irre<br />

führt. Das ist technisch gesehen, wie Wise anfügt, lediglich eine Tatsachenverdrehung; also nur eine<br />

halbe Sünde.


Sepp Mall: Wundränder/Modul 3<br />

4. Kenne dein Opfer! Gute Lügner müssen über ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen verfügen.<br />

Damit findest du nicht nur leichter heraus, was dein Opfer hören möchte; es hilft dir auch dabei, jene<br />

Dinge zu vermeiden, die dessen Misstrauen erregen.<br />

5. Erinnere dich an die Fakten! Effizientes Lügen ist harte Arbeit. Gute Lügner wissen, dass sie die<br />

Details ihrer Lügengeschichten genau kennen müssen. Nötigenfalls muss man sich sogar Notizen machen.<br />

Oft fliegen Lügen auf, weil man verschiedenen Leuten verschiedene Versionen der Geschichte<br />

erzählt hat. Wenn die miteinander reden, kommen sie schnell dahinter, dass etwas nicht stimmt.<br />

6. Bleib dabei! Sergeant John Yarbrough, Verhörspezialist der Mordkommission von Los Angeles, erklärt:<br />

„Wenn ich einen Lügner erwischen will, achte ich darauf, wie sehr er hinter dem steht, was er mir<br />

erzählt.“ Wer beispielsweise Zeichen von Erleichterung zeigt, wenn der Verhörende das Thema wechselt,<br />

hat schon verloren. Der Grund für ein solches Verhalten sei die Tatsache, dass die meisten Leute<br />

sich beim Lügen unwohl fühlen und froh sind, wenn sie damit aufhören können. Richtig gute Lügner<br />

hingegen genießen es, jemanden zu täuschen.<br />

7. Achte auf deine Körpersprache! Fast alle Leute haben schon davon gehört, dass unbewusste Körpersignale<br />

den Lügner verraten. Solche Signale sind zum Beispiel nervöses, unruhiges Verhalten oder<br />

Stottern. Verdächtig macht sich auch, wer den Augenkontakt abbricht oder vermeidet und wer sich beim<br />

Sprechen an die Nase fasst. Achte also darauf, deinem Opfer in die Augen zu schauen und nicht zu viel<br />

zu gestikulieren.<br />

8. Erhöhe den Druck! Wenn dein Opfer Verdacht geschöpft hat, solltest du den emotionalen Druck<br />

erhöhen. Sergeant Yarbrough erwähnt als perfektes Beispiel dafür jene Szene aus dem Film Basic Instinct<br />

(1992), in der Sharon Stone den sie verhörenden Polizisten kurz einen Einblick unter ihren Rock<br />

gewährt – und sie so effektvoll ablenkt. „Sie hat sie erregt“, sagt Yarbrough, „und das ist eine Form der<br />

Manipulation – sexuelle oder emotionale Erregung einzusetzen, um den Fragenden abzulenken.“<br />

9. Gehe zum Gegenangriff über! Angriff ist bekanntlich die beste Verteidigung. Die meisten Leute<br />

fühlen sich freilich nicht wohl dabei, wenn sie andere angreifen – ein Umstand, der dem Lügner hilft.<br />

Stan Walters, Autor des Buchs The Truth About Lying, schreibt: „Man sieht oft, wie Politiker aggressiv<br />

auf Vorwürfe reagieren. Damit treiben sie Kritiker von der heiklen Angelegenheit weg und zwingen sie<br />

dazu, ihre Energie in ein nebensächliches Gefecht zu stecken.“<br />

10. Verhandle! Auch wenn das Spiel eigentlich aus ist – Lügner schaffen es oft, den schlimmsten Konsequenzen<br />

zu entkommen, indem sie verhandeln. So gelingt es ihnen, das Gefühl der Verantwortung für<br />

die Lüge zu mildern oder sogar ganz loszuwerden.<br />

Quelle: 20 Minuten, 7. Mai 2010


Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />

Modul 4 Zeitzeichen<br />

(Lektüre bis Schluss)<br />

1 Spurensuche<br />

Wenn du Wundränder liest (und nun gelesen<br />

hast), lassen sich einige Gattungen benennen, aus<br />

denen der Roman Züge trägt, so etwa: Jugendroman,<br />

Familienroman, Coming-of-Age-Roman<br />

etc. Man kann aber auch anderen Spuren folgen,<br />

die Mall ausgelegt hat. Z. B. politischen, oder<br />

fußballerischen: Was weißt du über das zitierte<br />

Weltmeisterschafts-Endspiel und das berüchtigte<br />

Tor? Recherchiere im Internet.<br />

2 Südtirol zwischen zwei Fronten<br />

Mit der zeitlichen Situierung können wir auch die Spuren lesen, die v. a. Pauls Vater und Alex eingeschrieben<br />

sind. Und auch das in Johannas’ Aussage Angesprochene wird greifbarer:<br />

„Als ich das erste Mal von den Anschlägen hörte, war es, als ob es mich nichts anginge, warum<br />

auch. Schon wieder ein Denkmal in die Luft geflogen, sagte die blonde Verkäuferin in der Bäckerei<br />

und legte mein Brot auf die Theke. Sie sagte es so beiläufig, wie man zwischen einem Kunden und<br />

dem nächsten miteinander spricht, und ich hörte kaum hin.“ (S. 53)<br />

a) Was besagen diese Sätze? Weshalb die Beiläufigkeit? Warum bloß „als ob es mich nichts anginge“?<br />

Diskutiere.<br />

Im untenstehenden Artikel kannst du dich über die Geschichte Südtirols orientieren. Lies den Artikel<br />

und markiere wichtige Ereignisse und Zahlen. Bearbeite im Anschluss die Fragen.<br />

b) Stelle chronologisch die wichtigen Jahreszahlen mit den dazugehörigen Ereignissen in der Geschichte<br />

Südtirols dar.<br />

c) Wofür kämpft das deutschsprachige Volk im Südtirol? Was will es erreichen?<br />

d) Welche Differenzen zwischen dem italienischen Vaterland und der deutschsprachigen Bevölkerung<br />

haben zur angespannten Lage wesentlich beigetragen? Welche Ursachen für die gegenseitige<br />

Ablehnung werden genannt?<br />

e) Mit welchen Mitteln versucht es diese Zukunft wirklich zu machen?<br />

f) Warum gestaltet sich eine politische Lösung so schwierig? Wer hat – gemäß Artikel – welchen<br />

Anteil daran, dass keine Einigung erreicht werden kann?


Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />

3 Männer lieben das Volk, und Frauen?<br />

g) Warum ist Alex zum Attentäter und Terroristen geworden? Lies die Textstelle auf Seite 152, als<br />

Erika und Johanna Erikas Vater zur Rede stellen. Gibt sie Auskunft?<br />

h) „Mein liebes Fräulein, sagt Kammerer, er legt mir die Hand auf den Arm, beschwichtigend, wie<br />

um mich zum Schweigen zu bringen. Davon versteht ihr nichts. Von der Liebe zum Volk, vom<br />

Opfergang, und schon gar nichts davon, wie einer zum Mann wird, ein armer Teufel, ein Stotterer<br />

wie Alex.“ (S. 153)<br />

Wer ist „ihr“? Was bedeutet diese Aussage?<br />

i) Was bedeutet Erikas Erwiderung: „Du brauchst uns nichts vorzumachen, schreit sie ihren Vater<br />

an, hör auf mit deinen Phrasen. Du warst es doch, der Alex’ Naivität ausgenutzt hat. Du hast<br />

dich seiner angenommen, ihn bearbeitet, ihm zugesetzt. Ich hör dich doch, wie du ihm vorgesagt<br />

hast, was er nachplappern sollte, deine Kriegsparolen, deine Kampfsprüche. Unser schönes,<br />

geknechtetes Land, höhnt Erika mit Vaters Stimme. Und ich habe geglaubt, es sei aus reiner<br />

Freundlichkeit.“<br />

j) Welche Seite nimmt Mall durch seine Darstellung in Wundränder ein?


Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

55<br />

SPIEGEL 46/1966<br />

SÜDTIROL / VOLKSTUM<br />

Deutsch san mir<br />

Ein italienischer Polizist – blaue Uniform,<br />

Schnauzbart – winkte den weißen Porsche an den<br />

Straßenrand. „La patente, prego“, bat er den Fahrer,<br />

Rechtsanwalt Dr. Hugo Gamper, 33, aus Bozen.<br />

Gamper, der in der Innenstadt von Bozen mit<br />

Abblendlicht statt mit Standlicht gefahren war, zum<br />

SPIEGEL: „Jetzt will ich Ihnen einmal zeigen, was<br />

Südtirolern passiert, wenn sie in Südtirol Deutsch<br />

sprechen.“<br />

Und zum Polizisten: „Wie bitte? Würden Sie es bitte<br />

auf Deutsch sagen?“<br />

Das Gesicht über dem Schnauzbart verfärbte sich.<br />

„La patente! Die Fahrkarte!“ Das war ein Befehl.<br />

„Ich fahre Auto, ich habe keine Fahrkarte.<br />

Meinen Sie vielleicht den Führerschein?“ – „Ja,<br />

Führerschein!“<br />

„Strafe!“, stelzte betont langsam um den weißen<br />

Wagen, zog umständlich Block und Kugelschreiber<br />

aus der Tasche, notierte Namen und Kennzeichen.<br />

Dann, nach beinahe zehn Minuten, reichte er einen<br />

vorgedruckten grünen Zettel mit italienischem Text<br />

durchs Fenster – das Protokoll für „Drhugo“ (statt<br />

Dr. Hugo) Gamper. Strafe: 3000 Lire, etwa 20 Mark.<br />

Gamper („Bei denen heiße ich grundsätzlich<br />

‚Drhugo‘“) bat um eine Erklärung für die<br />

ungewöhnlich harte Bestrafung („normal sind 1000<br />

Lire“) und um ein deutschsprachiges Protokoll.<br />

Hochrot vor Wut fauchte der Italiener ihn an:<br />

„Kommissariat.“<br />

„Drhugo“ resignierte, ging nicht mit aufs<br />

Kommissariat: „Hätte ich ihn gleich auf Italienisch<br />

angesprochen und mich fürs Abblendlicht<br />

entschuldigt, er hätte an seine Mütze getippt und uns<br />

weiterfahren lassen. Aber, bittschön, auf Italienisch!<br />

Man begreift, warum unsere Bauern oben im<br />

Pustertal, im Passeiertal oder im Vinschgau, die kein<br />

Wort Italienisch können, die Italiener so gern haben.“<br />

Gampers provoziertes Sprach-Malheur ist nur ein<br />

Symptom für den Abgrund an Mißtrauen, der sich<br />

zwischen den 232‘000 deutschsprachigen Südtirolern<br />

und den 130‘000 Romanen in der nördlichsten<br />

Provinz Italiens auftut.<br />

Ungefähr zur gleichen Zeit schossen Alpini-Soldaten<br />

fern jeder vor Südtiroler Terroristen zu schützenden<br />

Anlage den 18-jährigen Peter Wieland aus Olang<br />

nieder, der den Weg von einer Musikprobe ins<br />

Wirtshaus nicht auf der Straße zurückgelegt,<br />

sondern über eine Wiese abgekürzt hatte. Aus Angst,<br />

die dunkle Wiese zu betreten, stoppten sie – die<br />

rauchenden Waffen im Anschlag – einen Autofahrer<br />

und zwangen ihn, den Wiesengrund mit seinen<br />

Scheinwerfern zu beleuchten. Zwei Stunden dauerte<br />

es, bis die Uniformierten den tödlich Verwundeten<br />

durchsucht hatten, zwei Stunden und 50 Minuten, bis<br />

Peter Wieland tot war. Dem Toten, so erzählen sich<br />

die Südtiroler, fehlte die Brieftasche.<br />

In Bozen ließen sich Karabinieri von einem<br />

geheimnisvollen Anrufer mitteilen, daß im Hotel<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

„Weißes Kreuz“ am Kornplatz Sprengstoff<br />

lagere – unter dem Wandschrank im Zimmer 4.<br />

Der Sprengstoff war vorhanden, das Zimmer<br />

– comme il faut – von einem Österreicher<br />

gemietet, das Auftauchen der Italiener so plötzlich<br />

und termingerecht, daß Dr. Friedl Volgger,<br />

stellvertretender Parteiobmann der Südtiroler<br />

Volkspartei (SVP), dem zuständigen italienischen<br />

Sicherheitsoffizier, sobald er ihm begegnet, sagen<br />

will: „Sie haben hervorragen de Arbeit geleistet und<br />

alles gefunden, was Sie versteckt haben.“<br />

In Rom trommelte die „Neofaschistische<br />

Sozialbewegung“ mehr als 6000 Menschen zu einer<br />

Kundgebung für die „Italianität“ Südtirols auf die<br />

Straße. Geschmückt mit Fahnen und Ehrenzeichen<br />

aus ihrer faschistischen Vergan genheit, hoben sie<br />

die Hände zum faschisti schen Gruß und gelobten<br />

die Verteidigung der „heiligen“ Brennergrenze.<br />

Fürst Valerio Borghese, einst Kommandeur einer bis<br />

zuletzt Mussolini-treuen Marine-Einheit, forderte<br />

44 Jahre nach des Duces „Marsch auf Rom“ einen<br />

„Marsch auf Bozen“.<br />

Ebenfalls in Rom ging ein österreichischer<br />

Touristenbus, von rechter Hand entzündet,<br />

in Flammen auf. Deutschland und Österreich<br />

wurden der rechtsradikalen und revanchis tischen<br />

Verschwörung gegen Italien bezichtigt. Die Fiat-<br />

Zeitung „Stampa“ schrieb: „Die (deutschen)<br />

Pangerma nis ten und Neonazis ten [...] haben sich mit<br />

dem Südtiroler Terrorismus das große Manöverfeld<br />

ausgewählt.“ Die italienische Regierung ersuchte<br />

Bonn und Wien, dem Terrorismus auf Südtiroler<br />

Boden Einhalt zu gebieten.<br />

Nördlich des Brenner aber mahnen seit langem große<br />

Plakate – ähnlich denen des Kuratoriums Unteilbares<br />

Deutschland – dreisprachig: „Niemals vergessen –<br />

ein Tirol“.<br />

Und in Innsbruck nahmen die Abgeordneten des<br />

Tiroler Landtags – 46 Jahre nach dem Verlust<br />

Südtirols – stehend eine Erklärung ihres Präsidenten<br />

Dr. Lugger entgegen: „Der 10. Oktober läßt in<br />

besonderem Maße unsere Gedanken nach dem<br />

verlorenen Landesteil im Süden hinlenken... Am<br />

heutigen Tage geben wir in feierlicher Weise der<br />

Hoffnung Ausdruck, daß die im Gang befindlichen<br />

Verhandlungen mit Italien dazu beitragen mögen,<br />

daß [...] das Tiroler Volkstum erhalten bleibe und für<br />

die Zukunft die Selbstverwaltung Südtirols gesichert<br />

werde.“<br />

Der Kampf des „verlorenen Landesteiles im<br />

Süden“ um Selbstverwaltung, Erhaltung des<br />

„Tiroler Volkstums“ und Gleichberechtigung mit<br />

dem italienischen Staatsvolk hat die Formen eines<br />

Freistil-Ringkampfes angenommen, eines Catchas-catch-can<br />

zwischen den Nato-Partnern Italien<br />

und Deutschland, zwischen den Nachbarn Italien<br />

und Österreich, zwischen 52 Millionen stolzen, von<br />

nationalem Sendungsbewußtsein erfüllten Italienern<br />

und fast einer Viertelmillion knorrigen, halsstarrigen<br />

und deutsch sprachi gen Südtirolern – und zwischen<br />

den Südtirolern selbst.<br />

Seit zehn Jahren wird in Südtirol geschossen,<br />

gesprengt, gefoltert; seit fünf Jahren wird über<br />

Südtirol verhandelt. Aber eine endgültige,<br />

gerechte und dauerhafte Lösung des alpinen<br />

Minderheitenproblems, ein innenpolitischer Frieden


Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

für „dieses wundervolle Bergland“ (Winston<br />

Churchill) ist noch immer nicht in Sicht.<br />

Zwischen Brenner und Salurn, wo ängstliche<br />

italienische Ordnungshüter, Carabinieri und Alpini,<br />

Finanzieri und Questurini, auch tagsüber nur in<br />

Gruppen auftreten, wo eine deutschsprachige<br />

Frau im Restaurant „Stroblhof“ bei Eppan beim<br />

Erscheinen von acht italienischen Gästen verängstigt<br />

flüstert: „Oje, jetzt kommen die Italiener“, dort, im<br />

Ferienparadies ältlicher deutscher Touristin nen, ist<br />

Angst und Mißtrauen zur beherrschenden Charaktereigenschaft<br />

geworden.<br />

Dort fühlen sich die Südtiroler seit nunmehr 46<br />

Jahren „verkauft“ (so der Londoner „Observer“)<br />

– verkauft von den Siegern des Ersten Weltkriegs,<br />

verkauft von Hitler, verkauft von den Siegern des<br />

Zweiten Weltkriegs.<br />

Dort fühlen sich die Italiener seit nunmehr 46 Jahren<br />

unverstanden weil sie selbst nicht verstehen, daß in<br />

ihrem Staat eine teutonische Volksgruppe besteht,<br />

schwerblütig und in zurückgebliebenen Älpler-<br />

Traditionen verhaftet, die eine andere Sprache<br />

spricht und keine Spaghetti mag.<br />

Dort müssen sie mit anschauen, wie die<br />

deutschsprachigen Südtiroler während der<br />

Fußballweltmeisterschaft die Niederlage Ita liens<br />

gegen Nordkorea bejubeln, wie sie die asiatischen<br />

Fußballzwerge bis drei Uhr in der Frühe hochleben<br />

lassen und erwägen, ihnen ein Wein-Präsent zu<br />

übersenden.<br />

„Italien“, so konstatierte der gescheite römische<br />

Journalist Indro Montanelli unter dem Wutgeheul<br />

seiner Landsleute, „hat in Südtirol zwei Fehler<br />

gemacht: den ersten, als es hingegangen, den<br />

zweiten, als es geblieben ist.“<br />

Hingegangen sind die Italiener anno 1920. Die<br />

Südtiroler mußten den Tribut dafür zahlen, daß<br />

Österreich einen Weltkrieg auf der falschen Seite<br />

mitentfacht hatte: Das Land an Eisack und Etsch (die<br />

seitdem Isarco und Adige heißen) fiel an Italien –<br />

wenn auch erst nach einem Advokatentrick.<br />

Vittorio Emmanuele Orlando, der Chef der<br />

italienischen Delegation auf der Friedenskonferenz<br />

von St. Germain, hatte den genialen Einfall. Mit<br />

Hilfe manipulierter Landkarten, auf denen alle<br />

Ortsnamen der Provinz Bozen nur in Italienisch<br />

verzeichnet waren, verhinderte er eine gründliche<br />

Beratung, überzeugte die Siegermächte von der<br />

„Italianità“ Südtirols und luchste ihnen das Land<br />

südlich des Brenner ab. […]<br />

Mussolinis Faschisten marschierten nicht nur auf<br />

Rom, sondern auch zum Brenner. Am 12. Juli<br />

1928 weihten sie in Bozen ihr Siegesdenkmal ein<br />

– ausgerechnet an jenem Platz, den die Tiroler für<br />

die Ehrung ihrer im Kampf gegen Italien gefallenen<br />

Kaiserjäger vorgesehen hatten. „Eine größere<br />

Demütigung“, so klagten jetzt die „Südtiroler<br />

Nachrichten“ des Südtiroler Parlamentsabgeordneten<br />

Hans Dietl, „konnte den Südtirolern kaum angetan<br />

werden.“<br />

1910 lebten nur 7000 Italiener in Südtirol,<br />

1939 waren es bereits 81 000. Und ihr Anteil<br />

an der Bevölkerung wuchs weiter. Denn mit<br />

Adolf Hitler vereinbarte Mussolini 1939<br />

ein „Umsiedlungsabkommen“, das den<br />

deutschsprachigen Südtirolern die Wahl zwischen<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

„Heimkehr ins Reich“ und Verlust ihres Volkstums<br />

freistellte. 213 000 Südtiroler (86 Prozent) stimmten<br />

für die Auswanderung; bis 1943 hatten rund 70 000<br />

ihre Heimat verlassen.<br />

Im Zweiten Weltkrieg standen die Österreicher<br />

zum zweitenmal auf der falschen Seite, und die<br />

Südtiroler zahlten 1946 zum zweitenmal Tribut: Ihr<br />

Land blieb bei Italien. Vergebens unterschrieben<br />

158‘628 Südtiroler eine Denkschrift, die am 22.<br />

April 1946 dem Wiener Kanzler Figl verriet: „Es<br />

ist unser unerschütterlicher Wunsch und Wille, daß<br />

unser Heimatland Südtirol [...] mit Nordtirol und<br />

Österreich wiedervereinigt werde.“<br />

Immerhin schlossen Wiens Außenminister Gruber<br />

und Roms Premier de Gasperi auf britisches<br />

Betreiben am 5. September 1946 in Paris ein<br />

50-Zeilen-Abkommen: Die ausgewanderten<br />

Südtiroler durften zurückkehren, und den<br />

deutschsprachigen Einwohnern wurde „volle<br />

Gleichberech tigung mit den italienischsprachigen<br />

Einwohnern im Rahmen besonderer Maßnahmen<br />

zum Schutze des Volks charakters und der<br />

kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des<br />

deutschsprachigen Bevölkerungsteiles“ zugesichert.<br />

Des demokratischen Italiens erste „besondere<br />

Maßnahme zum Schutze des Volkscharakters“ war<br />

kaum geeignet, angeborenes Mißtrauen abzubauen:<br />

1948 vereinigte Rom die Provinzen Bozen und<br />

Trient, 232 000 Südtiroler werden heute in der neuen<br />

Region „Trentino/ Alto Adige“ von mehr als einer<br />

halben Million Italiener in allen entscheiden den<br />

Fragen majorisiert.<br />

Der Pariser Vertrag verspricht die „Gleichstellung<br />

der deutschen und italienischen Sprache in den<br />

öffentlichen Ämtern und amtlichen Urkunden“. Aber<br />

Italienisch ist die Amtssprache. […]<br />

In den Abschlußklassen der Gymnasien, Lyzeen<br />

und höheren Lehranstalten sitzen doppelt so viele<br />

italienische wie Südtiroler Kinder, obwohl die<br />

italienische Jugend nur halb so stark ist wie die<br />

deutschsprachige. Vielleicht ist sie begabter – aber<br />

im ganzen Eisacktal gibt es für den Südtiroler<br />

Nachwuchs keine einzige höhere Lehranstalt, für die<br />

italienischen Kinder hinge gen wurde in Sterzing ein<br />

Gymnasium gebaut – mit zwei Klassen zu je fünf<br />

Eleven.<br />

Industriebetriebe dürfen in bestimmten<br />

Größenordnungen nur mit Zustimmung der<br />

italienischen Regierung errichtet werden – und so<br />

fehlen den Südtirolern mittlere Industrie betriebe.<br />

Die Italiener dagegen errichteten unrentable<br />

Zweigniederlassungen, wie das Lancia-Werk in<br />

Bozen, weil sie auf diese Art italienische Arbeiter<br />

ins Land bringen und so ihren Bevölkerungsanteil in<br />

Bozen auf 80 Prozent steigern konnten. […]<br />

Die Südtiroler haben sich gegen solche Behandlung<br />

gewehrt. Anfangs mit lautstarken Versammlungen<br />

[...].<br />

Dann schließlich mit Dynamit und Pistolen.<br />

Gottesfürchtig und rauflustig, wie ihre Vorfahren<br />

unter Führung des legendären Gastwirts Andreas<br />

Hofer gegen Napoleon und die Bayern fochten,<br />

sprengten die „Bumser“ innerhalb von vier<br />

Jahren 103 Hochpannungsmasten, verübten 38<br />

Bombenanschläge auf italienische Industrieanlagen.<br />

Wohnhäuser und Denkmäler, so auch auf den


Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

Aluminium-Duce, ein Reiterstandbild Mussolinis in<br />

Waidbruck, und 13 Feuerüberfälle auf Carabinieri<br />

und Finanzieri. Auch ihr Held fiel: Das Andreas-<br />

Hofer-Denkmal auf dem Berg Isel bei Innsbruck<br />

wurde gesprengt – wie sie behaupten, von Italienern.<br />

Denn die sahen in jedem Protest, in jeder Explosion<br />

einen Beweis dafür, daß es den Südtirolern gar nicht<br />

um die Autonomie gehe, sondern um die Loslösung<br />

von Italien.<br />

Die Südtiroler, so schien es ihnen, wollten<br />

immer noch „Heim ins Reich“. Und wenn ein<br />

deutschsprachiger Mittel schullehrer abends in<br />

einem Restaurant der Bozener Altstadt deutsche<br />

Journalisten beim Arm packt und sich ereifert:<br />

„Deutsch san mir, deutsch, deutsch! Das müssen<br />

Sie schreiben!“, dann werden Schlagworte wie<br />

Pangermanismus, Neonazismus, Großdeutsches<br />

Reich oder Alpenfreistaat beinahe verständlich. Dr.<br />

Egmont Jenny freilich, Chef der oppositionellen<br />

„Sozialen Fortschritts partei“, erregt sich: „Wenn<br />

man an der Drususbrücke die faschistischen<br />

Adler und Hoheitszeichen sieht oder hinter der<br />

Talferbrücke: das Siegesdenkmal aus 20 Meter<br />

hohen Liktorenbündeln, wenn man dem Faschismus<br />

hier selbst Tag für Tag begegnet, dann kommen uns,<br />

ehrlich gesagt, Zweifel an der Aufrichtigkeit dieser<br />

Vorwürfe, dann wirken sie lächerlich.“<br />

Die Italiener haben zurückgeschossen. Denn für sie<br />

ist die Provinz Bozen nicht nur wegen der strategisch<br />

unübertrefflichen Brennergrenze so wichtig. Für<br />

sie ist Südtirol auch ein wirtschaftlicher Faktor,<br />

mit dem sich gut rechnen läßt. Ganze 0,5 Prozent<br />

des italienischen Weines bauen die Südtiroler an,<br />

ihr Anteil am italienischen Weinexport aber liegt<br />

bei 24 Prozent. Millionen fließen jährlich aus<br />

dem Südtiroler Fremdenverkehr in die römische<br />

Staatsschatulle, und vor allem: Aus den Bergwässern<br />

Südtirols kommen zwölf Prozent der gesamten<br />

italienischen Energie.<br />

Zwei italienische Divisionen zogen zum Kampf<br />

gegen die „Bumser“ nach Norden, verbarrikadierten<br />

sich mit Sand säcken und Stacheldraht, lauerten mit<br />

entsicherten Gewehren auf verdächtige Bewegungen<br />

und Laute, schossen auf Tiere, Schatten und eigene<br />

Kameraden. […]<br />

Sie verhaften, wo immer sich ein Verdächtiger regt.<br />

Der junge Konrad Auer zum Beispiel, 19 Jahre alt;<br />

vom Unterkehrerhof in Kehren bei Pfalzen, war im<br />

August zum Wildern ausgezogen, wie es alle tun, die<br />

da oben im Pustertal wohnen […].<br />

Konrad wurde mit seiner Wilderer-Büchse erwischt,<br />

und bei der Haussuchung entdeckten die Carabinieri<br />

drei weitere Büchsen unter dem Fußboden:<br />

Jagdgewehre. Sie wurden konfisziert – und<br />

mitgenommen wurde auch Konrads Bruder Paul, 23.<br />

Drei Tage blieb Paul im Gefängnis von Bruneck,<br />

hörte aus dem Nachbarraum die Schreie seines<br />

jüngeren Bruders. Die Carabinieri suchten ihn<br />

einzuschüchtern – „Das passiert schon mal, daß<br />

plötzlich im Vernehmungsraum ein Wasserrohr<br />

platzt“ –, er versprach schließlich, auszupacken und<br />

ihnen ein geheimes Waffenlager zu zeigen.<br />

Zu Fuß, an einen Carabiniere gefesselt, ging’s hinauf<br />

in die Berge. Vor einem Felsspalt blieb Paul Auer<br />

stehen. „Dort drüben ist es, aber zusammengebunden<br />

können wir da kaum ’rüberspringen. Ihr müßt’s mich<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

55<br />

60<br />

65<br />

schon losbinden.“ Die Carabinieri banden ihn los<br />

und zogen ihm zur Sicher heit auch die Schuhe aus,<br />

um eine Flucht zu verhindern. Paul sprang – und<br />

meldete sich drei Tage später bei der Polizei im<br />

österreichischen Lienz. Barfuß hatte er sich nachts<br />

40 Kilometer weit durch die Berge gequält. […]<br />

Lehnten Verdächtige ein Geständnis ab, so<br />

wurden sie häufig nach mittelalterlicher Manier<br />

gefoltert – mit der berüchtigten Cassetta. Der<br />

Häftling wird mit zurückgeboge nem Kopf auf ein<br />

Holzgerüst gebunden. Über sein Gesicht stülpen<br />

die Folterknechte eine Gasmaske, durch deren<br />

Mundstück sie Salzwasser rinnen lassen, bis der Leib<br />

des Häftlings zu einem Ballon angeschwollen ist.<br />

Dann quet schen sie den Bauch zusammen, bis das<br />

Wasser wieder he rauskommt, und fangen von vorn<br />

an. Die Glut ihrer Ziga retten drücken sie am nackten<br />

Körper des Häftlings aus.<br />

Zehn italienische Polizisten wurden 1963 wegen<br />

solcher Foltermethoden angeklagt. Acht sprach ein<br />

Mailänder Gericht frei, die beiden anderen fielen<br />

unter eine inzwi schen erlassene Amnestie.<br />

Südtiroler kamen nicht so glimpflich davon. In<br />

zwei Mailänder Terroristen-Prozessen, 1963/64 und<br />

1966, wurden 148 Personen angeklagt – und rund 50<br />

erhielten vier bis 30 Jahre Gefängnis.<br />

Doch die meisten Angeklagten waren flüchtig. Nur<br />

verstohlen wagen sie sich heute bei Nacht in ihre<br />

Heimat, wo jeder Carabiniere ihren Steckbrief kennt.<br />

Die ursprüngliche „Bumser“-Organisation BAS ist<br />

zersprengt, heute sprengen, morden und schießen<br />

fanatische Einzelgänger, die jede Annäherung<br />

zwischen Südtirolern und Italienern verhindern<br />

wollen, verwirrte Jugendliche, von rechtsradikalen<br />

Ideen infiziert, die ihnen nicht nur aus Deutschlands<br />

NPD oder Österreichs FPÖ, sondern auch von<br />

Italiens Neofaschisten zufließen.<br />

Wie „Schmeißfliegen auf einer eitrigen Wunde“<br />

(so Dr. Jenny zum SPIEGEL) tummeln sie sich in<br />

Südtirol, um eine eigene Ideenwelt durchzusetzen,<br />

die mit den Interessen Südtirols nichts mehr gemein<br />

hat. Südtirol, so scheint es, ist zum Schuttabladeplatz<br />

für Ideologien geworden, die anderswo nicht mehr<br />

gedeihen.<br />

„Die Bimserei“, so versichert aber Rechtsanwalt<br />

Dr. Gartner, Parteiausschußmitglied der SVP, der in<br />

Mailand die „Bumser“ vor Gericht verteidigte, „hat<br />

das Südtirol-Problem immerhin vor die Uno und uns<br />

dahin gebracht, wo wir heute stehen.“<br />

Sie stehen heute da, wo sie vor zwanzig Jahren<br />

auch standen, angewiesen auf den guten Willen der<br />

Italiener, die jede Konzession nicht als Pflicht aus<br />

dem Pariser Abkommen von 1946 ansehen, sondern<br />

als freiwilliges innerstaatliches Geschenk.<br />

Sie stehen da als Nachbarn und Schutzbefohlene<br />

Österreichs, dessen nur noch schwarze Regierung<br />

„müde geworden ist“ (so der Südtiroler Assessor für<br />

Landwirt schaft, Dr. Peter Brugger) und das Südtirol-<br />

Problem ohne Rücksicht auf Verluste möglichst<br />

schnell aus der Welt schaffen möchte.<br />

Sie stehen da als ethnische, aber schon lange nicht<br />

mehr als politische Einheit.<br />

Denn zusammen mit den Österreichern sind auch<br />

ihre Führer müde geworden. Fünf Jahre lang haben<br />

sie jede Vereinbarung zwischen Österreich und<br />

Italien abgelehnt, immer war es ihnen – so das


Sepp Mall: Wundränder/Modul 4<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

Südtiroler Motto – „zu wenig, zu spät“.<br />

Nun aber, nach Geheimverhandlungen zwischen den<br />

Außenministern Toncic, Sorinj und Fanfani, wollen<br />

die Italiener 115 Zugeständnisse machen – und die<br />

Südtiroler sollen so viel Entgegenkommen damit<br />

bezahlen, daß sie freiwillig auf eine internationale<br />

Verankerung des „Pakets“ verzichten. SVP-Chef<br />

Dr. Silvius Magnago glaubt, dies sei Italiens letztes<br />

Angebot. Deshalb machte er das Paket zu seinem<br />

Paket, reiste nach Rom, um noch 14 Punkte zu<br />

„klären“, über ihre Ausdehnung zu feilschen, und<br />

drohte gegenüber Freunden sogar mit seinem<br />

Rücktritt, wenn die Südtiroler wieder ablehnten.<br />

Landeshauptmann Magnago, der im Zweiten<br />

Weltkrieg als Gebirgsjägerleutnant der Deutschen<br />

Wehrmacht ein Bein verlor und den sie heute hinter<br />

der Hand den „Reserve herrgott für Südtirol“ nennen,<br />

beschwört seine Landsleute, ihm zu folgen.<br />

Der Pfarrer beschwört sie sonntags von der Kanzel,<br />

das Paket anzunehmen, denn von Magnago weiß er<br />

sich gut behandelt: Der Regionalhaushalt vergibt in<br />

Artikel 27 elf Millionen Lire für „Instandsetzung,<br />

Ausrüstung und Einrichtung von Bibliotheken,<br />

Ausstellungssälen, Museen und anderer Räume, die<br />

für kulturelle Tätigkeit bestimmt sind“. 5,4 Millionen<br />

Lire, 15 von 28 Positionen verzeich nen kirchliche<br />

Organisationen als Empfänger. Und auch der Bischof<br />

Gargitter in Brixen beschwört seine Landsleute, das<br />

Paket anzunehmen.<br />

5<br />

10<br />

Doch die Tiroler sind ein „herzhaftes Volk“, sie<br />

wollen sich nicht wieder wie schon mehrfach seit<br />

46 Jahren mit Versprechungen abspeisen lassen, die<br />

Italien nach eigenem Ermessen auslegen kann. Sie<br />

verlangen eine Garantie, daß Rom diese Versprechen<br />

einhält – und sie verlangen, daß ihre politischen<br />

Führer diese juristische Garantie durchsetzen. […]<br />

Die Südtiroler nehmen ihre Gegensätze aber auch so<br />

persönlich, daß sie drohen, sich nicht mehr um das<br />

traditionelle Edelweiß zu scharen, sondern die SVP zu<br />

sprengen, wenn der Dr. Magnago jetzt ein Abkommen<br />

durchpeitschen will, das ihnen nur Versprechungen<br />

bietet, aber keine Garantien.


Diese Unterrichtsmaterialien sind dem Buch Lektüren I. Begleitmaterialien zu ausgesuchten Werken<br />

der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ISBN 978-3-7099-7041-6; <strong>Haymon</strong> <strong>Verlag</strong> 2013) von<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong> und <strong>Lara</strong> Dredge entnommen. Im Buch finden Sie zusätzlich weiterführende Materialien<br />

für Lehrerinnen und Lehrer. Ein Exemplar dieses Buchs können Sie unter office@haymonverlag.at<br />

zum Preis von € 9.95 bestellen. Für LehrerInnen ist die Bestellung kostenlos.<br />

Lektüren I bietet Begleitmaterialien zu acht wichtigen Werken der Gegenwartsliteratur aus Österreich,<br />

Südtirol und der Schweiz, die inhaltlich wie formal für die Behandlung im Deutschunterricht prädestiniert<br />

sind. <strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong> und <strong>Lara</strong> Dredge, die aus langjähriger Praxiserfahrung im Deutschunterricht schöpfen,<br />

haben zu diesen Texten didaktische Hilfestellungen ausgearbeitet, die Lehrerinnen und Lehrern in<br />

der Vorbereitung ihres Unterrichts bestmöglich unterstützen. In geschlossene Module gegliedert, ermöglichen<br />

die Begleitmaterialien einen flexiblen Einsatz im Rahmen eines zeitgemäßen Literaturunterrichts.<br />

<strong>Lara</strong> Dredge-Zehnder, lic. phil. I, geboren 1968, Studium der Germanistik und Anglistik, Zürich. Lehrerausbildung<br />

Sekundarstufe II.<br />

<strong>Markus</strong> <strong>Bundi</strong>, lic. phil. I, geboren 1969. Studium der Philosophie und Germanistik, Zürich. Autor und<br />

Herausgeber.<br />

Beide unterrichten seit Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!