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Rätselkrimis
4<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Das <strong>Detektivbüro</strong> <strong>XY</strong> 7<br />
Schach dem Dieb 8<br />
Ein komischer Kauz 13<br />
Die Bande des Schreckens 17<br />
Wer ist <strong>hier</strong> der Chef? 22<br />
Die Diebin 26<br />
Erwischt 28<br />
Der Überfall 32<br />
Wer ist der Dieb? 38<br />
Alles Gute kommt von oben 47<br />
Der Apfel<strong>die</strong>b 52<br />
Der Linkshänder 55<br />
Die Fensterscheibe 59<br />
Aufruhr am See 63<br />
Ritter Kunibert 67<br />
Raubritter auf Burg Drachenfels 71<br />
Das Grab des Kreuzritters 76<br />
In der Folterkammer 79<br />
Der Schatz in der Drachenhöhle 83<br />
King Kong in Bergheim 88<br />
Die dicke Königin 92<br />
Jetzt schlägt‘s 13 96<br />
Der größte Clown der Welt 102<br />
Die alte Hexe 106
Der vergessliche Dieb 109<br />
Nächtliche Überstunden 114<br />
Fahrerflucht 118<br />
Musikfreunde 122<br />
Frechheit siegt – aber nicht immer 126<br />
Doch im Wald, da sind <strong>die</strong> Räuber 131<br />
Die Räuberhöhle 135<br />
In der Bärenschlucht 140<br />
Noch ein Reifenstecher 144<br />
Die Festnahme 148<br />
Noch ein Einbruch 153<br />
Später Besuch 157<br />
Keine Gitarre für Pieri 162<br />
Pech gehabt! 166<br />
Ausgeflogen? 171<br />
Knastbrüder 176<br />
Auf heißer Spur 180<br />
Ein Männlein steht im Walde 184<br />
Künstlerpech 189<br />
Die Stimme vom Himmel 193<br />
Die M<strong>um</strong>ie 197<br />
Die Nadel im Heuhaufen 200<br />
Wer ruft sich schon selbst an? 203<br />
Der Schla<strong>um</strong>eier 207<br />
Till Eulenspiegel 210<br />
Wie klaut man einen Elefanten? 214<br />
Mich laust der Affe! 218<br />
Auflösungen 222<br />
5
6<br />
Komm mit<br />
ins Ferienlager!<br />
In <strong>die</strong>sem Zeltlager darfst du so richtig Detektiv sein.<br />
Die Lehrer und Eltern dort finden es klasse, wenn<br />
Kinder sich für <strong>die</strong> Dinge, <strong>die</strong> <strong>um</strong> sie her<strong>um</strong> passieren,<br />
interessieren und neugierig sind.<br />
In jeder der 50 Geschichten in <strong>die</strong>sem Buch befindet<br />
sich ein Rätsel. Zusammen mit den beiden jungen Detektiven<br />
vom <strong>Detektivbüro</strong> <strong>XY</strong> kannst alle Fälle lösen,<br />
wenn du <strong>die</strong> Geschichten aufmerksam liest und dir <strong>die</strong><br />
Bilder dazu genau anschaust.<br />
Lesen verboten!<br />
Du liest <strong>hier</strong> nur, weil es verboten ist? Dann tust du<br />
genau das, was alle Detektive tun würden.<br />
Alle Auflösungen zu den Geschichten findest<br />
du im Lösungsteil ab Seite 222.<br />
Wenn du aber zu früh nachschaust und dir<br />
keine Zeit z<strong>um</strong> Nachdenken und Betrachten der<br />
Bilder nimmst, ist es viel weniger aufregend – und<br />
echte Detektive brauchen doch immer ein bisschen<br />
prickelige Aufregung, findest du nicht?<br />
Viel Spaß beim Rätseln!
Das <strong>Detektivbüro</strong> <strong>XY</strong><br />
Pieris richtiger Name ist Pieter<br />
de Ruiter. Sein Vater kommt aus<br />
den Niederlanden.<br />
Pieri ist 11 Jahre alt. Er ist klug,<br />
freundlich, sportlich – viele<br />
Mädchen auf seiner Schule<br />
schwärmen für ihn. Pieri lebt<br />
mit seinen Eltern und seinem<br />
jüngeren Bruder Jantje zusammen.<br />
Er liebt Fußball und übt so oft<br />
es geht auf seiner Gitarre.<br />
Lisa heißt eigentlich Elisabeth<br />
Jochimsen. Sie ist 13 Jahre alt,<br />
hilfsbereit, freundlich, klug und<br />
sehr beliebt.<br />
Lügen und Stehlen mag Lisa gar<br />
nicht. Sie glaubt, dass niemand<br />
das Recht hat, sich einfach zu<br />
nehmen was er will.<br />
7
8<br />
Schach dem Dieb<br />
Pieter de Ruiter, von seinen Freunden Pieri genannt,<br />
stand am Fenster seines Eisenbahnabteils und winkte<br />
seinen Eltern zu, <strong>die</strong> ihn z<strong>um</strong> Bahnhof gebracht hatten.<br />
Als er sie nicht mehr sehen konnte, setzte er sich und<br />
hob <strong>die</strong> Zeitung auf, <strong>die</strong> auf dem Sitz neben ihm lag. Irgendein<br />
Fahrgast hatte sie vor dem Aussteigen achtlos<br />
liegen gelassen. Pieri schlug <strong>die</strong> Sportseiten auf.<br />
Er hatte ka<strong>um</strong> angefangen zu lesen, <strong>als</strong> er eine vertraute<br />
Stimme fragen hörte: „Ist <strong>die</strong>ser Platz noch frei?“<br />
Pieri blickte auf. Es war Lisa Jochimsen, <strong>die</strong> in der Tür<br />
des Abteils stand, in jeder Hand einen kleinen Koff er.<br />
„Wenn du dich auf den Platz setzt, ist er nicht mehr<br />
frei“, antwortete Pieri. „Außer uns beiden ist <strong>hier</strong> niemand<br />
im Abteil, wie du siehst.“<br />
Lisa legte ihre Koff er in das Gepäcknetz, dann setzte<br />
sie sich Pieri gegenüber. „Du fährst <strong>als</strong>o auch ins Ferienlager“,<br />
sagte sie.<br />
„Woher willst du das wissen?“<br />
„Ich könnte jetzt ja einfach behaupten, dass ich<br />
das mit detektivischem Scharfsinn aus der Farbe deiner<br />
Socken geschlossen habe. Aber <strong>die</strong> schlichte Wahrheit<br />
ist, dass ich gestern mit deinen Eltern gesprochen<br />
habe. Und ich habe ihnen doch tatsächlich versprochen,<br />
auf der Fahrt ins Lager ein bisschen auf dich aufzupassen.“
„Ich brauche keinen Aufpasser“, sagte Pieri, ein wenig<br />
verärgert. „Und schon gar kein Mädchen.“<br />
Er blickte durch <strong>die</strong> offene Abteiltür hinaus. Ein<br />
Mann stand draußen am Fenster mit einem Handy in<br />
der Hand.<br />
„e4“, sagte der Mann, dann, nach einer winzigen<br />
Pause, „Springer f3. Gut, dann Läufer b5.“<br />
„Seltsames Telefongespräch!“, wunderte sich Pieri.<br />
„Das ist eine Art Code“, sagte Lisa.<br />
„Du meinst <strong>als</strong>o wirklich, er ist ein Spion?“, flüsterte<br />
Pieri aufgeregt.<br />
„Nein, er spielt nur mit seinem Gesprächspartner<br />
Schach.“<br />
„Ohne Brett und Figuren?“<br />
„Brett und Figuren sind beim Schach eigentlich<br />
überflüssig. Alle 64 Felder sind durchn<strong>um</strong>meriert. Die<br />
waagerechten Reihen tragen <strong>die</strong> N<strong>um</strong>mern 1 bis 8,<br />
<strong>die</strong> senkrechten Linien <strong>die</strong> Bezeichnungen a bis h. Das<br />
schwarze Feld ganz links unten trägt <strong>als</strong>o <strong>die</strong> Bezeichnung<br />
a1, das weiße Feld rechts unten <strong>die</strong> Bezeichnung<br />
h1. War<strong>um</strong> hörst du mir nicht zu? War<strong>um</strong> liest du lieber<br />
in deiner blöden Zeitung?“<br />
„Ich will <strong>die</strong> Fußballergebnisse von gestern wissen,“<br />
antwortete Pieri. „Zuerst aber muss ich jetzt …“<br />
Es war ihm ein wenig peinlich, einem Mädchen zu<br />
sagen, was er jetzt musste. Vielleicht hatte er z<strong>um</strong> Frühstück<br />
zu viel Milch getrunken, und <strong>die</strong> musste er jetzt<br />
loswerden. Er legte <strong>die</strong> Zeitung weg und stand auf.<br />
„Passt du ein paar Minuten auf meine Sachen auf?“,<br />
fragte er. Dann ging er, ohne eine Antwort abzuwarten.<br />
9
Drei Abteile weiter hörte er ein leises Stöhnen. Er<br />
blieb vor der off enen Tür stehen und blickte hinein. Ein<br />
Mann kniete auf dem Boden. Mit einer Hand stützte er<br />
sich ab, mit der anderen betastete er vorsichtig eine<br />
blutende Wunde an seiner Stirn. Außer ihm befand sich<br />
niemand im Abteil.<br />
„Ein Dieb!“, keuchte der Mann. „Ich habe ihn erwischt,<br />
wie er in meinen Sachen her<strong>um</strong>wühlte. Aber<br />
bevor ich ihn festhalten konnte, schlug er zu.“<br />
„Haben Sie ihn erkannt?“, fragte Pieri.<br />
„Ich habe sein Gesicht höchstens eine Sekunde lang<br />
gesehen, bevor er mir das Ding verpasste. Aber vielleicht<br />
würde ich ihn wiedererkennen. Er kann noch<br />
nicht weit sein.“<br />
Der Mann kam mühsam auf <strong>die</strong> Beine, schob Pieri<br />
beiseite, wandte sich nach links und torkelte davon, immer<br />
noch benommen. Schon vor der nächsten Abteiltür<br />
blieb er stehen und schob <strong>die</strong> Tür auf. Er streckte <strong>die</strong><br />
Hand aus und zeigte anklagend auf einen der beiden<br />
Männer, <strong>die</strong> auf der linken Seite des Abteils saßen.<br />
„Das war er!“, rief er.<br />
„Das war wer?“, fragte eine Männerstimme hinter<br />
ihm. Es war der Schaff ner, der seine Runde durch den<br />
Zug machte, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Fahrkarten zu kontrollieren.<br />
„Das ist der Gauner, der mich niedergeschlagen hat“,<br />
antwortete der Überfallene. „Er wollte mich bestehlen …<br />
Meine Brieftasche ist weg! Er muss sie mir abgenommen<br />
haben, <strong>als</strong> ich bewusstlos auf dem Boden lag.“<br />
„Wie kommen Sie dazu, unschuldige Menschen zu<br />
verdächtigen?“, empörte sich der Beschuldigte. „Ich<br />
10
habe seit mindestens einer Stunde <strong>die</strong>ses Abteil <strong>hier</strong><br />
nicht verlassen.“<br />
„Das kann ich bestätigen“, nickte der Mann neben<br />
ihm. „Dieser Herr und ich, wir haben <strong>die</strong> ganze Zeit<br />
über Schach gespielt.“<br />
Er deutete auf das Schachbrett, das zwischen ihnen<br />
auf dem Sitz lag. Nur wenige Figuren standen darauf.<br />
Pieri erinnerte sich daran, was Lisa eben erst gesagt<br />
hatte. Dass <strong>die</strong> Felder eines Schachbretts mit Ziff ern<br />
von 1 bis 8 und Buchstaben von a bis h gekennzeichnet<br />
sind. Aber er entdeckte auf dem Brett und an seinem<br />
Rand weder Buchstaben noch Ziff ern.<br />
11
„Durchsuchen Sie ihn, Schaffner!“, verlangte der<br />
Überfallene. „Ich bin sicher, dass er meine Brieftasche<br />
noch bei sich hat.“<br />
„Na schön, durchsuchen Sie mich!“, stimmte der Beschuldigte<br />
grinsend zu. „Sie werden nur meine eigene<br />
Brieftasche finden.“<br />
Der Schaffner schaute z<strong>um</strong> Fenster. Es stand offen.<br />
Der Dieb konnte <strong>als</strong>o sehr wohl das Geld aus der gestohlenen<br />
Brieftasche genommen und sie dann aus<br />
dem Zug geworfen haben.<br />
„Es gibt nicht <strong>die</strong> Spur eines Beweises gegen <strong>die</strong>sen<br />
Herrn“, sagte der Schaffner zu dem Überfallenen.<br />
„Selbst wenn Sie schwören, ihn wiedererkannt zu haben,<br />
stünde seine Aussage gegen Ihre.“<br />
Pieri drängte sich zwischen dem Schaffner und dem<br />
Bestohlenen durch.<br />
„Die beiden Männer lügen“, sagte er. „Sie haben<br />
überhaupt nicht Schach gespielt.“<br />
„Woher willst du das wissen?“, wunderte sich der<br />
Schaffner. „Du siehst doch das Brett und <strong>die</strong> Figuren.“<br />
„Ich verstehe nicht viel von Schach“, bekannte Pieri.<br />
„Aber <strong>die</strong>se beiden <strong>hier</strong> verstehen noch weniger davon.“<br />
12<br />
Auflösung auf Seite 222
Ein komischer Kauz<br />
Der Zug lief langsam in den Bahnhof der kleinen Stadt<br />
Bergheim ein. Lisa und Pieri waren aufgestanden und<br />
schleppten ihre Koff er zur nächsten Tür.<br />
„Was blickst du so missmutig drein?“, fragte Lisa. „Ist<br />
dir dein Gepäck zu schwer?“<br />
„Nein. Ich weiß nur nicht, was uns in <strong>die</strong>sem Ferienlager<br />
erwartet.“<br />
„Nun, besser <strong>als</strong> zur Schule zu gehen wird es auf jeden<br />
Fall sein.“<br />
„Da bin ich mir nicht so sicher“, meinte Pieri. „Ein<br />
Junge aus meiner Klasse hat mir erzählt, dass er schon<br />
mal in einem solchen Lager war. Todlangweilig! Sie<br />
durften z<strong>um</strong> Beispiel nicht Fußball spielen, nicht fernsehen,<br />
und auch sonst war alles verboten, was Spaß<br />
macht. Dafür mussten sie fast jeden Tag lange Wanderungen<br />
unternehmen und dabei langweilige alte Lieder<br />
singen. Z<strong>um</strong> Beispiel ‚Im Frühstau zu Berge‘.“<br />
„Das Lied heißt ‚Im Frühtau zu Berge‘“, korrigierte<br />
Lisa ihn schmunzelnd.<br />
Der Zug war mit einem letzten R<strong>um</strong>peln stehen geblieben.<br />
Lisa öff nete <strong>die</strong> Tür, schulterte ihre Reisetasche<br />
und stieg aus. Pieri folgte ihr.<br />
Die beiden waren <strong>die</strong> einzigen Fahrgäste, <strong>die</strong> an<br />
dem kleinen Bahnhof ausstiegen. Sie blickten sich suchend<br />
<strong>um</strong>. Niemand schien sie zu erwarten.<br />
13
„Ich verlange ja nicht, dass wir vom Bürgermeister<br />
persönlich abgeholt werden“, maulte Pieri. „Und<br />
dass eine Blaskapelle spielt, während wir über den roten<br />
Teppich schreiten. Aber es hätte uns wenigstens<br />
jemand abholen können. Woher sollen wir denn nun<br />
wissen, wo wir hinmüssen?“<br />
Lisa ging auf <strong>die</strong> Tür des Bahnhofsgebäudes zu, stieß<br />
sie auf und trat ein. Pieri folgte ihr zögernd, während<br />
sie auf dem kürzesten Weg hinüber z<strong>um</strong> Fahrkartenschalter<br />
ging.<br />
Der Mann hinter der Glasscheibe packte gerade ein<br />
Wurstbrot aus und biss hinein. Es war Mittag, und er<br />
hatte sichtlich Hunger.<br />
„Wissen Sie, wo das Ferienlager ist?“, fragte Lisa den<br />
Mann.<br />
„Nein“, antwortete er kauend und ohne aufzublicken.<br />
„Bin nie dort gewesen.“<br />
„Können Sie uns sagen, wie wir hinkommen?“<br />
„Ja. Ihr braucht nur zu warten. Irgendwann taucht<br />
Hannes mit seinem Kleinbus auf und fährt euch hin.“<br />
„Ist das der Kleinbus da draußen vor dem Bahnhof?“,<br />
fragte Lisa weiter. Sie deutete durch <strong>die</strong> Eingangstür<br />
auf einen Wagen, der draußen stand.<br />
„Keine Ahnung!“, antwortete der Mann hinter der<br />
Glasscheibe. „So genau habe ich mir <strong>die</strong> Kiste noch nie<br />
angesehen.“ Er biss wieder in sein Wurstbrot.<br />
Lisa ging zielstrebig durch <strong>die</strong> Wartehalle und trat<br />
hinaus auf <strong>die</strong> Straße. Wieder folgte ihr Pieri. Fünf Kinder<br />
etwa ihres Alters standen dort draußen, zwei Jungs<br />
und drei Mädchen.<br />
14
„Ihr wollt <strong>als</strong>o auch z<strong>um</strong> Ferienlager“, stellte Lisa mit<br />
einem kurzen Blick auf das Gepäck der anderen fest.<br />
„Ist das der Kleinbus, der uns abholen soll?“<br />
„Bestimmt nicht“, antwortete der größere der beiden<br />
Jungen. „Das ist doch ein Schulbus, der geht uns<br />
nichts an.“<br />
Lisa trat an das Fahrzeug heran und blickte hinein.<br />
„Steht der Wagen denn schon lange <strong>hier</strong>?“, fragte<br />
Lisa weiter.<br />
„Zehn oder fünfzehn Minuten“, antwortete eines der<br />
Mädchen. „Der Fahrer ist so ein komischer alter Kauz<br />
mit einem wild wuchernden Backenbart, der aussieht<br />
15
wie ein Gestrüpp. Er ist da hineingegangen.“ Sie deutete<br />
auf eine Tür, über der geschrieben stand: BAHN-<br />
HOFSGASTSTÄTTE.<br />
„Passt ihr mal kurz auf meine Koffer auf?“, fragte Lisa.<br />
„Klar“, antwortete das Mädchen. Auch Pieri ließ seinen<br />
Koffer stehen und folgte Lisa. Er hatte zwar keine<br />
Ahnung, was sie vorhatte, aber er wollte unbedingt<br />
dabei sein.<br />
Lisa blickte sich nur kurz <strong>um</strong>, dann entdeckte sie einen<br />
wild aussehenden Mann mit Backenbart. Er saß an<br />
einem Tisch am Fenster und machte sich gerade über<br />
ein riesiges Schnitzel her.<br />
Lisa trat zu ihm.<br />
„Hannes, wir wollen z<strong>um</strong> Ferienlager.“<br />
„Wenn ich mit dem Schnitzel fertig bin“, antwortete<br />
der Mann. Dann blickte er erstaunt auf. „Woher weißt<br />
du, dass ich Hannes heiße und euch z<strong>um</strong> Ferienlager<br />
bringen soll?“<br />
Auch Pieri sah Lisa ungläubig an. Wie hatte sie das<br />
nun wieder herausgefunden?<br />
16<br />
Auflösung auf Seite 223
Die Bande<br />
des Schreckens<br />
Hannes hatte es nicht eilig, sein Mittagessen hinter sich<br />
zu bringen. Das Schnitzel schien ihm plötzlich nicht<br />
mehr zu schmecken. Missmutig sah er über den Teller<br />
auf Lisa und Pieri, <strong>die</strong> ihm gegenüber am Tisch standen.<br />
Pieri hatte das Gefühl, dass der Mann Kinder nicht<br />
ausstehen konnte.<br />
Ein Kellner kam vorbei. „Heute kein Bier, Hannes?“,<br />
fragte er. „Nein“, br<strong>um</strong>mte Hannes. „Bin im Dienst.“<br />
„Wir warten besser draußen“, sagte Lisa. An der Tür<br />
blickte sie sich noch einmal <strong>um</strong>. Sie sah, wie Hannes<br />
den Kellner wieder herbeiwinkte.<br />
Es dauerte noch mindestens eine Viertelstunde, bis<br />
Hannes sein Mittagessen beendet hatte und <strong>die</strong> Bahnhofsgaststätte<br />
verließ. Er warf den fünf wartenden Kindern<br />
einen kurzen, misstrauischen Blick zu, <strong>als</strong> erwarte<br />
er von ihnen Ärger. Dann versetzte er dem rechten hinteren<br />
Reifen seines Kleinbusses einen kräftigen Tritt,<br />
ging dann z<strong>um</strong> vorderen Reifen und misshandelte ihn<br />
auf <strong>die</strong> gleiche Weise. Nachdem er auf <strong>die</strong> Straßenseite<br />
des Wagens gewechselt war, wiederholte er <strong>die</strong> Prozedur<br />
an den beiden anderen Reifen und gab ihnen<br />
ebenfalls einen kräftigen Tritt.<br />
„Scheint ja ein ziemlich störrisches Biest zu sein, <strong>die</strong>ses<br />
Fahrzeug“, spottete der größere der beiden Jungs,<br />
17
<strong>die</strong> Lisa und Pieri eben kennengelernt hatten. „Braucht<br />
erst ein paar kräftige Fußtritte, <strong>um</strong> an <strong>die</strong> Arbeit zu<br />
gehen.“<br />
„Blödsinn!“, br<strong>um</strong>mte Hannes. „Foxi ist das bravste<br />
Auto, das man sich vorstellen kann.“<br />
„Es hat einen Namen?“, wunderte sich eines der<br />
Mädchen.<br />
„Ich hatte mal einen Hund, einen Foxterrier“, erzählte<br />
Hannes. „Der fuhr für sein Leben gern Auto. Zur<br />
Erinnerung an ihn habe ich <strong>die</strong>ses Auto Foxi genannt.“<br />
„Aber war<strong>um</strong> treten Sie Foxi?“, fragte Lisa.<br />
„Ich stelle nur fest, ob <strong>die</strong> Reifen genug Luft haben.<br />
Es treiben sich seit einiger Zeit ein paar Kerle in der<br />
Stadt her<strong>um</strong>, <strong>die</strong> sich einen Spaß daraus machen, Autoreifen<br />
zu zerstechen. Scheint eine Jugendbande zu<br />
sein. Eine wahre Bande des Schreckens.“<br />
Er schloss <strong>die</strong> Türen von Foxi auf. „Wer z<strong>um</strong> Ferienlager<br />
will, soll einsteigen!“, rief er. Lisa, Pieri und <strong>die</strong> fünf<br />
Kinder, <strong>die</strong> schon vor ihnen gekommen waren, drängten<br />
sich in das Fahrzeug. Pieri setzte sich auf den Sitz<br />
neben den Fahrer.<br />
Bevor auch Hannes selbst sich setzte, hob er <strong>die</strong> beiden<br />
Schilder auf, <strong>die</strong> auf dem Fahrersitz lagen. Pieri erkannte<br />
jetzt, dass sie beidseitig bedruckt waren.<br />
Auf der einen Seite stand SCHULBUS, auf der anderen<br />
FERIENLAGER. Hannes befestigte eines der beiden<br />
Schilder an der Innenseite der Frontscheibe, sodass<br />
von außen <strong>die</strong> Aufschrift FERIENLAGER zu sehen<br />
war, dann ging er nach hinten und befestigte von außen<br />
das andere Schild am hinteren Fenster.<br />
18
Pieri sah ihm dabei zu. Verwundert stellte er fest,<br />
dass Hannes das zweite Schild verkehrt her<strong>um</strong> anbrachte,<br />
sodass von außen <strong>die</strong> Aufschrift SCHULBUS zu<br />
lesen war.<br />
„Ich glaube, Hannes ist etwas verwirrt. Die Sache mit<br />
der Reifenstecherbande scheint ihn doch sehr mitzunehmen“,<br />
vermutete Pieri. „Nein, das ist nur <strong>die</strong> Macht<br />
der Gewohnheit“, widersprach Lisa. „Er fährt seit Jahren<br />
den Schulbus, <strong>als</strong>o bringt er, ein wenig geistesabwesend,<br />
das Schild auch heute so an wie immer.“<br />
Hannes stieg <strong>als</strong> Letzter ein und setzte sich hinter<br />
das Lenkrad. „Habt ihr euch alle angeschnallt?“, fragte<br />
er und blickte in <strong>die</strong> Runde.<br />
Alle nickten.<br />
Hannes br<strong>um</strong>mte etwas, was nur er selbst verstand,<br />
und fuhr los. Er war noch keine 100 Meter weit gekommen,<br />
<strong>als</strong> er hart auf <strong>die</strong> Bremse stieg. Ein Mann, der<br />
am Straßenrand gestanden hatte, hatte plötzlich zwei<br />
Schritte nach vorn gemacht auf <strong>die</strong> Straße, genau vor<br />
den Kleinbus.<br />
19
Hannes brachte das Fahrzeug gerade noch z<strong>um</strong> Stehen.<br />
Er sprang aus dem Wagen.<br />
„Was fällt Ihnen ein!“, rief er empört. „Sind Sie blind?“<br />
Der Mann deutete auf <strong>die</strong> Armbinde an seinem linken<br />
Oberarm. Es war ein gelbes Band mit drei im Dreieck<br />
angeordneten schwarzen Punkten darauf.<br />
„Klar bin ich blind“, sagte er. „Das sehen Sie doch.“<br />
Das Gesicht, das er Hannes zuwandte, war von einer<br />
großen dunklen Brille weitgehend verdeckt. Seine Augen<br />
waren hinter der Brille nicht zu sehen.<br />
„Blind zu sein genügt Ihnen wohl nicht, wie?“,<br />
knurrte Hannes. „Sie wollen auch noch überfahren<br />
werden und sich ein paar Knochen brechen.“<br />
20
„Das hatte ich keineswegs vor“, versicherte der<br />
Mann, sichtlich verärgert. „Aber es kann mir leicht passieren,<br />
wenn ich so rücksichtslosen, unfähigen Autofahrern<br />
begegne, wie Sie einer sind.“<br />
Vorsichtig ging der Mann zurück auf den Gehsteig.<br />
Dort drehte er sich noch einmal zu Hannes <strong>um</strong>, stieß<br />
wütend mit seinem Stock mehrfach auf den Boden,<br />
und rief: „Sie Rüpel!“ Dann ging er, mit seinem Stock<br />
den Weg ertastend, weg. Nach wenigen Schritten verschwand<br />
er in einer schmalen Gasse zwischen zwei<br />
Häusern.<br />
Hannes stieg wieder in seinen Kleinbus und fuhr los.<br />
Er kam nicht weit. Schon auf den ersten Metern spürte<br />
er, dass das Fahrzeug sich sonderbar verhielt. Er hielt<br />
an, stieg aus und ging <strong>um</strong> den Wagen her<strong>um</strong>.<br />
„Der Vorderreifen“, sagte er betrübt. „Er verliert Luft.<br />
Steigt aus, Kinder, ich muss den Reifen wechseln.“<br />
Lisa, Pieri und <strong>die</strong> anderen fünf stiegen aus. Während<br />
Hannes aus dem Koff erra<strong>um</strong> den Wagenheber<br />
und den Ersatzreifen holte, näherte sich von hinten<br />
neugierig ein Mann.<br />
„Panne, wie?“, fragte er. Seine Stimme klang schadenfroh.<br />
„Reifenschaden. Also wieder mal <strong>die</strong> Reifenstecherbande.<br />
Ich weiß wirklich nicht, was mit der heutigen<br />
Jugend los ist.“<br />
„Die heutige Jugend hat mit <strong>die</strong>sem kaputten Reifen<br />
nichts zu tun“, sagte Lisa. „Sie selbst haben ihn durchstochen.“<br />
Aufl ösung auf Seite 223<br />
21
22<br />
Wer ist <strong>hier</strong> der Chef?<br />
Hannes hatte den Reifen seines Kleinbusses gewechselt,<br />
er und <strong>die</strong> Kinder waren wieder eingestiegen.<br />
Es war eine kurze Fahrt durch <strong>die</strong> kleine Stadt. Lisa deutete<br />
aufgeregt auf ein großes, ziemlich altmodisch aussehendes<br />
Gebäude. „Vielleicht ist das das Ferienlager“,<br />
rief sie hoff nungsvoll.<br />
„Ein Schloss?“, wunderte sich Pieri. „War<strong>um</strong> nicht?“,<br />
beharrte Lisa. „Eine Freundin von mir war mal in einem<br />
Ferienheim, das in einem Schloss untergebracht war.“<br />
„Glaubst du, wir bauen eigens für ein paar freche<br />
Kinder ein Schloss?“, br<strong>um</strong>mte Hannes. „Wegen <strong>die</strong>ser<br />
paar Wochen in den Schulferien? Das dort vorn ist euer<br />
Camp.“ Er deutete nach vorn.<br />
„Zelte!“, sagten <strong>die</strong> vier Mädchen wie im Chor. Ihre<br />
Stimmen verrieten, wie enttäuscht sie waren. „Prima!“,<br />
sagte der größte der Jungs. „Ein richtiges Lager! Wie<br />
bei den Indianern.“<br />
Vor einem der Zelte hielt Hannes seinen Kleinbus an.<br />
„Aussteigen!“, sagte er. „Nehmt euer Gepäck und<br />
verschwindet!“<br />
Lisa, Pieri und <strong>die</strong> anderen fünf Kinder, <strong>die</strong> mit ihnen<br />
in dem Kleinbus gekommen waren, blickten sich <strong>um</strong>.<br />
„Erbärmlicher Service!“, sagte Frank, der älteste und<br />
größte von ihnen. „Ich erwarte ja nicht, dass wir empfangen<br />
werden wie in einem Hotel. Aber es sollte schon
jemand kommen und uns sagen, wohin wir uns wenden<br />
sollen.“<br />
„Das ist kein Hotel, sondern ein Ferienlager für Kinder“,<br />
sagte Lisa. „Offenbar werden wir in <strong>die</strong>sen riesigen<br />
Zelten <strong>hier</strong> wohnen.“<br />
„Riesig nennst du das?“, spottete Frank. „Ich war mal<br />
in München auf dem Oktoberfest, dort sind <strong>die</strong> Zelte<br />
viel größer. Dort passen Tausende von Menschen rein.“<br />
„Ich nehme an, der Chef wohnt nicht in einem Zelt,<br />
sondern in dem Haus dort drüben“, vermutete Pieri.<br />
„Deshalb schlage ich vor, wir gehen hinüber und melden<br />
uns an.“<br />
Niemand hatte etwas dagegen, <strong>als</strong>o marsc<strong>hier</strong>ten<br />
alle sieben z<strong>um</strong> Haus hinüber. Sie öffneten <strong>die</strong> Tür und<br />
traten ein. In dem Flur, in dem sie jetzt standen, gab es<br />
links und rechts je zwei Türen. An der ersten Tür gleich<br />
links prangte der Name „Dr. Großmann“.<br />
„Das ist er“, sagte Frank. „Jedenfalls war der Brief,<br />
den ich von dem Feriencamp bekommen habe, von einem<br />
Dr. Großmann unterschrieben.“<br />
23
Er klopfte an <strong>die</strong> Tür.<br />
„Herein!“, antwortete von drinnen eine Frauenstimme.<br />
Frank öff nete <strong>die</strong> Tür und trat ein. Die anderen sechs<br />
folgten ihm dicht auf. Eine Frau stand an einem hohen<br />
Bücherregal rechts an der Wand. Sie lachte bei dem Anblick<br />
der Kinder. „Da kommen ja <strong>die</strong> sieben Zwerge!“,<br />
rief sie.<br />
„Guten Tag, Frau Dr. Großmann“, sagte Frank. „Wir<br />
wollen uns <strong>hier</strong> …“<br />
„Ich bin nicht Frau Dr. Großmann“, unterbrach ihn <strong>die</strong><br />
Frau. „Ich wische nur Staub. Der Chef ist da draußen.“<br />
24
Sie deutete durch das Fenster hinaus. Dann ging sie.<br />
Frank trat ans Fenster. Lisa wollte ihm folgen, aber<br />
am Schreibtisch blieb sie stehen. Neben dem Telefon<br />
auf der Tischplatte stand ein silbergerahmtes Bild.<br />
„Und was ist daran so interessant?“, fragte Pieri<br />
neben Lisa.<br />
„Off enbar ist das <strong>die</strong> Frau von Dr. Großmann und<br />
sein Sohn“, antwortete Lisa. „Er will seine Familie immer<br />
bei sich haben. Sympathischer Mann!“ Sie trat zu Frank.<br />
Draußen stand nicht ein Mann, wie sie erwartet<br />
hatte, sondern zwei. Der eine trug einen Anzug und<br />
eine Krawatte, der andere Jeans, ein T-Shirt und Turnschuhe.<br />
Sein helles Haar schien ungekämmt, sein Gesicht<br />
war von unzähligen Sommersprossen übersät, auf<br />
seiner Nase saß eine Brille mit schmalem Rand.<br />
„Der mit Anzug und Krawatte ist zweifellos Dr. Großmann“,<br />
sagte Frank. „Der andere ist wohl ein kleiner Angestellter.“<br />
„Du solltest dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen<br />
lassen“, sagte Lisa. „Der Chef <strong>hier</strong> ist der andere.“<br />
Aufl ösung auf Seite 224<br />
25
26<br />
Die Diebin<br />
„Mein Name ist Fritz Großmann“, sagte der freundliche<br />
Mann mit dem struppigen roten Haar. Auf seinen<br />
Doktortitel legte er off enbar keinen Wert. „Darf ich auch<br />
erfahren, wer ihr seid? Meine Mitarbeiterin hat mir nur<br />
gesagt, dass <strong>die</strong> sieben Zwerge <strong>hier</strong> auf mich warten.“<br />
„Ich bin Frank Kleinschmidt“, sagte Frank und trat einen<br />
Schritt vor.<br />
„Eure Vornamen genügen mir völlig“, wehrte Herr<br />
Großmann ab. „Keine unnötigen Formalitäten!“ Er<br />
blickte das Mädchen an, das <strong>als</strong> Nächste in der Reihe<br />
stand. „Astrid“, sagte sie. – „Monika“, fügte <strong>die</strong> Nächste<br />
hinzu. – „Und ich bin Carmen“, sagte <strong>die</strong> dritte. – „Ich<br />
heiße Manuel“, sagte der kleinste der Jungs. – „Und ich<br />
Lisa“, sagte Lisa mit einer leichten Verbeugung. – „Mich<br />
nennen alle Pieri“, stellte sich Pieri vor. „Aber eigentlich<br />
heiße ich Pieter.“<br />
„Da wir jetzt alle wissen, mit wem wir es zu tun haben,<br />
können wir nun z<strong>um</strong> lästigen Papierkram kommen“,<br />
sagte Herr Großmann. „Ich werde euch jetzt offi -<br />
ziell in <strong>die</strong> Liste der bereits Angekommenen eintragen.“<br />
Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, öff nete eine<br />
Schublade und griff hinein. Er hatte den dünnen Aktenordner<br />
mit den Namen bereits auf den Tisch gelegt<br />
und wollte eben <strong>die</strong> Schublade schließen, <strong>als</strong> er stutzte.<br />
„Das Geld ist weg!“, rief er erschrocken.
„Dann bekommen wir wohl in den nächsten Tagen<br />
nichts zu essen“, grinste Frank.<br />
„So schlimm ist es nun auch wieder nicht“, meinte<br />
Dr. Großmann, der sich schnell wieder gefasst hatte.<br />
„Nach meiner Erinnerung waren es ka<strong>um</strong> mehr <strong>als</strong> 50<br />
Euro. Vor einer Viertelstunde war das Geld noch da …“<br />
„Dann hat <strong>die</strong> Frau das Geld geklaut, <strong>die</strong> eben <strong>hier</strong><br />
war, <strong>als</strong> wir kamen“, sagte Manuel überzeugt.<br />
„Frau Schulze?“ Herr Großmann schüttelte den Kopf.<br />
„Die kenne ich seit mehr <strong>als</strong> zehn Jahren. Eine grundehrliche<br />
Person. Einen Diebstahl würde ich ihr nie zutrauen.<br />
Aber andererseits … Sie ist der einzige Mensch,<br />
der weiß, dass ich <strong>hier</strong> Geld aufbewahre.“<br />
„Sie sollten nochmal nachschauen“, riet Lisa.<br />
Herr Großmann tat wie geheißen.<br />
„Ach ja, <strong>hier</strong> ist es tatsächlich!“, sagte er dann erleichtert.<br />
„Das Geld lag unter <strong>die</strong>sem Zettel <strong>hier</strong>, auf dem <strong>die</strong><br />
Lagerordnung ausgedruckt ist. Ich bin wirklich froh,<br />
dass sich <strong>die</strong> Sache so schnell geklärt hat. Nicht wegen<br />
des Geldes, 50 Euro wären kein großer Verlust gewesen.<br />
Viel wichtiger ist mir zu wissen, dass Frau Schulze<br />
doch keine Diebin ist. Aber woher hast du das eigentlich<br />
gewusst, Lisa?“<br />
„Lisa glaubt von allen Menschen immer nur das<br />
Beste“, antwortete Pieri an Lisas Stelle.<br />
„Ich verlasse mich nicht nur auf mein Herz, sondern<br />
genauso sehr auf meinen Verstand“, sagte Lisa.<br />
Herr Großmann lächelte. „So? Dann lass mal deine<br />
zwingende Beweisführung hören!“<br />
Auflösung auf Seite 225<br />
27
28<br />
Erwischt<br />
„Ich bin Gustav“, stellte sich der schmächtige junge<br />
Mann vor. Er war nicht viel älter <strong>als</strong> 20 Jahre, blass und<br />
ziemlich schüchtern. „Ich werde euch eure Zelte zeigen.<br />
Mädchen und Jungs schlafen natürlich in getrennten<br />
Zelten.“<br />
„Zelte sind großartig“, sagte der kleine Manuel. „Viel<br />
schöner <strong>als</strong> <strong>die</strong> blöden Hotels. Viel … abenteuerlicher.“<br />
„Mit <strong>die</strong>sem Abenteuer ist es bald vorbei“, sagte<br />
Gustav. „Wenn du das nächste Jahr wiederkommst,<br />
wirst du nicht mehr im Zelt, sondern dort drüben in<br />
dem alten Bauernhaus wohnen. Es wird gerade renoviert<br />
und z<strong>um</strong> Ferienheim <strong>um</strong>gebaut.“<br />
Er zeigte auf ein Gebäude, das hinter den Zelten bisher<br />
vor den Blicken der Kinder versteckt gewesen war.<br />
Das Gebäude war von einem Gerüst <strong>um</strong>geben und <strong>die</strong><br />
Dachziegel fehlten.<br />
Hinter der Ecke eines der Zelte tauchten drei Männer<br />
auf. Zwei von ihnen waren stämmige Burschen in<br />
der Kleidung von Arbeitern, Maurer vielleicht. Zwischen<br />
ihnen ging ein junger Mann, den sie von beiden<br />
Seiten festhielten. Sein rechtes Auge war geschwollen<br />
und schillerte blau und grün.<br />
„Was seid ihr nur für Rohlinge!“, fauchte Lisa <strong>die</strong> beiden<br />
Arbeiter an. „Wie könnt ihr einen Menschen so<br />
misshandeln!“
„Das Veilchen <strong>um</strong> sein Auge hat er nicht von uns“,<br />
sagte einer der beiden Arbeiter. Alle drei Männer blieben<br />
stehen. „Er ist auf der Flucht gestolpert und hat<br />
sich dabei den Schädel angeschlagen.“<br />
„Auf der Flucht?“, fragte Gustav.<br />
„Ja“, antwortete der zweite Arbeiter. „Auf der Flucht<br />
vor mir. Ich habe ihn erwischt, <strong>als</strong> er gerade in unserer<br />
Baubude <strong>die</strong> Spinde durchstöberte. Er wollte wohl unser<br />
Geld klauen. Bevor ich ihn festhalten konnte, stieß<br />
er mich zur Seite und rannte davon.“<br />
„Wann war das?“, fragte Lisa.<br />
„Vor zehn oder fünfzehn Minuten“, antwortete der<br />
Mann.<br />
„Und jetzt habt ihr ihn erst erwischt?“<br />
„Ja. Gerade eben.“<br />
„Dann wird er es wohl nicht gewesen sein“, überlegte<br />
Lisa. „In zehn oder fünfzehn Minuten kann ein<br />
Fußgänger einen Kilometer zurücklegen, auch wenn er<br />
sich nicht beeilt. Mit dem Rad würde er leicht <strong>die</strong> drei-<br />
29
fache Entfernung schaff en, ohne sich besonders anzustrengen.<br />
Und mit dem Auto mindestens <strong>die</strong> fünff ache.<br />
Mit anderen Worten: Wenn er der Dieb wäre, wäre er<br />
längst über alle Berge.“<br />
„Du bist ja eine ganz besonders Schlaue!“, spottete<br />
der ältere der beiden Arbeiter. „Sieh dir mal seine<br />
Hände an! Was siehst du da?“<br />
„Nichts. Außer dass er an jeder Hand fünf Finger hat.<br />
Wie <strong>die</strong> meisten Menschen.“<br />
Der Arbeiter lachte. „Der Kerl, der vor mir gefl ohen<br />
ist, ist gestolpert und gestürzt. Dabei hat er sich nicht<br />
nur das blaue Auge geholt, sondern hat auch einen Eimer<br />
mit grüner Farbe <strong>um</strong>gestoßen. In <strong>die</strong>se Farbpfütze<br />
ist er mit beiden Händen gefallen. Aber jetzt sind seine<br />
30
Hände sauber. Er hat sie sich <strong>als</strong>o abgewaschen. Mit<br />
grüner Farbe an den Pfoten würde er zu sehr auff allen.<br />
Eine solche Farbe wird man aber nicht so leicht los.<br />
Deshalb ist er noch <strong>hier</strong> und nicht schon längst über<br />
alle Berge, wie du vermutet hattest.“<br />
„Ich habe ihn gesehen“, sagte ein Junge aus dem<br />
Camp aufgeregt. „Dort drüben in der Toilette.“ Er deutete<br />
auf ein kleines Gebäude, das etwas abseits von<br />
den Zelten stand. „Ich erkenne ihn genau wieder! Er<br />
wusch sich mit Seife grüne Farbe von den Händen.“<br />
„Du hast <strong>als</strong>o sein Gesicht gesehen?“, fragte Lisa.<br />
„Klar! Ganz deutlich. Im Spiegel. Dabei habe ich<br />
auch gesehen, dass sein rechtes Auge fast zugeschwollen<br />
und dunkel verfärbt ist.“<br />
„Das ist mir schon gestern passiert“, beteuerte der<br />
Festgehaltene. „Bei der Arbeit.“<br />
„Ich glaube, er sagt <strong>die</strong> Wahrheit“, sagte Lisa. „Sie haben<br />
den f<strong>als</strong>chen Mann erwischt, meine Herren!“<br />
„Ich weiß nicht, ob ich an deinem Verstand zweifeln<br />
soll oder an deinen Augen“, sagte Pieri zu Lisa.<br />
„Du siehst doch sein blaues rechtes Auge, genau wie<br />
bei dem Mann, der sich dort drüben in der Toilette <strong>die</strong><br />
grüne Farbe von den Händen gewaschen hat.“<br />
Aufl ösung auf Seite 225<br />
31
32<br />
Der Überfall<br />
Pieri strampelte, <strong>als</strong> wolle er im Endspurt eine wichtige<br />
Etappe der Tour de France gewinnen. Aber er hatte etwas<br />
viel Wichtigeres vor: Er wollte pünktlich z<strong>um</strong> Mittagessen<br />
im Ferienlager sein. Wer zu spät kam, bekam<br />
nichts mehr zu essen. Jedenfalls hatten das <strong>die</strong> Leiter<br />
des Ferienlagers angedroht. Pieri glaubte es zwar nicht<br />
wirklich, aber bei den Erwachsenen kann man nie wissen.<br />
Außerdem wollte er nicht schon an den ersten Tagen<br />
unangenehm auff allen.<br />
Die Straße des kleinen Ortes Bergheim bestand aus<br />
Kopfsteinpfl aster. Das Rad holperte und hüpfte so heftig,<br />
dass Pieri befürchtete, an dem alten Drahtesel würden<br />
sich <strong>die</strong> Schrauben lockern. Wirklich erstaunlich,<br />
wie anstrengend das Radfahren auf einem solchen<br />
Pfl aster war.<br />
Pieri sah den Mann schon lange im Voraus. Nicht<br />
nur, weil er außer ihm selbst der einzige Mensch auf<br />
der Straße war. Auch unter 50 Menschen wäre der Bursche<br />
sofort aufgefallen. Trotz der sommerlichen Hitze<br />
trug er einen Regenmantel, der viel zu weit war für<br />
seine lange, dünne Gestalt.<br />
Der Mann ging auf dem linken Gehsteig in <strong>die</strong> gleiche<br />
Richtung wie Pieri, und er schien es ebenso eilig zu<br />
haben. Vielleicht war auch er auf dem Weg z<strong>um</strong> Mittagessen.
Plötzlich bog der Mann nach rechts ab, trat auf <strong>die</strong><br />
holprige Fahrbahn und überquerte sie mit langen<br />
Schritten, ohne nach links oder rechts zu sehen.<br />
Pieri hörte auf zu strampeln. Er klingelte. Der Mann,<br />
tief in seine Gedanken versunken, schien ihn nicht zu<br />
hören. Er ging weiter. Na schön, dachte Pieri, dann lasse<br />
ich ihm eben <strong>die</strong> Vorfahrt und fahre hinter ihm vorbei.<br />
Im gleichen Augenblick blieb der Mann stehen, <strong>als</strong><br />
sei ihm plötzlich etwas eingefallen, machte kehrt und<br />
setzte sich ruckartig wieder in Bewegung. Den jungen<br />
Radfahrer sah er nicht, und er hörte auch nicht das<br />
Klingeln.<br />
Pieri riss den Lenker nach links, <strong>um</strong> dem Mann auszuweichen.<br />
Das gelang ihm. Auf dem Rad zu bleiben<br />
gelang ihm nicht mehr. Er flog in hohem Bogen über<br />
den Lenker und landete hart auf dem Kopfsteinpflaster.<br />
„Verdammter Bengel!“, hörte er <strong>die</strong> Stimme des Mannes.<br />
„Hast du keine Augen im Kopf?“<br />
Die Beleidigung ärgerte Pieri so sehr, dass er ka<strong>um</strong><br />
<strong>die</strong> Schmerzen spürte. Er achtete nicht auf <strong>die</strong> blutigen<br />
Schürfwunden an seinen Knien und auf den aufgeschlagenen<br />
Ellbogen. Im Augenblick interessierte ihn<br />
nur, ob das Rad heil geblieben war. Es war nicht sein eigenes<br />
Rad, er hatte es sich nur geliehen. Und er hatte<br />
versprochen, es unbeschädigt zurückzugeben.<br />
Auf den allerersten Blick schien das Rad in Ordnung<br />
zu sein. Die Felgen jedenfalls zeigten bei der Überprüfung<br />
keine Acht.<br />
„Du bist eine Gefahr für deine Mitmenschen“,<br />
schimpfte der Mann.<br />
33
Pieri war nicht erpicht darauf, noch mehr solcher Beschimpfungen<br />
über sich ergehen zu lassen. Er schob<br />
das Rad an, sprang im Laufen auf und begann wieder<br />
zu strampeln. Er wollte pünktlich im Ferienlager sein.<br />
Der Mann starrte ihm fi nster nach. Dann schaute er<br />
auf seine Armbanduhr. Fünf Minuten vor zwölf. Plötzlich<br />
hatte er es wieder sehr eilig. Er überquerte <strong>die</strong><br />
Straße, erreichte mit wenigen Schritten eine Kreuzung<br />
und bog nach rechts ab in eine stille schmale Querstraße.<br />
Vor dem zweiten Haus blieb er stehen, genau<br />
vor der Tür eines kleinen Schreibwarenladens. Er griff<br />
in <strong>die</strong> Tasche seines Regenmantels, holte eine riesige<br />
dunkle Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. Dann<br />
zog er <strong>die</strong> Krempe seines Hutes tiefer in <strong>die</strong> Stirn und<br />
stieß mit der anderen Hand <strong>die</strong> Tür auf.<br />
Der kleine alte Mann hinter der Kasse blickte ihm<br />
freundlich entgegen. „Guten Tag!“, grüßte er.<br />
„Geld her!“, antwortete der andere. „Geben Sie mir<br />
alles, was Sie haben!“<br />
„Das ist so wenig, dass Sie enttäuscht sein werden“,<br />
sagte der Alte. „Dafür lohnt sich ein Überfall nicht.“<br />
„Für einen Mann in meiner Situation ist auch wenig<br />
Geld viel Geld“, sagte der Fremde. Er packte den Alten,<br />
schubste ihn grob in ein Hinterzimmer und verschloss<br />
schnell <strong>die</strong> Tür. Dann trat er hinter den Ladentisch. Er<br />
öff nete <strong>die</strong> altmodische Kasse und griff gierig hinein.<br />
Hastig stopfte er <strong>die</strong> wenigen Geldscheine und Münzen,<br />
<strong>die</strong> sich darin befanden in eine Tasche seines alten<br />
Regenmantels, ohne sie vorher noch zu zählen, dann<br />
ging er.<br />
34
Bevor er hinaus auf <strong>die</strong> Straße trat, warf er einen<br />
schnellen Blick nach links und rechts. Kein Mensch<br />
war zu sehen. Der Räuber lächelte zufrieden. Niemand<br />
hatte den Überfall bemerkt, und niemand hatte ihn<br />
gesehen, wie er den Laden betreten und schon eine<br />
Minute später wieder verlassen hatte.<br />
Die gute Laune des Räubers hielt nicht lange an.<br />
Schon eine Stunde nach dem Überfall stand er wieder<br />
in dem kleinen Schreibwarenladen. Er trug keinen Regenmantel<br />
mehr, keinen Hut und keine Sonnenbrille,<br />
dafür stählerne Handschellen.<br />
„Du bist wirklich ein Idiot, Manni!“, sagte Polizeimeister<br />
Anders kopfschüttelnd. „Bei allen deinen Überfällen<br />
wendest du <strong>die</strong> gleiche Methode an. Ein kleiner Laden<br />
in einer kleinen Stadt, notdürftige Maskierung mit<br />
35
Hut und Sonnenbrille, und ein viel zu weiter Mantel,<br />
der deine dünne Gestalt verbergen soll. Deshalb sind<br />
wir so schnell auf dich gekommen. Lernst du denn nie<br />
dazu? Erst vor vierzehn Tagen hat man dich aus dem<br />
Gefängnis entlassen, und schon begehst du wieder einen<br />
Überfall! Nach der gleichen Methode.“<br />
Manni versuchte es mit Frechheit. „Dass man mich<br />
dam<strong>als</strong> eingesperrt hat, war ein Fehlurteil. Und mit <strong>die</strong>sem<br />
Überfall <strong>hier</strong> habe ich überhaupt nichts zu tun. Ich<br />
war im Nachbardorf. Dort, wo Sie mich festgenommen<br />
haben. In <strong>die</strong>sem erbärmlichen Kaff <strong>hier</strong> bin ich noch<br />
nie in meinem Leben gewesen.“<br />
„Ich kann wirklich nicht beschwören, dass es <strong>die</strong>ser<br />
Mann war, der mich eingesperrt und ausgeraubt<br />
hat“, sagte der Ladenbesitzer. „Sein Gesicht habe ich ja<br />
ka<strong>um</strong> gesehen. Die riesige Sonnenbrille, der tief ins Gesicht<br />
gezogene Hut, der hochgeschlagene Mantelkragen<br />
… Wahrscheinlich war es wirklich ein anderer.“<br />
Manni grinste. „Na <strong>als</strong>o!“, sagte er zufrieden. „Die Gerechtigkeit<br />
hat wieder mal gesiegt, und ein Unschuldiger<br />
wurde vor dem Gefängnis bewahrt. Nehmen Sie<br />
mir endlich <strong>die</strong> verdammten Handschellen ab!“<br />
„Zuerst einmal bringen wir dich auf unser Revier<br />
und unterhalten uns eine Weile mit dir.“ Wachtmeister<br />
Anders nahm Manni am Arm und führte ihn zur Tür.<br />
Eine Menge Menschen hatte sich auf der Straße angesammelt,<br />
seit sich <strong>die</strong> Nachricht von dem Überfall<br />
und der Festnahme des mutmaßlichen Täters her<strong>um</strong>gesprochen<br />
hatte. Unter den Schaulustigen befanden<br />
sich auch Pieri und Lisa.<br />
36
„Den kenne ich!“, rief Pieri aufgeregt. „Das ist er!“<br />
„Was will <strong>die</strong> Rotznase von mir?“, br<strong>um</strong>mte Manni.<br />
„Das ist der Mann, der mir plötzlich vor das Rad gelaufen<br />
ist“, berichtete Pieri. „Hier, sehen Sie, bei dem<br />
Sturz habe ich mir <strong>die</strong> Knie aufgeschürft.“<br />
„Wann und wo war das?“, fragte Wachtmeister Anders<br />
in ernstem Ton.<br />
„Vor ungefähr einer Stunde“, antwortete Pieri. „Kurz<br />
vor zwölf. Dort drüben in der Querstraße.“<br />
„Also ungefähr zur Zeit des Überfalls, keine 100<br />
Schritte vom Tatort entfernt“, fasste Wachtmeister Anders<br />
zusammen. Er sah den Mann in den Handschellen<br />
an. „Hast du mir nicht eben erzählt, dass du noch nie in<br />
unserer Stadt warst?“<br />
„Der Bengel lügt doch!“, behauptete Manni frech. „Er<br />
hat mich noch nie in seinem Leben gesehen.“<br />
„Doch, das habe ich“, beharrte Pieri. Er hasste es,<br />
wenn man ihn einen Lügner nannte.<br />
„Hast du ihn auch <strong>hier</strong> gesehen, <strong>als</strong> er aus dem Laden<br />
kam?“, fragte Wachtmeister Anders.<br />
„Ich habe ihn gesehen!“, wiederholte Pieri. Wieder<br />
dachte er an den Schrecken, <strong>als</strong> er drüben in der Querstraße<br />
dem fremden Mann ausweichen wollte und mit<br />
dem Rad gestürzt war.<br />
„Er lügt!“, schrie Manni. „Er hat mich nicht gesehen.<br />
Niemand kann mich <strong>hier</strong> gesehen haben! Weil überhaupt<br />
niemand … weil ich überhaupt nicht <strong>hier</strong> war.“<br />
Pieri grinste. „Das ist so gut wie ein Geständnis. Er<br />
war <strong>hier</strong>!“<br />
Auflösung auf Seite 226<br />
37
38<br />
Wer ist der Dieb?<br />
„Hört mir bitte alle mal zu!“ Verzweifelt versuchte Gustav<br />
sich Gehör zu verschaff en. Er war extra aufgestanden,<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu<br />
ziehen, doch niemand hörte dem schmächtigen jungen<br />
Mann zu.<br />
Auch nicht Lisa und Pieri, neben deren Tisch er<br />
stand. Pieri kannte ihn erst seit gestern, er wusste über<br />
ihn nicht mehr, <strong>als</strong> dass alle <strong>hier</strong> im Ferienlager ihn für<br />
einen Trottel hielten.<br />
Gustav stellte sich auf <strong>die</strong> Zehenspitzen, <strong>um</strong> größer<br />
zu wirken, und reckte beide Arme gen Himmel. Na ja,<br />
vom Himmel war nichts zu sehen in dem großen Zelt,<br />
in dem <strong>die</strong> Teilnehmer des Ferienlagers ihr Frühstück,<br />
das Mittagessen und das Abendessen einzunehmen<br />
pfl egten. Nur <strong>die</strong> noch tief stehende Morgensonne<br />
schimmerte schwach durch <strong>die</strong> Zeltplane.<br />
„Ich muss euch etwas Wichtiges mitteilen!“, rief<br />
Gustav mit etwas lauterer Stimme.<br />
Niemand wollte seine wichtige Mitteilung hören.<br />
Gustav begriff , dass es ihm nicht gelingen würde,<br />
<strong>die</strong> Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen auf<br />
sich zu ziehen. Jetzt sah er drein, <strong>als</strong> würde er im nächsten<br />
Augenblick anfangen zu weinen.<br />
Am Tisch neben Lisa und Pieri stand Mike auf. Mike<br />
war zwei oder drei Jahre jünger <strong>als</strong> Gustav, aber so
ziemlich das Gegenteil von ihm. Er war einen halben<br />
Kopf größer, hatte doppelt so breite Schultern<br />
und besaß zehnmal so viel Selbstbewusstsein. Er besuchte<br />
<strong>die</strong>selbe Schule wie Lisa und Pieri, im nächsten<br />
Jahr würde er das Abitur machen, wenn er nicht wieder<br />
sitzen blieb. Das war ihm schon ein- oder zweimal<br />
passiert, aber das schmälerte sein Ansehen bei seinen<br />
Mitschülern nicht. Mike war cool, darin waren sich alle<br />
einig. Der kleine, schmächtige, schüchterne Gustav war<br />
noch nie in den Verdacht geraten, cool zu sein.<br />
„Ruhe!“, gebot Mike streng. Zwei Sekunden später<br />
herrschte Stille im großen Zelt. „Gustav möchte euch<br />
etwas ungeheuer Wichtiges mitteilen.“<br />
Einige lachten. Was Gustav zu sagen hatte, konnte<br />
nicht allzu wichtig sein.<br />
„Wir machen heute eine Wanderung zur Ruine Drachenfels“,<br />
sagte Gustav mit unsicherer Stimme. Er<br />
machte einen Schritt nach vorn, <strong>als</strong> hoffe er, nun besser<br />
gehört zu werden. „Niemand muss mitgehen. Es sind<br />
ungefähr fünf Kilometer bis zu der Ruine, immer bergauf,<br />
und das ist vielleicht manchem von euch zu viel.“<br />
„Wenn du <strong>die</strong> Strecke schaffst, schafft es auch jeder<br />
andere“, spottete Mike.<br />
Wieder lachten einige.<br />
„Ruine Drachenfels?“, fragte Pieri. „Eine richtige<br />
Burg? Mit Türmen, Gräben, Zinnen, Folterkammer und<br />
einem Schlossgespenst?“<br />
„Im Augenblick nicht“, antwortete Mike an Gustavs<br />
Stelle. „Nur wenn Gustav sich in den Trümmern her<strong>um</strong>treibt,<br />
kann man dort einen Geist sehen.“<br />
39
Mike prustete vor Lachen. Etliche andere stimmten<br />
mit ein.<br />
Mit jeder d<strong>um</strong>men Bemerkung <strong>die</strong>ses Gorillas werden<br />
<strong>die</strong> Lacher mehr, dachte Lisa verärgert.<br />
„Eine richtige Burg!“, wiederholte Pieri. „Da gibt es<br />
bestimmt eine Menge zu fotografieren.“<br />
„Hast du denn eine Kamera, Pieri?“, fragte Gustav<br />
interessiert.<br />
„Klar hat er einen Knipskasten“, antwortete Mike am<br />
Nebentisch an Pieris Stelle. „Er fotografiert ununterbrochen<br />
damit. Ich glaube, er hat jeden von uns schon<br />
dreimal auf seinen Film gebannt.“<br />
„Das ist eine Digitalkamera“, sagte Pieri. „Die braucht<br />
keinen Film. Nur eine Speicherkarte.“<br />
Er griff in seine Hosentasche und holte <strong>die</strong> Kamera<br />
heraus. Das Essen auf seinem Teller war ihm vollkommen<br />
gleichgültig geworden.<br />
„Du hast <strong>als</strong>o schon viele Bilder gemacht?“, fragte<br />
Gustav.<br />
„Eigentlich nicht. Ich habe <strong>die</strong> Kamera ja erst seit<br />
gestern. Es ist eine ziemlich billige Kamera, 49 Euro.<br />
Mehr konnte ich mir von meinem Taschengeld nicht<br />
zusammensparen. Aber sie hat immerhin einen fünffachen<br />
optischen und vierfachen digitalen Zoom.“<br />
„Digitalzoom kannst du vergessen“, sagte Gustav.<br />
„Bringt keine ordentliche Vergrößerung, verschlechtert<br />
nur <strong>die</strong> Bildqualität.“<br />
„Du kennst dich mit Kameras aus? Darf ich dir vielleicht<br />
ein paar Fragen stellen? Wie gesagt, ich habe <strong>die</strong><br />
Kamera erst seit gestern. Und ich bin noch nicht einmal<br />
40
dazu gekommen, <strong>die</strong> Be<strong>die</strong>nungsanleitung zu lesen.<br />
Die ist über 100 Seiten dick.“<br />
„Wenn du, anstatt jeden Mülleimer zu knipsen, <strong>die</strong><br />
Anleitung lesen würdest, dann …“<br />
Lisa kam nicht dazu, den Satz zu vollenden.<br />
Gustav und Pieri hatten sich in eine Diskussion über<br />
Kameras vertieft und waren für alles, was <strong>um</strong> sie her<strong>um</strong><br />
geschah, taub.<br />
Mike griff vom Nebentisch herüber und nahm Pieri<br />
<strong>die</strong> Kamera ab, ohne zu fragen.<br />
„Kinderspielzeug!“, sagte Mike und reichte Pieri <strong>die</strong><br />
Kamera zurück. „Gerade richtig für dich, Kleiner, und<br />
für einen Typen wie unseren Gustav.“<br />
Es war das erste Mal, dass Pieri <strong>die</strong>sen Mike ganz aus<br />
der Nähe erlebte. Von Minute zu Minute mochte er ihn<br />
weniger.<br />
Mike ging weg, <strong>um</strong> sich noch etwas Kakao zu holen.<br />
„Was mache ich, wenn meine Speicherkarte voll ist?“,<br />
fragte Pieri. „Hier im Lager werde ich mir wohl keine<br />
neue kaufen können, oder?“<br />
„Nein“, antwortete Gustav. „In der Stadt könntest du<br />
dir eine besorgen, aber dazu ist keine Zeit mehr. Bis dahin<br />
musst du dir eben ohne Karte behelfen.“<br />
„Wie denn?“<br />
„Deine Kamera besitzt einen internen Speicher.<br />
Wenn <strong>die</strong> Karte voll ist, werden <strong>die</strong> Aufnahmen eben in<br />
<strong>die</strong>sem fest eingebauten Speicher aufgenommen. Für<br />
zehn oder fünfzehn Bilder wird das schon reichen.“<br />
Eine Stunde später waren alle, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong> Ruine<br />
Drachenfels ansehen wollten, unterwegs. Auf einem<br />
41
kleinen Rastplatz unterhalb der Burg machten sie eine<br />
kurze Pause. Im Gegensatz zu den meisten anderen<br />
setzte Pieri sich nicht. Er lief mit seiner Kamera her<strong>um</strong><br />
und suchte einen günstigen Standort für seine Aufnahmen.<br />
Als er glaubte, den besten Platz gefunden zu haben,<br />
drückte er ab.<br />
Ein kurzer Blitz blendete ihn. Verwundert sah er <strong>die</strong><br />
Kamera an. Hinter sich hörte er ein leises Lachen.<br />
Es war Lisa.<br />
„Glaubst du, dass du <strong>die</strong> Burg da oben mit deinem<br />
kleinen Blitzlicht ausreichend beleuchten kannst?“,<br />
fragte sie.<br />
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Pieri. „Dieser Blitz<br />
reicht nicht weiter <strong>als</strong> drei oder vier Meter. Ich muss ihn<br />
versehentlich zugeschaltet haben. Oder Mike hat auf<br />
<strong>die</strong> f<strong>als</strong>che Taste gedrückt, <strong>als</strong> er an der Kamera her<strong>um</strong>spielte.“<br />
Pieri schaltete <strong>die</strong> Kamera auf Wiedergabe und betrachtete<br />
auf dem kleinen Bildschirm das Foto.<br />
„Die Burg ist gut getroff en“, sagte er. „Aber der Kerl<br />
im Vordergrund …“<br />
„Welcher Kerl?“, fragte Lisa.<br />
„Der da an dem Tisch, wo unsere Rucksäcke liegen.<br />
Der Kerl verdirbt mir <strong>die</strong> ganze Aufnahme.“<br />
„Wo ist er?“, fragte Lisa. Sie blickte sich suchend <strong>um</strong>.<br />
Der „Kerl“, den Pieri eben fotografi ert hatte, war verschwunden.<br />
„Ist er auf dem Foto zu erkennen?“<br />
„Nein. Man kann nur erkennen, dass er einen roten<br />
Rucksack in der Hand hält. Aber war<strong>um</strong> fragst du denn<br />
nach ihm?“<br />
42
„Ich wundere mich, dass er so plötzlich verschwunden<br />
ist.“<br />
Eine Stunde später wusste Lisa, war<strong>um</strong> der Kerl so<br />
schnell abgehauen war. Es gab in der Burgruine einen<br />
Kiosk, an dem man Getränke und dergleichen kaufen<br />
konnte. Romy, ein nettes Mädchen, mit dem Lisa sich<br />
in den letzten Tagen angefreundet hatte, wollte sich etwas<br />
zu trinken kaufen und stellte dabei fest, dass ihre<br />
Geldbörse fehlte.<br />
„Mein ganzes Geld ist darin“, klagte sie. „Fast 50<br />
Euro.“<br />
43
Verzweifelt kramte sie in ihrem Rucksack, in der<br />
schwachen Hoffnung, ihre Geldbörse doch noch zu<br />
finden.<br />
„Ein roter Rucksack“, sagte Lisa nachdenklich. „Der<br />
Kerl auf deinem Foto hatte doch einen roten Rucksack<br />
in der Hand, nicht wahr?“<br />
Pieri nickte.<br />
„Was für ein Foto?“, fragte Gustav, der näher getreten<br />
war.<br />
„Das Foto, auf dem du zu sehen bist, wie du Romys<br />
Rucksack plünderst“, antwortete Mike, der ebenfalls näher<br />
kam.<br />
Gustav wurde blass.<br />
„Du siehst aus wie das leibhaftige schlechte Gewissen“,<br />
sagte Mike. „Ich glaube, es könnte nicht schaden,<br />
wenn wir mal deinen Rucksack durchsuchen würden.“<br />
Gustav wurde noch blasser.<br />
„Willst du damit andeuten, dass ich …“<br />
44
„Er will gar nichts andeuten“, sagte Andy, einer von<br />
Mikes Freunden. Er hielt Gustavs Rucksack in der Hand<br />
und griff hinein. Als er <strong>die</strong> Hand herauszog, hielt er eine<br />
Geldbörse darin.<br />
„Das ist meine!“, rief Romy. „Hoffentlich ist das Geld<br />
noch da!“<br />
Sie wurde enttäuscht. Die Geldscheine fehlten, nur<br />
ein paar lächerliche Münzen waren in der Börse.<br />
„Du hast doch gerade von einem Foto gesprochen“,<br />
sagte Mike jetzt, an Pieri gewandt. „Mit einem Kerl<br />
darauf, der sich an einem roten Rucksack zu schaffen<br />
macht.“<br />
Pieri nickte.<br />
„Ja, aber der Dieb ist viel zu unscharf abgebildet.<br />
Sein Gesicht ist nicht zu erkennen.“<br />
„Nun, vielleicht erkennt man wenigstens noch seine<br />
Kleidung“, sagte Mike. „Dann können wir mit Sicherheit<br />
sagen, ob es sich <strong>um</strong> Gustav handelt.“<br />
Gustav blickte ängstlich in <strong>die</strong> Runde. „Ich bin kein<br />
Dieb!“, versicherte er. „Ich habe noch nie in meinem<br />
Leben …“<br />
„Dann ist Romys Geldbörse wohl von selbst in dein<br />
Gepäck geflogen, wie?“, höhnte Mike. Er wandte sich<br />
Pieri zu. „Zeig uns das Foto, Pieri!“<br />
Pieri öffnete <strong>die</strong> Kamera. Alle Umstehenden sahen<br />
ihm gespannt zu. Nur Mike grinste.<br />
„Die Speicherkarte ist weg!“, stellte Pieri empört<br />
fest. „Jemand muss sie inzwischen herausgenommen<br />
haben.“<br />
Mikes Grinsen verstärkte sich.<br />
45
„Pech gehabt, Gustav!“, höhnte er. „Du hast geglaubt,<br />
wenn du <strong>die</strong> Speicherkarte verschwinden lässt,<br />
gibt es keine Beweise mehr gegen dich. Aber Romys<br />
Geldbörse in deinem Rucksack verrät dich.“<br />
„Nein“, widersprach Pieri. „Nicht Gustav ist der Dieb,<br />
sondern du.“<br />
„Blödsinn!“, lachte Mike. „Wenn ich der Dieb wäre,<br />
würde ich doch nicht verlangen, das Foto zu sehen, das<br />
mich überführt.“<br />
„Gerade dadurch hast du dich selbst verraten“, antwortete<br />
Pieri.<br />
„Wie denn?“, wunderte sich Mike.<br />
„Du hast geglaubt, du brauchst nur <strong>die</strong> Karte verschwinden<br />
zu lassen, <strong>um</strong> auch das Foto zu beseitigen,<br />
das dich mit Romys Rucksack in der Hand zeigt“, antwortete<br />
Pieri. „Deshalb warst du so sicher, dass es keinen<br />
Beweis gegen dich geben kann.“<br />
„Kann es auch nicht geben“, sagte Mike, leicht verunsichert.<br />
Er wusste nicht, worauf Pieri hinauswollte.<br />
„Romys Geldbörse in Gustavs Rucksack ist doch Beweis<br />
genug.“<br />
„Keineswegs“, sagte Pieri.<br />
46<br />
Auflösung auf Seite 227
Alles Gute<br />
kommt von oben<br />
„Es wird gleich regnen“, sagte Pieri.<br />
„Spinnst du?“ Romy sah Pieri verwundert an. „Wo<br />
soll denn der Regen herkommen bei <strong>die</strong>sem herrlichen<br />
Sonnenschein?“<br />
„Schau nach oben!“, antwortete Pieri.<br />
Romy und Lisa taten es. Der größte Teil des Himmels<br />
glänzte tatsächlich in strahlendem Blau, aber links von<br />
ihnen breitete sich eine schwarze Wolke aus. Sie kam<br />
off enbar schnell näher, getrieben von einem kräftigen<br />
Wind, der heftig an den Bä<strong>um</strong>en links und rechts der<br />
Straße rüttelte.<br />
„Deckung!“, rief Pieri. Er rannte los, auf <strong>die</strong> off ene<br />
Tür einer Eis<strong>die</strong>le zu, <strong>die</strong> nur wenige Schritte entfernt<br />
war. Lisa folgte seinem Beispiel. Nur Romy blieb stehen.<br />
„Jetzt sind sie beide verrückt geworden“, murmelte sie.<br />
Sie hatte ka<strong>um</strong> ausgesprochen, <strong>als</strong> sie <strong>die</strong> ersten<br />
Regentropfen in ihrem Gesicht und auf ihren nackten<br />
Armen spürte. Jetzt rannte auch sie los. Atemlos erreichte<br />
sie <strong>die</strong> Eis<strong>die</strong>le gerade noch rechtzeitig, bevor<br />
der Himmel endgültig seine Schleusen öff nete und<br />
Unmengen von Wasser auf <strong>die</strong> kleine Stadt Bergheim<br />
hi nabstürzen ließ.<br />
Romy schüttelte <strong>die</strong> Wassertropfen aus ihrem<br />
schwarzen Haar.<br />
47
„Und so was nennt sich Ferien!“, schimpfte sie. „Regen<br />
hätten wir zu Hause auch haben können.“ Sie sah<br />
Pieri an. „Woher hast du gewusst, dass es gleich regnen<br />
wird?“<br />
„Im Westen hat es schon geregnet“, antwortete Pieri.<br />
„Der Wind war heftig und trieb <strong>die</strong> Regenwolke schnell<br />
auf uns zu. Na ja, es gibt schlimmere Orte, <strong>um</strong> einen Regenschauer<br />
zu überstehen, <strong>als</strong> eine Eis<strong>die</strong>le.“<br />
„Da hast du recht“, stimmte Lisa zu. „Meinetwegen<br />
kann es draußen regnen, so viel es will, solange es <strong>hier</strong><br />
genügend Eis gibt. Ich nehme ein Erdbeereis.“<br />
„Ich mag Vanille lieber“, sagte Romy.<br />
„Ist mir egal“, sagte Pieri. „Eis ist doch was für kleine<br />
Kinder.“<br />
„Erdbeere für mich, Vanille für Romy und Schokolade<br />
für den Kleinen, der sich einbildet, kein Kind mehr<br />
zu sein“, sagte Lisa zu dem Verkäufer.<br />
Die drei setzten sich an einen Tisch beim Fenster<br />
und machten sich über das Eis her, das der Verkäufer<br />
ihnen brachte.<br />
„Es macht richtig Spaß, im Trockenen zu sitzen<br />
und zuzusehen, wie draußen <strong>die</strong> Sintflut losbricht“,<br />
sagte Pieri. „Und wie <strong>die</strong> Leute durch <strong>die</strong> Pfützen rennen,<br />
<strong>um</strong> ins Trockene zu kommen. Sieht wirklich komisch<br />
aus.“<br />
Zwei der Leute, <strong>die</strong> draußen vorbeirannten, waren<br />
ein Mann und eine Frau. Sie schoben einen Kinderwagen<br />
vor sich her. Der Mann deutete auf <strong>die</strong> Eis<strong>die</strong>le und<br />
rief seiner Frau etwas zu, was <strong>die</strong> drei hinter der riesigen<br />
Glasscheibe nicht verstehen konnten.<br />
48
Weder der Mann noch <strong>die</strong> Frau sahen den Wagen,<br />
der sich ihnen von hinten näherte. In dem prasselnden<br />
Regen hörten sie weder den Motor noch <strong>die</strong> Reifen.<br />
Der Wagen fuhr schnell und dicht am Straßenrand. Die<br />
Pfütze, <strong>die</strong> sich bereits gebildet hatte, kümmerte den<br />
Fahrer nicht. Auch nicht der Wasserschwall, der von<br />
den Reifen aufgewirbelt wurde und den Mann, <strong>die</strong> Frau<br />
und den Kinderwagen voll traf.<br />
Der Mann hob drohend <strong>die</strong> Faust und brüllte irgendetwas<br />
Unfreundliches hinter dem Wagen her. Der<br />
Fahrer antwortete, indem er seinen linken Arm aus<br />
dem Seitenfenster streckte und fröhlich z<strong>um</strong> Abschied<br />
winkte.<br />
„Eine Unverschämtheit!“, empörte sich Romy. „Erst<br />
spritzt er <strong>die</strong> Leute mit Dreck voll, dann verspottet er<br />
sie auch noch.“<br />
Der Wagen war inzwischen aus dem Blickfeld von<br />
Lisa, Romy und Pieri verschwunden.<br />
Das junge Paar mit dem Kinderwagen hatte endlich<br />
das Innere der Eis<strong>die</strong>le erreicht, aber <strong>um</strong> wenige Sekunden<br />
zu spät. Ihre Kleidung klebte ihnen patschnass<br />
am Körper.<br />
49
„So ein Rüpel!“, schimpfte der Mann. „Man sollte den<br />
Kerl anzeigen.“<br />
„Das sollte man wirklich“, stimmte Romy zu. „Hast du<br />
dir <strong>die</strong> Auton<strong>um</strong>mer gemerkt, Lisa?“<br />
„Hat sie nicht“, antwortete Pieri an Lisas Stelle. „Ich<br />
auch nicht. Amtliche Kennzeichen sind vorne und hinten<br />
angebracht, aber nicht seitlich, und wir haben <strong>die</strong><br />
Kiste nur von der Seite gesehen.“<br />
„Amtliche Kennzeichen!“, spottete Romy. „So jung<br />
und redet schon so geschwollen!“<br />
„Immerhin habe ich gesehen, dass das Auto weiß lackiert<br />
ist“, sagte Lisa.<br />
„Das hilft uns nicht weiter“, meinte Romy enttäuscht.<br />
„Weiße Autos gibt es viele.“<br />
„Aber nicht viele Sportwagen“, sagte Pieri. „Wahrscheinlich<br />
ist das der einzige weiße Sportwagen <strong>die</strong>ser<br />
Marke in <strong>die</strong>ser kleinen Stadt.“<br />
Der Wolkenbruch dauerte nicht lange. Die drei<br />
Freunde hatten ka<strong>um</strong> ihr Eis verdrückt, <strong>als</strong> <strong>die</strong> hässliche<br />
dunkle Wolke sich verzogen hatte. Die drei verließen<br />
<strong>die</strong> Eis<strong>die</strong>le und spazierten ziellos durch <strong>die</strong> Stadt.<br />
Vor dem Postamt stand ein Wagen, der Pieris Aufmerksamkeit<br />
erregte. Er blieb stehen.<br />
„Er ist weiß“, sagte Lisa neben ihm.<br />
„Und ein Sportwagen“, fügte Pieri hinzu. „Wie der<br />
Wagen, der vorhin das Ehepaar mit dem Baby von<br />
oben bis unten vollgespritzt hat.“<br />
Er bückte sich, <strong>um</strong> unter das Fahrzeug zu blicken.<br />
„Pech gehabt, Kleiner!“, sagte eine spöttische Männerstimme<br />
hinter ihm. „Du siehst, der Asphalt unter<br />
50
dem Wagen ist trocken. Das Auto steht seit zwei Stunden<br />
bewegungslos <strong>hier</strong>, auch während des Regens.“<br />
Der Mann grinste Pieri fröhlich an. Dann streichelte<br />
er dem Jungen mit einer scheinbar tröstenden Geste<br />
über das Haar. Mit der linken Hand.<br />
Der Mann öff nete <strong>die</strong> Fahrertür, stieg ein und fuhr<br />
mit qietschenden Reifen davon.<br />
„Er war es!“, sagte Lisa.<br />
„Ohne jeden Zweifel“, stimmte Pieri zu. „Ich schreibe<br />
mir sein Kennzeichen auf, damit ich es nicht vergesse.“<br />
Aufl ösung auf Seite 228<br />
51
52<br />
Der Apfel<strong>die</strong>b<br />
Lisa und Pieri machten einen Spaziergang durch <strong>die</strong><br />
hübsche kleine Stadt Bergheim. Als sie an einer Straßenkreuzung<br />
<strong>um</strong> <strong>die</strong> Ecke bogen, blieben sie verblüff t<br />
stehen.<br />
Ein Mann in Arbeitskleidung kam ihnen entgegen,<br />
kräftig wie ein Bär. Er hatte einen kleinen Jungen am<br />
Kragen gepackt und zog ihn neben sich her.<br />
Lisa und Pieri kannten den Kleinen. Er hieß Max und<br />
nahm wie sie am Ferienlager teil.<br />
Aus der anderen Richtung kam Wachtmeister Anders,<br />
der gerade seinen täglichen Rundgang machte.<br />
„Gut, dass ich Sie gerade treff e, Wachtmeister!“, rief<br />
der Mann. „Ich habe einen Dieb geschnappt. Er wollte<br />
bei mir Äpfel stehlen.“<br />
„Endlich mal ein richtiger Kriminalfall in <strong>die</strong>ser<br />
Stadt!“, sagte Wachtmeister Anders schmunzelnd. „Ein<br />
achtjähriger Junge, der einen Apfel geklaut hat! Aus einem<br />
Garten mit Dutzenden von Apfelbä<strong>um</strong>en. Da ist<br />
Ihnen ja ein gewaltiger Fang gelungen, Herr Schmitz!“<br />
„Mit Äpfeln fangen sie an. Wenn sie größer sind,<br />
stehlen sie Fahrräder und schließlich Autos.“<br />
„Ich bin nicht acht, ich bin zehn“, sagte Max. Er war<br />
den Tränen nahe. Für einen Dieb gehalten zu werden<br />
war schon schlimm genug, aber auch <strong>als</strong> kleines Kind<br />
gelten, das war wirklich zu viel!
„Auch das ist noch kein Alter, in dem man auf Diebestour<br />
gehen sollte“, sagte Wachtmeister Anders. Man<br />
konnte ihm ansehen, dass es ihm schwerfiel, <strong>die</strong>sen<br />
„Fall“ ernst zu nehmen. „Also, erzähl mal, was geschehen<br />
ist!“<br />
„Ich bin durch <strong>die</strong>sen Obstgarten geschlendert“, begann<br />
Max. „Dabei kam ich an <strong>die</strong>ser Bude da drüben<br />
vorbei“.<br />
„Das ist keine Bude, das ist <strong>die</strong> Halle, in der <strong>die</strong> Kisten<br />
mit meinen Äpfeln gelagert sind“, korrigierte Herr<br />
Schmitz. „Die Tür steht tagsüber offen, weil ja immer<br />
wieder volle Kisten hineingetragen werden. Diesen<br />
Umstand machte sich <strong>die</strong>ser kleine Gauner zunutze<br />
und ging hinein.“<br />
„Ich war nicht drin“, widersprach Max. „Als ich vorbeiging,<br />
hörte ich drinnen ein Geräusch. Gleich darauf<br />
noch eins. Wie eine Vase, <strong>die</strong> auf den Boden fällt und in<br />
tausend Scherben zerspringt.“<br />
„Es war eine Petrole<strong>um</strong>lampe“, sagte Schmitz. „Der<br />
Dieb hat sie aus Versehen <strong>um</strong>gestoßen.“<br />
„Der Dieb, ja. Aber nicht ich. Ich war draußen, hörte<br />
das Geräusch und schaute hinüber. Das war mein Fehler,<br />
denn ich bin gestolpert und gestürzt. Während ich<br />
noch der Länge nach auf dem Bauch lag, sah ich einen<br />
Jungen aus der Obsthütte kommen und davonlaufen.“<br />
„Hast du ihn erkannt?“, fragte der Wachtmeister.<br />
Max blickte in <strong>die</strong> Runde. Es hatten sich inzwischen<br />
einige Neugierige eingefunden, darunter auch Kinder<br />
aus dem Ferienlager.<br />
Max deutete zögernd auf einen Jungen.<br />
53
„Ich glaube, er war es. Florian.“<br />
„Du bist <strong>als</strong>o nicht sicher?“<br />
„Beim Sturz hatte ich meine Brille verloren. Und<br />
ohne Brille sehe ich sehr schlecht.“<br />
Florian trat zwei Schritte vor. „Wie kannst du dann<br />
behaupten, dass ich es war?“, fragte er empört.<br />
„Ich behaupte es ja nicht, ich sage nur, dass er dir<br />
ähnlich sah. Größe, Figur, Haarfarbe.“<br />
„Ich bin zur Tatzeit am See gewesen, ein paar Hundert<br />
Meter entfernt. In <strong>die</strong>sem Garten und <strong>die</strong>sem Gebäude<br />
<strong>hier</strong> bin ich überhaupt nie gewesen.“<br />
„Was ist dann geschehen?“, fragte der Wachtmeister.<br />
„Ich suchte auf dem Boden meine Brille, fand sie und<br />
stand auf“, erzählte Max. Er wurde noch verlegener, <strong>als</strong><br />
er schon war. „Dann kam <strong>die</strong>ser fürchterliche Hund und<br />
knurrte mich böse an. Darauf bin ich natürlich abgehauen.“<br />
„Erbärmlicher Feigling!“, spottete Florian. „Läuft vor<br />
einem schwarzen Zwergpudel davon!“<br />
„Ich bin nicht davongelaufen“, verteidigte sich Max.<br />
„Ich habe es nur für ratsam gehalten, mich zurückzuziehen.“<br />
„Und dabei ist er mir genau in <strong>die</strong> Arme gelaufen“,<br />
berichtete Herr Schmitz stolz.<br />
„Er ist nicht der Dieb“, sagte Lisa. „Es ist Florian.“<br />
„Wie kommst du auf <strong>die</strong> blöde Idee, dass ich es<br />
war?“, empörte sich Florian. „Ich sage dir doch, ich bin<br />
nie in meinem Leben in <strong>die</strong>sem Garten und <strong>die</strong>ser Lagerhalle<br />
oder auch nur in der Nähe gewesen.“<br />
54<br />
Auflösung auf Seite 228/229
Der Linkshänder<br />
Die kleine Eis<strong>die</strong>le war ein Lieblingsplatz von Lisa und<br />
ihrer neuen Freundin Romy geworden. Auch heute waren<br />
sie dort. Sie saßen an einem kleinen Tisch, der auf<br />
dem Gehsteig vor der Eis<strong>die</strong>le stand. Am Nebentisch<br />
saß ein großer schlanker Mann, der sich ebenfalls eine<br />
Portion Eis schmecken ließ. Den Löff el hielt er in der linken<br />
Hand.<br />
Von links her kam Wachtmeister Anders geschlendert.<br />
Er blickte zufrieden <strong>um</strong> sich. Sein gut gelauntes<br />
Gesicht verriet, dass ihm sein Beruf gefi el, und auch <strong>die</strong><br />
kleine Stadt, in der er für Ruhe und Sicherheit sorgte.<br />
Die Ruhe in der Stadt und <strong>die</strong> gute Laune des Polizisten<br />
hörten schlagartig auf, <strong>als</strong> ein älterer Mann auf<br />
ihn losstürzte. Der Mann zeigte erregt auf den schlanken<br />
Burschen, der an dem Tisch neben Lisa und Romy<br />
saß.<br />
„Verhaften Sie den Kerl, Wachtmeister!“, rief er. „Auf<br />
der Stelle.“<br />
„Und weshalb soll ich ihn <strong>die</strong>smal einlochen?“,<br />
br<strong>um</strong>mte Anders. „Seit zwei Monaten wohnt er nun<br />
in unserer Stadt, und in <strong>die</strong>ser Zeit haben Sie schon<br />
viermal Anzeige gegen ihn erstattet. Und jedes Mal<br />
mit einer lächerlichen Begründung. Und jedes Mal zu<br />
Unrecht. Was haben Sie bloß gegen <strong>die</strong>sen Herrn Bergmann?“<br />
55
„Er ist ein Gauner. Nur Sie wollen das nicht begreifen,<br />
Wachtmeister. Seit ich ihn das erste Mal sah, kam er<br />
mir bekannt vor. Jetzt eben ist mir eingefallen, wo ich<br />
ihn schon mal gesehen habe.“<br />
„Sie machen mich neugierig“, sagte Wachtmeister<br />
Anders. Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar.<br />
„Es war vor einem Jahr in Neustadt, unserem Nachbarort.<br />
Dort hat er <strong>die</strong> Bank überfallen. Ich war dam<strong>als</strong><br />
zufällig ebenfalls in der Stadt. Es gelang mir, ein Foto<br />
von dem Räuber zu machen, <strong>als</strong> er <strong>die</strong> Bank verließ und<br />
floh.“<br />
„Dieses Foto würde ich gern sehen“, sagte der<br />
Wachtmeister.<br />
„Das können Sie. Ich hole es. In ein paar Minuten bin<br />
ich wieder da. Aber passen Sie auf, dass <strong>die</strong>ser Bankräuber<br />
nicht davonläuft!“<br />
„Erst esse ich mein Eis“, sagte Bergmann grinsend.<br />
„Schließlich habe ich es schon bezahlt. Dann erst laufe<br />
ich davon.“<br />
Wachtmeister Anders ließ sich ihm gegenüber nieder.<br />
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Bei <strong>die</strong>ser<br />
Hitze könnte ich auch etwas Abkühlung gebrauchen“,<br />
sagte er. „Aber ich bin im Dienst. Was würden <strong>die</strong><br />
Leute von mir denken, wenn sie mich <strong>hier</strong> untätig sitzen<br />
und Eis essen sähen?“<br />
„Dieser Herr Klein geht mir allmählich auf <strong>die</strong> Nerven“,<br />
sagte Bergmann. „Das letzte Mal hat er mich beschuldigt,<br />
eine leere Zigarettenschachtel auf den Gehsteig<br />
geworfen zu haben. Dabei rauche ich überhaupt<br />
nicht. Heute nennt er mich einen Bankräuber. Wenn er<br />
56
so weitermacht bin ich in seinen Augen nächste Woche<br />
schon ein dreifacher Mörder.“<br />
„Das <strong>hier</strong> ist spannender <strong>als</strong> Kino“, fl üsterte Romy am<br />
Nebentisch Lisa zu. „Ich bin gespannt, ob <strong>die</strong>ser Herr<br />
Bergmann <strong>hier</strong> wirklich ein Bankräuber ist. Er sieht eigentlich<br />
ganz normal aus.“<br />
„Man sieht es keinem Menschen an, ob er ein Verbrecher<br />
ist oder nicht“, meinte Lisa. „Der äußere Eindruck<br />
kann täuschen.“<br />
Die beiden Mädchen hatten ihr Eis längst gegessen,<br />
<strong>als</strong> Herr Klein endlich zurückkam. Er schwenkte aufgeregt<br />
ein Farbfoto, so groß wie eine Buchseite. Dann<br />
knallte er das Bild tri<strong>um</strong>p<strong>hier</strong>end vor Wachtmeister Anders<br />
auf den Tisch.<br />
„Das ist er.“<br />
57
Lisa und Romy standen auf und traten neugierig näher.<br />
Über <strong>die</strong> Schulter von Wachtmeister Anders hinweg<br />
schauten sie auf das Bild.<br />
„Das soll Bergmann sein?“, fragte Anders. Er verglich<br />
Bergmanns Gesicht mit dem Bild. „Das könnte so ziemlich<br />
jeder Mann auf der Welt sein.“<br />
„Keineswegs!“, widersprach Klein heftig. „Zugegeben,<br />
das Gesicht ist hinter der großen Sonnenbrille<br />
nicht zu erkennen, aber man sieht, dass es ein hochgewachsener<br />
Mann ist mit kurz geschnittenem Haar, wie<br />
Bergmann. Und er trägt <strong>die</strong> Pistole in der linken Hand,<br />
wie Bergmann!“<br />
„Das stimmt allerdings“, nickte Wachtmeister Anders,<br />
der nachdenklich geworden war. „Beide sind<br />
Linkshänder.“<br />
„Der Mann auf dem Bild da ist nicht der gleiche<br />
Mann, der <strong>hier</strong> sitzt“, mischte sich Lisa in das Gespräch<br />
ein.<br />
„Woher willst du denn das wissen?“, wunderte sich<br />
Romy.<br />
„Ja, woher willst du wissen, dass der Bankräuber auf<br />
dem Foto nicht Herr Bergmann <strong>hier</strong> ist?“, fragte auch<br />
Wachtmeister Anders. „Eine gewisse Ähnlichkeit ist unverkennbar.“<br />
58<br />
Auflösung auf Seite 229
Die Fensterscheibe<br />
„Das Beste an <strong>die</strong>sem Ferienlager ist der See“, sagte<br />
Pieri. „Er ist nicht so tief, dass man beim Gedanken an<br />
seine schaurigen Abgründe Angst bekommt. Und das<br />
Wasser ist angenehm warm. Ideal z<strong>um</strong> Schwimmen.“<br />
„Man muss nur aufpassen, dass man nicht vom Krokodil<br />
gebissen wird“, sagte eine Stimme hinter ihm.<br />
„Von welchem Krokodil?“, fragten Lisa und Pieri<br />
gleichzeitig. Sie drehten sich <strong>um</strong>.<br />
Hinter ihnen stand ein Junge, etwa so alt wie Pieri.<br />
Seine blauen Augen funkelten vor Vergnügen.<br />
„Seit einem Jahr sprechen <strong>die</strong> Leute <strong>hier</strong> im Ort von<br />
dem Krokodil“, erzählte er. „Mehrere Badende wollen<br />
es gesehen haben. Einer behauptet, ein Foto von ihm<br />
gemacht zu haben. Das Foto wurde dam<strong>als</strong> in unserer<br />
Zeitung veröff entlicht. Polizei und Feuerwehr haben<br />
versucht, das Ungeheuer zu fangen, aber sie haben es<br />
nicht gefunden.“<br />
„Es kommt immer wieder vor, dass sich jemand ein<br />
winziges Krokodilbaby besorgt und es in seiner Badewanne<br />
schwimmen lässt“, sagte Lisa. „Aber irgendwann<br />
wird das Vieh zu groß für <strong>die</strong> Badewanne. Anstatt<br />
es dann im Zoo oder in einem Tierheim abzugeben,<br />
wird es einfach im nächsten See ausgesetzt.“<br />
„Vielleicht sollten wir uns einen anderen Ort z<strong>um</strong> Baden<br />
suchen“, meinte Pieri besorgt. „Ich möchte beim<br />
59
Schwimmen nicht plötzlich von unten angeknabbert<br />
werden.“<br />
„Keine Sorge!“, tröstete ihn Lisa. „Falls vorigen Sommer<br />
wirklich ein Krokodil in <strong>die</strong>sem See war, lebt es bestimmt<br />
nicht mehr. Krokodile vertragen unser Klima<br />
nicht. Spätestens im letzten Winter ist es erfroren.“<br />
„Das denke ich auch“, antwortete der fremde Junge.<br />
„Ihr geht z<strong>um</strong> Schwimmen? Habt ihr etwas dagegen,<br />
wenn ich mitkomme?“<br />
„Nein“, antwortete Lisa. „Aber es geht mir auf <strong>die</strong><br />
Nerven, dass du dir alle paar Sekunden das Haar aus<br />
dem Gesicht streichst. Eine blöde Gewohnheit.“<br />
„Eine Notwendigkeit“, antwortete der Junge. Wieder<br />
strich er sich eine lange blonde Haarsträhne aus<br />
der Stirn. „Meine Haare sind widerborstig. Da hilft kein<br />
Kamm und kein Haargel. Übrigens, ich heiße Markus.“<br />
Lisa und Pieri wollten ebenfalls ihre Namen nennen,<br />
aber sie kamen nicht mehr dazu. Aus dem Friseursalon,<br />
vor dem <strong>die</strong> Kinder gerade standen, stürzte ein weiß<br />
gekleideter Mann auf sie zu. Er hatte es so eilig, dass er<br />
sich nicht einmal <strong>die</strong> Zeit genommen hatte, <strong>die</strong> Schere<br />
wegzulegen, mit der er eben einem Kunden <strong>die</strong> Haare<br />
geschnitten hatte.<br />
„Hab ich dich endlich erwischt!“, rief er empört.<br />
Er packte Markus am Kragen und schüttelte ihn. Der<br />
Junge sah zu ihm auf, erschrocken und verständnislos.<br />
„Was hat er denn angestellt?“, fragte Lisa.<br />
Der Mann wandte sich ihr zu und beschloss im gleichen<br />
Augenblick, auch sie nicht zu mögen.<br />
„Bist du seine Schwester? Dann taugst du wahr-<br />
60
scheinlich genauso wenig wie er. Anderen Leuten <strong>die</strong><br />
Fenster einzuschmeißen, das macht euch Spaß!“<br />
„Es geht <strong>als</strong>o <strong>um</strong> eine eingeworfene Fensterscheibe?“,<br />
fragte Lisa.<br />
„Eine eingeschossene Scheibe, <strong>um</strong> genau zu sein.“<br />
„Mit einer Pistole?“, fragte Pieri. „Oder mit einer<br />
Steinschleuder?“<br />
„Mit einem Fußball“, antwortete der Mann.<br />
Pieri schaute zu dem Friseursalon hinüber. „Die<br />
Scheiben sind alle ganz“, sagte er.<br />
„Natürlich sind sie das. Die Sache geschah ja auch<br />
auf der Rückseite des Hauses. In meiner Wohnung über<br />
dem Laden. Gestern. Ich hatte gerade Mittagspause<br />
und wollte mir in der Küche schnell etwas zu essen<br />
machen, <strong>als</strong> ich das Klirren von Glas hörte. Ich ging ins<br />
Wohnzimmer hinüber und sah <strong>die</strong> zerbrochene Fensterscheibe.<br />
Und <strong>als</strong> ich ans Fenster trat und hinunterschaute,<br />
sah ich, wie <strong>die</strong>ser Kerl <strong>hier</strong> seinen Fußball<br />
aufhob und eiligst davonrannte. Und zwei Sekunden<br />
später war er auch schon <strong>um</strong> <strong>die</strong> Ecke des Hauses verschwunden.“<br />
„Das war ich nicht“, verteidigte sich Markus. „Ich besitze<br />
überhaupt keinen Fußball.“<br />
„Ich habe dich genau gesehen. Nur zwei oder drei<br />
Sekunden lang, aber ich habe dich sofort erkannt.<br />
Schließlich schneide ich dir seit Jahren regelmäßig <strong>die</strong><br />
Haare. Der Bursche hatte dein Alter, deine Größe, deine<br />
Figur, <strong>die</strong> blonden Haare – es gibt keinen Zweifel.“<br />
„Sie haben lediglich einen blonden Jungen davonlaufen<br />
sehen“, wandte Lisa ein. „Aber Markus ist be-<br />
61
stimmt nicht der einzige blonde Junge <strong>die</strong>ser Größe in<br />
<strong>die</strong>ser Stadt.“<br />
„Natürlich nicht“, gab der Friseur zu. „Aber es gibt<br />
ein unverwechselbares Merkmal, an dem ich ihn jederzeit<br />
und überall sofort erkennen würde. Das Muttermal<br />
in seinem Gesicht!“<br />
Lisa und Pieri sahen Markus an.<br />
„Muttermal?“, staunte Pieri. „Wo denn? Ich sehe kein<br />
Muttermal.“<br />
„Hier!“, sagte der Friseur tri<strong>um</strong>p<strong>hier</strong>end. Er strich<br />
Markus <strong>die</strong> widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht.<br />
Jetzt sah auch Pieri das Muttermal auf der Stirn<br />
des Jungen, dicht unter dem Haaransatz.<br />
„Tatsächlich“, sagte Pieri. „Das ist ein Beweis.“<br />
„Er war es nicht!“, widersprach Lisa.<br />
„Er muss es gewesen sein!“, beharrte Pieri. “<br />
62<br />
Aufl ösung auf Seite 230
Aufruhr am See<br />
Lisa, Pieri und ihr neuer Freund Markus hatten schon<br />
fast das Ende der kleinen Stadt Bergheim erreicht. Neben<br />
ihnen ging eine Frau, <strong>die</strong> gerade vom Einkaufen<br />
kam. Sie hatte einen mittelgroßen schwarzen Hund undefi<br />
nierbarer Rasse bei sich. Der Hund ging ohne Leine.<br />
Im Maul hielt er den Henkel eines gefl ochtenen Einkaufskorbs.<br />
„Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr sich<br />
Hunde freuen, wenn sie sich nützlich machen können“,<br />
63
sagte Lisa. „Er ist wirklich stolz darauf, den Einkaufskorb<br />
tragen zu dürfen.“<br />
„Für Rokko ist es eine Art Spiel“, sagte <strong>die</strong> Besitzerin<br />
des Hundes. „Er trägt alles, was er mit seinen Zähnen<br />
greifen kann. Körbe, Taschen, Stöcke, Bälle oder Kinderspielzeug.<br />
Das macht ihm einen riesigen Spaß.“<br />
Die Frau und ihr Hund bogen nach links in eine<br />
Querstraße ab. Die drei Kinder gingen weiter. Schon<br />
bald erreichten sie den kleinen See.<br />
„Es ist wirklich hübsch <strong>hier</strong>“, sagte Lisa. „Meinst du<br />
nicht auch, Pieri?“<br />
Pieri antwortete nicht. Sein Blick glitt nur kurz über<br />
<strong>die</strong> vielen Menschen in Badekleidung am Ufer, dann<br />
sah er suchend hinaus auf den See.<br />
„Ich hoffe nur, das Krokodil, von dem Markus uns erzählt<br />
hat, ist wirklich nicht mehr <strong>hier</strong>“, murmelte er.<br />
„Dich würde es sowieso nicht fressen“, spottete Markus.<br />
„Du bist ihm viel zu klein. Davon wird ein richtiges<br />
Krokodil nicht satt. Es würde sich lieber den Dicken<br />
dort schnappen, der gerade ins Wasser geht.“<br />
Lisa glaubte nicht an Krokodile in deutschen Seen.<br />
Sie ging <strong>als</strong> Erste ins Wasser. Pieri folgte ihr nach kurzem<br />
Zögern. Das Wasser war angenehm kühl, gerade<br />
<strong>die</strong> richtige Erfrischung an einem so heißen Tag. Bald<br />
hatte er das Krokodil, das angeblich in den Tiefen des<br />
Sees lauerte, vergessen. Erst nach einer halben Stunde<br />
verließen <strong>die</strong> drei das Wasser wieder.<br />
In der Nähe spielten ein paar Jungs Fußball. Zwischen<br />
ihnen sprang ein mittelgroßer, struppiger schwarzer<br />
Hund mit vier weißen Pfoten her<strong>um</strong>.<br />
64
„Ist das nicht Rokko?“, fragte Lisa.<br />
„Kann schon sein“, antwortete Pieri. „Jedenfalls hält<br />
er sich nicht an <strong>die</strong> Fußballregeln. Den Ball mit den Vorderpfoten<br />
zu berühren ist glattes Handspiel, und das ist<br />
schlicht verboten.“<br />
Lisa wollte eben antworten, dass für Hunde im Fußball<br />
andere Regeln gelten <strong>als</strong> für Menschen, <strong>als</strong> sie hinter<br />
sich einen schrillen Ruf hörte: „Unsere Kleidung! Jemand<br />
hat sie geklaut! Sollen wir jetzt im Badeanzug<br />
nach Hause gehen?“<br />
Es waren zwei Mädchen, etwa 15 Jahre alt. Sie waren<br />
eben aus dem Wasser gekommen. Suchend blickten sie<br />
sich <strong>um</strong>. Aber sie konnten ihre Kleider und Schuhe nirgends<br />
entdecken.<br />
„Der Dieb muss ein Mädchen sein“, sagte Pieri. „Ein<br />
Junge würde nie Mädchenkleidung stehlen.“<br />
„Außer vielleicht, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Mädchen ein bisschen zu<br />
ärgern“, sagte Markus grinsend.<br />
„Der Dieb war einer der Fußballspieler dort drüben“,<br />
sagte Lisa.<br />
Florian und Pieri schüttelten beide gleichzeitig den<br />
Kopf. „Das sind lauter Jungs“, sagte Pieri. „Was sollen<br />
<strong>die</strong> mit der Kleidung von Weibern?“<br />
„Außerdem sind sie vollauf mit ihrem Fußballspiel<br />
und dem lustigen Hund beschäftigt“, fügte Markus<br />
hinzu. „Die denken gar nicht daran, andere Leute zu<br />
bestehlen.“<br />
„Es war kein Diebstahl“, sagte Pieri. „Es war ein Spiel.<br />
Vielleicht betrachtet er es auch <strong>als</strong> Arbeit. He, Rokko!<br />
Komm her!“<br />
65
Der schwarze Hund hörte seinen Namen und blickte<br />
zu Lisa herüber. Dann kam er schwanzwedelnd herbei.<br />
„Wohin hast du <strong>die</strong> Kleidung der Mädchen gebracht,<br />
Rokko?“, fragte Lisa. Der Hund blickte aufmerksam zu<br />
ihr auf. Er verstand nicht, was sie gesagt hatte, aber offenbar<br />
erwartete er ein neues lustiges Spiel.<br />
Lisa deutete mit dem ausgestreckten Arm in <strong>die</strong><br />
Runde. „Such!“, sagte sie.<br />
Der Hund rannte los, auf einige Büsche zu, <strong>die</strong> etwa<br />
50 Schritte entfernt standen. Für eine Sekunde verschwand<br />
er hinter den Büschen. Als er wieder hervorkam,<br />
hielt er eine prall gefüllte Sporttasche im Maul.<br />
„Das ist unsere Tasche!“, riefen <strong>die</strong> beiden Mädchen,<br />
<strong>die</strong> ihre Kleidung vermisst hatten. Sie sahen Lisa an:<br />
„Aber woher hast du denn gewusst, dass der Hund <strong>die</strong><br />
Tasche genommen und versteckt hat? Hast du ihn dabei<br />
gesehen?“<br />
„Ja, mit meinem geistigen Auge“, antwortete Lisa<br />
lächelnd. Sie erinnerte sich daran, was <strong>die</strong> Besitzerin<br />
des Hundes vor gut einer halben Stunde gesagt hatte:<br />
„Rokko schnappt sich alles, was er mit seinen Zähnen<br />
greifen kann. Körbe, Taschen, Stöcke, Bälle oder Kinderspielzeug.<br />
Das ist ein riesiger Spaß für ihn.“<br />
„Woher hast du gewusst, dass das wirklich Rokko<br />
ist?“, fragte Pieri. „Struppige schwarze Mischlingshunde<br />
gibt es viele.“<br />
66<br />
Auflösung auf Seite 230
Ritter Kunibert<br />
„Na, wie schmeckt euch das Abendessen?“, fragte Gustav<br />
interessiert.<br />
Eigentlich war er für das Essen gar nicht zuständig,<br />
aber er legte Wert darauf, dass seine jungen Gäste sich<br />
im Ferienlager wohlfühlten.<br />
„Gar nicht so übel, das Essen“, antwortete Frank.<br />
„Jedenfalls wurden meine schlimmsten Erwartungen<br />
nicht erfüllt. Ich hatte schon befürchtet, dass wir jeden<br />
Tag in den Wald gehen und Kräuter, Beeren, Wurzeln<br />
und Pilze sammeln, sie dann auch noch waschen und<br />
unser Essen selbst kochen müssten.“<br />
„Die Pilze, <strong>die</strong> du sammelst, würde ich sowieso nicht<br />
essen“, sagte der kleine Manuel, der neben ihm saß.<br />
„Du hast doch keine Ahnung, welche Pilze essbar sind<br />
und welche giftig.“<br />
Frank schien sich über <strong>die</strong>se Bemerkung zu ärgern,<br />
aber er schluckte seinen Ärger hinunter. Er blickte <strong>um</strong><br />
sich. Gustav war inzwischen weitergegangen.<br />
„Ich hab‘s überhaupt gut getroff en <strong>hier</strong>“, sagte er. „In<br />
dem gleichen Zelt wie ihr beide möchte ich jedenfalls<br />
nicht <strong>die</strong> Nacht verbringen.“<br />
„Wieso?“, fragte Pieri. „Die Schlafzelte <strong>hier</strong> sehen<br />
doch alle gleich aus.“<br />
„Das schon, aber …“ Frank senkte seine Stimme, <strong>um</strong><br />
an den anderen Tischen nicht gehört zu werden. „Man<br />
67
hat mir erzählt, dass es in eurem Zelt spukt. Nicht jede<br />
Nacht, aber ein- oder zweimal in den Ferien kommt <strong>um</strong><br />
Mitternacht ein Gespenst und erschreckt <strong>die</strong> Kinder.<br />
Manche sollen sich in <strong>die</strong> Hosen gemacht haben vor<br />
Angst.“<br />
Frank fl üsterte jetzt fast. „Es handelt sich <strong>um</strong> Ritter<br />
Kunibert von Drachenfels, dem mal <strong>die</strong> Burg dort oben<br />
auf dem Berg gehört hat. Ein jähzorniger, gewalttätiger<br />
Bursche. Eines Tages erschlug er im Streit seinen eigenen<br />
Bruder. Und ab und zu taucht er wieder <strong>hier</strong> auf<br />
und erschreckt <strong>die</strong> Leute.“<br />
„War<strong>um</strong> spukt er nicht oben auf seiner Burg, wie es<br />
sich gehört?“, fragte Pieri.<br />
„Das tut er ja auch, aber <strong>um</strong> Mitternacht wagt sich<br />
schon lange niemand mehr hinauf in <strong>die</strong> Ruine. Und<br />
ohne Publik<strong>um</strong> macht das Her<strong>um</strong>spuken dem guten<br />
Kunibert keinen Spaß. Also kommt er <strong>hier</strong>her. Und immer<br />
in dasselbe Zelt. In eures.“<br />
Pieri hielt es für an der Zeit, das Thema zu wechseln.<br />
Aber <strong>als</strong> er eine Stunde später auf seinem Bett<br />
im Schlafzelt lag, fi el ihm wieder ein, was Frank erzählt<br />
hatte. Er versuchte, den Gedanken an Gespenster wegzuwischen,<br />
<strong>die</strong> Augen zu schließen und einzuschlafen.<br />
Es war ihm schon fast gelungen, <strong>als</strong> er den kleinen Manuel<br />
im Bett neben dem seinen leise fragen hörte: „Sag<br />
mal, Pieri, glaubst du an Gespenster?“<br />
„Natürlich nicht“, antwortete Pieri ebenso leise. „Jedenfalls<br />
nicht bei Tag. Aber bei dem Gedanken, dass<br />
heute Nacht eines kommen könnte, wird mir schon ein<br />
wenig unbehaglich … Ach was, es gibt keine Gespens-<br />
68
ter! Jetzt halt den Mund und lass mich endlich einschlafen!<br />
Ich bin müde!“<br />
Manuel starrte in <strong>die</strong> Dunkelheit, <strong>die</strong> rings<strong>um</strong><br />
herrschte. Dann zog er <strong>die</strong> Decke über den Kopf.<br />
Ein gellender Schrei ganz in seiner Nähe riss Pieri<br />
aus dem Schlaf, in den er endlich gefallen war. Er fuhr<br />
aus seinem Bett hoch, riss <strong>die</strong> Augen auf und blickte<br />
<strong>um</strong> sich.<br />
Neben ihm stand eine gespenstische weiße Gestalt.<br />
Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und sich über Manuel<br />
gebeugt. In der linken hoch erhobenen Hand hielt<br />
sie eine altmodische Laterne. Das Licht der Laterne fi el<br />
auf Manuel, der seine Bettdecke über den unteren Teil<br />
69
seines Gesichts gezogen hatte und aus schreckgeweiteten<br />
Augen zu dem Gespenst aufsah.<br />
Pieri hatte seinen Schreck schnell überwunden. Er<br />
zog beide Beine an und stieß dann zu. Mit voller Wucht<br />
traf er das Gespenst an dem ihm entgegengereckten<br />
Hinterteil. Das Gespenst ließ einen leisen Laut hören, in<br />
dem sich Überraschung und Erschrecken mischten. Es<br />
wurde nach vorn geschleudert, fiel quer über Manuels<br />
Bett und stürzte dann auf den Boden.<br />
Pieri sprang auf <strong>die</strong> Beine, überquerte mit einem<br />
Satz Manuels Bett und beugte sich zu dem Gespenst<br />
auf dem Boden nieder. Er griff zu, bekam ein Stück Tuch<br />
zu fassen und riss es an sich.<br />
Im Licht der Laterne sah er jetzt deutlich Franks Gesicht.<br />
Frank blickte fast so erschrocken drein wie der<br />
kleine Manuel.<br />
„Dachte mir doch, dass du das Gespenst bist, Frank!“,<br />
sagte Pieri.<br />
Woher hast du gewusst, dass es kein richtiges Gespenst<br />
ist?“, fragte Manuel. Seine Stimme zitterte immer<br />
noch.<br />
70<br />
Auflösung auf Seite 231
Raubritter<br />
auf Burg Drachenfels<br />
„Wie ich höre, habt ihr in der vergangenen Nacht interessanten<br />
Besuch gehabt“, sagte Lisa beim Frühstück.<br />
„Ja, der längst verstorbene Ritter Kunibert von Drachenfels<br />
hat uns mit seinem Besuch beehrt“, antwortete<br />
Pieri grinsend. „Ich habe mich bedankt mit einem<br />
kräftigen Tritt in seinen A… seinen Allerwertesten.“<br />
„Ich fand es gar nicht so lustig“, sagte der kleine Manuel<br />
leise. „Ich auch nicht“, br<strong>um</strong>mte Frank in Erinnerung<br />
an den Tritt. „Aber <strong>die</strong>sen Ritter Kunibert hat es<br />
wirklich gegeben. In der Stadt erzählen sich <strong>die</strong> Leute<br />
immer noch, dass er manchmal oben in der Ruine Drachenfels<br />
her<strong>um</strong>geistert.“<br />
„Dem würde ich gern mal begegnen“, sagte Romy,<br />
<strong>die</strong> neben Lisa saß. „Ein richtiger Ritter! Wie romantisch!<br />
Sonst sieht man <strong>die</strong> immer nur im Film. Da wir<br />
heute Vormittag sowieso nichts vorhaben, könnten wir<br />
doch wieder hinaufgehen, oder?“<br />
„Ich bin dabei“, stimmte Lisa zu.<br />
„Ich auch“, sagte Pieri. „Und auf einer alten Ritterburg<br />
gibt es bestimmt unzählige tolle Motive z<strong>um</strong> Fotografi<br />
eren.“<br />
„Wenn ihr mir den kleinen Spaß von heute Nacht<br />
verzeiht, würde ich auch gerne mitkommen“, sagte<br />
Frank.<br />
71
„Ich nicht“, br<strong>um</strong>mte Manuel. „Ich habe vorerst <strong>die</strong><br />
Schnauze voll von Rittern und Geistern.“<br />
Eine Stunde später waren <strong>die</strong> vier Freunde schon<br />
beim Aufstieg zur Burgruine. Sie begegneten keinem<br />
Menschen und keinem Fahrzeug. So früh am Tag machten<br />
sich nur selten Leute auf den Weg z<strong>um</strong> Drachenfels.<br />
Umso überraschter waren sie, <strong>als</strong> sie oben, gleich hinter<br />
dem Burgtor, ein Auto stehen sahen.<br />
Als <strong>die</strong> vier Freunde näher kamen, sahen sie, dass<br />
<strong>die</strong> Tür des hölzernen Andenkenladens off enbar gewaltsam<br />
aufgebrochen worden war. Ein Mann und eine<br />
Frau standen davor. Mit merkwürdig verstörtem Ge-<br />
72
sichtsausdruck blickten sie den Kindern entgegen. Der<br />
Mann schlug <strong>die</strong> Koff erra<strong>um</strong>haube zu.<br />
„Ein Einbruch“, sagte er und deutete auf den Laden.<br />
„Jemand hat ihn in der vergangenen Nacht ausgeraubt.“<br />
„Ritter Kunibert wahrscheinlich“, meinte Frank. Es<br />
war ihm nicht anzusehen, ob er nur Spaß machte oder<br />
ob es sein Ernst war. „Der Kerl hat viele Schandtaten<br />
begangen in seinem Leben. Nach seinem Tod macht er<br />
off enbar weiter damit.“<br />
„Das ist ein Schaden, den wir in Monaten nicht aufholen<br />
können“, sagte der Mann. „Die Kerle haben fast<br />
alles mitgenommen, was sie <strong>hier</strong> vorfanden.“<br />
„Dabei sind wir den Dieben sogar noch begegnet“,<br />
fügte <strong>die</strong> Frau hinzu. „Keine 100 Meter von <strong>hier</strong>. Sie kamen<br />
uns mit dem Auto entgegen, <strong>als</strong> wir den Berg raufgefahren<br />
sind. Wenn wir geahnt hätten, dass <strong>die</strong> gerade<br />
unseren Laden ausgeraubt hatten …“<br />
Pieri wandte sich an Lisa. „Du hast doch dein Handy<br />
dabei, nicht wahr? Du solltest <strong>die</strong> Polizei anrufen.“<br />
„Nicht nötig“, sagte <strong>die</strong> Frau. Sie hob abwehrend <strong>die</strong><br />
Hände. „Ich habe <strong>die</strong> Polizei schon angerufen, vor einer<br />
halben Stunde schon. Sie wird bald <strong>hier</strong> sein.“<br />
„Und <strong>die</strong> Räuber noch antreff en“, fügte Pieri hinzu.<br />
„Auf frischer Tat.“<br />
„Was redest du da?“, empörte sich der Mann. „Willst<br />
du etwa behaupten, dass wir unseren eigenen Kiosk<br />
ausrauben?“<br />
„Dass es Ihr eigener ist, habe ich nicht behauptet“,<br />
antwortete Pieri. „Los, Lisa, hol endlich <strong>die</strong> Polizei!“<br />
73
„Ich verstehe überhaupt nichts“, bekannte Frank.<br />
„Weshalb sollen <strong>die</strong>se Leute selbst <strong>die</strong> Einbrecher<br />
sein?“<br />
„Ist das so schwer zu erkennen?“, antwortete Lisa an<br />
Pieris Stelle. „Sie behaupten, dass sie <strong>die</strong> Diebe gesehen<br />
haben. Vor einer halben Stunde. Dann aber hätten<br />
wir das Auto auch sehen müssen. Unser Aufstieg hat<br />
länger <strong>als</strong> eine halbe Stunde gedauert, und es gibt nur<br />
einen einzigen Weg <strong>hier</strong> herauf. Wir hätten das Auto<br />
der Diebe auch sehen müssen.“<br />
„Außerdem hätte <strong>die</strong> Polizei aus Bergheim schon<br />
<strong>hier</strong> sein müssen, wenn sie schon vor einer halben<br />
Stunde informiert worden wäre“, fügte Romy hinzu.<br />
„Das alles sind keine ausreichenden Beweise“, beharrte<br />
Frank.<br />
„Ist dir nicht aufgefallen, dass <strong>die</strong>ser Herr <strong>hier</strong> bei<br />
unserer Ankunft so schnell <strong>die</strong> Kofferra<strong>um</strong>haube ge-<br />
74
schlossen hat?“, fragte Lisa. Sie griff plötzlich zu und<br />
öffnete <strong>die</strong> Haube. Eine Menge Waren lagen darin, hastig<br />
und ohne jede Ordnung hineingeworfen. Getränkedosen,<br />
Flaschen mit Mineralwasser, Postkarten, Landkarten,<br />
T-Shirts mit dem Aufdruck „Drachenfels“ …<br />
Bevor Lisa mehr registrieren konnte, rissen der Mann<br />
und <strong>die</strong> Frau <strong>die</strong> vorderen Türen des Wagens auf und<br />
stiegen ein. Sekunden später fuhr der Wagen los.<br />
Frank blickte hinter dem davonbrausenden Wagen<br />
her. „Das ist dann wohl ein eindeutiges Schuldeingeständnis“,<br />
meinte er.<br />
„Ritter Kunibert hätte sicher einen Weg gefunden,<br />
<strong>die</strong>se modernen Raubritter aufzuhalten“, sagte Frank<br />
enttäuscht. „Wir können sie zu Fuß unmöglich einholen.“<br />
„Das ist auch nicht nötig“, tröstete ihn Pieri. Er deutete<br />
auf Lisa. „Sie ruft gerade <strong>die</strong> Polizei an. Es gibt<br />
nur einen Weg den Berg hinunter. Bevor <strong>die</strong> Diebe an<br />
der nächsten Straßenkreuzung sind, hat <strong>die</strong> Polizei sie<br />
schon geschnappt.“<br />
„Aber ich verstehe immer noch nicht, woher ihr<br />
gewusst habt, dass <strong>die</strong> beiden nicht <strong>die</strong> Besitzer des<br />
Kiosks sind, sondern <strong>die</strong> Räuber.“<br />
Auflösung auf Seite 232<br />
75
76<br />
Das Grab<br />
des Kreuzritters<br />
Frank trat durch <strong>die</strong> gewaltsam aufgebrochene Tür in<br />
das Innere des kleinen Ladens an der Burgmauer.<br />
„Mann, <strong>die</strong> haben <strong>hier</strong> gehaust wie <strong>die</strong> Vandalen!“,<br />
sagte er. „Müssen Räuber unbedingt eine solche Verwüstung<br />
anrichten, wenn sie klauen?“<br />
„Räuber kommen z<strong>um</strong> Stehlen, nicht z<strong>um</strong> Aufrä<strong>um</strong>en“,<br />
meinte Pieri. „Die raff en möglichst schnell möglichst<br />
viel zusammen und verschwinden dann.“<br />
„Schokolade!“, rief Frank erfreut aus. „Eine ganze<br />
Schachtel voll! Verhungern werden wir <strong>hier</strong> <strong>als</strong>o nicht,<br />
selbst wenn wir drei Tage <strong>hier</strong> bleiben würden.“<br />
„Du spinnst!“, empörte sich Romy. „Wenn wir uns <strong>hier</strong><br />
einfach be<strong>die</strong>nen, sind wir nicht besser <strong>als</strong> <strong>die</strong> Diebe.“<br />
„Aber immerhin wären wir dann satt“, grinste Frank.<br />
Er bückte sich und hob vom Fußboden eine dünne<br />
Broschüre auf. „Amtlicher Führer für Ruine Drachenfels<br />
und Umgebung“, las er. „Das leihe ich mir aus für<br />
unseren Rundgang <strong>hier</strong>. Dagegen werden <strong>die</strong> Inhaber<br />
des Kiosks wohl nichts einzuwenden haben. Immerhin<br />
haben sie es uns zu verdanken, wenn <strong>die</strong> Einbrecher<br />
schon in den nächsten Minuten geschnappt werden.“<br />
„Das werden sie!“, versicherte Lisa, <strong>die</strong> ihr Telefongespräch<br />
mit der Polizei schon beendet hatte. „Wann<br />
wurde <strong>die</strong> Burg eigentlich gebaut?“
„Ich würde viel lieber wissen, wann und von wem sie<br />
zerstört wurde“, meinte Pieri. „Das muss ein gewaltiger<br />
Kampf gewesen sein. Wer waren <strong>die</strong> Angreifer?“<br />
„Wind und Wetter und der Zahn der Zeit“, antwortete<br />
Frank, in seinem Fremdenführer blätternd. „Irgendwann<br />
wurde das Leben <strong>hier</strong> auf der abgelegenen<br />
Burg den Besitzern zu langweilig, und sie zogen weg,<br />
hinunter in <strong>die</strong> Stadt. Erbaut wurde <strong>die</strong> Burg von Ritter<br />
Gundolf <strong>um</strong> 1170. Aus jener Zeit ist aber nur noch <strong>die</strong><br />
Burgkapelle erhalten.“<br />
„Die würde ich gerne sehen“, meinte Romy.<br />
„Ich führe euch hin“, sagte Frank. „Dieses schlaue<br />
Buch <strong>hier</strong> enthält auch einen Grundriss der ganzen<br />
Burg. Ich schätze, <strong>die</strong> Kapelle ist <strong>die</strong>ses kleine Häuschen<br />
dort drüben.“<br />
Franks Vermutung erwies sich <strong>als</strong> richtig. Viel zu sehen<br />
gab es aber in der Kapelle nicht mehr, nicht einmal<br />
ein Dach. An den Wänden gab es noch ein paar<br />
Farbspuren von einstigen Malereien, aber es war unmöglich<br />
zu erkennen, was <strong>die</strong>se Gemälde einst dargestellt<br />
hatten. Das einzige lohnenswerte Motiv, das Pieri<br />
für seine Kamera fand, war ein riesiger steinerner Sarg,<br />
auf dessen Deckel <strong>die</strong> Umrisse eines Mannes und einer<br />
Frau in altmodischer Kleidung eingemeißelt waren.<br />
„Unser schlauer Führer erzählt uns, dass <strong>die</strong>s das<br />
Grab der Erbauer ist“, berichtete Frank. „Ritter Gundolf<br />
von Drachenfels und seine Gemahlin Gertrude. Vor<br />
über 100 Jahren haben ein paar besonders neugierige<br />
Menschen das Grab gewaltsam aufgebrochen, wohl in<br />
der Hoffnung, darin wertvolle Gegenstände zu finden,<br />
77
goldenen Schmuck vielleicht und Edelsteine. Aber sie<br />
fanden nur vermoderte Stoff fetzen und ein paar morsche<br />
Knochen. Alles zerfi el an der Luft zu Staub innerhalb<br />
weniger Minuten. Man fand nur ein paar wertlose<br />
Gegenstände, <strong>die</strong> wohl einst einer Frau gehört hatten.<br />
Schlichte Ohrringe, z<strong>um</strong> Beispiel.“<br />
„Und was hat man von Ritter Gundolf gefunden?“,<br />
fragte Pieri. „Ein Schwert vielleicht oder einen Helm?“<br />
„Nein, von dem hat man nichts gefunden“, antwortete<br />
Lisa.<br />
„Stimmt“, bestätigte Frank. „Aber woher weißt du<br />
das? Du hast doch noch keinen Blick in mein schlaues<br />
Büchlein geworfen.“<br />
78<br />
Aufl ösung auf Seite 232/233
In der Folterkammer<br />
„Ihr wart das <strong>als</strong>o!“<br />
Pieri, der gerade den riesigen steinernen Sarkophag<br />
fotografi erte, spürte, wie eine kräftige Hand ihn hinten<br />
am Kragen packte. Er wandte den Kopf.<br />
Der Mann, der ihn festhielt, war nicht mehr jung.<br />
Nach Pieris Begriff en war er sogar schon uralt. Sein<br />
Haar war schneeweiß. Die Augen in seinem sonnengebräunten<br />
Gesicht funkelten vor Zorn.<br />
„Was habt ihr Bengel euch dabei gedacht, <strong>die</strong> Tür<br />
des Andenkenladens aufzubrechen und das Geschäft<br />
auszuplündern?“<br />
„Wenn wir das gewesen wären, wären wir schon<br />
längst nicht mehr <strong>hier</strong>“, antwortete Lisa. „Die Täter waren<br />
ein Mann und eine Frau. Wir haben sie auf frischer<br />
Tat erwischt, daraufhin sind sie gefl ohen. Mit einem<br />
Auto.“<br />
„Das Auto habe ich gesehen“, sagte der Mann. „Es<br />
hätte mich fast über den Haufen gefahren. Sie hatten<br />
es sehr eilig.“<br />
„Aus gutem Grund“, lachte Romy. „Die Polizei ist<br />
schon hinter ihnen her.“<br />
Der Mann schien besänftigt zu sein. Er ließ Pieri los.<br />
„Was treibt ihr eigentlich schon so früh <strong>hier</strong> oben? Die<br />
meisten Besucher kommen erst am Mittag. Um <strong>die</strong>se<br />
Zeit bin ich immer der einzige Mensch <strong>hier</strong> oben.“<br />
79
„Immer?“, wiederholte Lisa. „Sie kommen <strong>als</strong>o oft<br />
<strong>hier</strong>her?“<br />
„Jeden Tag“, nickte der Mann. „Seit zehn Jahren,<br />
seit ich in Pension gegangen bin. Bei Wind und Wetter,<br />
Regen und Schnee und in der größten Sommerhitze.<br />
Viele Leute halten mich deshalb für verrückt. Ich sehe<br />
euch an, dass ihr auch so über mich denkt. Aber es ist<br />
mir einfach zu langweilig, nur zu Hause zu sitzen. Bewegung<br />
an der frischen Luft hält gesund. Und jung. Für<br />
wie alt würdet ihr mich schätzen?“<br />
„75“, antwortete Lisa.<br />
Der Mann sah sie überrascht an. „Die meisten halten<br />
mich höchstens für 65. Wie hast du das erraten?“<br />
„Nicht erraten, sondern errechnet. Wenn Sie, wie <strong>die</strong><br />
meisten Männer, mit 65 in den Ruhestand gegangen<br />
sind und seither jeden Tag seit zehn Jahren <strong>hier</strong> heraufgekommen<br />
sind …“<br />
„Ja, du hast recht, das war einfach herauszufi nden.<br />
Aber ihr habt meine Frage noch nicht beantwortet:<br />
Was treibt ihr <strong>hier</strong> oben?“<br />
„Wir haben gehört, dass es <strong>hier</strong> spukt“, antwortete<br />
Pieri. „Jetzt würden wir gern einen richtigen Geist sehen.<br />
Der Geist in der vergangenen Nacht war leider …“<br />
„Das wird den Herrn nicht interessieren“, unterbrach<br />
ihn Frank. „In <strong>die</strong>sem Fremdenführer <strong>hier</strong> steht, dass<br />
es tatsächlich etliche Spukgeschichten über Burg Drachenfels<br />
gibt.“<br />
„Stimmt“, nickte der alte Mann. „Ich habe schon etliche<br />
von ihnen gehört. Und zwei oder drei auch selbst<br />
erfunden. Aber <strong>die</strong> Sache hat einen wahren Hinter-<br />
80
grund. Vor 200 Jahren gingen <strong>hier</strong> oben sonderbare<br />
Dinge vor sich. Man hörte Geräusche, <strong>die</strong> sich niemand<br />
erklären konnte, und sah nachts einen unheimlichen<br />
Lichtschein hinter den Fenstern. Ein mutiger Mann, der<br />
sich eines Nachts <strong>hier</strong>herauf wagte, ist angeblich nicht<br />
wieder zurückgekommen.“<br />
„Ich nehme an, es war eine Räuberbande, <strong>die</strong> sich<br />
<strong>hier</strong> oben versteckt hatte“, sagte Lisa. „Vor 200 Jahren,<br />
das war etwa zur Zeit der napoleonischen Kriege. Dam<strong>als</strong><br />
herrschte ein ziemliches Chaos im Land.“<br />
„Du bist der Wahrheit ziemlich nahegekommen“,<br />
meinte der Alte. „Aber es waren keine Straßenräuber,<br />
sondern F<strong>als</strong>chmünzer. Sie nutzten den Aberglauben<br />
der Leute und <strong>die</strong> weit verbreitete Angst vor Gespens-<br />
81
tern, <strong>um</strong> <strong>hier</strong> oben in Ruhe ihrem unsauberen Geschäft<br />
nachzukommen.“<br />
„Wenn es <strong>hier</strong> oben keine Geister gibt, dann gibt<br />
es hoffentlich wenigstens eine Folterkammer?“, fragte<br />
Pieri hoffnungsvoll.<br />
Der Alte lächelte. „Ja, <strong>die</strong> gibt es. Wenn ihr sie sehen<br />
wollt, dann kommt mit!“<br />
Pieri erwartete, dass der Mann sie über dunkle Treppen<br />
tief hinunter in den Keller führen würde. Deshalb<br />
war er überrascht, <strong>als</strong> er in einen Ra<strong>um</strong> geführt wurde,<br />
der zu ebener Erde lag.<br />
„Das ist das Verließ“, berichtete der alte Mann. „Hier<br />
wurden <strong>die</strong> Gefangenen eingesperrt, manche jahrelang.<br />
Ihr könnt noch <strong>die</strong> Ketten sehen, mit denen sie<br />
gefesselt waren.“<br />
„Alles Schwindel!“, behauptete Lisa. „Hier ist bestimmt<br />
niemand je eingesperrt gewesen.“<br />
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte Pieri verdutzt.<br />
82<br />
Auflösung auf Seite 233
Der Schatz<br />
in der Drachenhöhle<br />
Die vier Kinder und der alte Herr hatten <strong>die</strong> f<strong>als</strong>che<br />
Folterkammer verlassen. Sie standen jetzt inmitten des<br />
Burghofs.<br />
„Wenn Sie so oft <strong>hier</strong>herkommen und das seit vielen<br />
Jahren schon, dann kennen Sie Burg Drachenfels doch<br />
sicher besser <strong>als</strong> der Verfasser <strong>die</strong>ses schlauen Buches<br />
<strong>hier</strong>, nicht wahr?“, fragte Frank. Er zeigte auf das Buch<br />
„Amtlicher Führer für Ruine Drachenfels und Umgebung“.<br />
„Nicht besser, sondern genauso gut wie er“, antwortete<br />
der Alte.<br />
„Wie das?“, wunderte sich Frank.<br />
„Weil er selbst <strong>die</strong>ser Clemens Fels ist, der <strong>die</strong>ses<br />
Buch geschrieben hat“, sagte Lisa.<br />
Der alte Herr verneigte sich formvollendet vor ihr.<br />
„Clemens Konstantin Graf von Drachenfels, zu Ihren<br />
Diensten, mein Fräulein. Als Autor nenne ich mich<br />
schlicht Clemens Fels.“<br />
„War<strong>um</strong> so bescheiden?“, fragte Romy.<br />
Graf Drachenfels zeigte mit einer weit ausholenden<br />
Bewegung in <strong>die</strong> Runde. „Die alte Herrlichkeit ist vorbei.<br />
Es macht auf <strong>die</strong> Leute nicht viel Eindruck, wenn<br />
man ihnen erzählt, dass man der Besitzer <strong>die</strong>ses zusammenfallenden<br />
Steinhaufens ist.“<br />
83
„Sie kennen doch viele Geschichten, <strong>die</strong> Sie in Ihrem<br />
Buch nicht geschrieben haben, nicht wahr?“, fragte<br />
Pieri neugierig.<br />
„In der Tat! Ein paar Dinge habe ich für mich behalten.<br />
Z<strong>um</strong> Beispiel habe ich noch keinem Menschen je<br />
erzählt …“ Graf Drachenfels blickte in <strong>die</strong> Runde. Immer<br />
noch war außer ihm und den vier Kindern kein Besucher<br />
zu sehen. Trotzdem senkte er seine Stimme zu<br />
einem Flüstern. „Ich habe noch niemandem erzählt,<br />
dass es <strong>hier</strong> in der Burg einen versteckten Schatz gibt.“<br />
„Haben Sie ihn schon gefunden?“, fragte Pieri aufgeregt.<br />
„Bis vor Kurzem wusste ich überhaupt noch nichts<br />
von ihm. Bis mir dann in meiner Bibliothek ein altes Pergament<br />
in <strong>die</strong> Hände fiel. 500 Jahre oder länger hatte<br />
keiner meiner Vorfahren darauf geachtet. Der Schatz<br />
liegt in der Drachenhöhle. Sie heißt so, weil dort vor Urzeiten<br />
ein Drache hauste, der den Schatz bewachte.“<br />
„Drache?“, wiederholte Frank. „Pah! An Drachen<br />
glaube ich ebenso wenig wie an Gespenster.“<br />
„Ich glaube auch nicht an den Drachen, obwohl<br />
er dem Berg, der Burg und schließlich unserem Geschlecht<br />
den Namen gegeben hat. Aber an der Geschichte<br />
von dem Schatz könnte schon etwas Wahres<br />
sein. Höhlen jedenfalls gibt es in <strong>die</strong>sem Berg mehrere.“<br />
„Waren Sie schon mal in der Drachenhöhle?“, fragte<br />
Romy.<br />
„Leider nein. Der Eingang zu der Höhle liegt, dem alten<br />
Dok<strong>um</strong>ent nach, im Burggraben. Aber der Abstieg<br />
da hinunter ist mir zu gefährlich. Ich fürchte, wenn ich<br />
84
da hinunterklettere, stürze ich ab und breche mir das<br />
Genick.“<br />
„Ich würde es mir zutrauen“, sagte Pieri. „Wenn es<br />
nicht gar zu tief ist.“<br />
Während des Gesprächs waren sie zu einer niedrigen<br />
Mauer gelangt, hinter der der Burggraben gähnte.<br />
Er war vor vielen Jahrhunderten aus dem Felsen gehauen<br />
worden und ungefähr fünf Meter tief.<br />
„Die Drachenhöhle muss genau unter uns sein“,<br />
sagte der Graf. „Der Eingang ist wohl von <strong>die</strong>sen Büschen<br />
verborgen.“<br />
„Da hinunterzuklettern ist kein Kunststück“, meinte<br />
Pieri. „Das lasse ich nicht zu!“, sagte Lisa. „Ich habe deinen<br />
Eltern versprochen, auf dich aufzupassen, während<br />
…“<br />
„Und ich brauche keinen Aufpasser, schon gar kein<br />
Mädchen!“<br />
85
Bevor Lisa ihn daran hindern konnte, schwang Pieri<br />
sich über <strong>die</strong> Mauer. Er hatte nicht zu viel versprochen.<br />
Die raue Felswand hinunterzuklettern bereitete ihm<br />
keine Schwierigkeiten. Er drang in <strong>die</strong> Büsche ein.<br />
„Ich sehe sie“, rief er aufgeregt nach oben. „Da ist <strong>die</strong><br />
Höhle.“<br />
„Pass auf, dass dich nicht der Drache frisst!“, spottete<br />
Frank. Pieri hörte nicht auf ihn. Er zwängte sich durch<br />
<strong>die</strong> Büsche hindurch und drang in <strong>die</strong> Höhle ein.<br />
„Ich habe den Schatz gefunden!“, hörten <strong>die</strong> anderen<br />
oben ihn jubeln. Gleich darauf tauchte er wieder<br />
aus der Höhle auf und arbeitete sich durch <strong>die</strong> Büsche<br />
ins Freie. In seinen Händen trug er eine uralt aussehende<br />
eisenbeschlagene Kiste. Er klemmte sich <strong>die</strong> Kiste unter<br />
den linken Arm und machte sich dann an den Aufstieg.<br />
Da er sich jetzt nur noch mit einer Hand festhalfesthal- 86
ten konnte, brauchte er für den Weg hinauf etwas länger<br />
<strong>als</strong> für den Abstieg. Endlich war er oben.<br />
„Das Schloss sieht ziemlich verrostet aus“, sagte<br />
Frank. „Ich glaube …“ Pieri wartete nicht ab, was Frank<br />
glaubte. Er klappte einfach den Deckel hoch. Das verrostete<br />
Schloss leistete tatsächlich nicht den geringsten<br />
Widerstand.<br />
Ungläubig blickten <strong>die</strong> vier Kinder und der alte<br />
Mann auf den Inhalt der kleinen Schatzkiste. Es lagen<br />
Edelsteine darin in allen Farben, funkelnde weiße Diamanten,<br />
blaue Saphire, schillernde Topase, dazu goldschimmernde<br />
Münzen.<br />
„Der Schatz des Drachen!“, sagte Graf Drachenfels<br />
fast andächtig. „Es gibt ihn <strong>als</strong>o doch! Eine uralte Überlieferung<br />
besagt, dass schon <strong>die</strong> Römer <strong>hier</strong> oben auf<br />
dem Berg ein Kastell errichtet hatten. Sie haben dam<strong>als</strong><br />
den Schatz versteckt. Die Münzen sind <strong>als</strong>o 2000 Jahre<br />
alt oder älter.“<br />
Lisa nahm eine der Münzen heraus und betrachtete<br />
sie eingehend.<br />
„Dieser Schatz muss ein Vermögen wert sein“, sagte<br />
Romy.<br />
„Er ist überhaupt nichts wert“, widersprach Lisa. „Die<br />
Edelsteine sind billiges Glas, und <strong>die</strong> Münzen sind eine<br />
dreiste Fälschung.“<br />
„Woher willst du das wissen?“, fragte Frank.<br />
Aufl ösung auf Seite 234<br />
87
88<br />
King Kong in Bergheim<br />
Lisa, Romy, Frank und Pieri waren wieder auf dem<br />
Rückweg von der Burg zu ihrem Ferienlager. Sie gingen<br />
schnell, <strong>um</strong> rechtzeitig z<strong>um</strong> Mittagessen dort zu sein.<br />
Glücklicherweise war der Weg bergab viel leichter <strong>als</strong><br />
bergauf, und so kamen sie gut vorwärts.<br />
„Glaubt ihr, dass der alte Herr oben auf der Burgruine<br />
wirklich der letzte Graf von Drachenfels ist, wie er<br />
behauptet?“, fragte Frank.<br />
„Er hat ziemlich viel gefl unkert“, meinte Romy. „Vielleicht<br />
war auch das nur einer seiner sonderbaren<br />
Späße.“<br />
„Ich glaube ihm“, sagte Pieri. „Er ist der erste leibhaftige<br />
Graf, dem ich je begegnet bin.“<br />
„Es würde jedenfalls erklären, weshalb er so oft zur<br />
Ruine hinaufsteigt“, überlegte Lisa. „Er versetzt sich<br />
dort oben in Gedanken in <strong>die</strong> schöne Zeit zurück, in<br />
der seine Vorfahren von der Burg aus <strong>die</strong> ganze Gegend<br />
beherrscht haben.“<br />
Die Kinder hatten inzwischen Bergheim erreicht.<br />
Um zu ihrem Zeltlager zu kommen, mussten sie den<br />
kleinen Ort durchqueren. Plötzlich blieben sie stehen.<br />
„Was war das für ein Geräusch?“, wunderte sich Lisa.<br />
„Hörte sich an wie eine Trompete“, vermutete Frank.<br />
„Eine ziemlich verrostete Trompete“, lachte Romy.<br />
„Oder eine, <strong>die</strong> von dir gespielt wird.“
„Es klang eher wie ein Schrei Tarzans im Film“, sagte<br />
Pieri. „Im Urwald …“<br />
Er brach plötzlich ab. Irgend etwas hatte ihn am linken<br />
Oberarm gefasst und hielt ihn fest. Er wandte den<br />
Kopf – und erschrak.<br />
Es war ein riesiger Affe, der neben ihm kauerte.<br />
Seine haarige Hand war so groß wie <strong>die</strong> Torwarthandschuhe,<br />
<strong>die</strong> Pieri beim Fußballspielen trug. Das Gesicht<br />
des Affen war pechschwarz, seine Schnauze größer <strong>als</strong><br />
<strong>die</strong> irgend eines Hundes, den Pieri je gesehen hatte,<br />
und <strong>die</strong> Eckzähne erinnerten ihn an Dolche.<br />
Der Affe schien Pieri anzugrinsen. Dann gab er dem<br />
Jungen einen Klaps auf den Po und rannte auf allen<br />
vieren davon.<br />
Jetzt erst fiel Pieri auf, dass der Affe ein Trikot trug<br />
mit der Aufschrift „Rossini“ auf dem Rücken. Nach etwa<br />
30 Metern hielt der Affe kurz an, schien noch einmal zu<br />
den Kindern zurückzublicken und rannte dann auf allen<br />
vieren über <strong>die</strong> Straße. Sekunden später war er in<br />
einer Querstraße verschwunden.<br />
„King Kong in Bergheim!“, sagte Pieri. Er versuchte,<br />
seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Die anderen<br />
sollten nicht merken, wie sehr er sich erschrocken<br />
hatte.<br />
„Ist wohl aus einem Tierpark ausgebrochen“, vermutete<br />
Frank.<br />
„In einem so kleinen Ort wie Bergheim gibt es bestimmt<br />
keinen Tierpark“, widersprach Romy. „Es ist jedenfalls<br />
der erste Affe, den ich auf der Straße her<strong>um</strong>laufen<br />
…“<br />
89
„Und der erste Elefant“, fügte Frank hinzu. Verwundert<br />
blickten <strong>die</strong> Kinder dem riesigen Elefanten entgegen,<br />
der eben aus einer Querstraße auf <strong>die</strong> Hauptstraße<br />
einbog. Neben ihm ging ein Mann, der wohl sein<br />
Wärter war. Über dem Rücken des Elefanten hing eine<br />
riesige Decke, auf der in großen Buchstaben „Zirkus<br />
Rossini“ eingestickt war. Ihm folgte ein weiterer Elefant,<br />
dahinter kam ein Lastwagen, auf dem ein Löwenkäfi g<br />
stand. Ein riesiger Löwe mit einer gewaltigen Mähne<br />
ging darin auf und ab.<br />
Dahinter kamen einige Artisten, <strong>die</strong> Purzelbä<strong>um</strong>e<br />
schlugen, auf den Händen liefen oder den Menschen<br />
90
am Straßenrand zuwinkten. Den Abschluss der kleinen<br />
Prozession bildete ein Lautsprecherwagen.<br />
„Meine Damen und Herren, liebe Kinder!“, sagte eine<br />
blechern klingende Stimme aus dem Lautsprecher.<br />
„Von heute bis z<strong>um</strong> Sonntag gastiert in Ihrer schönen<br />
Stadt unser weltberühmter Zirkus Rossini. Wir laden<br />
Sie alle herzlich ein zu unserer ersten Vorstellung heute<br />
Abend <strong>um</strong> acht Uhr.“<br />
„Der komische Trompetenlaut kam off enbar von einem<br />
Elefanten“, sagte Romy.<br />
„Jetzt wissen wir auch, woher der Gorilla kam“, fügte<br />
Pieri hinzu. „Er ist den Zirkusleuten ausgerissen.“<br />
„Es ist kein Gorilla“, widersprach Lisa.<br />
„Doch, das war einer“, gab Frank seinem neuen<br />
Freund recht. „Schimpansen sind viel kleiner, und<br />
Orang-Utans haben lange, zottige rote Haare.“<br />
„Es war überhaupt kein Aff e“, sagte Lisa.<br />
Die drei anderen blickten Lisa erstaunt an.<br />
„Kein Aff e?“, wunderte sich Frank. „Was soll es denn<br />
sonst gewesen sein? Ein Warzenschwein etwa?“<br />
„Es war überhaupt kein Tier, sondern ein Mensch.<br />
Ein Artist in einem Aff enkostüm. Er will ein bisschen Reklame<br />
für seinen Zirkus machen.“<br />
Aufl ösung auf Seite 235<br />
91
92<br />
Die dicke Königin<br />
Lisa, Romy, Frank und Pieri wunderten sich, dass <strong>die</strong><br />
Leute vom Zirkus mit ihren Tieren denselben Weg<br />
durch Bergheim gingen wie sie selbst. Erst <strong>als</strong> sie <strong>die</strong><br />
kleine Stadt verlassen hatten und bei ihrem Ferienlager<br />
angekommen waren, erkannten sie den Grund: Der<br />
Zirkus schlug seine Zelte auf der großen Wiese neben<br />
dem Lager auf.
Von dem großen Zelt stand bisher nur ein Gerüst,<br />
daneben waren etliche Wohnwagen der Artisten und<br />
<strong>die</strong> Wagen, mit denen <strong>die</strong> Tiere transportiert wurden,<br />
aufgestellt. Vier Elefanten standen im Freien, an mächtige,<br />
in den Boden gerammte Pfl öcke angekettet.<br />
„Die haben ja ein gewaltiges Tempo drauf“, wunderte<br />
sich Frank. „Als wir vor ein paar Stunden weggingen,<br />
war von dem Zirkus noch nichts zu sehen, und<br />
jetzt …“<br />
„Ich bezweifl e trotzdem, dass sie bis zur Abendvorstellung<br />
noch fertig werden“, unterbrach ihn Pieri. „Da<br />
ist noch viel zu tun.“<br />
„Ja, aber wenn wir alle kräftig zupacken, schaff en wir<br />
es“, sagte eine Männerstimme hinter ihm. Pieri drehte<br />
sich <strong>um</strong> – und erschrak wieder. Es war der Aff e, der ihm<br />
erst vor zehn Minuten einen riesigen Schrecken eingejagt<br />
hatte. Er stand in der Tür zu dem Haus, in dem Dr.<br />
Großmann sein Büro hatte. Jetzt erst fi el Pieri auf, wie<br />
groß der Aff e war. Viel größer <strong>als</strong> jeder Gorilla, den er je<br />
im Zoo gesehen hatte.<br />
„Vielleicht helft ihr uns ja beim Aufbau des Zeltes<br />
und der Zuschauertribünen“, sagte der Mann im Affenkostüm.<br />
„Jeder, der mithilft, hat heute Abend freien<br />
Eintritt. Das habe ich eben mit Herrn Großmann geregelt.“<br />
„Mich laust der Aff e!“, stieß Frank hervor.<br />
Der Aff e hob beide Arme, packte mit seinen mächtigen<br />
Pranken seinen Kopf an den Ohren – und hob den<br />
Kopf ab. Jetzt wurde das freundliche Gesicht des Mannes<br />
sichtbar, der in dem Aff enfell steckte.<br />
93
„Ich bin Roberto“, sagte er. „Und ich hoffe, dass ich<br />
euch heute Abend <strong>als</strong> Gäste in der Vorstellung begrüßen<br />
darf.“<br />
„Wenn ich zu Hause erzähle, dass ich mich mit einem<br />
Affen unterhalten habe, werden mich alle für einen<br />
Lügner halten“, sagte Pieri, <strong>als</strong> er mit seinen Freunden<br />
ein paar Minuten später in dem Zelt saß, in dem<br />
<strong>die</strong> Teilnehmer des Ferienlagers ihre Mahlzeiten einnahmen.<br />
„Oder für einen Spinner, der …“<br />
Weiter kam er nicht. Hinter sich hörte er wieder das<br />
merkwürdige trompetenartige Geräusch, über das er<br />
sich heute schon einmal gewundert hatte, und vor ihm,<br />
auf der anderen Seite des Tisches, sah er <strong>die</strong> erstaunten<br />
Gesichter von Lisa und Romy.<br />
Durch <strong>die</strong> weit offene Tür des Zelts kam ein Elefant.<br />
An seinem linken Vorderbein hing eine lange eiserne<br />
Kette. Hinter dem Elefanten kam sein Pfleger.<br />
Der Elefant blickte sich kurz <strong>um</strong>, dann machte er ein<br />
paar Schritte nach vorn. Einige Kinder sprangen von ihren<br />
Stühlen auf und rannten davon. Der Elefant schien<br />
das <strong>als</strong> Aufforderung zu betrachten, ihnen zu folgen.<br />
„Ihr braucht keine Angst zu haben, Kinder!“, rief der<br />
Wärter. „Rani ist eine sehr gutmütige Elefantendame.<br />
Die tut keinem Menschen etwas zuleide.“ Mit wenigen<br />
schnellen Schritte überholte er das riesige Tier<br />
und stellte sich ihm in den Weg. „Zurück, Rani!“, befahl<br />
er. Rani gehorchte. Sie wich zurück, Schritt für Schritt,<br />
durch <strong>die</strong> offene Tür hinaus ins Freie.<br />
„Soviel ich weiß, heißt ‚Rani‘ auf indisch ‚Königin‘“,<br />
sagte Frank.<br />
94
„Das muss <strong>die</strong> dickste Königin der Welt sein“, meinte<br />
Pieri. Er hatte plötzlich jedes Interesse an seinem Essen<br />
verloren, stand auf und folgte dem Elefanten und seinem<br />
Wärter.<br />
Vom Haus her kam Dr. Großmann gelaufen, der Leiter<br />
des Ferienlagers. „Was fällt Ihnen ein!“, rief er. „Sie<br />
können doch mit einem Elefanten nicht in ein Zelt mit<br />
50 oder mehr Kindern gehen! Auch wenn das Tier gutmütig<br />
ist, könnte es doch erschrecken und in seiner<br />
Angst loslaufen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was<br />
dann passiert.“<br />
„Ich hatte Rani angekettet“, verteidigte sich der Wärter.<br />
„Jemand muss sie losgebunden haben.“<br />
„Das kann nur jemand vom Zirkus gewesen sein. Einen<br />
Fremden hätte der Elefant wohl nicht so nahe an<br />
sich herangelassen.“<br />
Der Wärter nickte. „Ich kann mir schon vorstellen,<br />
wer das war. Es kommt nur der Affe infrage.“<br />
„Sie meinen Roberto? Weshalb sollte er das tun?“<br />
„Weil er verrückt ist. Und bösartig. Er stellt dauernd<br />
<strong>die</strong> unmöglichsten Dinge an und gibt dann mir <strong>die</strong><br />
Schuld. Er hasst mich. Wahrscheinlich weil ich ein besserer<br />
Artist bin <strong>als</strong> er.“<br />
„Ich glaube, Sie drehen <strong>die</strong> Dinge <strong>um</strong>“, sagte Pieri.<br />
„Roberto kann mit der Sache nichts zu tun haben.“<br />
Auflösung auf Seite 235/236<br />
95
96<br />
Jetzt schlägt’s 13<br />
„Es macht wirklich Spaß, ein Zirkuszelt aufzubauen“,<br />
sagte Pieri.<br />
„Und vor allen Dingen macht es sehr müde“, sagte<br />
Frank. „Und durstig.“ Er setzte sich erschöpft auf <strong>die</strong><br />
Bank, <strong>die</strong> er eben mit Pieri in das Zelt hineintragen<br />
wollte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und<br />
kramte in seiner Sporttasche nach der Flasche mit<br />
Mineralwasser, <strong>die</strong> er mitgebracht hatte. Die Flasche<br />
war schon fast leer.<br />
„Keine Müdigkeit vortäuschen, meine Herren!“, rief<br />
eine spöttische Stimme hinter ihm. Frank und Pieri<br />
drehten sich <strong>um</strong>. Es war Markus, der Junge, den Pieri<br />
gestern kennengelernt hatte. „Wenn ihr nur dasitzt und<br />
schaut, wird das Zelt nicht mehr fertig bis zur Abendvorstellung.“<br />
„Du könntest uns dabei helfen“, schlug Pieri vor.<br />
„Wenn <strong>die</strong> Bezahlung stimmt, bin ich dabei.“<br />
„Es gibt keine Bezahlung. Nur freien Einritt heute<br />
Abend. Das hat uns der Aff e versprochen.“ Pieri bemerkte<br />
den verwunderten Blick seines neuen Freundes.<br />
„Er heißt Roberto. Natürlich ist er kein wirklicher<br />
Aff e, sondern ein Artist, der manchmal ein Aff enkostüm<br />
trägt.“<br />
Von den Wohnwagen der Artisten her näherten sich<br />
Lisa und Romy. „Es gibt wirklich eine Menge zu sehen
ei so einem Zirkus“, sagte Romy. „Die Elefanten, <strong>die</strong><br />
Löwen …“<br />
„Und den Affen Roberto“, warf Markus spöttisch ein.<br />
„Nein, den haben wir nicht gesehen. Nur einen wunderbar<br />
geschminkten Clown, der gerade seine Späße<br />
übte. Und Maja, <strong>die</strong> Tochter des Direktors. Sie ist höchstens<br />
zehn Jahre alt. Aber was <strong>die</strong> auf dem Reck schon<br />
alles kann, das ist wirklich verblüffend.“<br />
Lisa zeigte auf einen weißen Sportwagen, der langsam<br />
auf der nahen Straße am Rande des Zeltplatzes<br />
vorbeifuhr. „Ist das nicht der Mann, der sich einen Spaß<br />
daraus macht, bei Regen durch alle Pfützen zu fahren<br />
und <strong>die</strong> Spaziergänger nass zu spritzen?“, fragte sie.<br />
„Er scheint dabei an den F<strong>als</strong>chen geraten zu sein“,<br />
lachte Romy. Sie deutete auf den hässlichen Kratzer,<br />
der sich quer über <strong>die</strong> rechte Tür des Wagens zog.<br />
Der Mann in dem Auto schaute zu ihnen herüber.<br />
Plötzlich stieg er hart auf <strong>die</strong> Bremse und setzte dann<br />
wieder ein Stück zurück. Er stieß <strong>die</strong> Tür auf, stieg aus,<br />
ging mit schnellen Schritten <strong>um</strong> das Fahrzeug her<strong>um</strong><br />
und kam dann mit zornrotem Gesicht auf <strong>die</strong> Kinder zu.<br />
„Jetzt habe ich dich endlich erwischt, du Lausebengel!“,<br />
rief er.<br />
Pieri, Frank und Markus zogen schnell <strong>die</strong> Köpfe<br />
ein. Jeder hatte das unangenehme Gefühl, gemeint zu<br />
sein, aber keiner von ihnen hatte dabei ein schlechtes<br />
Gewissen.<br />
Der Mann packte Markus am Kragen. „Das wird<br />
deine Eltern eine Menge Geld kosten!“, drohte er. „Und<br />
dir eine Menge Ärger mit deinem Vater einhandeln.“<br />
97
„Was ist denn <strong>hier</strong> los?“, fragte Wachtmeister Anders.<br />
Er hielt sich schon eine ganze Weile <strong>hier</strong> auf dem Gelände<br />
auf. Den Zirkusleuten zuzusehen war interessanter,<br />
<strong>als</strong> den täglichen Rundgang durch <strong>die</strong> kleine Stadt<br />
zu machen, in der er jedes Haus und <strong>die</strong> meisten Menschen<br />
kannte.<br />
„Der Bengel hat meinen Wagen beschädigt“, sagte<br />
der Besitzer des Fahrzeugs. Er zeigte auf <strong>die</strong> zerkratzte<br />
rechte Wagentür. „Mit einem Nagel. Ich habe ihn dabei<br />
beobachtet, aber bevor ich ihn mir schnappen konnte,<br />
lief er davon.“<br />
„Das war ich nicht!“, versicherte Markus. Er blickte<br />
Hilfe suchend zu Wachtmeister Anders auf.<br />
„Sind Sie sicher, dass er es war?“, fragte Anders.<br />
„Sicher bin ich sicher. Das blonde Haar, <strong>die</strong> Jeans, <strong>die</strong><br />
Turnschuhe – ohne Zweifel, er war es.“<br />
„Wo ist <strong>die</strong> Sache geschehen?“, fragte Anders.<br />
„Beim Marktplatz“, antwortete der Mann. Immer<br />
noch hielt er Markus fest. „Mittags. So <strong>um</strong> zwölf.“<br />
„Um zwölf?“, wiederholte Markus. Sein Gesicht<br />
wirkte jetzt wesentlich zuversichtlicher <strong>als</strong> eben noch.<br />
98
„Um zwölf war ich zu Hause. Bis ein Uhr etwa. Ich habe<br />
Geige gespielt. Ich muss jeden Tag üben, besonders<br />
jetzt in den Ferien.“<br />
„Hast du einen Zeugen dafür?“, fragte Wachtmeister<br />
Anders.<br />
„Ja, meine Mutter“, antwortete Markus zögernd.<br />
„Aber erst ab halb eins, da kam sie nach Hause.“<br />
„Wenn ich Geige spiele, habe ich massenhaft Zeugen“,<br />
sagte Frank grinsend. „Die Mieter unter uns klopfen<br />
mit dem Besenstiel gegen <strong>die</strong> Zimmerdecke, <strong>die</strong><br />
Nachbarn hämmern mit den Fäusten gegen <strong>die</strong> Wände.<br />
Und dabei brüllen Sie: ‚Hör auf mit dem verdammten<br />
Lärm!‘“<br />
Wachtmeister Anders blickte nachdenklich auf Markus<br />
nieder. „Deine Mutter ist <strong>als</strong>o erst <strong>um</strong> halb eins<br />
nach Hause gekommen. Sie kann <strong>als</strong>o nicht bestätigen,<br />
dass du <strong>um</strong> zwölf zu Hause warst.“<br />
„Aber vielleicht trägt meine Aussage zur Klärung<br />
bei“, mischte sich ein Mann ein. „Sie kennen mich,<br />
Wachtmeister“, sagte er. „Ich habe einen Stand für Obst<br />
und Gemüse auf dem Marktplatz. Übrigens, ich beliefere<br />
auch <strong>die</strong> Zirkusleute und ihre Tiere.“<br />
„Ja, mit Bananen für den Affen Roberto“, warf Frank<br />
grinsend ein. Er schien <strong>die</strong> Sache immer noch nicht<br />
ernst zu nehmen.<br />
„Haben Sie <strong>die</strong> Tat gesehen, Herr Krüger?“, fragte der<br />
Wachtmeister.<br />
„Die Tat selbst nicht“, antwortete Herr Krüger. „Aber<br />
den Jungen. Er ging wenige Schritte an mir vorbei.<br />
Punkt zwölf Uhr.“<br />
99
„Was macht Sie so sicher, dass es zwölf Uhr war?“<br />
„Die Uhr an der Kirchenwand“, antwortete Herr Krüger.<br />
„Er stand genau davor, und es war zwölf!“<br />
„Und <strong>um</strong> genau <strong>die</strong>se Zeit wurde mein Wagen zerkratzt!“,<br />
fügte der Besitzer des Sportwagens hinzu. „Ich<br />
verlange, dass Sie den Übeltäter einsperren, Wachtmeister!“<br />
Wachtmeister Anders schüttelte den Kopf. „In <strong>die</strong>sem<br />
Alter wird man nicht eingesperrt. Es genügt völlig,<br />
wenn ich seine Eltern informiere. Junge, du hast ein<br />
paar unangenehme Stunden vor dir!“<br />
„Ich war‘s nicht“, sagte Markus leise. Er blickte hinter<br />
dem Wachtmeister her, der wegging in Richtung Poli-<br />
100
zeirevier. Der Besitzer des Autos stieg in seinen Sportwagen<br />
und fuhr los.<br />
„Wir sollten uns jetzt auch auf den Weg machen“,<br />
meinte Lisa.<br />
„Wohin denn?“, fragte Frank.<br />
„Den Tatort besichtigen.“<br />
„Ich glaube nicht, dass uns das viel hilft“, meinte<br />
Frank. „Aber angenehmer <strong>als</strong> <strong>hier</strong> Sitzbänke zu schleppen<br />
ist es auf jeden Fall.“<br />
Es war kein weiter Weg bis z<strong>um</strong> Marktplatz. Eine<br />
Menge Marktstände waren <strong>hier</strong> aufgebaut, mit Lebensmitteln,<br />
Haushaltswaren oder Andenken für <strong>die</strong> Touristen.<br />
Am Rande des Marktplatzes stand <strong>die</strong> Kirche.<br />
„Das ist es!“, rief Lisa aufgeregt. „Das ist der Beweis,<br />
dass es nicht Markus war, den Herr Krüger angeblich<br />
Punkt zwölf Uhr mittags <strong>hier</strong> gesehen hat.“<br />
Frank blickte Lisa verständnislos an. „Wie kommst<br />
du darauf?“, fragte er. „Diese Uhr ist unübersehbar. Herr<br />
Krüger kann sich nicht in der Zeit geirrt haben.“<br />
Lisa lächelte. „Nun, dann sag mir doch, wie spät es<br />
ist!“<br />
„Fünf“, antwortete Frank. „Nein, sechs. Wie ist das<br />
möglich? Die Uhr oben am Kirchturm sagt sechs, und<br />
meine Armbanduhr auch, aber <strong>die</strong> Sonnenuhr <strong>hier</strong><br />
an der Wand behauptet, dass es erst fünf ist. Sie muss<br />
f<strong>als</strong>ch gehen.“<br />
Aufl ösung auf Seite 236/237<br />
101
102<br />
Der größte Clown<br />
der Welt<br />
Pieri, Frank und einige andere Kinder aus dem Ferienlager<br />
hatten ihre Plätze im Zirkuszelt bereits eingenommen.<br />
Die Zuschauertribünen waren gut gefüllt. Ungeduldig<br />
warteten <strong>die</strong> Besucher auf den Beginn der<br />
Vorstellung.<br />
„Wo sind denn Lisa und Romy?“, fragte Pieri und sah<br />
sich dabei suchend <strong>um</strong>.<br />
„Ist mir egal“, antwortete Frank. „Mich interessiert<br />
nur, wann <strong>die</strong> Raubtiere kommen.“<br />
Lisa und Romy waren noch draußen. Bis z<strong>um</strong> Beginn<br />
der Vorstellung würde es noch eine Viertelstunde dauern,<br />
es blieb <strong>als</strong>o noch genügend Zeit, zwischen den<br />
Wohnwagen der Artisten und den Käfi gen der Raubtiere<br />
her<strong>um</strong>zulaufen. Vor dem Käfi g mit dem riesigen<br />
Löwen blieben sie stehen.<br />
„Ich frage mich wirklich, woher ein Dompteur den<br />
Mut nimmt, sich zu einem halben Dutzend <strong>die</strong>ser<br />
Raubtiere in <strong>die</strong> Manege zu begeben“, sagte Lisa. „Ich<br />
hätte dabei bestimmt fürchterliche Angst, gefressen zu<br />
werden.“<br />
Der Löwe schien ihre Worte verstanden zu haben. Er<br />
sah sie an, riss dann seinen Rachen weit auf und zeigte<br />
den beiden Mädchen ein Furcht einfl ößendes Gebiss.<br />
„Akrobat schööön!“, hörten sie eine Stimme.
„Mich laust der Affe!“, entfuhr es Romy. „Der Löwe<br />
kann sprechen!“<br />
„Löwe nix können sprechen“, sagte <strong>die</strong> Stimme wieder.<br />
„Löwe d<strong>um</strong>mes Tier. Nur Clown Arlekino können<br />
sprechen.“<br />
Die Mädchen drehten sich <strong>um</strong>. Hinter ihnen stand<br />
der Clown, dem sie heute Nachmittag schon eine Weile<br />
zugesehen hatten. Er trug eine unendlich weite Hose,<br />
<strong>die</strong> an ein Bierfass erinnerte, und riesige Schuhe, in denen<br />
er watschelte wie eine Ente. Sein Gesicht war weiß<br />
geschminkt, <strong>die</strong> große rote Pappnase mitten darin<br />
wirkte dadurch noch auffälliger. Sein Schädel war kahl,<br />
mit Ausnahme einer winzigen grünen Haarlocke.<br />
„Ich Arlekino, größtes Clown von Welt“, stellte er<br />
sich vor. Dazu machte er eine ungeschickte Verbeugung,<br />
bei der er fast das Gleichgewicht verloren hätte.<br />
„Löwen nur können brüllen, ich können sprechen. Alle<br />
Sprachen von Welt. Elfundachtzig Sprachen.“<br />
„Das mag schon sein“, sagte Romy. „Aber z<strong>um</strong><br />
Lachen hast du uns noch nicht gebracht. Du musst<br />
noch üben.“<br />
„Ich haben nix Zeit z<strong>um</strong> Unterhalten euch. Ich müssen<br />
einstu<strong>die</strong>ren neue N<strong>um</strong>mer für nächste Vorstellung.<br />
Jetzt mir kommen gut Idee! Ich brauchen hübsche<br />
kleine Assistentin. Du haben Lust, Assistentin von<br />
Arlekino zu werden?“<br />
Er blickte <strong>die</strong> beiden Mädchen an. Genauer gesagt,<br />
sein rechtes Auge blickte auf Lisa, <strong>die</strong> links vor ihm<br />
stand, das linke auf Romy rechts vor ihm. Die beiden<br />
Mädchen hatten noch nie einen Menschen gesehen,<br />
103
der so unglaublich schielte. Keine von ihnen wusste,<br />
wen er mit seiner Frage meinte.<br />
„Ich meinen dir!“, sagte er, hob das linke Bein und<br />
deutete mit seinem riesigen Schuh auf Lisa. „Aber bevor<br />
du dürfen in Manege, ich dich erst machen schön.<br />
Fast so schön wie Arlekino selbst.“<br />
„Soll ich mir etwa auch so eine rote Knollennase aufsetzen<br />
wie du?“, lachte Lisa.<br />
„Knollennase schöööön! Kommen mit in meinen<br />
Wagen!“<br />
Lisa zögerte. „Meine Mutter hat gesagt, dass ich<br />
nicht mit Fremden mitgehen darf. Auch nicht mit<br />
Clowns.“<br />
„Kluges Mutter! Aber sie mich nicht kennen. Ich fressen<br />
Kinder immer erst nach Vorstellung. Jetzt noch kein<br />
Hunger.“<br />
Er öff nete <strong>die</strong> Tür seines Wohnwagens und trat ein.<br />
Lisa und Romy folgten ihm. Sie ließen <strong>die</strong> Tür hinter<br />
sich off en. Dann deutete er einladend auf einen Stuhl,<br />
der vor einem kleinen Schminktisch stand. Lisa setzte<br />
sich. In einem großen Spiegel an der Wand konnte sie<br />
sich jetzt sehen.<br />
Der Clown brachte eine feuerrote Perücke mit langem<br />
und ganz verwirrtem Haar. Er setzte sie Lisa auf.<br />
Lisa lachte. „Damit sehe ich ja aus wie eine richtige alte<br />
Hexe!“, rief sie.<br />
Arlekino nickte. „Du sein schönstes altes Hexe von<br />
Welt. Zuschauer lieben sehr altes Hexen.“<br />
„Aber sie lieben keine Schwindler. Und du bist ein<br />
Schwindler, Roberto!“<br />
104
Der Clown blickte sich <strong>um</strong>, <strong>als</strong> suche er jemanden.<br />
„Roberto? D<strong>um</strong>mes Dompteur von d<strong>um</strong>mes Löwen?“<br />
„Nein, den Mann im Aff enkostüm.“<br />
Der Clown schüttelte den Kopf. „Roberto hässliches<br />
Mann, wenn nicht tragen Aff enkostüm. Arlekino<br />
schööön!“<br />
„Du kannst mit deiner Komö<strong>die</strong> aufhören, Roberto.<br />
Ich habe dich erkannt.“<br />
„Woran?“, fragte der Clown mit völlig veränderter<br />
Stimme.<br />
Aufl ösung auf Seite 237<br />
105
106<br />
Die alte Hexe<br />
Der Zirkus Rossini war nicht der größte Zirkus der Welt,<br />
wie er behauptete, und auch nicht der beste, aber<br />
<strong>die</strong>se Abendvorstellung war mit Abstand <strong>die</strong> schönste,<br />
<strong>die</strong> Lisa je gesehen hatte. Es war nämlich <strong>die</strong> einzige, an<br />
der sie je mitgewirkt hatte.<br />
Wenn sie später davon erzählte, übertrieb sie ihre<br />
Rolle <strong>als</strong> Artistin ein wenig. In Wirklichkeit hatte sie<br />
nicht sehr viel zu tun. Sie musste lediglich, <strong>als</strong> Hexe verkleidet,<br />
versuchen, Arlekino, „bestes Clown von Welt“,<br />
mit ihrem Besenstiel zu verprügeln. Natürlich schlug<br />
sie immer daneben. Arlekino wich immer geschickt aus<br />
und trieb dann seine Späße mit ihr.<br />
Es zeigte sich, dass er nicht nur ein wunderbarer<br />
Spaßmacher war, sondern auch ein Zauberkünstler. Er<br />
zog der alten Hexe Goldmünzen aus der Nase, ließ aus<br />
ihrem wild wuchernden roten Haar einen wunderschönen<br />
Bl<strong>um</strong>enstrauß wachsen und verwandelte ihren Besenstiel<br />
in eine lange Schlange mit weit aufgerissenem<br />
Maul. Sekunden später war <strong>die</strong> Schlange plötzlich wieder<br />
ein Besenstiel.<br />
Nach <strong>die</strong>sem Trick, der beim Publik<strong>um</strong> besonders<br />
viel Beifall fand, verbeugte er sich höfl ich nach allen<br />
Seiten. Dabei unterlief ihm, wie es den Zuschauern<br />
schien, eine kleine Ungeschicklichkeit: Er stolperte<br />
über den Besen der Hexe und stürzte zu Boden. Mit der
Nase im Sand der Arena vergraben blieb er sekundenlang<br />
liegen. Die Hexe setzte tri<strong>um</strong>p<strong>hier</strong>end ihren Fuß<br />
auf seinen Nacken.<br />
Romy hatte sich, rechtzeitig vor Beginn der Vorstellung,<br />
zu Frank und Pieri gesetzt. Frank hatte eine Tüte<br />
Erdnüsse gekauft, aus der alle drei sich abwechselnd<br />
be<strong>die</strong>nten. Als Pieri <strong>die</strong> Tüte an Romy weiterreichte,<br />
griff <strong>die</strong>se daneben. Die Tüte fi el auf den Boden. Pieri<br />
bückte sich, <strong>um</strong> sie aufzuheben.<br />
„Was hast du für komische Sandalen an, Romy?“,<br />
wunderte er sich.<br />
„Seit wann interessiert es einen Jungen, was für<br />
Schuhe ein Mädchen anhat?“, fragte Romy zurück.<br />
107
„Normalerweise interessiert es mich überhaupt<br />
nicht“, antwortete Pieri. „Aber mir ist, <strong>als</strong> hättest du<br />
heute Turnschuhe angehabt. Und Lisa <strong>die</strong>se Sandalen.<br />
Das ist mir aufgefallen, weil darin ihre blöden Ringelsocken<br />
so deutlich zu sehen waren.“<br />
„Wo ist Lisa überhaupt?“, fragte Frank.<br />
„Hast du nicht vorhin gesagt, dass dir das völlig<br />
gleichgültig ist?“, fragte Pieri.<br />
„Das ist es mir auch. Aber Lisa und Romy sind doch<br />
seit Tagen ständig nur noch im Doppelpack unterwegs.<br />
Deshalb wundere ich mich, dass Lisa jetzt fehlt. Sie<br />
wollte doch <strong>die</strong>se Zirkusvorstellung auf keinen Fall versä<strong>um</strong>en.“<br />
Frank sah Romy fragend an. Sie zuckte mit den<br />
Schultern. „Keine Ahnung, wo sie steckt!“, sagte sie, so<br />
gleichgültig wie möglich.<br />
„Sie ist <strong>hier</strong>“, sagte Pieri.<br />
Frank blickte sich suchend <strong>um</strong>. Er entdeckte etliche<br />
Kinder aus dem Ferienlager unter den Zuschauern,<br />
aber nicht Lisa.<br />
„Dort unten“, sagte Pieri und deutete aufgeregt in<br />
<strong>die</strong> Manege.<br />
„Dort sehe ich nur den Clown und … Willst du mir<br />
erzählen, dass <strong>die</strong>se bucklige alte Hexe mit der riesigen<br />
Warze auf der Hakennase unsere Lisa ist?“<br />
„Wer sonst sollte es sein?“, fragte Pieri zurück.<br />
„Wie kommst du darauf?“, fragte Frank.<br />
108<br />
Auflösung auf Seite 237/238
Der vergessliche Dieb<br />
„Du hast deine Sache ausgezeichnet gemacht, kleine<br />
Hexe“, lobte Arlekino, nachdem er und Lisa <strong>die</strong> Manege<br />
verlassen hatten und auf dem kurzen Rückweg zu seinem<br />
Wohnwagen waren. „Jetzt musst du dich nur noch<br />
in ein nettes Mädchen zurückverwandeln, und ich<br />
muss mein Clownskostüm loswerden und mich in Roberto,<br />
den Raubtierdompteur, verwandeln. Das bin ich<br />
nämlich auch. Ich habe noch einen großen Auftritt mit<br />
meinen Löwen.“<br />
Wenige Minuten später saß Lisa neben Pieri, Frank<br />
und Romy unter den Zuschauern. „Wie hast du dich gefühlt<br />
da unten <strong>als</strong> Star in der Manege, vor so vielen Zuschauern?“,<br />
fragte Romy. „Das erzähle ich dir nachher<br />
ausführlich“, antwortete Lisa. „Jetzt möchte ich endlich<br />
auch etwas von der Vorstellung sehen. Diese Hochseilartisten<br />
sind wirklich großartig.“<br />
Sie bekam allerdings nicht viel von der Vorstellung<br />
zu sehen. Ein Mann erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie<br />
kannte ihn, es war Herr Rossini, der Zirkusdirektor. Er<br />
schob sich möglichst unauff ällig zwischen den Zuschauern<br />
hindurch, bis er Wachtmeister Anders erreichte.<br />
Anders saß ganz vorn in der ersten Reihe. Jetzt<br />
am Abend trug er nicht seine Uniform, sondern Zivilkleidung.<br />
Herr Rossini bückte sich zu ihm nieder und<br />
fl üsterte ihm etwas ins Ohr. Sofort stand Wachtmeister<br />
109
Anders auf und folgte Herrn Rossini z<strong>um</strong> Ausgang des<br />
Zelts.<br />
„Ein Polizist ist eben immer im Dienst“, flüsterte Lisa<br />
ihrem Nachbarn Pieri zu. „Komm! Ich glaube, es gibt<br />
gleich etwas viel Interessanteres dort draußen <strong>als</strong> <strong>die</strong>se<br />
Artisten <strong>hier</strong> drinnen.“<br />
Pieri wusste nicht, was sie meinte, aber er folgte ihr.<br />
Romy und Frank blieben sitzen und schauten fasziniert<br />
hinauf zu den Hochseilartisten in der Zirkuskuppel.<br />
Lisa und Pieri mussten nicht weit gehen. Schon wenige<br />
Schritte vom großen Zelt entfernt standen Direktor<br />
Rossini, Wachtmeister Anders und eine blonde Frau<br />
beisammen und unterhielten sich leise. „Das ist <strong>die</strong><br />
Frau des Direktors“, flüsterte Lisa. „Sie verkauft <strong>die</strong> Eintrittskarten.“<br />
Die Frau hatte Lisas Worte gehört. „Ja, ich habe <strong>die</strong><br />
Karten verkauft“, sagte sie. „Das Geschäft war gut heute<br />
Abend. Aber <strong>die</strong> Kasse ist weg.“<br />
„Erzählen Sie bitte alles der Reihe nach!“, bat Wachtmeister<br />
Anders sie.<br />
„Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Ich<br />
schließe <strong>die</strong> Kasse nicht pünktlich bei Beginn der Vorstellung,<br />
sondern warte immer noch eine Weile. Es<br />
kommt nämlich immer wieder vor, dass Besucher sich<br />
verspäten. Dann, <strong>als</strong> ich sicher war, dass niemand mehr<br />
kommen würde, habe ich wie sonst alles zusammengepackt,<br />
<strong>die</strong> Geldkassette genommen, das Kassenhäuschen<br />
abgesperrt und mich auf den Weg zu unserem<br />
Wagen gemacht.“<br />
„Und dabei wurden Sie beraubt?“<br />
110
„Ja. Der Kerl tauchte plötzlich aus der Dunkelheit<br />
auf, riss mir <strong>die</strong> Geldkassette aus der Hand und rannte<br />
weg.“<br />
„Wie sah er aus?“, fragte Herr Rossini, ihr Mann.<br />
Die Frau zögerte. „Es war unser Clown“, sagte sie<br />
schließlich. „Arlekino. Jedenfalls war er so angezogen<br />
wie Arlekino. Genau konnte ich ihn nicht sehen. Es<br />
war wirklich zu dunkel. Er rannte dort hinüber, auf <strong>die</strong><br />
Wohnwagen zu.“<br />
„In seinen riesigen Clownsschuhen?“, wunderte<br />
sich Lisa. Aber niemand achtete so recht auf ihren Einwand.<br />
„In seinem Wohnwagen werden wir ihn wohl ka<strong>um</strong><br />
mehr antreffen“, überlegte Wachtmeister Anders. „Der<br />
ist längst über alle Berge.“<br />
Lisa packte Pieri am Arm und zog ihn weg.<br />
„Ich glaube nicht, dass es Arlekino war. So blöd ist<br />
der doch nicht, einen Überfall in seinem Clownskostüm<br />
zu begehen, in dem ihn jeder sofort erkennen<br />
kann. Es muss ein anderer sein, der sich <strong>die</strong> Kleidung<br />
des Clowns nur ausgeliehen hat, <strong>um</strong> den Verdacht<br />
auf einen Unschuldigen zu lenken. Und das war nicht<br />
schwer für ihn, denn Arlekino ist inzwischen wieder der<br />
Dompteur Roberto und bereitet sich bei seinen Löwen<br />
auf seinen nächsten Auftritt vor.“<br />
Lisa und Pieri hatten inzwischen den Wohnwagen<br />
von Roberto-Arlekino erreicht. Hinter dem Fenster des<br />
Wagens brannte Licht, aber sie konnten nicht hineinsehen,<br />
da <strong>die</strong> Vorhänge zugezogen waren. Lisa stieß <strong>die</strong><br />
Tür auf.<br />
111
Ein Mann stand vor dem großen Spiegel am<br />
Schminktisch. Jetzt fuhr er her<strong>um</strong> und starrte <strong>die</strong> beiden<br />
Kinder an.<br />
Der Mann packte <strong>die</strong> kleine Geldkassette, <strong>die</strong> auf<br />
dem Tisch stand, stieß <strong>die</strong> Kinder beiseite und sprang<br />
durch <strong>die</strong> Tür hinaus ins Freie. Er sprang genau in <strong>die</strong><br />
empfangsbereiten Arme von Wachtmeister Anders.<br />
Verzweifelt versuchte er, sich loszureißen. Aber der<br />
Wachtmeister bekam Hilfe vom Zirkusdirektor. Die beiden<br />
kräftigen Männer hatten keine Mühe, ihn festzuhalten.<br />
„Woher hast du gewusst, dass der Räuber <strong>hier</strong> ist?“,<br />
fragte der Wachtmeister.<br />
„Ich wusste es nicht“, antwortete Lisa. „Er musste<br />
seine auff ällige Clownskleidung loswerden. Das hätte<br />
112
er natürlich auch draußen tun können. Aber …“ In dem<br />
Licht, das aus der off enen Tür des Wagens fi el, betrachtete<br />
Lisa sich den Mann genauer. „Dieses Veilchen <strong>um</strong><br />
sein linkes Auge … Dabei fällt mir der Gauner ein, der<br />
am Tag unserer Ankunft schon einmal einen Diebstahl<br />
versuchte. Der Bursche hatte ein blaues linkes Auge.“<br />
„Du glaubst, das ist derselbe Mann?“, wunderte sich<br />
der Wachtmeister. „Ich war überzeugt, dass er schon<br />
längst aus <strong>die</strong>ser Gegend verschwunden ist.“<br />
„Nein, er ist geblieben. Er hat nur seine Augenverletzung<br />
unter einer schwarzen Augenklappe versteckt.“<br />
„Ich verstehe immer noch nicht, weshalb er <strong>hier</strong>her<br />
in Arlekinos Wohnwagen gekommen ist, anstatt nach<br />
dem Überfall abzuhauen“, wunderte sich Wachtmeister<br />
Anders.<br />
„Er hatte eine Kleinigkeit vergessen, <strong>als</strong> er sich <strong>die</strong><br />
Clownskleidung <strong>hier</strong> anzog“, antwortete Lisa.<br />
„Was denn?“, fragten Wachtmeister Anders, Direktor<br />
Rossini, Frau Rossini und Pieri gleichzeitig.<br />
Aufl ösung auf Seite 238<br />
113
114<br />
Nächtliche<br />
Überstunden<br />
Wachtmeister Anders war nicht im Dienst. Er besuchte<br />
<strong>die</strong> Zirkusvorstellung in Zivil, <strong>als</strong> ein Zuschauer unter<br />
vielen. Deshalb hatte er auch keine Handschellen dabei.<br />
Im Augenblick brauchte er aber auch keine, er und<br />
Zirkusdirektor Rossini hielten den Räuber der Geldkassette<br />
mit kräftigen Händen fest.<br />
„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte Anders.<br />
Der Mann antwortete nicht.<br />
„Na ja, das werden wir schon feststellen“, sagte Anders<br />
gelassen. „Zunächst einmal bringe ich Sie aufs Polizeirevier.“<br />
„Brauchen Sie dabei Hilfe?“, fragte Rossini. „Dann<br />
gebe ich Ihnen einen meiner Leute mit.“<br />
„Nicht nötig“, antwortete Anders. „Mit einem Gauner<br />
werde ich auch allein fertig.“<br />
„Und wir beide können uns jetzt den Rest der Vorstellung<br />
ansehen“, sagte Lisa zu Pieri.<br />
Pieri schüttelte den Kopf. „Eine Verhaftung ist viel<br />
aufregender <strong>als</strong> eine Löwendressur. Es ist das erste Mal,<br />
dass ich sehe, wie jemand eingesperrt wird.“<br />
„Ich habe deinen Eltern versprochen, ein wenig auf<br />
dich aufzupassen. Da ich dich nicht allein nachts durch<br />
eine fremde Stadt laufen lassen kann, komme ich mit“,<br />
erklärte Lisa entschlossen.
Wachtmeister Anders ging voraus. Er hielt seinen<br />
Gefangenen mit der rechten Hand am linken Oberarm<br />
fest. Lisa und Pieri folgten wenige Schritte dahinter. In<br />
der ersten Straße, durch <strong>die</strong> sie gingen, kam ihnen ein<br />
Mann entgegen. In dem schwachen Licht einer entfernten<br />
Straßenlaterne war zu sehen, dass der Mann einen<br />
Werkzeugkoffer in der rechten Hand trug.<br />
„Nun, Herr Becker, noch so spät bei der Arbeit?“, begrüßte<br />
ihn Wachtmeister Anders. Lisa und Pieri wunderten<br />
sich, dass der Wachtmeister den Mann in der<br />
Dunkelheit erkennen konnte.<br />
„Überstunden“, antwortete der Mann. „Ich …“<br />
Weiter kam er nicht. Der Räuber an der Seite des<br />
Wachtmeisters erkannte seine Chance. Er riss sich los<br />
und stieß den Polizisten heftig zur Seite. Dann wollte er<br />
davonrennen, stellte sich dabei aber so ungeschickt an,<br />
dass er mit Herrn Becker zusammenprallte.<br />
Becker stürzte zu Boden, sein Werkzeugkoffer öffnete<br />
sich.<br />
Der Dieb kümmerte sich nicht <strong>um</strong> den Mann, den<br />
er <strong>um</strong>gestoßen hatte, und rannte weiter. Wachtmeister<br />
Anders erholte sich schnell von seiner Überraschung.<br />
Sofort setzte er hinter dem Fliehenden her. Noch vor<br />
der nächsten Querstraße hatte er den Mann eingeholt<br />
und hielt ihn fest.<br />
Herr Becker rappelte sich vom Boden auf. „Na so<br />
was!“, murmelte er. Er schlug seinen Werkzeugkasten<br />
zu, überquerte <strong>die</strong> Straße und ging weg.<br />
„Hab‘s doch gewusst, dass das <strong>hier</strong> interessanter ist<br />
<strong>als</strong> jede Zirkusvorstellung“, sagte Pieri zu Lisa.<br />
115
Am nächsten Vormittag spazierten Lisa und Pieri<br />
durch <strong>die</strong> Stadt. Ein Kleinbus überholte sie und hielt<br />
etwa 50 Meter vor ihnen an. Ein Mann mit einem wild<br />
wuchernden, verfi lzten Backenbart stieg aus. Es war<br />
Hannes. Er war noch dabei, den Wagen abzusperren,<br />
<strong>als</strong> er sah, dass Wachtmeister Anders ihm entgegenkam.<br />
Anders trug wieder Uniform. Er hatte sein Dienstgesicht<br />
aufgesetzt.<br />
Er blieb bei Hannes stehen und schüttelte missbilligend<br />
den Kopf.<br />
„Du hast dein ganzes Leben in <strong>die</strong>ser Stadt verbracht,<br />
Hannes“, sagte er. „Du solltest eigentlich wissen,<br />
dass an <strong>die</strong>ser Stelle Parkverbot ist.“<br />
„So war das früher“, erwiderte Hannes, unbeeindruckt<br />
von dem Tadel. „Aber jetzt ist <strong>die</strong>ses Parkverbot<br />
116
off enbar aufgehoben. Ich sehe <strong>hier</strong> jedenfalls nirgends<br />
ein Verbotsschild.“<br />
Der Wachtmeister blickte sich suchend <strong>um</strong>. „Tatsächlich,<br />
das Schild ist weg!“, sagte er verblüff t. „Wenn<br />
man es entfernt hat, hätte man mich eigentlich informieren<br />
müssen.“<br />
Hannes grinste. „Bei den Ämtern weiß eine Hand<br />
nicht, was <strong>die</strong> andere treibt.“<br />
„Dass das Schild fehlt, ist nicht <strong>die</strong> Schuld irgendeines<br />
Beamten“, sagte Lisa, <strong>die</strong> inzwischen mit Pieri<br />
näher getreten war. „Irgendein Gauner hat in der vergangenen<br />
Nacht das Verkehrszeichen entfernt. Wahrscheinlich<br />
liegt es noch <strong>hier</strong> irgendwo r<strong>um</strong>.“<br />
„Tatsächlich!“, sagte Wachtmeister Anders wieder.<br />
Er ging zu der Stelle, an der sich noch gestern das Verkehrszeichen<br />
befunden hatte, nur wenige Schritte entfernt.<br />
Es war dicht über dem Boden abgesägt worden.<br />
“Wer tut etwas so Idiotisches?“, wunderte er sich.<br />
„Jemand, der Autos hasst und wahrscheinlich auch<br />
Autofahrer“, antwortete Lisa. „Bisher hat er nur Reifen<br />
zerstochen. Jetzt sägt er Verkehrszeichen ab. Vielleicht<br />
steht er sogar in der Nähe, beobachtet uns und lacht<br />
bei dem Gedanken, dass Hannes jetzt eine Strafe wegen<br />
F<strong>als</strong>chparkens bezahlen muss.“<br />
„Da hast du vielleicht recht“, stimmte Wachtmeister<br />
Anders zu. „Aber wer kann <strong>die</strong>ser Verrückte sein?“<br />
„Ein alter Bekannter von Ihnen“, antwortete Lisa.<br />
Aufl ösung auf Seite 238/239<br />
117
118<br />
Fahrerflucht<br />
„Dieser Herr Becker war schon immer ein wenig sonderbar“,<br />
sagte Hannes. „Autos mochte er noch nie, aber<br />
seit dam<strong>als</strong> <strong>die</strong>ser Lastwagen in der Kurve vor seinem<br />
Haus von der Straße abkam, den Zaun durchbrach,<br />
durch Beckers Garten raste, <strong>die</strong> Bl<strong>um</strong>enbeete und Büsche<br />
verwüstete und erst ein paar Zentimeter vor Beckers<br />
Wohnzimmerfenster stehen blieb … Seit dam<strong>als</strong><br />
hasst er Autos, und ihre Besitzer wohl auch. Am liebsten<br />
würde er alle Autos verbieten und ihre Besitzer einsperren.“<br />
„Mir würde es auch nicht gefallen, wenn ein Lastwagen<br />
quer durch meine Bl<strong>um</strong>enbeete fahren würde“,<br />
sagte Wachtmeister Anders. „Aber trotzdem fällt es mir<br />
nicht ein, loszuziehen und Autos zu beschädigen. Ich<br />
werde mir <strong>die</strong>sen Burschen gleich mal vorknöpfen.“<br />
Anders nickte Hannes, Lisa und Pieri zu, dann ging<br />
er weg. Hannes blickte auf <strong>die</strong> beiden Kinder nieder.<br />
Trotz seines wild wuchernden Backenbarts wirkte er<br />
jetzt auf Pieri kein bisschen Furcht einfl ößend mehr.<br />
„Hättet ihr beide vielleicht Lust auf eine kleine Spazierfahrt?“,<br />
fragte er.<br />
„Aber mit Vergnügen!“, antwortete Pieri. Lisas Begeisterung<br />
hielt sich allerdings in Grenzen. „Haben Sie<br />
denn jetzt überhaupt Zeit für eine Spazierfahrt?“, fragte<br />
sie.
„Natürlich nicht. Ich muss arbeiten, wie andere<br />
Leute auch. In der Früh Kinder zur Schule zu fahren<br />
und sie nach dem Unterricht wieder abzuholen bringt<br />
nicht viel Geld. Schon gar nicht jetzt in den Schulferien.<br />
Ich übernehme deshalb auch andere Transporte.<br />
Heute z<strong>um</strong> Beispiel hole ich für das Ferienlager aus<br />
dem Nachbarort Musikinstr<strong>um</strong>ente ab. Unter den Teilnehmern<br />
des Lagers gibt es nämlich immer auch etliche,<br />
<strong>die</strong> ein Instr<strong>um</strong>ent beherrschen und auch in ihren<br />
Ferien darauf spielen wollen.“<br />
„Ich z<strong>um</strong> Beispiel“, sagte Pieri. „Schade, dass ich<br />
meine Gitarre nicht mitgenommen habe.“<br />
„Siehst du, deshalb besorge ich jetzt <strong>die</strong> Instr<strong>um</strong>ente“,<br />
sagte Hannes.<br />
„Aber haben Sie uns denn nicht eben zu einer Spazierfahrt<br />
eingeladen?“, fragte Lisa.<br />
Hannes grinste. „Arbeit fällt leichter, wenn man sich<br />
vorstellt, dass man sie zu seinem Vergnügen macht. Die<br />
Fahrt in den Nachbarort ist Arbeit, aber wenn ich mir<br />
vorstelle, dass es eine Spazierfahrt ist, freue ich mich<br />
über <strong>die</strong> Landschaft, das Wetter, sogar über <strong>die</strong> Kühe.<br />
Wenn ihr mitkommt, könnt ihr mir helfen, <strong>die</strong> Instr<strong>um</strong>ente<br />
zu tragen und im Auto zu verstauen.“<br />
„Hoffentlich ist auch eine Gitarre dabei!“, sagte Pieri.<br />
Die Straße z<strong>um</strong> Nachbarort führte durch Wald und<br />
Wiesen. Es gab nur wenig Verkehr <strong>hier</strong>. Immerhin gab<br />
es <strong>die</strong> Kühe auf den Weiden, von denen Hannes gesprochen<br />
hatte.<br />
„Wie ich höre, habt ihr in der vergangenen Nacht einen<br />
Räuber gefangen“, sagte Hannes.<br />
119
„Ja, das haben wir“, bestätigte Pieri. Dann fi el ihm<br />
ein, dass Lisa Angeber nicht ausstehen konnte, und<br />
er fügte schnell hinzu: „Na ja, gefangen haben ihn der<br />
Wachtmeister und der Zirkusdirektor. Aber wir waren<br />
immerhin dabei und …“<br />
Hannes hörte nicht mehr zu. „Was ist denn da los?“,<br />
fragte er und nahm den Fuß vom Gaspedal.<br />
Hinter einer Kurve, etwa 50 Schritte vor ihnen, lag<br />
ein Fahrrad auf der Straße, <strong>die</strong> <strong>hier</strong> mitten durch ein<br />
Waldstück führte. Dicht neben der Straße saß ein Mann<br />
auf dem Boden. Er schien verletzt zu sein, denn er<br />
fasste sich mit der rechten Hand an den Kopf.<br />
Hannes hielt seinen Wagen an und stieg aus. Auch<br />
Lisa und Pieri verließen das Fahrzeug.<br />
120
Hannes beugte sich zu dem Mann nieder. „Sind Sie<br />
in Ordnung?“, fragte er.<br />
„Ich denke schon“, antwortete der Mann. „Ich habe<br />
mir bei dem Sturz nur den Kopf angeschlagen. Es geht<br />
gleich wieder.“<br />
„Am besten rufe ich einen Krankenwagen“, schlug<br />
Hannes vor.<br />
„Nicht nötig!“, wehrte der Mann ab. „Es ist doch gar<br />
nichts passiert. Ich brauche weder einen Krankenwagen<br />
noch <strong>die</strong> Polizei.“<br />
„Wie ist das denn geschehen?“, fragte Hannes.<br />
„Es war <strong>die</strong>ser rücksichtslose Autofahrer“, antwortete<br />
der Mann. „Ich strampelte friedlich vor mich hin,<br />
<strong>als</strong> ich plötzlich einen Wagen hinter mir hörte. Der Kerl<br />
hupte wie verrückt. Ich bin erschrocken, habe versucht<br />
auszuweichen und bin dabei gestürzt. Der Autofahrer<br />
bremste, kam aber nicht rechtzeitig z<strong>um</strong> Stehen.“<br />
„Was war das für ein Wagen?“, fragte Hannes. „Ein<br />
weißer Sportwagen“, antwortete der Radfahrer. „Mit<br />
einem auff älligen Kratzer an der rechten Seitentür. Ich<br />
konnte den Wagen genau sehen, weil er da drüben<br />
endlich z<strong>um</strong> Stehen kam. Der Fahrer schaute heraus –<br />
und entschloss sich dann abzuhauen.“<br />
„Es war nicht der weiße Sportwagen“, widersprach<br />
Lisa. „Die ganze Geschichte, <strong>die</strong> wir eben gehört haben,<br />
ist von Anfang bis Ende erfunden. Den weißen<br />
Sportwagen mit dem Kratzer an der rechten Tür mag<br />
<strong>die</strong>ser Herr <strong>hier</strong> in der Stadt gesehen haben, aber bestimmt<br />
nicht <strong>hier</strong>.“<br />
Aufl ösung auf Seite 239<br />
121
122<br />
Musikfreunde<br />
„Wir sind da“, sagte Hannes. Er schaltete den Motor ab<br />
und deutete nach vorn. „Barocke Kirche, nicht ganz so<br />
altes Pfarrhaus und nagelneues Gemeindezentr<strong>um</strong>. Mit<br />
Theatersaal, einer Cafeteria, Bibliothek und etlichen<br />
Rä<strong>um</strong>en für Jugendliche. Es gibt auch einen Übungsra<strong>um</strong><br />
für junge Musiker. Also, steigen wir aus und holen<br />
uns <strong>die</strong> Lärminstr<strong>um</strong>ente!“<br />
Er schien kein großer Musikfreund zu sein.<br />
Auch Pieri und Lisa stiegen aus.<br />
Aus einer Tür des Gemeindezentr<strong>um</strong>s kam ihnen<br />
ein jüngerer Mann in Arbeitskleidung entgegen. „Hallo<br />
Hannes!“, grüßte er. „Du kommst wohl, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Instr<strong>um</strong>ente<br />
abzuholen.“<br />
„Nein, mich treibt das Verlangen, dein d<strong>um</strong>mes Gesicht<br />
wieder zu sehen.“<br />
Der andere lachte. Er deutete auf Lisa und Pieri. „Du<br />
hast dir Hilfe mitgebracht, wie?“<br />
„In weiser Voraussicht“, nickte Hannes. „Dass du mir<br />
nicht bei der Arbeit hilfst, weiß ich aus Erfahrung.“ Es<br />
schien, dass er den Mann nicht sehr mochte. Aber das<br />
hatte bei ihm nicht viel zu bedeuten, er zeigte sich gern<br />
ein wenig br<strong>um</strong>mig.<br />
„Bin wirklich froh, dass <strong>die</strong> Instr<strong>um</strong>ente für ein paar<br />
Tage wegkommen“, sagte der Mann. „Wenn unsere<br />
Jazzband übt, ist das ka<strong>um</strong> auszuhalten.“
„Halt keine langen Reden, Holger, sondern bring uns<br />
endlich zu den Instr<strong>um</strong>enten!“, drängte Hannes.<br />
Holger grinste. „Es ist schön, einen Mann zu treffen,<br />
der so scharf aufs Arbeiten ist“, spottete er.<br />
„Es können ja nicht alle so faul sein wie du“,<br />
br<strong>um</strong>mte Hannes.<br />
Holger ging voraus, Hannes folgte ihm. „Gehen wir“,<br />
sagte Pieri zu Lisa, „ich trage <strong>die</strong> Noten, du das Klavier!“<br />
Pieri hatte angenommen, dass <strong>die</strong> Instr<strong>um</strong>ente in irgendeinem<br />
Kellerra<strong>um</strong> abgestellt waren, aber Holger<br />
führte sie zu einem Ra<strong>um</strong> im Erdgeschoss auf der Rückseite<br />
des Gebäudes. Vor einer stabilen Stahltür blieb er<br />
stehen.<br />
„Eine Tür wie im Tresor einer Bank“, lachte er. „Da<br />
kommt kein Einbrecher rein!“ Er nahm einen Schlüssel,<br />
schob ihn in das Schloss und sperrte auf. Dann stieß er<br />
<strong>die</strong> Tür auf und trat ein.<br />
Aber schon nach dem ersten Schritt blieb er verblüfft<br />
stehen.<br />
„Die Instr<strong>um</strong>ente!“, stieß er fassungslos hervor. „Sie<br />
sind fast alle weg.“<br />
Hannes blickte auf <strong>die</strong> leeren Regale an den Wänden.<br />
Nur noch ein paar Stapel Notenhefte lagen darauf.<br />
„Wer <strong>um</strong> alles in der Welt klaut Musikinstr<strong>um</strong>ente?“,<br />
wunderte er sich. „Mir jedenfalls könnten alle Musikinstr<strong>um</strong>ente<br />
der Welt gestohlen bleiben.“<br />
„Diese Dinger sind weit mehr wert, <strong>als</strong> du denkst“,<br />
sagte Holger. „Natürlich hatten wir keine echte Stradivari,<br />
<strong>die</strong>se Geigen können schon mal eine Million kosten.<br />
Aber auch für eine halbwegs brauchbare Klarinette<br />
123
kannst du leicht 1000 Euro zahlen. Berufsmusiker zahlen<br />
noch viel mehr. Der Verlust <strong>hier</strong> geht in <strong>die</strong> Zehntausende.“<br />
„Die Kerle sind durch das Fenster gekommen“, überlegte<br />
Hannes. „Sie haben von außen <strong>die</strong> Scheibe eingeschlagen,<br />
dann das Fenster geöff net und sind eingestiegen.<br />
In der vergangenen Nacht wahrscheinlich. Da<br />
in <strong>die</strong>sem Gebäude niemand wohnt, hat niemand das<br />
Splittern der Fensterscheibe gehört. Auf dem gleichen<br />
Weg sind sie auch wieder verschwunden.“<br />
„Natürlich“, stimmte Holger zu. „Einen anderen Weg<br />
<strong>hier</strong> rein oder raus gibt es nicht. Nur durch <strong>die</strong> Tür oder<br />
das Fenster. Das Türschloss ist unbeschädigt, und den<br />
Schlüssel bewahre ich immer sicher auf. An den kommt<br />
keiner ran.“<br />
124
„Wenigstens haben sie das Cello dagelassen“, sagte<br />
Hannes.<br />
„Das war ihnen wohl zu groß“, meinte Holger. „Es<br />
passte nicht durch das Fenster. Also haben sie es an <strong>die</strong><br />
Wand gelehnt und sind durch das Fenster abgehauen.“<br />
„Vielleicht gibt es da draußen Fußspuren“, überlegte<br />
Lisa. Sie trat ans Fenster, aber sie war zu klein, <strong>um</strong> durch<br />
das hochgelegene Fenster hinausblicken zu können.<br />
„Nach Fußspuren da draußen brauchen wir sowieso<br />
nicht zu suchen“, sagte Holger. „Vor dem Fenster ist<br />
kein Garten oder dergleichen, sondern hartes Pfl aster.“<br />
„Stimmt“, sagte Pieri. „Nach Fußspuren draußen<br />
unter dem Fenster brauchen wir nicht zu suchen. Die<br />
Diebe sind nicht durch das Fenster gekommen. Die eingeschlagene<br />
Scheibe soll nur davon ablenken, dass <strong>die</strong><br />
Diebe ganz einfach durch <strong>die</strong> Tür gekommen sind.“<br />
„Du spinnst, Kleiner!“, sagte Holger. „Ich sage dir<br />
doch, dass ich der Einzige bin, der den Schlüssel zu <strong>die</strong>ser<br />
Tür hat.“<br />
„Dann haben Sie selbst <strong>die</strong> Diebe hereingelassen!“<br />
Aufl ösung auf Seite 240<br />
125
126<br />
Frechheit siegt –<br />
aber nicht immer<br />
„Ich habe dich schon immer für einen arbeitsscheuen<br />
Nichtsnutz gehalten, Holger“, sagte Hannes. „Aber dass<br />
du deinen eigenen Arbeitgeber bestehlen würdest,<br />
hätte ich dir dann doch nicht zugetraut.“<br />
„Ich habe mit <strong>die</strong>sem Diebstahl nichts zu tun“, beteuerte<br />
Holger. „Die Diebe müssen einen zweiten<br />
Schlüssel zu dem Ra<strong>um</strong> mit den Musikinstr<strong>um</strong>enten<br />
gehabt haben.“<br />
Er schielte zur Tür. Einen Augenblick lang schien es,<br />
<strong>als</strong> wolle er fl iehen. Aber Hannes stellte sich ihm in den<br />
Weg.<br />
Holger blieb dabei, von dem Diebstahl nichts zu wissen,<br />
selbst <strong>als</strong> <strong>die</strong> Polizei kam und sich den Tatort ansah.<br />
Der Chef der Polizisten war ein kleiner schmächtiger<br />
Mann, der so gar keine Ähnlichkeit mit den<br />
Superdetektiven im Fernsehen hatte.<br />
„Was der Junge sagt, ist richtig“, bestätigte er. „Die<br />
Diebe haben ihre Beute durch <strong>die</strong> Tür weggebracht<br />
und nicht durch das Fenster.“ Er wandte sich an Holger.<br />
„Wer waren Ihre Komplizen?“<br />
„Komplizen, wieso?“, wiederholte Holger. „Ich gehöre<br />
aber nicht zu den Räubern, wirklich. Irgendjemand<br />
muss sich einen Nachschlüssel angefertigt<br />
haben.“
„Wie sollte das möglich sein?“, wandte Hannes ein.<br />
„Du hast uns doch erzählt, dass du den Schlüssel nie<br />
aus der Hand gibst.“<br />
„Na ja, manchmal lege ich ihn schon mal für eine Minute<br />
irgendwo hin. Aber das genügt ja einem geschickten<br />
Dieb, <strong>um</strong> einen Wachsabdruck zu machen. Das<br />
dauert nur Sekunden.“<br />
„Sie scheinen sich gut auszukennen auf <strong>die</strong>sem Gebiet“,<br />
meinte der Polizist.<br />
Holger grinste. „Ich sehe gern Krimis im Fernsehen.“<br />
„Schafft ihn weg!“, rief der Polizist seinen Leuten zu.<br />
„Wenn wir ihn lange genug verhören, wird er schon gestehen.“<br />
Hannes, Lisa und Pieri blickten den Polizeifahrzeugen<br />
nach. „Er wirkt erstaunlich gelassen“, wunderte<br />
sich Hannes. „Ja“, sagte Lisa, „weil er sicher ist, dass man<br />
<strong>die</strong> Beute nicht bei ihm finden wird. Er glaubt <strong>als</strong>o, dass<br />
ihm nichts passieren kann. Hat <strong>die</strong>ses Gebäude eigentlich<br />
einen Hinterausgang?“<br />
127
„Nein“, antwortete Hannes. „Die Diebe müssen <strong>die</strong><br />
Instr<strong>um</strong>ente <strong>als</strong>o auf der Vorderseite des Hauses herausgebracht<br />
haben.“<br />
Pieri blickte nach oben. „Was ist an <strong>die</strong>ser Straßenlaterne<br />
so interessant?“, fragte Hannes. „Dass sie da ist“,<br />
antwortete Pieri. „Die Diebe müssen ihren Wagen genau<br />
unter der Laterne beladen haben, gut sichtbar von<br />
allen Seiten. Eine ziemliche Frechheit!“<br />
„Waren es eigentlich viele Instr<strong>um</strong>ente?“, fragte Lisa.<br />
„Nicht genug, <strong>um</strong> ein Symphonieorchester damit<br />
auszustatten, aber doch eine ganze Menge“, antwor-<br />
128
tete Hannes. „Gitarren, Akkordeons, ein Schlagzeug,<br />
zwei Keyboards … In meinen Kleinbus würde das alles<br />
hineinpassen, aber in Torstens Kleinwagen bestimmt<br />
nicht.“<br />
„Hat er viele Freunde?“, fragte Lisa.<br />
„Kerle wie er haben keine Freunde, nur K<strong>um</strong>pane“,<br />
br<strong>um</strong>melte Hannes.<br />
„Was treiben <strong>die</strong> Leute da drüben?“, fragte Pieri. Er<br />
deutete auf eine Garage, <strong>die</strong> an das Freizeitzentr<strong>um</strong><br />
angebaut war. Das große Tor stand off en, man konnte<br />
das Führerhäuschen eines Lastwagens sehen, der darin<br />
stand. Im dunklen Hintergrund der Garage waren Stimmen<br />
von Männern und Arbeitsgeräusche zu hören.<br />
„Das sind <strong>die</strong> Theaterleute“, sagte Hannes. Er deutete<br />
mit dem Da<strong>um</strong>en über <strong>die</strong> Schulter zurück auf ein<br />
Plakat an der Hauswand.<br />
„Wirklich lustiges Stück“, sagte Hannes. „Ich habe es<br />
vorgestern gesehen. Heute holen sie <strong>die</strong> Kulissen und<br />
<strong>die</strong> Requisiten ab, <strong>die</strong> sie mitgebracht haben.“<br />
„Ich glaube, ich weiß jetzt, wie sie den Diebstahl<br />
durchgeführt haben“, sagte Pieri. „Kommt mit!“<br />
Ohne auf Hannes und Lisa zu warten, betrat er wieder<br />
das Gebäude. Die Tür des Ra<strong>um</strong>s, in dem <strong>die</strong> Musikinstr<strong>um</strong>ente<br />
aufbewahrt wurden, stand immer noch<br />
off en. Um das einsame Cello am Fenster schien sich<br />
niemand zu kümmern. Pieri ging zur nächsten Tür und<br />
öff nete sie. Sie war nicht abgesperrt. Der Ra<strong>um</strong> dahinter<br />
war leer.<br />
Pieri deutete auf eine Tür am Ende des Flurs. „Führt<br />
<strong>die</strong>se Tür in <strong>die</strong> Garage?“, fragte er.<br />
129
„Klar“, antwortete Hannes. Verwundert sah er hinter<br />
Pieri her, der mit schnellen Schritten auf <strong>die</strong> Tür zuging<br />
und sie öffnete.<br />
Die hintere Tür des Lastwagens in der Garage stand<br />
offen. Zwei Männer in Arbeitskleidung standen daneben.<br />
Sie wollten eben <strong>die</strong> Tür des Lastwagens schließen<br />
und dann wegfahren.<br />
„Halt!“, rief Pieri und trat näher. Er schaute in das Innere<br />
des Lastwagens. „Dachte ich es mir doch! Die Musikinstr<strong>um</strong>ente!<br />
Geklaut buchstäblich vor den Augen<br />
der Polizei.“<br />
„Tatsächlich!“, staunte auch Hannes, der inzwischen<br />
näher getreten war. „Holger hat <strong>als</strong>o <strong>die</strong> Instr<strong>um</strong>ente<br />
in der vergangenen Nacht gar nicht weggebracht, sondern<br />
lediglich in den leeren Nebenra<strong>um</strong> geschafft. Erst<br />
jetzt bei Tag, sozusagen unter aller Augen, wird <strong>die</strong><br />
Beute weggebracht. Woher hast du das gewusst, Pieri?“<br />
„Welches Dat<strong>um</strong> ist heute?“, fragte Pieri zurück.<br />
„Der 17. August. Wieso?“<br />
130<br />
Auflösung auf Seite 240/241
Doch im Wald,<br />
da sind <strong>die</strong> Räuber<br />
Hannes, Lisa und Pieri mussten ohne <strong>die</strong> Musikinstr<strong>um</strong>ente<br />
z<strong>um</strong> Lager zurückfahren. Die Polizei hatte sie <strong>als</strong><br />
Beweismittel in einem Fall von versuchtem Diebstahl<br />
beschlagnahmt. Sehr z<strong>um</strong> Bedauern von Pieri, den es<br />
schon in den Fingern gejuckt hatte, endlich wieder einmal<br />
Gitarre spielen zu dürfen.<br />
Pieri tröstete sich damit, dass er seinen Freunden<br />
immerhin von einem aufregenden Abenteuer berichten<br />
konnte. Drei Diebe fängt man nicht jeden Tag. Aber<br />
zu seiner Enttäuschung fand er beim Mittagessen im<br />
großen Zelt keine aufmerksamen Zuhörer.<br />
„Ein paar geklaute Instr<strong>um</strong>ente!“, sagte Frank geringschätzig.<br />
„Was ist das schon! In Neustadt hat es heute<br />
Vormittag einen bewaff neten Raubüberfall auf einen<br />
Supermarkt der Handelskette ,preiswert‘ gegeben – da<br />
war vielleicht was los! Die beiden Täter, ein Mann und<br />
eine Frau sollen es gewesen sein, gaben sich <strong>als</strong> Kunden<br />
aus, kauften ein paar Kleinigkeiten, und erst <strong>als</strong> sie<br />
an der Kasse waren, zogen sie ihre Pistolen und forderten<br />
alles Geld, das in den Ladenkassen war.“<br />
„Wie groß war <strong>die</strong> Beute?“, fragte Lisa.<br />
„Das war noch nicht bekannt, <strong>als</strong> <strong>die</strong> Radiomeldung<br />
kam. Jedenfalls stopften <strong>die</strong> beiden alles Geld, das sie<br />
in der Eile zusammenraff en konnten, in ihre Einkaufstü-<br />
131
ten und rannten davon. Sie sprangen in ihren Wagen,<br />
und weg waren sie.“<br />
„Welche Automarke?“, fragte Pieri.<br />
Frank hob <strong>die</strong> Schultern. „Darüber sind sich <strong>die</strong> Zeugen<br />
nicht einig. Nicht einmal über <strong>die</strong> Farbe. Und das<br />
N<strong>um</strong>mernschild hat sich auch niemand gemerkt. Alles,<br />
was man mit Sicherheit weiß, ist, dass es sich <strong>um</strong> einen<br />
Mann und eine Frau handelt. “<br />
„Nun, überlassen wir das ruhig der Polizei!“, sagte<br />
Gustav, der an den Tisch getreten war. „Ich plane für<br />
heute Nachmittag ein anderes Abenteuer. Zwar ohne<br />
Pistolen, aber ich glaube, es wird ganz lustig werden.<br />
Eine Radtour zur Bärenschlucht. Mitten im Wald. Ungefähr<br />
zehn Kilometer von <strong>hier</strong>. Die Räder stellt das Camp.<br />
Wenn wir gemütlich fahren und vielleicht ab und zu<br />
mal Rast machen, werden wir etwa eine Stunde brauchen.<br />
Kommt ihr mit?“<br />
„Klar, kommen wir mit“, antwortete Pieri.<br />
Es waren zehn Jungen und Mädchen, <strong>die</strong> sich eine<br />
Stunde später mit ihren Rädern auf dem Weg zur Bärenschlucht<br />
befanden. Die Fahrt war anstrengender, <strong>als</strong><br />
alle erwartet hatten. Der Waldweg war schmal, von etlichen<br />
Ba<strong>um</strong>wurzeln holprig gemacht und nach einem<br />
Regenschauer in der vergangenen Nacht ziemlich rutschig.<br />
Gustav hatte nicht zu viel versprochen, <strong>hier</strong> zu<br />
fahren war tatsächlich ein kleines Abenteuer.<br />
Plötzlich endete der schmale Weg. Genauer gesagt,<br />
er wurde von einem Auto versperrt, das auf ihm stand.<br />
Gustav stieg ab und trat näher. Lisa, Pieri und einige andere<br />
Kinder folgten ihm. Der Wagen war leer.<br />
132
„Welcher Trottel parkt seinen Wagen ausgerechnet<br />
<strong>hier</strong>?“, wunderte sich Frank.<br />
„Pilzesammler vielleicht“, meinte Romy. „Oder Leute,<br />
<strong>die</strong> einfach ein bisschen in der Natur spazieren gehen<br />
wollen.“<br />
Pieri streckte seine Hand nach dem Griff der Fahrertür<br />
aus. Zu seiner Überraschung war <strong>die</strong> Tür nicht abgesperrt.<br />
Auch der Zündschlüssel steckte.<br />
„Selbst der größte Trottel lässt sein Auto nicht mit<br />
off ene Türen mitten im Wald stehen“, sagte Pieri. „Samt<br />
Zündschlüssel.“<br />
„Auch der Koff erra<strong>um</strong> ist nicht abgeschlossen“, meldete<br />
Frank und öff nete <strong>die</strong> Klappe.<br />
„Was ist drin?“, fragte Pieri und trat zu ihm.<br />
„Nichts“, antwortete Frank.<br />
133
„Was hast du denn im Kofferra<strong>um</strong> zu finden gehofft?“,<br />
fragte Gustav. „Einbruchswerkzeug? Schusswaffen?<br />
Oder ein gefesseltes und geknebeltes Entführungsopfer?<br />
So wie man das immer im Film sieht?“<br />
Gustav wartete <strong>die</strong> Antwort nicht ab. Er setzte sich<br />
hinter das Lenkrad und drehte den Zündschlüssel <strong>um</strong>,<br />
<strong>um</strong> den Motor zu starten. Nur ein kurzes Stottern war<br />
zu hören, <strong>als</strong> habe der Motor einen Husten. „Der Tank<br />
ist leer“, sagte Gustav mit einem Blick auf <strong>die</strong> Benzinuhr.<br />
„Ich glaube, das ist der Wagen, mit dem <strong>die</strong> Räuber<br />
nach dem Überfall geflohen sind“, sagte Pieri.<br />
„Das soll das Fluchtfahrzeug sein?“, wunderte sich<br />
Frank. „Wie kommst du darauf?“<br />
„Da ist zunächst einmal der leere Benzintank“, antwortete<br />
Pieri. „Kein Autobesitzer vergisst, rechtzeitig zu<br />
tanken. Aber wenn man einen Wagen stiehlt, vergisst<br />
man in der Eile schon mal nachzusehen, wie viel Treibstoff<br />
noch im Tank ist.“<br />
„Außerdem würde niemand seinen Wagen irgend wo<br />
abstellen, ohne den Zündschlüssel mitzunehmen und<br />
<strong>die</strong> Türen abzuschließen“, fügte Lisa hinzu.<br />
„Stimmt“, nickte Pieri. „Dazu kommt noch, dass das<br />
N<strong>um</strong>mernschild vor lauter Dreck nicht zu lesen ist. Die<br />
Zeugen des Überfalls haben doch erzählt, dass das<br />
N<strong>um</strong>mernschild nicht zu entziffern war, oder?“<br />
„Das ist immer noch kein Beweis“, beharrte Frank.<br />
„Es hat geregnet in der vergangenen Nacht. Der Weg<br />
<strong>hier</strong> ist aufgeweicht und voller Schlammpfützen. Ihr<br />
seht doch, wie dreckig das Auto ist.“<br />
134<br />
Auflösung auf Seite 241
Die Räuberhöhle<br />
Gustav schaltete sein Handy aus und steckte es weg.<br />
„Die Polizei wird bald <strong>hier</strong> sein“, sagte er. „Dieser<br />
Wagen <strong>hier</strong> wurde in der vergangenen Nacht gestohlen.<br />
Der Besitzer hat den Diebstahl übrigens erst nach<br />
dem Überfall bemerkt. Wir sollen <strong>hier</strong> auf <strong>die</strong> Polizei<br />
warten und keinesfalls versuchen, den beiden Räubern<br />
zu folgen.“<br />
„Das würde mir sowieso nie einfallen“, sagte Frank.<br />
„Das Räuberpärchen ist bewaff net.“<br />
Gustav blickte in <strong>die</strong> Runde. „Wo sind Lisa und Pieri?“,<br />
fragte er.<br />
„Die sind ein Stückchen weitergegangen“, antwortete<br />
Romy. „Eben sind sie dort vorn hinter der Wegbiegung<br />
verschwunden.“<br />
„Zu Fuß? Dann werden sie bald zurückkommen.<br />
Ohne ihre Räder kommen sie <strong>hier</strong> im Wald nicht weit.“<br />
Lisa blickte zurück. Sie konnte <strong>die</strong> anderen nicht<br />
mehr sehen. „Wir sollten <strong>um</strong>kehren“, meinte sie. „Das<br />
Räuberpärchen holen wir sowieso nicht ein.“<br />
„Wir sind ihnen schon näher, <strong>als</strong> du denkst“, sagte<br />
Pieri. Er deutete auf Fußspuren im weichen Moos,<br />
das überall zwischen den Bä<strong>um</strong>en des Waldes wuchs.<br />
„Siehst du, <strong>hier</strong> haben sie den Weg verlassen und laufen<br />
jetzt quer durch den Wald. Off enbar ist ihr Ziel nicht<br />
weit.“<br />
135
Lisa trat näher und betrachtete <strong>die</strong> Spuren. „Kräftiges<br />
Profi l“, sagte sie. „Von Wanderschuhen vielleicht.<br />
Ziemliche Quadratlatschen, off enbar gehören <strong>die</strong> Fußabdrücke<br />
zu zwei Männern. Die beiden Räuber im Supermarkt<br />
waren aber ein Mann und eine Frau. Das ist<br />
<strong>als</strong>o <strong>die</strong> f<strong>als</strong>che Spur.“<br />
Pieri hatte ihr nicht zugehört, sondern war vorausgelaufen.<br />
Lisa folgte ihm. „Wenn ich seinen Eltern nicht<br />
versprochen hätte, auf ihn aufzupassen …“, murmelte<br />
sie.<br />
Erst nach 100 oder mehr Metern holte sie ihn ein.<br />
Pieri hatte sich hinter einem großen Busch niedergeduckt,<br />
hinter den sich nun auch Lisa hockte, und blickte<br />
auf eine kleine Lichtung hinaus.<br />
Mitten auf der Lichtung stand eine Blockhütte. Die<br />
Fensterläden der Hütte waren geöff net. An einem Tisch<br />
vor der Hütte saßen zwei Männer. Sie hielten Bierfl aschen<br />
in der Hand.<br />
„Zwei Jäger“, sagte Lisa. „Das sind nicht <strong>die</strong> bei -<br />
den …“<br />
Weiter kam sie nicht. Lautes Bellen dicht hinter ihr<br />
ließ sie zusammenzucken. Erschrocken machte sie zwei<br />
Schritte hinaus auf <strong>die</strong> Lichtung. Der Hund folgte ihr. Er<br />
war groß und hatte braunes Fell mit weißen Flecken.<br />
„Hubertus!“, rief einer der beiden Männer drüben<br />
bei der Hütte. „Komm her!“<br />
Der Hund hörte sofort auf zu bellen und lief auf <strong>die</strong><br />
Lichtung hinaus. Nach einigen Schritten drehte er sich<br />
wieder <strong>um</strong> und blickte zu den Kindern zurück. Es sah<br />
aus wie eine freundliche Einladung, ihm zu folgen.<br />
136
„Hubertus!“, sagte Pieri. „Was für ein blöder Name für<br />
einen Hund!“<br />
„Sankt Hubertus ist der Schutzheilige der Jäger“, belehrte<br />
ihn Lisa. „Der Name ist <strong>als</strong>o passend für einen<br />
Jagdhund. Gehen wir hinüber zu den beiden! Sie haben<br />
uns ja sowieso schon gesehen.“<br />
Pieri folgte ihr. Als er näher kam, fi el ihm auf, dass einer<br />
der beiden Männer am Tisch weder Schuhe noch<br />
Socken trug.<br />
Der Hund war vorausgelaufen. Neben der off enen<br />
Tür der Blockhütte legte er sich inmitten seines Spielzeugs<br />
nieder. Sein Lieblingsspielzeug schien eine<br />
137
kleine Ente aus Kunststoff zu sein. Als er sie ins Maul<br />
nahm und darauf biss, quakte sie, fast wie eine richtige<br />
Ente.<br />
„Was treibt ihr beide denn ganz allein mitten im<br />
Wald?“, fragte einer der beiden Männer, <strong>als</strong> Lisa und<br />
Pieri herangekommen waren.<br />
Pieri wollte antworten, dass sie keineswegs allein<br />
waren, aber Lisa kam ihm zuvor. „Wir machen eine<br />
Wanderung zur Bärenschlucht“, sagte sie. „Aber ich<br />
glaube, wir haben uns verlaufen.“<br />
„Es ist nicht weit bis zur Bärenschlucht“, sagte der<br />
Mann, der keine Schuhe anhatte. „Ihr müsst nur dort<br />
hinüber bis z<strong>um</strong> Waldweg und dann nach rechts. Dann<br />
sind es noch ungefähr zwei Kilometer. Ich würde euch<br />
gerne hinbringen, wenn meine Füße nicht so verdammt<br />
weh täten.“<br />
„In eurem Alter solltet ihr aber eigentlich nicht allein<br />
durch den Wald laufen“, meinte der andere. „Meinen<br />
Kindern würde ich das nicht erlauben. Eben haben sie<br />
im Radio gemeldet, dass in Neustadt ein Supermarkt<br />
überfallen wurde. Die Täter, ein Mann und eine Frau,<br />
sind auf der Flucht. Also, seid vorsichtig!“<br />
„Vielen Dank für <strong>die</strong> Warnung“, sagte Lisa. „Komm,<br />
Brüderchen, machen wir uns auf <strong>die</strong> Socken! Wie du<br />
hörst ist es nicht mehr weit bis z<strong>um</strong> Ziel.“<br />
„Was redest du da für blödes Zeug?“, fragte Pieri, <strong>als</strong><br />
sie <strong>die</strong> Lichtung verlassen hatten und wieder unter den<br />
dichten Bä<strong>um</strong>en des Waldes gingen. „Weshalb erzählst<br />
du den beiden, dass ich dein Bruder bin?“<br />
„Sie haben uns ja auch angelogen“, antwortete Lisa.<br />
138
„Tatsächlich?“, wunderte sich Pieri.<br />
„Es sind <strong>die</strong> Räuber aus dem Supermarkt.“<br />
„Ich glaube, du bist jetzt völlig übergeschnappt!“<br />
„Ist dir denn nicht aufgefallen, dass der eine von ihnen<br />
keine Schuhe anhatte und über seine schmerzenden<br />
Füße klagte?“<br />
„Na und? Vielleicht hat er neue Schuhe und <strong>die</strong> drücken<br />
ihn.“<br />
„Er hat sich <strong>die</strong> Fußgelenke gerieben. Wahrscheinlich<br />
ist er ein paarmal <strong>um</strong>geknickt. Seine neuen Schuhe<br />
… Er ist es wohl nicht gewohnt, in <strong>die</strong>ser Art von Schuhen<br />
zu laufen.“<br />
„Welche Art von Schuhen?“, fragte Pieri.<br />
Auflösung auf Seite 241/242<br />
139
140<br />
In der Bärenschlucht<br />
Lisa und Pieri hatten ihren Freunden von der Begegnung<br />
mit den beiden Männern bei der einsamen Waldhütte<br />
erzählt. Während alle noch aufgeregt darüber<br />
stritten, ob es sich wirklich <strong>um</strong> <strong>die</strong> beiden Räuber aus<br />
dem Supermarkt in Neustadt handelte, tauchten auf<br />
dem Waldweg zwei Fahrzeuge auf. Es war <strong>die</strong> Polizei.<br />
Sie kam natürlich ohne Sirene, <strong>um</strong> <strong>die</strong> fl üchtigen Räuber<br />
nicht zu warnen.<br />
Den Mann, der sie anführte, kannten Lisa und Pieri<br />
bereits, sie hatten ihn erst am Vormittag in Neustadt<br />
gesehen, wo er den Instr<strong>um</strong>enten<strong>die</strong>b Holger festgenommen<br />
hatte. Er stellte sich <strong>als</strong> Kommissar Hilpert vor.<br />
Dann wandte er sich an Gustav.<br />
„Sind Sie der Mann, der uns angerufen hat?“, fragte<br />
er ihn.<br />
Gustav nickte. „Und das ist der Wagen, <strong>um</strong> den es<br />
sich handelt.“<br />
Der Kommissar kratzte mit der Schuhsohle den<br />
Schmutz vom N<strong>um</strong>mernschild. „Ja, das ist der Wagen,<br />
der in der vergangenen Nacht gestohlen wurde“, bestätigte<br />
er. „Das Fluchtfahrzeug haben wir <strong>als</strong>o, aber <strong>die</strong><br />
Diebe sind wahrscheinlich längst über alle Berge.“<br />
„Das sind sie nicht“, widersprach Lisa. „Sie sind noch<br />
ganz in der Nähe, in einer Jagdhütte, vielleicht 200 Meter<br />
von <strong>hier</strong> entfernt.“
„Habe ich dich nicht schon einmal gesehen?“, fragte<br />
der Kommissar. Bevor Lisa antworten konnte, sprach er<br />
weiter: „Woher willst du das wissen?“<br />
„Wir haben sie gesehen. Und mit ihnen gesprochen.<br />
Es sind übrigens nicht ein Mann und eine Frau, sondern<br />
zwei Männer.“<br />
Der Kommissar schüttelte unwillig den Kopf. Alle<br />
Zeugen des Überfalls hatten von einem Mann und einer<br />
Frau gesprochen, was <strong>die</strong> beiden Kinder da erzählten,<br />
musste <strong>als</strong>o Unsinn sein.<br />
„Na ja, sehen wir uns <strong>die</strong> beiden mal an!“, sagte er.<br />
Zu Gustav gewandt fuhr er fort: „Sie und <strong>die</strong> Kinder<br />
bleiben am besten <strong>hier</strong>. Ich lasse einen meiner Leute<br />
bei Ihnen zurück. Zu Ihrem Schutz.“<br />
Pieri sah den Polizisten nach, <strong>als</strong> sie in den Wald eindrangen.<br />
„Bei dem Lärm, den sie machen, hat der Hund<br />
sie doch schon längst gehört“, meinte er. „Er wird bestimmt<br />
gleich bellen.“<br />
Pieri wartete vergeblich auf das Bellen des Hundes.<br />
Nach etwa zehn Minuten kam einer der Polizisten zurück.<br />
„Sie sind weg“, berichtete er seinem Kollegen, der<br />
bei den Kindern geblieben war. „Sie haben nur ein paar<br />
leere Bierdosen zurückgelassen. Keine frischen Reifenspuren,<br />
sie sind <strong>als</strong>o wohl zu Fuß weggegangen. Sieht<br />
ganz nach einem Fehlalarm aus. Auf jeden Fall sichern<br />
wir Fingerabdrücke, <strong>um</strong> sie mit den Fingerabdrücken<br />
zu vergleichen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Räuber im Supermarkt hinterlassen<br />
haben.“<br />
„Dann können wir wohl jetzt weiterfahren?“, fragte<br />
Gustav.<br />
141
„Nichts dagegen“, meinte der Polizist. „Ich glaube<br />
nicht, dass für Sie irgendeine Gefahr besteht.“<br />
Es war nur eine kurze Fahrt bis zu der zwei Kilometer<br />
entfernten Bärenschlucht. Pieri war ein wenig enttäuscht<br />
von ihrem Anblick. Von einer Schlucht war<br />
nichts zu sehen, es gab <strong>hier</strong> nur ein Tal, eingefasst von<br />
sanften bewaldeten Hügeln, zwischen denen sich ein<br />
nicht sehr breiter Fluss schlängelte. Einige Boote fuhren<br />
auf dem Fluss, <strong>die</strong> wohl alle dem Bootsverleih gehörten,<br />
auf dessen Parkplatz <strong>die</strong> Kinder ihre Fahrräder<br />
abstellten.<br />
„Keine Schlucht, keine Bären“, sagte Pieri. „Nur der<br />
Hund da drüben.“<br />
Es war ein großer brauner Hund mit weißen Flecken,<br />
der am gegenüberliegenden Ufer entlanglief, <strong>als</strong> wolle<br />
er mit den Ruder- und Tretbooten <strong>um</strong> <strong>die</strong> Wette laufen.<br />
„Hubertus!“, rief Lisa. Der Hund blieb stehen und<br />
schaute über den Fluss herüber. Dann wandte er den<br />
Kopf und blickte zurück.<br />
In einer Biegung des Flusses tauchte ein weiteres<br />
Boot auf.<br />
Die beiden Männer in dem Boot paddelten gemächlich<br />
vorbei. Den Kindern am Ufer schenkten sie keine<br />
Beachtung.<br />
„Das sind <strong>die</strong> beiden!“, sagte Lisa. „Die Männer aus<br />
der Jagdhütte!“<br />
„Es sind zwei Männer, ja“, meinte Pieri. „Aber dass<br />
es <strong>die</strong> beiden von der Jagdhütte sind, das kann ich<br />
wirklich nicht sehen. Ihre Gesichter erkenne ich nicht<br />
wieder, und da sie ka<strong>um</strong> Kleidung tragen, kann ich sie<br />
142
auch daran nicht erkennen. Ich kann nicht einmal sehen,<br />
ob der kleinere von ihnen barfuß ist wie der Mann<br />
bei der Hütte.“<br />
„Aber das da drüben ist ihr Hund Hubertus!“<br />
„Ja, off ensichtlich. Aber woher willst du wissen, dass<br />
er <strong>die</strong>sen beiden Männern da im Boot gehört?“<br />
Aufl ösung auf Seite 242<br />
143
Noch ein Reifenstecher<br />
Pieri blickte enttäuscht hinter dem Faltboot her, das<br />
ohne Eile zwischen den anderen Booten hindurch den<br />
Fluss hinabfuhr. „Diese beiden Gauner sehen wir nie<br />
wieder“, meinte er.<br />
„Macht nichts!“, versuchte Gustav ihn zu trösten. „Es<br />
sind sowieso nicht <strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong> den Supermarkt überfallen<br />
haben. Räuber, <strong>die</strong> im Faltboot fl iehen! Wann hat<br />
man je so was gehört!“<br />
„Genau deshalb vertrauen sie darauf, dass sie keinen<br />
Verdacht erregen“, sagte Pieri.<br />
„Gibt es eigentlich noch weitere Parkplätze <strong>hier</strong> am<br />
Fluss?“, fragte Lisa.<br />
„Ich kenne nur einen“, antwortete Gustav. „Ein Stückchen<br />
fl ussabwärts. Dort stehen nie viele Autos, weil es<br />
dort keinen Bootsverleih gibt und auch sonst nichts.“<br />
„Ist er weit entfernt?“<br />
„Einen oder zwei Kilometer auf dem Wasser. Der<br />
Fluss verläuft nämlich in einer großen Schleife. Wenn<br />
man auf dem Waldweg dort drüben quer über <strong>die</strong><br />
Halbinsel fährt, ist es vielleicht ein halber Kilometer.“<br />
„Ruf <strong>die</strong> Polizei an, dass sie zu <strong>die</strong>sem Parkplatz kommen<br />
soll!“, sagte Lisa. „Dort kann sie <strong>die</strong> Räuber ganz<br />
leicht schnappen.“<br />
Gustav wollte widersprechen, aber Lisa strampelte<br />
schon los. Pieri folgte ihr.<br />
144
„Polizei anrufen!“, murmelte Gustav. „Was für eine<br />
kindische Idee! Damit mache ich mich doch lächerlich.“<br />
„Wir sollten <strong>die</strong> beiden aufhalten“, schlug Frank<br />
besorgt vor. „Wenn sie den Räubern in <strong>die</strong> Quere kommen<br />
…“<br />
„Quatsch!“, widersprach Gustav. „Die beiden Männer<br />
in dem Faltboot sind bestimmt ganz harmlose Urlauber.<br />
Die Räuber sind doch schon längst nicht mehr<br />
in <strong>die</strong>ser Gegend.“<br />
Lisa und Pieri fuhren schnell. Sie wollten auf jeden<br />
Fall vor den Räubern auf dem Parkplatz sein. Deshalb<br />
waren sie ziemlich außer Atem, <strong>als</strong> sie an ihrem Ziel ankamen.<br />
Der Parkplatz war wirklich klein, nur eine mit<br />
Gras bewachsene Waldlichtung am Flussufer. Drei Autos<br />
standen darauf. Menschen waren nicht zu sehen.<br />
„Welches der drei Autos gehört wohl den Räubern?“,<br />
fragte Lisa.<br />
145
„Sehen wir sie uns doch an!“, antwortete Pieri. Er<br />
ließ sein Rad zwischen den Bä<strong>um</strong>en am Waldrand stehen<br />
und trat hinaus auf <strong>die</strong> Lichtung. Ohne Hast ging<br />
er von einem Wagen z<strong>um</strong> anderen und schaute durch<br />
<strong>die</strong> Scheiben hinein. Bei dem dritten Wagen blieb er<br />
stehen.<br />
„Was <strong>um</strong> alles in der Welt sucht er da?“, wunderte<br />
sich Lisa, <strong>die</strong> am Waldrand geblieben war.<br />
„Sie kommen!“, rief Lisa vom Wald her.<br />
Pieri blickte hinüber. Zwischen den Büschen hindurch,<br />
<strong>die</strong> am Ufer standen, sah er das Faltboot und <strong>die</strong><br />
146
eiden Männer darin. Sie steuerten das <strong>die</strong>sseitige Ufer<br />
an.<br />
Pieri überlegte nicht lange. Er zog sein Taschenmesser<br />
heraus, klappte es auf und stieß zu. Die scharfe<br />
Klinge bohrte sich tief in den rechten Hinterreifen des<br />
Autos. Er zog das Messer wieder heraus und hörte, wie<br />
<strong>die</strong> Luft pfeifend aus dem Reifen entwich. Noch während<br />
er das Messer zuklappte, rannte er los. Er erreichte<br />
den Waldrand und warf sich dort zwischen Büschen<br />
und Bä<strong>um</strong>en zu Boden.<br />
Auch Lisa hatte sich hinter einen Busch gekauert.<br />
„Was <strong>um</strong> alles in der Welt treibst du da?“, fragte sie<br />
leise. „Bist du jetzt auch unter <strong>die</strong> Messerstecher gegangen?“<br />
„Ich wusste nicht, wie ich <strong>die</strong> Kerle sonst aufhalten<br />
sollte“, verteidigte sich Pieri.<br />
„Dann hättest du <strong>die</strong> Reifen von allen drei Autos zerstechen<br />
müssen.“<br />
„Gute Idee!“, grinste Pieri. „Aber ziemlich <strong>um</strong>ständlich.<br />
Ein einziger Blick hat mir genügt, <strong>um</strong> zu wissen,<br />
welches Auto den Räubern gehört.“<br />
Aufl ösung auf Seite 243<br />
147
148<br />
Die Festnahme<br />
Aus ihrer sicheren Deckung am Waldrand schauten<br />
Pieri und Lisa hinüber z<strong>um</strong> Fluss.<br />
Die beiden Männer waren aus dem Boot gestiegen<br />
und hoben es aus dem Wasser. Sie trugen nur Badehosen.<br />
Einer von ihnen hatte einen Rucksack dabei. Jetzt<br />
nahm er den Rucksack ab, öff nete ihn und griff hinein.<br />
Die Entfernung war zu groß, <strong>als</strong> dass <strong>die</strong> beiden Kinder<br />
hätten erkennen können, was er herausnahm. Sie<br />
konnten nur sehen, dass er zwei Gegenstände ins Wasser<br />
warf.<br />
Dann schaute er z<strong>um</strong> anderen Ufer hinüber. „Hubertus!“,<br />
rief er. „Hierher!“<br />
Der große Hund drüben am anderen Ufer sprang<br />
mit einem gewaltigen Satz ins Wasser. Mitten im Fluss<br />
erreichte er <strong>die</strong> beiden Gegenstände, <strong>die</strong> dort auf<br />
dem Wasser trieben, schnappte sich einen davon und<br />
schwamm weiter, dem Ufer entgegen. Die beiden Männer<br />
trugen inzwischen ihr Faltboot über den kleinen<br />
Parkplatz zu den Autos.<br />
Der eine von ihnen blickte sich misstrauisch nach allen<br />
Seiten <strong>um</strong>. „Los, wir bauen das Boot auseinander,<br />
schmeißen es in den Koff erra<strong>um</strong> und verschwinden<br />
schnell von <strong>hier</strong>!“, rief er.<br />
„Vergiss das Boot!“, sagte der andere. Er versetzte<br />
dem rechten Hinterreifen des Autos, neben dem er
stand, wütend einen Tritt. „Wir müssen den Reifen<br />
wechseln. Ausgerechnet jetzt!“<br />
Er öff nete den Koff erra<strong>um</strong> und holte den Ersatzreifen<br />
heraus.<br />
Der Hund hatte inzwischen mühsam das Ufer erklommen,<br />
schüttelte das Wasser aus seinem langen Fell<br />
und trottete dann langsam näher. Sein Spielzeug trug<br />
er dabei im Maul. Mitten auf der Lichtung blieb er stehen<br />
und blickte z<strong>um</strong> Waldrand hinüber, wo sich Lisa<br />
und Pieri versteckt hatten.<br />
Der Hund bellte aufgeregt. Dabei ließ er sein Spielzeug<br />
ins Gras fallen. Er rannte quer über <strong>die</strong> Lichtung<br />
auf <strong>die</strong> beiden Kinder zu.<br />
149
„Hubertus!“, brüllte der Mann mit dem Autoreifen<br />
hinter ihm her. „Hierher!“<br />
Der Hund gehorchte sofort. Er blieb stehen und<br />
kehrte dann zu seinem Besitzer zurück.<br />
„Er ist eben ein Jagdhund“, sagte der andere Mann.<br />
„Wird wohl irgendeinen Hasen oder so etwas entdeckt<br />
haben.“<br />
Pieri und Lisa atmeten erleichtert auf. Welch ein<br />
Glück, dass der Hund so gut erzogen war!<br />
Die beiden Männer arbeiteten viel zu schnell für Pieris<br />
Geschmack. Wenn <strong>die</strong> Polizei nicht bald kam …<br />
„Hoffentlich hat Gustav <strong>die</strong> Polizei wirklich angerufen“,<br />
flüsterte Pieri.<br />
„Fertig!“, sagte einer der Männer. Er warf sein Werkzeug<br />
in den Kofferra<strong>um</strong>, dazu den Ersatzreifen.<br />
„Für das Faltboot haben wir keine Zeit. Das lassen<br />
wir <strong>hier</strong> liegen.“<br />
„Erst will ich mich anziehen“, widersprach sein Komplize.<br />
„Wenn wir nur in Badehosen im Auto sitzen, fällt<br />
das auf.“<br />
„Ach was! Anziehen kannst du dich nachher noch.<br />
Im Auto sind genug Klamotten. Jetzt müssen wir erst<br />
mal von <strong>hier</strong> verschwinden.“ Er öffnete <strong>die</strong> hintere Tür<br />
des Wagens. „Steig ein, Hubertus!“, sagte er zu dem<br />
Hund.<br />
Diesmal gehorchte der Hund nicht. Er blickte z<strong>um</strong><br />
Waldrand hinüber. Jetzt hörten es auch Pieri und Lisa:<br />
Das Motorgeräusch eines Autos. Gleich darauf tauchte<br />
ein Fahrzeug auf dem schmalen Zufahrtsweg z<strong>um</strong><br />
Parkplatz auf. Ein Polizeiwagen, wie Lisa und Pieri er-<br />
150
leichtert feststellten. Endlich! Ein zweiter Wagen folgte<br />
dichtauf.<br />
„Ich fürchte, jetzt gibt es gleich eine Schießerei!“,<br />
flüsterte Pieri aufgeregt. „Im Film gibt es bei der Festnahme<br />
immer eine Schießerei.“<br />
„Es wird keine Schießerei geben“, sagte Lisa zuversichtlich.<br />
Der vordere der beiden Polizeiwagen blieb dicht<br />
neben dem Wagen der beiden Männer in ihren Badehosen<br />
stehen. Kommissar Hilpert stieg aus. Er wirkte<br />
sonderbar verlegen.<br />
„Tut mir leid, dass wir Sie belästigen müssen“,<br />
begann er. „Aber wir haben da einen Anruf bekommen<br />
…“<br />
Er brach mitten im Satz ab. Verwirrt sah er, dass <strong>die</strong><br />
beiden Männer ihre Arme hoben und dem Himmel<br />
entgegenreckten.<br />
„So ein Mist!“, fluchte einer von ihnen. „Ich hätte<br />
nicht geglaubt, dass wir so schnell schon erwischt<br />
werden.“<br />
Kommissar Hilpert wirkte immer noch verwirrt. „Sie<br />
sind <strong>als</strong>o wirklich der Mann und <strong>die</strong> Frau, <strong>die</strong> den Supermarkt<br />
… Sie sind festgenommen!“<br />
Die beiden Männer ließen sich ohne Widerstand<br />
Handschellen anlegen.<br />
Lisa und Pieri waren inzwischen aufgestanden und<br />
traten hinaus auf <strong>die</strong> Lichtung.<br />
„Die beiden habe ich doch schon einmal gesehen?“,<br />
murmelte Kommissar Hilpert und legte <strong>die</strong> Stirn in Falten.<br />
„Wo war das nur?“<br />
151
„Ihr beide wart es <strong>als</strong>o, <strong>die</strong> unseren Reifen durchstochen<br />
haben!“, sagte der größere der beiden Festgenommenen.<br />
„Nein, Lisa ist völlig unschuldig“, sagte Pieri. „Wenn<br />
jemand dafür bestraft werden soll, dann bin ich das.“<br />
„Du bekommst keine Strafe, sondern vielleicht sogar<br />
eine Belohnung vom Supermarkt“, sagte der Kommissar.<br />
„Wenn du <strong>die</strong> Kerle nicht aufgehalten hättest, hätten<br />
wir sie vielleicht nie erwischt. Aber sag mal, Kleiner:<br />
Woher hast du gewusst, bei welchem <strong>die</strong>ser drei Wagen<br />
du den Reifen durchstechen solltest?“<br />
Pieri winkte ab. „Kinderspiel!“, sagte er. „Das war eine<br />
meiner leichtesten Übungen. Aber ich habe keine Ahnung,<br />
woher Lisa wusste, dass es bei der Verhaftung<br />
keinen Kampf geben würde. Die beiden Männer haben<br />
doch Pistolen!“<br />
152<br />
Auflösung auf Seite 243/244
Noch ein Einbruch<br />
Die Kinder verbrachten einen angenehmen Nachmittag<br />
in der Bärenschlucht. Sie schwammen im Fluss und<br />
mieteten sich ein Ruderboot und fuhren damit fl ussauf<br />
und fl ussab.<br />
Hubertus, der Hund, leistete ihnen dabei begeistert<br />
Gesellschaft. Er konnte seine Besitzer nicht ins Gefängnis<br />
begleiten, und da es nun niemanden mehr<br />
gab, der sich <strong>um</strong> ihn kümmern konnte, wollte Kommissar<br />
Hilpert ihn eigentlich in ein Tierasyl bringen. Gustav<br />
brachte ihn von <strong>die</strong>sem Gedanken ab und bat, den<br />
Hund ihm zu überlassen. Der Kommissar stimmte nach<br />
kurzem Überlegen zu. Er schien froh, <strong>die</strong>ses Problem<br />
los zu sein.<br />
Am späten Nachmittag radelten alle zurück z<strong>um</strong> Ferienlager.<br />
Hubertus lief fröhlich neben ihnen her.<br />
Herr Großmann, der Leiter des Ferienlagers, wunderte<br />
sich sehr, den Hund zu sehen. „Wo habt ihr den<br />
denn her?“, fragte er.<br />
„Der ist uns zugelaufen“, antwortete Lisa.<br />
„Wir führen an ihm eine Resozialisierungsmaßnahme<br />
durch“, fügte Gustav hinzu. Auf den verwunderten<br />
Blick Dr. Großmanns berichtete er: „Der Hund ist ein<br />
Verbrecher. Ich will versuchen, aus ihm wieder einen<br />
anständigen Menschen … Äh, ich meine, einen anständigen<br />
Hund zu machen.“<br />
153
„Verbrecher? Wieso denn Verbrecher? Der sieht<br />
doch ganz freundlich und friedlich aus!“, wunderte sich<br />
Herr Großmann.<br />
„Seine Besitzer sind <strong>die</strong> beiden Kerle, <strong>die</strong> den Supermarkt<br />
in Neustadt überfallen haben. Da sie jetzt im Gefängnis<br />
sind, kümmere ich mich <strong>um</strong> den Hund.“<br />
„Meinetwegen“, stimmte Herr Großmann zu. „Den<br />
werden wir sicherlich auch satt bekommen. Übrigens,<br />
heute Abend essen wir nicht im Zelt, sondern machen<br />
ein Picknick im Freien mit Lagerfeuer und allem, was<br />
dazugehört. Kümmerst du dich bitte dar<strong>um</strong>, Gustav!“<br />
„Dürfen wir dabei helfen?“, fragte Lisa.<br />
„Mir ist jede Hilfe willkommen“, antwortete Gustav.<br />
„Die Holzkohle muss eine ganze Weile glühen, bevor<br />
wir mit dem Grillen anfangen können.“<br />
„Was grillen wir eigentlich?“, fragte Pieri.<br />
„Wir haben Steaks, Hühnerschenkel, verschiedene<br />
Bratwürste …“<br />
„Ich bin mal in München auf dem Oktoberfest gewesen“,<br />
sagte Frank. „Dort wird in einem Zelt ein ganzer<br />
Ochse am Spieß gebraten.“<br />
„Einen Ochsen konnte ich auf <strong>die</strong> Schnelle nicht besorgen“,<br />
lächelte Herr Großmann.<br />
„Nun, dann holen wir uns eben einen Elefanten aus<br />
dem Zirkus“, lachte Frank. „Der würde bestimmt für uns<br />
alle reichen.“<br />
„Barbar!“, sagte Lisa. „Kannibale!“<br />
„Wieso denn das?“, verteidigte sich Frank grinsend.<br />
„Kannibalen sind doch Menschenfresser, ich will aber<br />
gar keine Menschen fressen, sondern nur Elefanten.“<br />
154
„Meinetwegen“, lächelte Herr Großmann. „Aber einfangen<br />
und schlachten musst du ihn schon selbst.“<br />
Die Sonne hatte sich schon fast bis z<strong>um</strong> Horizont gesenkt,<br />
<strong>als</strong> alle Vorbereitungen beendet waren.<br />
„Also, holen wir jetzt das Fleisch und <strong>die</strong> Wurst und<br />
was wir sonst noch haben!“, sagte Gustav.<br />
Lisa und Pieri gingen mit. Neben dem Haus, in dem<br />
Herr Großmann wohnte, lag Hubertus, der Jagdhund.<br />
Er schlief tief und fest. Als er Schritte in seiner Nähe<br />
hörte, öffnete er nur kurz ein Auge, blickte seine neuen<br />
Freunde an, und schlief dann weiter.<br />
„Er ist müde“, sagte Gustav. „Er ist viel gerannt heute<br />
und geschwommen. Auch ein Jagdhund muss mal ausruhen.“<br />
Gustav und <strong>die</strong> Kinder betraten das Haus und gingen<br />
auf dem kürzesten Weg zur Küche. Frau Schulze arbeitete<br />
dort. Sie zeigte auf eine Tür. „In der Speisekammer“,<br />
sagte sie.<br />
Sie ging voraus und öffnete <strong>die</strong> Tür. Dann blieb sie<br />
erschrocken stehen.<br />
Frau Schulze stieß einen gellenden Schrei aus, der<br />
Herrn Großmann aus seinem nahen Büro herbeieilen<br />
ließ. „Diebe!“, rief sie. „Räuber! Verbrecher!“ Sie deutete<br />
empört auf ein großes leeres Tablett. „Alle Steaks sind<br />
weg! 24 Stück! Wie kann man nur Kinder bestehlen!<br />
Diese Leute sollten sich was schämen!“<br />
„Sprechen Sie von ganz bestimmten Leuten?“, fragte<br />
Herr Großmann.<br />
„Ich wette, es war <strong>die</strong>se Bande von Jugendlichen aus<br />
dem Ort. Sie sind mir heute Morgen schon über den<br />
155
Weg gelaufen und haben irgendetwas von Grillen am<br />
See gefaselt. Sie müssen durch das Fenster gekommen<br />
sein, keine Schwierigkeit für <strong>die</strong>se jungen Burschen.<br />
Durch meine Küche sind sie jedenfalls nicht gekommen<br />
oder gegangen, da bin ich ganz sicher.“<br />
„Sie sollten vorsichtiger sein mit Ihren Beschuldigungen<br />
ohne Beweise, liebe Frau Schulze“, rügte Herr<br />
Großmann. „Denken Sie bitte daran, dass auch Sie<br />
selbst noch vor wenigen Tagen zu Unrecht des Diebstahls<br />
verdächtigt worden sind.“<br />
„Es waren nicht <strong>die</strong> Jugendlichen“, sagte Pieri.<br />
156<br />
Aufl ösung auf Seite 244
Später Besuch<br />
Die Sonne war inzwischen untergegangen. Auf der<br />
Wiese zwischen dem Ferienlager und dem großen Zirkuszelt<br />
fl ackerten etliche Feuer. Frank stand an einem<br />
eisernen Grill und wendete mit einer großen Zange <strong>die</strong><br />
Bratwürste auf dem Rost.<br />
„Schade, dass <strong>die</strong>ser verfressene Hund alle Steaks<br />
geklaut hat“, sagte er. „Jetzt müssen wir mit dem vorlieb<br />
nehmen, was er übrig gelassen hat.“<br />
„Es ist noch genug da“, meinte Herr Großmann. Er<br />
ließ es sich nicht nehmen, selbst an der Grillparty teilzunehmen.<br />
„Da drüben an dem Lagerfeuer z<strong>um</strong> Beispiel<br />
braten sie Kartoff eln, und <strong>die</strong> Hähnchenschenkel<br />
sind ja auch noch da.“<br />
„Wir könnten auch auf Franks Vorschlag mit dem Elefanten<br />
zurückkommen“, lachte Pieri. Er blickte sich <strong>um</strong>.<br />
„Wo steckt der Hund eigentlich? Und wo ist Gustav?“<br />
„Gustav hat sich <strong>als</strong> Grillmeister versucht und dabei<br />
festgestellt, dass er für <strong>die</strong>sen Job nicht viel Talent besitzt“,<br />
antwortete Herr Großmann. „Er ist dem heißen<br />
Rost zu nahe gekommen. Frau Schulze hat ihm Wundsalbe<br />
auf <strong>die</strong> rechte Hand gestrichen und ihm einen<br />
prächtigen Verband angelegt.“<br />
„Aber z<strong>um</strong> Essen kommt er doch, oder?“, fragte Pieri.<br />
„Sicher“, antwortete Lisa. „Aber er befürchtet, dass<br />
Hubertus nach 24 Steaks der Bauch platzt. Er hat dem<br />
157
Hund einen extra langen Verdauungsspaziergang verordnet.“<br />
„Schade, dass ich meine Gitarre nicht dabei habe“,<br />
sagte Pieri. „Ich wäre jetzt in der richtigen Stimmung,<br />
ein bisschen Musik zu machen.“<br />
„Ich kenne da ein schönes Lied“, schlug Frank vor. „Es<br />
geht so: ,In einer Bar in Mexiko, da saßen wir und spielten<br />
froh; ein Spielchen wurde gepokert, der Colt war<br />
gelockert. Caramba‘!“<br />
Herr Großmann lachte. „Ich fürchte, das ist nicht<br />
der richtige Text für <strong>die</strong> jüngeren Jahrgänge unter uns.<br />
Aber kennst du vielleicht das Lied ‚Geisterreiter‘? Das<br />
stammt aus einem Western, den ich in meiner Jugend<br />
einmal gesehen habe. Der Film war ziemlich langweilig,<br />
wenn ich mich recht erinnere, aber das Lied hat mir<br />
gefallen.“<br />
Pieri wollte antworten, aber er kam nicht mehr dazu.<br />
Irgend etwas Großes, Schweres rannte ihn über den<br />
Haufen. Er stürzte zu Boden. Über ihm war ein d<strong>um</strong>pfes<br />
Grollen und Knurren zu hören. Dann entdeckte er<br />
in der hereinbrechenden Dunkelheit eine riesige zottige<br />
Gestalt, <strong>die</strong> sich über ihn beugte. Aus einem mächtigen,<br />
weit geöff neten Maul ragten zwei gewaltige<br />
dolchartige Zähne hervor.<br />
„Lass den Quatsch, Roberto!“, rief Pieri ärgerlich. „Ich<br />
möchte jetzt nicht King Kong spielen, sondern endlich<br />
was essen.“<br />
Der Aff e wandte sich beleidigt ab. Auf allen vieren<br />
hüpfte er hinüber z<strong>um</strong> nächsten Grill. Er streckte seine<br />
mächtige behaarte Pranke aus, <strong>um</strong> sich eine der Brat-<br />
158
würste zu nehmen, zuckte aber erschrocken zusammen,<br />
<strong>als</strong> er <strong>die</strong> Hitze spürte.<br />
Aus der Dunkelheit tauchte plötzlich eine große vierbeinige<br />
Gestalt auf. Es war Hubertus. Der Hund baute<br />
sich vor dem Aff en auf und bellte.<br />
Der Aff e erschrak, drehte sich <strong>um</strong> und raste, so<br />
schnell er konnte, auf allen vieren davon. Der Hund<br />
war schneller, erreichte ihn mit zwei langen Sätzen und<br />
packte ihn am rechten Hinterbein. Der Aff e stürzte zu<br />
Boden und blieb erschrocken liegen.<br />
„Das ist nicht Roberto!“, sagte Frank. „Roberto ist Löwendompteur.<br />
Der läuft doch nicht vor einem Hund<br />
davon!“<br />
159
„Du vergisst, dass Roberto auch der Clown Arlekino<br />
ist“, widersprach Lisa. „Seine Angst ist nur gespielt. Und<br />
der Hund spielt mit Begeisterung mit. Natürlich hat er<br />
längst gerochen, dass unter dem Affenfell ein Mensch<br />
steckt.“<br />
„Es ist auch nicht Arlekino“, behauptete Pieri. „Arlekino<br />
steht dort drüben!“<br />
Er deutete auf den Clown, der im Halbdunkel jenseits<br />
des Lagerfeuers stand. Jetzt kam der Clown näher.<br />
Er ging langsam und schwerfällig wie ein wandelndes<br />
Bierfass. Offenbar hatte er große Mühe, sich mit seinen<br />
riesigen Schuhen vorwärtszubewegen.<br />
„Wenn <strong>die</strong>ser Clown Arlekino ist, dann kann der<br />
Mann im Affenkostüm auch nicht Roberto sein“, überlegte<br />
Herr Großmann. „Denn beide sind ja ein und <strong>die</strong>selbe<br />
Person.“<br />
Der Clown hatte jetzt den Affen und den Hund erreicht.<br />
Er schob den Hund beiseite. Dann bückte er sich<br />
zu dem Affen nieder und streichelte zärtlich seinen<br />
Kopf.<br />
„Armes Affe!“, sagte er. „Böses Hund dich so erschreckt.“<br />
Plötzlich griff er mit beiden Händen zu und riss dem<br />
Affen <strong>die</strong> Maske vom Kopf. Alle Umstehenden erkannten<br />
jetzt Robertos fröhlich lächelndes Gesicht. Alle<br />
lachten.<br />
Nur dem Clown war nicht nach Lachen z<strong>um</strong>ute. Er<br />
schien vor dem Anblick des Menschen im Affenkostüm<br />
zu erschrecken. Sofort drehte er sich <strong>um</strong> und rannte<br />
davon.<br />
160
Hubertus setzte ihm nach, bekam ihn an seinem<br />
mächtigen, mit viel Watte gepolsterten Hintern zu fassen<br />
und riss ihn zu Boden.<br />
Roberto stand auf, immer noch lachend.<br />
„Man hat mir erzählt, dass Lisa und Pieri große Detektive<br />
sind“, sagte er. „Angeblich lösen sie alle Fälle.<br />
Deshalb wollten wir sie auf <strong>die</strong> Probe stellen. Diesen<br />
Fall jedenfalls haben sie nicht gelöst.“<br />
„Das kann man ihnen wirklich nicht z<strong>um</strong> Vorwurf<br />
machen“, meinte Herr Großmann. „Ich muss gestehen,<br />
auch ich habe keine Ahnung, wer <strong>die</strong>ser Clown ist.“<br />
„Ich schon“, sagte Pieri.<br />
„Ja?“, staunte Herr Großmann. „Wer ist es denn,<br />
Pieri?“<br />
Aulösung auf Seite 245<br />
161
Keine Gitarre für Pieri<br />
Roberto zog sein Aff enkostüm aus.<br />
„Furchtbar heiß da drin“, schnaufte er. „Die kleine<br />
Privatvorstellung zusammen mit Gustav und dem<br />
Hund hat mir viel Spaß gemacht. Ich würde gern noch<br />
ein bisschen bei euch bleiben. Aber ich muss zurück<br />
z<strong>um</strong> Zirkus. Wie ihr hört, läuft unsere Abendvorstellung<br />
längst. Ich muss noch meine Löwen vorführen. Das ist<br />
einer der Höhepunkte unseres Programms.“<br />
Er verneigte sich und ging weg, das Aff enfell unter<br />
dem Arm.<br />
„Er kommt nach der Vorstellung bestimmt wieder“,<br />
sagte Lisa. „Also lasst noch ein paar Würstchen für ihn<br />
übrig.“<br />
Herr Großmann sah Pieri an. „Wie wär‘s, wenn auch<br />
du uns eine kleine Vorstellung geben würdest? Mit der<br />
Gitarre.“<br />
„Das würde ich wirklich gerne tun“, antwortete Pieri.<br />
„Aber ich habe keine Gitarre. Nicht einmal eine Mundharmonika.“<br />
„Mein älterer Bruder kann sogar auf einem Grashalm<br />
Musik machen“, verkündete Frank stolz.<br />
„Gras hätten wir <strong>hier</strong> genug, aber leider leiden wir<br />
einen gewissen Mangel an älteren Brüdern“, meinte<br />
Herr Großmann. „Mit einer Gitarre für Pieri kann ich<br />
aber <strong>die</strong>nen. Die Polizei in Neustadt hat <strong>die</strong> beschlag-<br />
162
nahmten Musikinstr<strong>um</strong>ente wieder freigegeben. Hannes<br />
ist losgefahren, <strong>um</strong> sie zu holen. Er ist schon auf<br />
dem Weg zurück.“<br />
Aus der Dunkelheit näherte sich <strong>die</strong> Gestalt eines<br />
Mannes. Als <strong>die</strong> Gestalt in den Lichtschein der Lagerfeuer<br />
trat, erkannten <strong>die</strong> Kinder, dass es sich <strong>um</strong> Wachtmeister<br />
Anders handelte.<br />
„Nun, Herr Anders, so spät noch in Uniform?“, begrüßte<br />
ihn Herr Großmann.<br />
„Ein Polizist ist immer im Dienst“, antwortete der<br />
Wachtmeister. „Ich bin nur gekommen, <strong>um</strong> Sie zu warnen.<br />
Die beiden Kerle, <strong>die</strong> heute Vormittag den Supermarkt<br />
überfallen haben, sind geflohen.“<br />
„Aus Polizeigewahrsam?“, wunderte sich Herr Großmann.<br />
Anders nickte bekümmert. „Sollte nicht vorkommen,<br />
aber es kommt vor. Also, was ich sagen wollte …“<br />
Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.<br />
Hubertus, der bisher zu Füßen von Lisa gelegen<br />
hatte, sprang plötzlich auf und rannte freudig bellend<br />
davon. Nach wenigen Sekunden war er in der Dunkelheit<br />
verschwunden.<br />
„Was ist denn mit dem los?“, wunderte sich der<br />
Wachtmeister.<br />
„Er hat wohl einen Hasen entdeckt und rennt jetzt<br />
hinter ihm her“, meinte Pieri.<br />
„Glaube ich nicht“, widersprach Herr Großmann. „Ein<br />
gut abgerichteter Jagdhund rennt nicht hinter Wild<br />
her. Er apportiert kleines Wild, das der Jäger geschossen<br />
hat, oder folgt der Spur eines angeschossenen Tie-<br />
163
es. Hubertus muss <strong>als</strong>o etwas anderes entdeckt haben,<br />
was ihn interessiert.“<br />
„Also, was ich sagen wollte …“ Wachtmeister Anders<br />
nahm mühsam seinen Faden wieder auf. „Die beiden<br />
fl üchtigen Räuber haben in Neustadt einen Wagen<br />
geklaut. Weit sind sie aber auch <strong>die</strong>smal nicht gekommen.<br />
Mit gestohlenen Autos haben sie immer Pech. Die<br />
Kiste hatte <strong>hier</strong> in Bergheim einen Motorschaden. Ich<br />
nehme an, dass sie sich einen weiteren Wagen klauen<br />
werden.“<br />
Pieri blickte angestrengt hinüber zu Dr. Großmanns<br />
Haus. Ein Kleinbus stand vor der weit off enen Tür. „Hannes<br />
ist wieder zurück!“, jubelte Pieri aufgeregt. „Mit einer<br />
Gitarre für mich!“<br />
164
Plötzlich schlug sich Pieri mit der fl achen Hand<br />
auf <strong>die</strong> Stirn. „Das sind <strong>die</strong> fl üchtigen Räuber!“, rief er.<br />
„Kommen Sie schnell, Herr Wachtmeister!“<br />
Er rannte los, auf das Haus zu. Wachtmeister Anders<br />
sah ihm einige Sekunden lang verblüff t hinterher, dann<br />
setzte auch er sich in Bewegung. Gleich darauf fuhr der<br />
Kleinbus vor dem Haus an, fuhr eine enge Kurve und<br />
raste dann davon.<br />
Aus der Tür des Hauses kam Hannes. „Halt!“, rief er.<br />
„Ihr Diebe!“ Er schwang drohend seine Faust. Lautes Lachen<br />
antwortete ihm. Dann verschwand der Wagen.<br />
„Na ja, wenigstens brauchten wir uns das Kennzeichen<br />
des Fluchtautos nicht aufzuschreiben“, sagte<br />
Wachtmeister Anders. „Das kennst du doch hoff entlich<br />
auswendig, Hannes, oder?“<br />
Hannes nickte bekümmert. „Hoff entlich fahren <strong>die</strong><br />
Kerle meinen schönen Wagen nicht an einen Ba<strong>um</strong>“,<br />
fl üsterte er betrübt.<br />
„War<strong>um</strong> hast du den Zündschlüssel nicht abgezogen?“,<br />
fragte der Wachtmeister.<br />
„War<strong>um</strong> hätte ich das tun sollen? Ich wollte doch<br />
nur <strong>die</strong> paar Instr<strong>um</strong>ente in das Haus tragen und dann<br />
nach Hause fahren. Wer kommt denn auf <strong>die</strong> Idee, dass<br />
der Wagen in den paar Sekunden geklaut wird, in denen<br />
ich im Haus bin! Übrigens, was ist das für ein Hund,<br />
der da jetzt bei den beiden Kerlen im Auto sitzt?“<br />
Wachtmeister Anders sah Pieri an. „Ja, was ist das<br />
für ein Hund?“, fragte auch er. „Und woher hast du gewusst,<br />
dass es sich <strong>um</strong> <strong>die</strong> beiden Räuber handelt?“<br />
Aufl ösung auf Seite 246<br />
165
166<br />
Pech gehabt!<br />
Wachtmeister Anders zog sein Handy aus der Tasche,<br />
<strong>um</strong> seine Dienststelle anzurufen. „Zu blöd, dass <strong>die</strong><br />
Kerle uns schon wieder entwischt sind!“, ärgerte er sich.<br />
„Die kommen nicht weit“, sagte Hannes. Obwohl<br />
ihm eben sein Kleinbus gestohlen worden war, konnte<br />
er schon wieder grinsen. „Mein Tank ist nämlich fast<br />
leer. Die Kerle werden staunen, wenn <strong>die</strong> Kiste plötzlich<br />
stehen bleibt.“<br />
„Diese Gauner haben wirklich Pech mit ihren Fluchtfahrzeugen“,<br />
grinste nun auch der Wachtmeister. „Wir<br />
werden <strong>als</strong>o alle Tankstellen in der Umgebung warnen.<br />
Irgendwo schnappen wir sie.“<br />
Es war ein schöner Abend für <strong>die</strong> Kinder, mit einer<br />
Menge heißer gegrillter Würstchen, kalter Getränke und<br />
spannender Geschichten von Räubern auf der Flucht.<br />
Ein paar Stunden später, es mochte Mitternacht<br />
sein, lag Pieri im dunklen Schlafzelt. Er trä<strong>um</strong>te davon,<br />
dass er am Ufer des Sees lag, in den blauen Himmel hinaufschaute<br />
und, von der Sonne geblendet, <strong>die</strong> Augen<br />
schloss. Irgend etwas Nasses, Kaltes leckte ihm über<br />
das Gesicht. Das sagenhafte Krokodil vielleicht, das<br />
da im See her<strong>um</strong>schwimmen sollte, wie <strong>die</strong> Einheimischen<br />
behaupteten?<br />
Pieri fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Er öff -<br />
nete <strong>die</strong> Augen. Rings <strong>um</strong> ihn war es stockfi nster. Er be-
griff, dass er nicht am Strand lag, sondern im Schlafzelt.<br />
Nur <strong>die</strong> breite Zunge, <strong>die</strong> ihm über das Gesicht fuhr,<br />
war noch da.<br />
„Hau ab, Krokodil!“, murmelte er schlaftrunken. Er<br />
versuchte, <strong>die</strong>ses widerliche Vieh wegzuschieben, aber<br />
das, was seine Hand berührte, war nicht der knochige<br />
Panzer eines Krokodils, sondern das haarige Fell eines<br />
Hundes.<br />
„Hubertus!“, rief er erfreut. „Du bist wieder <strong>hier</strong>?“<br />
Eine Taschenlampe leuchtete auf. Sie gehörte Manuel,<br />
der im Bett neben ihm geschlafen hatte. „Er ist<br />
seinen Besitzern davongelaufen“, sagte er. „Er will wohl<br />
nicht mehr bei zwei Verbrechern leben.“<br />
„Ich glaube nicht, dass Hunde so denken“, widersprach<br />
Pieri. „Denen ist es gleichgültig, ob ihr Herrchen<br />
ein Schuft ist oder ein anständiger Mensch. Wenn Hubertus<br />
wieder <strong>hier</strong> ist, sind auch seine Besitzer wieder<br />
<strong>hier</strong>.“<br />
„Was <strong>um</strong> alles in der Welt wollen <strong>die</strong> <strong>hier</strong>?“, fragte<br />
Manuel. Er blickte sich ängstlich <strong>um</strong>.<br />
„Weiß ich nicht“, antwortete Pieri. „Ich sehe mich<br />
draußen ein bisschen <strong>um</strong>. Informiere du inzwischen<br />
Herrn Großmann, Gustav oder einen der anderen Betreuer!“<br />
Er stand auf und tappte barfuß hinter dem Hund<br />
her, der schwanzwedelnd z<strong>um</strong> Eingang des Zelts lief. Er<br />
sah nicht, dass Manuel sich wieder hingelegt und <strong>die</strong><br />
Decke über den Kopf gezogen hatte.<br />
Hubertus schien genau zu wissen, wohin er wollte.<br />
Er lief durch das ganze Ferienlager und dann das kurze<br />
167
Stück hinüber z<strong>um</strong> Zirkus, an dem großen Zelt mit der<br />
Manege vorbei und dann weiter zu den Wohnwagen.<br />
Pieri hatte Mühe, ihm zu folgen.<br />
Nur in zwei der Wohnwagen der Artisten brannte<br />
noch Licht. Der Hund lief an ihnen vorbei zu dem Platz,<br />
wo <strong>die</strong> Fahrzeuge des Zirkus standen. Dort blieb er<br />
stehen und blickte zu Pieri auf, <strong>als</strong> wolle er ihm etwas<br />
Wichtiges zeigen. Da Pieri nicht verstand, was es da im<br />
Dunkeln zu sehen geben mochte, senkte Hubertus den<br />
Kopf und hob mit seinem Maul einen dünnen länglichen<br />
Schlauch vom Boden auf. Der Schlauch stank<br />
nach Benzin.<br />
Eine kräftige Hand packte Pieri im Genick. „Hab ich<br />
dich erwischt! Willst wohl Benzin klauen, wie?“<br />
„Was sollte ich mit Benzin?“, fragte Pieri zurück. „Lass<br />
mich los, Roberto! Du hast den F<strong>als</strong>chen erwischt.“<br />
„Pieri?“, wunderte sich der Dompteur. „Was treibst<br />
du <strong>hier</strong>?“<br />
Anstatt zu antworten, blickte Pieri <strong>um</strong> sich. „Wo ist<br />
der Hund?“, fragte er.<br />
Fast im gleichen Augenblick, in dem Pieri z<strong>um</strong><br />
nächststehenden Wohnwagen hinüberblickte, erlosch<br />
in <strong>die</strong>sem das Licht. „Da drin sind <strong>die</strong> Räuber“, fl üsterte<br />
Pieri.<br />
„Die schnappe ich mir“, fl üsterte Roberto ebenso<br />
leise zurück. Er ging mit schnellen, lautlosen Schritten<br />
weg – fast so geräuschlos wie seine Löwen. Er erreichte<br />
<strong>die</strong> Tür des Wohnwagens und riss sie auf.<br />
Undurchdringliche Dunkelheit gähnte ihm entgegen.<br />
Er spürte einen widerlichen Geruch von Benzin<br />
168
und einen leichten Luftzug. Dann erkannte Roberto,<br />
dass sich eben eine menschliche Gestalt durch das<br />
kleine Fenster auf der anderen Seite des Wohnwagens<br />
schob. Mit zwei schnellen Schritten war er am Fenster<br />
und griff zu. Aber er griff ins Leere.<br />
Er erwartete, Schritte zu hören, <strong>die</strong> sich schnell entfernten,<br />
aber Roberto hörte nur das Geräusch eines<br />
schweren Körpers, der zu Boden stürzte. Dann eine<br />
junge Stimme: „Ich hab ihn! Hilfe!“<br />
Pieri lag quer über dem Mann, den er über sein ausgestrecktes<br />
Bein hatte stolpern lassen. Er versuchte,<br />
den Mann mit seinem Körpergewicht auf den Boden<br />
niederzudrücken, aber er wusste, dass ihm das nicht<br />
lange gelingen würde. Erleichtert atmete er auf, <strong>als</strong><br />
169
zwei kräftige Männer auftauchten und ihm zu Hilfe kamen.<br />
Einer von ihnen war Roberto, Raubtierdompteur<br />
und Clown, der andere der Mann, der für <strong>die</strong> Elefanten<br />
zuständig war.<br />
Weitere Artisten kamen mit Lampen in den Händen<br />
herbei. Im Licht <strong>die</strong>ser Lampen erkannte Pieri, dass der<br />
Mann, den Roberto und der Elefantenwärter festhielten,<br />
tatsächlich einer der beiden entflohenen Räuber war.<br />
„War<strong>um</strong> ist der Kerl wieder zurückgekommen?“,<br />
wunderte sich Roberto.<br />
„Er brauchte Benzin für sein gestohlenes Fluchtauto“,<br />
antwortete Pieri und stieß mit dem Fuß gegen den vollen<br />
Benzinkanister, der auf dem Boden lag. „Sein Komplize<br />
wartet wahrscheinlich beim Auto auf ihn.“<br />
„Ich hatte meinen Wohnwagen nur für ein paar Minuten<br />
verlassen“, sagte der Elefantenwärter, „<strong>um</strong> nach<br />
meinen Elefanten zu sehen. Das mache ich jede Nacht.<br />
Der Kerl da muss mich gesehen haben, wie ich wegging,<br />
und kam auf den Gedanken, sich in meiner Abwesenheit<br />
ein bisschen in dem Wagen <strong>um</strong>zusehen, ob es<br />
da was z<strong>um</strong> Stehlen gäbe.“<br />
Der Gefangene starrte Pieri finster an. „Dieser Bengel<br />
kommt mir dauernd in <strong>die</strong> Quere“, ärgerte er sich.<br />
„Den Polizisten konnten wir entfliehen, aber dem da …“<br />
„Sag mal, Pieri, woher hast du gewusst, dass der Bursche<br />
in <strong>die</strong>sem Wohnwagen ist?“, fragte Roberto.<br />
170<br />
Auflösung auf Seite 246/247
Ausgeflogen?<br />
„Was ist los mit dir, Pieri?“, fragte Lisa am nächsten Morgen<br />
beim Frühstück. „Bist du krank?“<br />
„Manchmal redest du wie meine Mutter“, antwortete<br />
Pieri missmutig. „Nein, ich bin nicht krank.“<br />
„Aber das Essen scheint dir nicht zu schmecken.“<br />
„Das Essen ist in Ordnung. Ich habe nur keinen richtigen<br />
Appetit.“<br />
„Wenn man mitten in der Nacht einen fl üchtigen<br />
Räuber gefangen hat, sollte man eigentlich Appetit haben<br />
– und bessere Laune“, meinte Frank, der Pieri gegenübersaß.<br />
„Außerdem hat jetzt Gustav dank deiner Hilfe Hubertus<br />
wieder“, fügte Romy hinzu. „Mir scheint, er mag<br />
den Hund wirklich, und der Hund mag ihn auch.“<br />
„Jeder bekommt <strong>als</strong>o, was ihm zusteht“, sagte Pieri,<br />
immer noch schlecht gelaunt. „Der Räuber bekommt<br />
seine ver<strong>die</strong>nte Strafe, Gustav seinen geliebten Hund,<br />
der Hund einen neuen Herrn, der ihn sicherlich viel<br />
besser behandeln wird <strong>als</strong> seine bisherigen Herren,<br />
aber was bekomme ich? Nichts!“<br />
„Hast du etwa eine polizeiliche Belohnung erwartet?“,<br />
fragte der kleine Manuel.<br />
„Nein, nur eine Gitarre. Hannes hatte mehrere Gitarren<br />
in seinem Wagen, aber da der Wagen geklaut<br />
wurde …“<br />
171
„ …wirst du wahrscheinlich keine <strong>die</strong>ser Gitarren je<br />
zu sehen bekommen“, vollendete Frank den Satz. „Die<br />
Diebe sind vielleicht 50 Kilometer oder weiter gefahren,<br />
bevor ihnen der Treibstoff ausging.“<br />
„Das glaube ich nicht“, widersprach Lisa. „Niemand<br />
läuft mit einem Blechkanister 50 Kilometer weit durch<br />
<strong>die</strong> Nacht, <strong>um</strong> irgendwo Benzin zu stehlen. Eine Stunde<br />
vielleicht, aber nicht länger.“<br />
„War<strong>um</strong> hat er sich das Benzin nicht einfach an der<br />
nächsten Tankstelle besorgt?“, fragte Manuel.<br />
„Er hat es wohl nicht gewagt, sich dort blicken zu<br />
lassen“, vermutete Lisa. „Oder er ist auf seinem Weg an<br />
keiner Tankstelle vorbeigekommen.“<br />
„Das ist es!“, sagte Pieri. Von einem Augenblick auf<br />
den anderen war er bester Laune. „Er ist eine Stunde<br />
lang durch den nächtlichen Wald gelatscht. Im Wald<br />
gibt es keine Tankstellen. Frech wie er ist, ist er dann<br />
nach Bergheim zurückgekehrt. Genauer gesagt, <strong>hier</strong>her.“<br />
„Das bringt dich deiner heiß ersehnten Gitarre keinen<br />
Schritt näher“, meinte Frank. „Wald gibt es in <strong>die</strong>ser<br />
Gegend genug. Wie willst du da bloß Hannes Kleinbus<br />
finden?“<br />
„Du hast zu wenig Fantasie“, sagte Pieri. „Versetze<br />
dich doch mal in <strong>die</strong> Lage des zweiten Gauners, der<br />
bei dem gestohlenen Wagen zurückgeblieben ist. Er<br />
hat ein paar Stunden lang gewartet, dass sein Komplize<br />
mit dem Benzin zurückkommen würde. Irgendwann<br />
hat er dann begriffen, dass er vergeblich warten<br />
würde …“<br />
172
„Vielleicht hat er auch im Autoradio gehört, dass<br />
sein Komplize geschnappt wurde“, warf Frank ein.<br />
„Also musste er sich ein Versteck suchen, wo er ein<br />
paar Stunden oder Tage bleiben konnte“, überlegte<br />
Pieri weiter. „Und es gibt für ihn kein besseres Versteck<br />
<strong>als</strong> <strong>die</strong> einsame Jagdhütte, vor der Lisa und ich ihn<br />
schon einmal gesehen haben.“<br />
„Aber <strong>die</strong> Polizei kennt doch <strong>die</strong>se Hütte“, wandte<br />
Romy ein. „Dort wird er sich ganz bestimmt nicht verstecken.“<br />
„Wenn <strong>die</strong> Polizei genauso denkt wie du, wird sie ihn<br />
dort niem<strong>als</strong> suchen. Also ist er nirgendwo so sicher<br />
wie dort.“<br />
„Dann sollten wir <strong>die</strong> Polizei informieren!“, schlug<br />
Manuel begeistert vor.<br />
„Die würde uns nicht glauben“, meinte Lisa. „Dieser<br />
Kommissar Hilpert hält nicht viel von uns. Er würde uns<br />
einfach auslachen.“<br />
„Dann müssen wir ihm eben den Beweis liefern, dass<br />
der flüchtige Räuber sich in der einsamen Jagdhütte<br />
versteckt hält“, sagte Pieri. „Aber dafür muss ich mich<br />
erst einmal kräftig stärken!“ Er machte sich mit plötzlich<br />
erwachtem Appetit über sein Frühstück her.<br />
Schon eine Stunde später waren Lisa, Romy, Frank,<br />
Pieri und Manuel mit den Fahrrädern unterwegs auf<br />
dem abschüssigen Waldweg, der zur Bärenschlucht<br />
führte. Niemand begegnete ihnen. Romy sang fröhlich<br />
einen Schlager.<br />
„Schrei nicht so laut!“, schimpfte Pieri. „Wir sind nicht<br />
mehr weit von der Jagdhütte entfernt.“<br />
173
„Ich schreie nicht, ich singe“, antwortete Romy beleidigt.<br />
„Aber du verstehst eben nichts von Kunst.“<br />
„Nicht alles, was Lärm macht, ist Kunst. Wahre Kunst<br />
…“<br />
Pieri brach mitten im Satz ab und bremste. So plötzlich,<br />
dass Manuel fast auf ihn aufgefahren wäre. Pieri<br />
deutete nach links in einen Waldweg, der ihren eigenen<br />
Weg kreuzte. Ein Auto stand dort, ka<strong>um</strong> zu sehen<br />
im dichten Schatten der Bä<strong>um</strong>e.<br />
„Das ist der Kleinbus von Hannes“, fl üsterte er aufgeregt.<br />
Er musste sich zusammenreißen, <strong>um</strong> nicht vor<br />
Freude laut zu schreien. „Hoff entlich sind <strong>die</strong> Musikinstr<strong>um</strong>ente<br />
noch da!“<br />
174
„Deine Gitarre kannst du dir später holen“, bremste<br />
Lisa seinen Eifer. „Erst müssen wir nachsehen, ob der<br />
Räuber wirklich in der Jagdhütte ist. Er war <strong>hier</strong>, das<br />
steht fest, aber er könnte schon längst wieder weitergezogen<br />
sein.“<br />
Es dauerte keine zehn Minuten, bis <strong>die</strong> Kinder <strong>die</strong><br />
Lichtung erreichten, auf der <strong>die</strong> Blockhütte stand. Aus<br />
der sicheren Deckung dichter Büsche am Waldrand<br />
blickten sie hinüber.<br />
„Hier ist keine Menschenseele“, stellte Frank enttäuscht<br />
fest. „Fenster und Türen sind verrammelt wie<br />
bei einer Burg. Es muss stockfi nster in der Bude sein.<br />
Wenn da drin ein Licht brennen würde, müsste der<br />
Lichtschein durch <strong>die</strong> Ritzen der Fensterläden dringen.“<br />
„Er ist da drin!“, sagte Pieri. „Er hat eben sein Frühstück<br />
beendet, das Licht gelöscht und sich schlafen gelegt.“<br />
Aufl ösung auf Seite 247<br />
175
176<br />
Knastbrüder<br />
Lisa schaltete enttäuscht ihr Handy aus. „Mir scheint,<br />
<strong>die</strong>ser Kommissar Hilpert glaubt mir nicht“, sagte sie.<br />
„Vielleicht kommt er gar nicht.“<br />
„Die hätten ja auch viel zu tun, wenn sie sofort losrennen<br />
würden, wenn jemand anruft und behauptet<br />
zu wissen, wo ein fl üchtiger Verbrecher steckt“, meinte<br />
Frank. „Schließlich haben wir den Mann, den wir da<br />
drüben in der Jagdhütte vermuten, überhaupt nicht<br />
gesehen. Vielleicht ist er gar nicht mehr …“<br />
Noch während Frank redete, öff nete sich drüben bei<br />
der Hütte <strong>die</strong> Tür. Nur einen schmalen Spalt weit zuerst,<br />
dann, nach einigen Sekunden, trat ein Mann heraus.<br />
„Das ist er!“, fl üsterte Lisa. „Ich erkenne ihn wieder.“<br />
Die Kinder duckten sich tiefer in ihre Deckung hinein.<br />
Der Mann drüben bei der Hütte blickte sich misstrauisch<br />
<strong>um</strong>. Dann zog er <strong>die</strong> Tür hinter sich zu und<br />
ging hastig weg. Er trug jetzt grüne Jägerkleidung und<br />
auf dem Rücken ein doppelläufi ges Jagdgewehr.<br />
„War<strong>um</strong> sperrt er denn <strong>die</strong> Tür nicht hinter sich ab?“,<br />
fl üsterte Manuel. „Hat er denn keine Angst, dass jemand<br />
in seiner Abwesenheit <strong>die</strong> Bude ausraubt? Er<br />
sollte eigentlich am besten wissen, dass es eine Menge<br />
Gauner auf der Welt gibt.“<br />
„Er hat keinen Schlüssel“, sagte Lisa. „Den hat ihm ja<br />
<strong>die</strong> Polizei bei seiner Verhaftung abgenommen.“
„Er haut uns schon wieder ab“, ärgerte sich Frank.<br />
„Wir sollten ihm folgen, <strong>um</strong> herauszufinden, wohin er<br />
geht.“<br />
„Ihm folgen?“, wiederholte Manuel entsetzt. „Einem<br />
Verbrecher mit einem Gewehr? Ohne mich!“<br />
„Das ist Sache der Polizei“, sagte Lisa. „Ich rufe noch<br />
einmal <strong>die</strong>sen Kommissar Hilpert an und sage ihm,<br />
dass wir den flüchtigen Verbrecher gesehen haben.“<br />
Der Mann in der Jagdkleidung hatte inzwischen<br />
<strong>die</strong> kleine Lichtung überquert und war im Wald verschwunden.<br />
„Gehen wir in <strong>die</strong> Hütte!“, schlug Pieri vor. „Vielleicht<br />
finden wir dort etwas, was uns verrät, wohin der Mann<br />
abhauen wird.“<br />
„In <strong>die</strong> Höhle des Löwen?“, fragte Romy. „Ich trau<br />
mich nicht. Er könnte zurückkommen.“<br />
„Alles ist besser, <strong>als</strong> ihm zu folgen“, meinte Manuel.<br />
„Außerdem, <strong>hier</strong> im feuchten Moos zu liegen … Vielleicht<br />
kriechen <strong>hier</strong> auch ein paar Giftschlangen durch<br />
das Unterholz …“<br />
Die anderen lachten. Frank, Pieri, Romy und Manuel<br />
standen auf und gingen zur Hütte hinüber. Nur Lisa<br />
blieb noch zurück, <strong>um</strong> noch einmal in Ruhe <strong>die</strong> Polizei<br />
anzurufen.<br />
„Ich bin noch nie in einer Jagdhütte gewesen“, sagte<br />
Frank, <strong>als</strong> er <strong>die</strong> Tür öffnete.<br />
„Ich bin überhaupt noch nie in einem fremden Haus<br />
gewesen ohne Erlaubnis des Eigentümers“, meinte<br />
Romy. „Vielleicht machen wir uns durch unser Eindringen<br />
<strong>hier</strong> strafbar.“<br />
177
„Gewiss nicht“, widersprach Pieri. „Wir wollen doch<br />
nichts stehlen.“<br />
Frank blickte sich in dem einzigen Ra<strong>um</strong> der kleinen<br />
Hütte <strong>um</strong>. Es war ziemlich dunkel <strong>hier</strong>, aber durch <strong>die</strong><br />
off ene Tür fi el genügend Licht, <strong>um</strong> <strong>die</strong> schlichte Einrichtung<br />
erkennen zu können. „Sieht aus wie eine Blockhütte<br />
in den Wildwestfi lmen“, sagte er. „Wände aus<br />
Ba<strong>um</strong>stämmen, hölzerner Fußboden, ein altmodischer<br />
Ofen, mit Holz geheizt, selbstgezimmerte Möbel …“<br />
„Und <strong>als</strong> einziger Schmuck Fotos an den Wänden“,<br />
ergänzte Romy. „Und auf allen Fotos <strong>die</strong> beiden Kerle,<br />
<strong>die</strong> den Supermarkt überfallen haben. Mal einer allein,<br />
mal beide zusammen, mal in Gesellschaft von Freunden.“<br />
Sie deutete auf eines der Fotos.<br />
178
„Die Kerle waren <strong>als</strong>o zusammen im Gefängnis“,<br />
sagte Frank. „Sie scheinen sich wirklich wohlzufühlen,<br />
ihrem Grinsen nach zu schließen. Na ja, bald werden sie<br />
wieder dort sein.“<br />
„Das Foto wurde nicht in einer Gefängniszelle gemacht“,<br />
sagte Pieri. „Die Aufnahme entstand in Schnapslaune<br />
im Karneval.“<br />
„Woher willst du das wissen?“, fragte Romy.<br />
„Diese Gefängniskleidung“, antwortete Pieri. „Diese<br />
Querstreifen – so sehen doch nur Gefangene in Zeichentrickserien<br />
aus.“<br />
„Woher willst du wissen, was <strong>die</strong> Gefangenen heutzutage<br />
anhaben?“, fragte nun auch Frank. „Warst du<br />
schon mal im Knast?“<br />
„Nein“, antwortete Pieri. „Meines Wissen war noch<br />
niemand aus meiner Familie jem<strong>als</strong> eingesperrt. Aber<br />
seht euch doch mal das Foto genauer an! Dann wisst<br />
ihr, dass es nicht in einer Gefängniszelle entstanden<br />
ist.“<br />
Aufl ösung auf Seite 248<br />
179
180<br />
Auf heißer Spur<br />
Die Kinder hatten <strong>die</strong> Fensterläden der Blockhütte geöff<br />
net, damit mehr Licht in das Innere fi el. Jetzt begannen<br />
sie, sich genauer <strong>um</strong>zusehen.<br />
„Nicht einmal einen Kühlschrank haben sie <strong>hier</strong>“,<br />
sagte Frank. „Na ja, was sollen sie auch mit einem Kühlschrank,<br />
wenn sie keinen Strom haben.“<br />
„Es gibt <strong>hier</strong> auch keine Waff en mehr“, fügte Manuel<br />
hinzu.<br />
„Ich kann wirklich nicht behaupten, dass ich das<br />
Fehlen von Waff en bedauere“, meinte Romy.<br />
Lisa betrachtete <strong>die</strong> Fotos, <strong>die</strong> an der Wand hingen.<br />
„Der Besitzer der Hütte hat off enbar das gleiche<br />
Hobby wie du, Pieri“, sagte sie schließlich. „Fotografi<br />
eren.“<br />
„F<strong>als</strong>ch“, widersprach Pieri. „Mein Hobby ist Fotografi<br />
eren, seines Fotografi ertwerden. Er ist auf jedem <strong>die</strong>ser<br />
Fotos zu sehen. Off enbar ein ziemlich eingebildeter<br />
Kerl.“<br />
„Er wird sein Foto bald in der Zeitung bewundern<br />
können“, lachte Frank. „Gleich nach seiner Verhaftung.“<br />
Auch Pieri sah sich <strong>die</strong> Fotos der Reihe nach an. Vor<br />
einem Bild blieb er stehen. Es zeigte den fl üchtigen<br />
Räuber zusammen mit einem Bekannten. Die beiden<br />
saßen an einem Tisch vor einem kleinen Haus und tranken<br />
Bier aus Flaschen.
Die Kinder waren so damit beschäftigt, <strong>die</strong> Blockhütte<br />
zu durchstöbern, dass sie erschraken, <strong>als</strong> plötzlich<br />
der Schatten eines Mannes durch <strong>die</strong> off ene Haustür<br />
fi el. War der Räuber zurückgekommen?<br />
Pieri atmete erleichtert auf, <strong>als</strong> er den Mann erkannte.<br />
Es war Kommissar Hilpert. Hinter ihm folgten<br />
weitere Männer, einer in Uniform, einer in Zivil.<br />
Hilpert blickte sich missmutig <strong>um</strong>.<br />
„Nun, wo ist der fl üchtige Räuber?“, fragte er.<br />
„Abgehauen“, antwortete Frank.<br />
„Falls er überhaupt jem<strong>als</strong> da war“, murmelte der<br />
Kommissar.<br />
„Doch, er war da!“, versicherten <strong>die</strong> Kinder im Chor.<br />
„Wir haben ihn gesehen.“<br />
181
„Er machte sich davon, <strong>als</strong> wir gerade gekommen<br />
waren“, fügte Lisa hinzu.<br />
„Er hatte wohl furchtbare Angst vor euch“, spottete<br />
der Kommissar.<br />
„Bestimmt nicht“, sagte Frank. „Er hatte ein doppelläufiges<br />
Jagdgewehr bei sich.“<br />
„Sieht aus, <strong>als</strong> sei er entschlossen, sich keinesfalls<br />
wieder verhaften zu lassen“, überlegte einer der Polizisten.<br />
„Vielleicht will er sich auch mit Gewalt ein Fahrzeug<br />
verschaffen, <strong>um</strong> für immer aus <strong>die</strong>ser Gegend zu<br />
verschwinden.“<br />
„Nein“, widersprach Pieri. „Ich glaube, er hat seine<br />
Flinte nur dabei, <strong>um</strong> nicht aufzufallen.“<br />
Kommissar Hilpert lachte schallend. „Ja, wenn ich<br />
nicht auffallen will, trage ich auch immer ein Gewehr<br />
mit mir her<strong>um</strong>. Wer achtet schon auf einen Mann mit<br />
Gewehr!“<br />
„In der Stadt jeder, im Wald niemand“, antwortete Pie ri<br />
gelassen. Er ließ sich von dem Spott des Kommissars<br />
nicht beirren. „Der Mann ist schließlich Jäger. Wahrscheinlich<br />
kennen ihn viele Leute in <strong>die</strong>ser Gegend und<br />
haben ihn schon oft mit einer Jagdwaffe gesehen.“<br />
„Mag sein“, stimmte Hilpert zu. „Aber das macht ihn<br />
nicht weniger gefährlich.“<br />
„Der Mann ist ein Gauner, aber nicht gewalttätig“,<br />
sagte Pieri. „Bei dem Überfall im Supermarkt hatten<br />
er und sein Komplize nur Spielzeugwaffen dabei. Sie<br />
dachten <strong>als</strong>o nicht im Tra<strong>um</strong> daran zu schießen.“<br />
„Da haben sie ja auch noch nicht befürchtet, festgenommen<br />
zu werden“, beharrte der Kommissar. „Aber<br />
182
wir sollten keine Zeit mehr mit unnützem Gerede verschwenden,<br />
sondern uns auf <strong>die</strong> Suche nach dem Kerl<br />
machen. Da er zu Fuß ist, kann er noch nicht weit sein.“<br />
„Er ist auf dem Weg z<strong>um</strong> Bootsverleih in der Bärenschlucht“,<br />
sagte Pieri. „Dort können Sie ihn dann festnehmen.“<br />
Der Kommissar lächelte spöttisch. „Er hat dir <strong>als</strong>o erzählt,<br />
was er vorhat?“<br />
„Ja“, antwortete Pieri. „Mit <strong>die</strong>sem Bild <strong>hier</strong> an der<br />
Wand.“<br />
Kommissar Hilpert blickte auf das Bild, auf das Pieri<br />
zeigte.<br />
„Ja, der eine der beiden Männer darauf ist der Bursche,<br />
den wir suchen. Der andere wohl ein Freund von<br />
ihm. Aber das hilft uns nicht weiter. Wir wissen weder,<br />
wer der zweite Mann ist, noch, wo das Foto aufgenommen<br />
wurde.“<br />
„Doch, das wissen wir“, widersprach Pieri.<br />
Auflösung auf Seite 248/249<br />
183
184<br />
Ein Männlein<br />
steht im Walde<br />
„Ich bin wirklich neugierig, ob <strong>die</strong>ser Kommissar Hilpert<br />
es schaff t, den Räuber zu fangen“, sagte Lisa. „Er<br />
scheint mir nicht gerade der schlaueste unter allen Polizisten<br />
zu sein.“<br />
„Ich wäre gern bei der Festnahme dabei“, überlegte<br />
Frank. „So was erlebt man schließlich nicht jeden Tag.<br />
Wenn wir uns beeilen, kommen wir vielleicht noch<br />
rechtzeitig.“<br />
„Ohne mich!“, widersprach Romy. „Vielleicht kommt<br />
es doch zu einer Schießerei. Immerhin hat er ein Gewehr.“<br />
„Wir können <strong>die</strong> Festnahme wirklich der Polizei<br />
überlassen“, meinte Pieri. „Ich schlage vor, wir fahren<br />
zurück z<strong>um</strong> Lager.“<br />
„Mir gefällt es <strong>hier</strong> in <strong>die</strong>ser Blockhütte“, sagte Manuel.<br />
„Meinetwegen könnten wir noch ein paar Stunden<br />
<strong>hier</strong>bleiben.“<br />
„Dann kämen wir zu spät z<strong>um</strong> Mittagessen“, wandte<br />
Pieri ein.<br />
„Dich lockt nicht das Mittagessen, sondern <strong>die</strong> Musikinstr<strong>um</strong>ente<br />
in Hannes’ Kleinbus“, sagte Manuel. „Du<br />
willst dir endlich <strong>die</strong> Gitarren ansehen.“<br />
„Klar!“, nickte Pieri und grinste. „Gitarren sind mir lieber<br />
<strong>als</strong> Knarren.“
„Was sind Knarren?“, fragte Romy.<br />
„So nennen Gangster in den Filmen immer ihre<br />
Schusswaffen“, belehrte sie Manuel. „Siehst du denn<br />
nie fern?“<br />
„Doch, aber keine Gangsterfilme. Viel lieber sind mir<br />
Quizsendungen. Aber darin ist das Wort ‚Knarre‘ noch<br />
nie vorgekommen.“<br />
Die Diskussion ging noch eine Weile weiter. Frank<br />
wollte zur Bärenschlucht, Manuel wollte in der Blockhütte<br />
bleiben, und Pieri wollte z<strong>um</strong> Ferienlager zurück.<br />
Pieri blieb Sieger, weil Lisa und Romy sich seiner Meinung<br />
anschlossen.<br />
Nach kurzem Weg durch den Wald erreichten sie<br />
<strong>die</strong> Stelle, wo sie ihre Fahrräder zurückgelassen hatten.<br />
Pieri fuhr voraus. Er hatte es ungewöhnlich eilig heute,<br />
<strong>die</strong> vier anderen konnten ihm ka<strong>um</strong> folgen.<br />
185
An dem Waldweg, auf dem <strong>die</strong> beiden Räuber den<br />
Kleinbus mit dem leeren Tank zurückgelassen hatten,<br />
bog Pieri nach rechts ab. Erleichtert sah er, dass der Wagen<br />
noch da war. Zu seiner Überraschung öff nete sich<br />
<strong>die</strong> Fahrertür des Wagens, und ein Mann stieg aus.<br />
Es war nicht Hannes, der Besitzer. Pieri hatte ihn<br />
noch nie gesehen. Der Mann hielt eine Gitarre in der<br />
linken Hand.<br />
Er schien ein wenig verblüff t zu sein, <strong>als</strong> er <strong>die</strong> fünf<br />
Kinder sah, <strong>die</strong> auf ihn zukamen. Er bückte sich, legte<br />
<strong>die</strong> Gitarre schnell zurück und schlug <strong>die</strong> Tür zu.<br />
„Was seid ihr denn für eine Rasselbande?“, fragte er,<br />
<strong>als</strong> <strong>die</strong> Kinder bei ihm angekommen waren.<br />
„Wir sind <strong>die</strong>, <strong>die</strong> den Fall aufgeklärt haben“, antwortete<br />
Manuel.<br />
„Durch unsere Hinweise wird der Kerl, der <strong>die</strong>sen<br />
Wagen <strong>hier</strong> geklaut hat, gerade von der Polizei verhaftet“,<br />
fügte Romy hinzu.<br />
Pieri lehnte sein Rad an einen Ba<strong>um</strong>stamm und<br />
blickte in das Innere des Wagens. Erleichtert stellte er<br />
fest, dass <strong>die</strong> Musikinstr<strong>um</strong>ente noch da waren.<br />
„Sie sind auch von der Polizei, nicht wahr?“, fragte<br />
Manuel.<br />
Der Mann schien ein wenig verwirrt zu sein. Dann<br />
nickte er. „Ja“, bestätigte er. „Ich bin <strong>hier</strong> geblieben, <strong>um</strong><br />
zu verhindern, dass der Wagen wieder geklaut wird.“<br />
„Und Sie nehmen Fingerabdrücke am Lenkrad, am<br />
Schalthebel und sonst überall im Wagen für den Fall,<br />
dass <strong>die</strong> Diebe alles abstreiten, nicht wahr?“, fragte Manuel<br />
weiter.<br />
186
„So ist es“, nickte der Mann. „Du scheinst dich ja in<br />
der Polizeiarbeit auszukennen.“<br />
„Das kommt daher, dass ich mir im Fernsehen gelegentlich<br />
auch Krimis ansehe, und nicht <strong>die</strong>se langweiligen<br />
Quizsendungen“, sagte Manuel mit einem spöttischen<br />
Blick auf Romy.<br />
Der Mann blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr.<br />
„Solltet ihr euch nicht auf den Heimweg machen?“,<br />
fragte er. „Eure Eltern warten bestimmt schon mit dem<br />
Mittagessen.“<br />
„Aber nein“, sagte Romy. „Wie Sie wissen, sind wir<br />
<strong>hier</strong> in einem Ferienlager.“<br />
187
„Das weiß er eben nicht“, sagte Pieri. „Er ist nicht von<br />
der Polizei.“<br />
Der Mann versuchte zu grinsen. „Soll ich dir meinen<br />
Dienstausweis zeigen?“, fragte er.<br />
„Das wird schwierig sein, da Sie keinen Dienstausweis<br />
haben. Sie gehören nicht zu der Polizei, schon<br />
gar nicht zu den Leuten von Kommissar Hilpert. Sonst<br />
wüssten Sie, wer wir sind. Sie wüssten auch, dass <strong>die</strong>ser<br />
Kleinbus <strong>hier</strong> gestohlen ist und dass kein Benzin mehr<br />
im Tank ist.“<br />
„Doch, das weiß ich!“, beharrte der Mann.<br />
„Ja, seit Sie versucht haben wegzufahren. Dann<br />
haben sie beschlossen, wenigstens eines der Musikinstr<strong>um</strong>ente<br />
zu klauen. Besser eine Gitarre <strong>als</strong> gar keine<br />
Beute. Aber leider sind wir dazwischengekommen.“<br />
„Du kommst dir wohl sehr schlau vor, wie?“, sagte<br />
der Mann verärgert. „Aber du solltest wissen, dass solche<br />
Beschuldigungen nichts wert sind, wenn man<br />
keine Beweise hat.“<br />
„Die Beweise habe ich“, sagte Pieri. „Sie selbst haben<br />
sie geliefert.“<br />
188<br />
Auflösung auf Seite 249
Künstlerpech<br />
Pieri saß auf seinem Feldbett im Schlafzelt und klimperte<br />
auf der Gitarre, <strong>die</strong> ihm Herr Großmann geliehen<br />
hatte. Es war eine gute Gitarre, und es machte ihm<br />
Spaß, darauf zu spielen. Ebenso viel Spaß hätte es ihm<br />
aber gemacht, z<strong>um</strong> See zu gehen wie einige seiner<br />
Freunde und dort ein bisschen zu schwimmen.<br />
Plötzlich kam ihm eine Idee. War<strong>um</strong> sollte er nicht<br />
beides miteinander verbinden? Ein bisschen schwimmen,<br />
ein bisschen Gitarre spielen, dann vielleicht Fußball<br />
mit seinen Freunden und dann ein kleines Konzert<br />
auf der Gitarre!<br />
Entschlossen stand Pieri auf, klemmte sich <strong>die</strong> Gitarre<br />
unter den Arm und verließ das Zelt.<br />
Von dem nahen Haus, in dem Dr. Großmann seine<br />
Wohnung und seine Diensträ<strong>um</strong>e hatte, kam Gustav. Er<br />
trug eine Sporttasche.<br />
„Wohin willst du denn mit der Gitarre?“, fragte Gustav<br />
erstaunt.<br />
„Z<strong>um</strong> See“, antwortete Pieri.<br />
„Dann musst du <strong>die</strong> Gitarre leider <strong>hier</strong>lassen. Ins<br />
Wasser kannst du sie ja nicht mitnehmen. Aber während<br />
du im See schwimmst, könnte ihr allerlei zustoßen.<br />
Jemand könnte z<strong>um</strong> Beispiel beim Ballspielen darauftreten.<br />
Du hast doch sicher keine Lust, den Schaden<br />
zu bezahlen, oder?“<br />
189
Pieri schüttelte den Kopf.<br />
„Ich bringe <strong>die</strong> Gitarre ins Haus zurück“, sagte Gustav.<br />
„Dann gehe ich auch z<strong>um</strong> See. Wenn du auf mich<br />
wartest, können wir gemeinsam gehen.“<br />
Wieder schüttelte Pieri den Kopf. Im Augenblick war<br />
ihm nicht nach Gesellschaft z<strong>um</strong>ute. Er reichte Gustav<br />
<strong>die</strong> Gitarre und ging weiter.<br />
Um z<strong>um</strong> See zu kommen, musste er durch <strong>die</strong> kleine<br />
Ortschaft Bergheim. Er befand sich etwa in der Mitte<br />
der Stadt, <strong>als</strong> er in einer Seitenstraße ein kurzes wildes<br />
Hupen hörte, dann, unmittelbar darauf, das Geräusch<br />
eines hart abbremsenden Autos, dessen Räder über<br />
den Asphalt rutschten. Wieder einen Sekundenbruchteil<br />
später folgte ein d<strong>um</strong>pfer Aufschlag und sofort darauf<br />
ein Lärm, <strong>als</strong> habe ein Riese mit einem gewaltigen<br />
Hammer auf einen Haufen Blech eingeschlagen.<br />
Ein Verkehrsunfall!<br />
Pieri rannte los. Er erreichte <strong>die</strong> Querstraße und bog<br />
in sie ein. Jetzt sah er einen weißen Sportwagen, der<br />
mit seiner rechten Hälfte auf dem Gehsteig stand. Mit<br />
der vorderen Stoßstange war er gegen ein Verkehrszeichen<br />
geprallt.<br />
Pieri erkannte den Sportwagen wieder, nicht nur an<br />
dem hässlichen Kratzer an der rechten Tür. Er erkannte<br />
auch den Besitzer, der eben ausgestiegen war.<br />
Als Pieri ankam, hatten sich bereits mehrere Leute<br />
<strong>um</strong> den Wagen versammelt. Erleichtert stellten sie fest,<br />
dass off enbar niemand zu Schaden gekommen war.<br />
Der Besitzer des Wagens blickte sich suchend <strong>um</strong>.<br />
„Wo ist der Bengel?“, fragte er. Er blickte nur in ver-<br />
190
ständnislose Gesichter. „Der Bengel, der plötzlich über<br />
<strong>die</strong> Straße ging, ohne nach links und rechts zu schauen.<br />
Ich habe noch versucht zu bremsen und ihm auszuweichen,<br />
aber . . .“<br />
Jetzt entdeckte er Pieri unter den Umstehenden. Er<br />
stürzte auf ihn los und packte ihn am Kragen. „Du warst<br />
das <strong>als</strong>o! Mit dir habe ich nichts <strong>als</strong> Ärger.“<br />
Pieri verstand kein Wort. Er war doch erst gekommen,<br />
<strong>als</strong> der Unfall schon vorbei war.<br />
Der Mann zerrte Pieri näher z<strong>um</strong> Auto. Jetzt erst entdeckte<br />
Pieri <strong>die</strong> Gitarre, <strong>die</strong> auf dem Gehsteig lag, dicht<br />
neben dem Auto.<br />
„Der Bengel trug eine Gitarre!“, schimpfte der Mann<br />
aufgeregt. „Als er davonrannte, hat er sie wohl verloren.<br />
Das ist deine Gitarre, nicht wahr?“ Er hob <strong>die</strong> Gitarre<br />
auf und streckte sie Pieri anklagend entgegen.<br />
191
„Das ist nicht meine Gitarre“, rief Pieri. „Meine sieht<br />
ganz anders aus.“<br />
Durch <strong>die</strong> Zuschauer, <strong>die</strong> sich inzwischen angesammelt<br />
hatten, schob sich Wachtmeister Anders.<br />
„Du spielst doch Gitarre, nicht wahr, Pieri?“, fragte er.<br />
„Ich selbst habe dich schon gehört. Du spielst wirklich<br />
nicht schlecht.“<br />
„Und wenn er der beste Gitarrist der Welt wäre,<br />
würde das nichts daran ändern, dass er den Unfall verursacht<br />
hat“, ereiferte sich der Besitzer des Sportwagens.<br />
„Sein Vater wird für den Schaden aufkommen<br />
müssen.“<br />
„Ich war es nicht!“, beteuerte Pieri. „Und <strong>die</strong>se Gitarre<br />
<strong>hier</strong> habe ich noch nie in der Hand gehabt!“<br />
„Kannst du das denn beweisen?“, fragte Wachtmeister<br />
Anders.<br />
Natürlich konnte Pieri das nicht beweisen. Wie hätte<br />
er das auch tun sollen?<br />
„Ich kann es aber beweisen“, sagte Gustav. Er hatte<br />
eben den Unfallort erreicht und schnell begriffen, wor<strong>um</strong><br />
es ging.<br />
Alle Augen richteten sich auf Gustav.<br />
192<br />
Auflösung auf Seite 250
Die Stimme<br />
vom Himmel<br />
„Gut, dass du gerade dazugekommen bist, Gustav“,<br />
sagte Pieri. „Sogar der Wachtmeister hat geglaubt, dass<br />
ich der Junge mit der Gitarre bin, der den Unfall verursacht<br />
hat.“<br />
„Dafür schuldest du mir einen Gefallen“, sagte Gustav<br />
lächelnd. „Du musst mir jeden Tag eine halbe<br />
Stunde Gitarrenunterricht geben.“<br />
„Gern“, stimmte Pieri zu. „Aber ich bin nur noch eine<br />
Woche <strong>hier</strong> im Ferienlager. Einen Virtuosen kann ich<br />
<strong>als</strong>o in <strong>die</strong>ser Zeit nicht mehr aus dir machen. Aber vielleicht<br />
lernst du wenigstens noch ‚Hänschen klein‘ zu<br />
klimpern.“<br />
„Es wäre immerhin ein Anfang. Es gibt ein chinesisches<br />
Sprichwort: Auch <strong>die</strong> längste Reise beginnt mit<br />
einem Schritt.“<br />
Die beiden waren noch keine zwei Querstraßen von<br />
dem Unfallort weit gegangen, <strong>als</strong> Pieri plötzlich stehen<br />
blieb. Genau vor dem Schaufenster eines Musikaliengeschäfts.<br />
„Der Laden gehört Herrn Kleinschmidt“, sagte Gustav.<br />
„Er verkauft Instr<strong>um</strong>ente und repariert sie auch.<br />
Oder gibt sie an Fachleute zur Reparatur weiter.“<br />
„Der Junge mit der Gitarre . . . Vielleicht kam er von<br />
<strong>hier</strong> oder wollte <strong>hier</strong>her“, überlegte Pieri.<br />
193
„Du bist off enbar nicht der Einzige, der auf <strong>die</strong>sen<br />
Gedanken gekommen ist“, sagte Gustav. „Die Polizei<br />
hatte wohl den gleichen Einfall.“<br />
Pieri schaute zurück. Wachtmeister Anders näherte<br />
sich gerade dem Geschäft. Die Elektrogitarre vom Ort<br />
des Unfalls hatte er bereits von einem Kollegen in das<br />
Geschäft bringen lassen.<br />
Er stieß <strong>die</strong> Tür zu der Musikalienhandlung auf.<br />
Bevor <strong>die</strong> Tür hinter dem Wachtmeister wieder zufi<br />
el, zwängte sich Pieri schnell hindurch. Gustav wollte<br />
ihn aufhalten, aber er griff ins Leere. Nach kurzem<br />
Zögern folgte er Pieri und Wachtmeister Anders.<br />
Ein Mann stand hinter der Ladentheke. Er trug eine<br />
Baskenmütze und eine H<strong>als</strong>binde, <strong>die</strong>, wie Pieri fand,<br />
194
aussah wie ein Schnürsenkel. Off enbar wollte er auch<br />
äußerlich zeigen, dass er ein Künstler war.<br />
Der Mann lächelte, <strong>als</strong> er den Wachtmeister sah.<br />
„Sie interessieren sich für Musik?“<br />
„Nicht für Musik, nur für <strong>die</strong>se Gitarre.“ Er zeigte auf<br />
<strong>die</strong> Gitarre, <strong>die</strong> sein Kollege im Geschäft abgegeben<br />
hatte.<br />
Herr Kleinschmidt griff nach der Gitarre und betrachtete<br />
sie. „Schönes Stück“, sagte er. „Aber ein bisschen<br />
ramponiert. Kein schwerer Schaden, nur ein paar<br />
Lackkratzer. Das lässt sich schnell in Ordnung bringen.“<br />
„Die Kratzer da stammen von einem Unfall“, sagte<br />
Anders. „Vor ein paar Minuten. Ein Junge war darin verwickelt,<br />
etwa so groß wie der da.“ Er zeigte auf Pieri.<br />
„Ich halte es für möglich, dass der Junge gerade von Ihnen<br />
kam. Oder auf dem Weg zu Ihnen war.“<br />
„Ganz bestimmt nicht“, versicherte Herr Kleinschmidt.<br />
„Ich hatte heute den ganzen Tag nur erwachsene<br />
Kunden.“ Er hob eine silberne Querfl öte auf, <strong>die</strong><br />
vor ihm auf dem Tisch lag. „Wirklich erstaunlich, wie<br />
manche Leute mit ihren kostbaren Musikinstr<strong>um</strong>enten<br />
<strong>um</strong>gehen!“, sagte er. „Der Besitzer <strong>die</strong>ses prachtvollen<br />
Erbstücks <strong>hier</strong> hat damit nach einer Fliege geschlagen,<br />
<strong>die</strong> ihn beim Musizieren störte. Jetzt soll ich <strong>die</strong> Delle<br />
beseitigen.“<br />
„Sie haben doch einen Sohn, nicht wahr?“, fragte<br />
Wachtmeister Anders. Querfl öten, <strong>die</strong> <strong>als</strong> Fliegenklatsche<br />
benutzt werden, interessierten ihn off enbar nicht.<br />
„Ja“, nickte Herr Kleinschmidt. „Aber mein Sohn ist<br />
schon sechzehn, viel größer <strong>als</strong> <strong>die</strong>ser Junge da.“<br />
195
„Aber Sie haben doch noch einen zweiten Sohn“,<br />
sagte Pieri.<br />
Er deutete auf ein Bild an der Wand hinter dem Ladentisch.<br />
Herr Kleinschmidt war darauf abgebildet, inmitten<br />
zweier junger Burschen. Jeder von ihnen hielt<br />
eine Elektrogitarre in der Hand.<br />
Herr Kleinschmidt lachte. „Ja, das ist unser Familientrio.<br />
Ich, mein Sohn Fabian und mein Neffe Rainer. Alle<br />
beide sehr begabt.“<br />
Vom nahen Turm der Kirche schlug eine Glocke, vier<br />
Mal. Dann folgte ein weiterer Glockenschlag, viel tiefer.<br />
„Ein Uhr“, sagte Gustav. Er blickte auf seine Armbanduhr.<br />
„Der Pfarrer sollte endlich <strong>die</strong> Kirchenuhr reparieren<br />
lassen. Sie geht schon wieder fünf Minuten<br />
nach.“<br />
Verwundert blickte er hinter Pieri her, der <strong>um</strong> den<br />
Ladentisch her<strong>um</strong>gegangen war und jetzt eine Tür in<br />
der Wand dahinter aufstieß. Es war eine Werkstatt. Ein<br />
Junge saß darin, etwa so alt wie Pieri selbst. Er trug ein<br />
kurzärmeliges Hemd und war gerade damit beschäftigt,<br />
mit der linken Hand einen Verband <strong>um</strong> seinen<br />
rechten Ellbogen zu wickeln.<br />
„Ein kleiner Sturz beim Unfall, wie?“, fragte Pieri.<br />
Der Junge blickte ängstlich durch <strong>die</strong> Tür auf den<br />
Wachtmeister. „Wie haben Sie mich so schnell erwischt?“,<br />
fragte er.<br />
Wachtmeister Anders antwortete nicht. Er sah Pieri<br />
fragend an.<br />
196<br />
Auflösung auf Seitze 250
Die M<strong>um</strong>ie<br />
„Dieser Rainer tut mir leid“, sagte Pieri, <strong>als</strong> er mit Gustav<br />
weiter z<strong>um</strong> See ging. „Sein Vater wird äußerst schlechter<br />
Laune sein, wenn er hört, dass er den Schaden an<br />
dem Sportwagen bezahlen soll.“<br />
„Nun, Rainer hat durch seine Unaufmerksamkeit immerhin<br />
einen Unfall verursacht, bei dem glücklicherweise<br />
niemand ernsthaft zu Schaden kam“, wandte<br />
Gustav ein. „Und dass er danach davongelaufen ist und<br />
dadurch dich in Verdacht gebracht hat . . .“<br />
„Das war nicht seine Absicht. Er hatte es einfach mit<br />
der Angst zu tun bekommen. Ein Mensch, der Gitarre<br />
spielt, kann nicht durch und durch schlecht sein.“<br />
Gustav lachte. Sie waren inzwischen am See angekommen.<br />
Einige von Pieris Freunden aus dem Ferienlager<br />
waren <strong>hier</strong>, unter ihnen Lisa, Romy und Frank.<br />
„War<strong>um</strong> hast du deinen Hund nicht mitgenommen,<br />
Gustav?“, fragte Frank, <strong>als</strong> Gustav und Pieri eine Decke<br />
ausbreiteten. „Der könnte auf unsere Sachen aufpassen,<br />
während wir im Wasser sind.“<br />
„Hubertus ist ein Jagdhund und kein Wachhund“,<br />
antwortete Gustav. „Der würde doch viel lieber mit uns<br />
im Wasser her<strong>um</strong>toben, <strong>als</strong> allein brav <strong>hier</strong> liegen zu<br />
bleiben.“<br />
„Kannst du denn mit deiner verbundenen Hand ins<br />
Wasser gehen?“, fragte Lisa besorgt.<br />
197
Gustav lachte. „Meine Hand ist in Ordnung. Ich<br />
habe mir nur beim Grillen ein bisschen <strong>die</strong> Finger verbrannt.<br />
Musste nicht einmal z<strong>um</strong> Arzt gehen. Aber Frau<br />
Schulze, <strong>die</strong> mir den Verband angelegt hat, hat es mit<br />
ihrer mütterlichen Fürsorge übertrieben und mich eingewickelt<br />
wie eine M<strong>um</strong>ie. Ich konnte sie nur mit Mühe<br />
davon abhalten, den Verband bis rauf z<strong>um</strong> Ellbogen zu<br />
wickeln.“<br />
„Nun, Gitarre spielen kannst du jedenfalls nicht mit<br />
Brandwunden an den Fingern“, meinte Pieri.<br />
„Doch, das kann ich. Die Dinge sind nicht immer so,<br />
wie sie aussehen.“ Gustav wickelte fröhlich den Ver-<br />
198
and ab und zeigte den Kindern seine fast unverletzte<br />
Hand. „Bevor ich zurück gehe, lege ich den Verband<br />
wieder an. Frau Schulze glaubt nämlich, mir das Leben<br />
gerettet zu haben. Sie wäre gekränkt, wenn ich zeigen<br />
würde, dass ich ihren Verband nicht mehr brauche.“<br />
„Wo ist eigentlich der Bademeister?“, fragte Pieri. Er<br />
blickte hinüber zu dem kleinen turmartigen Gestell, wo<br />
er bei seinen bisherigen Besuchen am See immer einen<br />
Rettungsschwimmer gesehen hatte.<br />
„Ich nehme an, der sitzt zu Hause in seinem Fernsehsessel“,<br />
antwortete Gustav. „Er wollte sich gestern<br />
Abend im Keller ein Bier holen, rutschte auf der<br />
schlecht beleuchteten Kellertreppe aus, stürzte und<br />
brach sich ein Bein. Einen neuen Bademeister hat <strong>die</strong><br />
Stadt noch nicht gefunden.“<br />
„Weil gerade von Getränken <strong>die</strong> Rede ist . . .“, sagte<br />
Romy. „Ich gehe rüber z<strong>um</strong> Kiosk und hole mir eine<br />
Limo. Soll ich auch für euch etwas . . . Mein Geld ist weg!<br />
Das ist schon das zweite Mal, dass man mich beklaut,<br />
seit ich <strong>hier</strong> im Ferienlager bin.“<br />
Lisa hatte sich auf ihre Decke niedergekniet und<br />
wühlte in ihren Sachen. „Meine paar Cents sind noch<br />
da“, sagte sie. „Aber mein Handy ist verschwunden.“<br />
„Es sind mindestens 100 Leute <strong>hier</strong>“, meinte Frank.<br />
„Jeder von ihnen könnte der Dieb sein.“<br />
„Nein, es ist der Bademeister“, widersprach Pieri.<br />
Aufl ösung auf Seite 251<br />
199
200<br />
Die Nadel<br />
im Heuhaufen<br />
„Irgendwie ist mir <strong>die</strong>ser f<strong>als</strong>che Bademeister, der <strong>hier</strong><br />
her<strong>um</strong>läuft, bekannt vorgekommen“, sagte Gustav.<br />
„Aber ich kann mich nicht erinnern, wann und wo ich<br />
ihn schon einmal gesehen habe. Mein Gedächtnis für<br />
Gesichter ist leider miserabel.“<br />
„Wo du ihn schon einmal gesehen hast, spielt keine<br />
Rolle“, sagte Romy. „Schade ist nur, dass er jetzt nicht<br />
mehr zu sehen ist. Er ist abgehauen. Mit meinem Geld.“<br />
„Und meinem Handy!“, fügte Lisa hinzu.<br />
„Ihr seid <strong>als</strong>o auch bestohlen worden?“, fragte ein<br />
Mann, der mit seiner Frau dazukam. „Dann sind wir <strong>als</strong>o<br />
nicht <strong>die</strong> Einzigen.“ Seine Frau fügte hinzu: „Man muss<br />
<strong>die</strong> Polizei rufen!“<br />
„Sag mal, Gustav, gibt es <strong>hier</strong> in der Stadt ein Krankenhaus?“,<br />
fragte Pieri.<br />
„Wen interessiert das?“, sagte Romy verärgert. „Wichtig<br />
ist doch nur, wie wir unser Geld und <strong>die</strong> anderen gestohlenen<br />
Sachen wiederbekommen.“<br />
„Durch R<strong>um</strong>stehen, Jammern und Klagen bestimmt<br />
nicht“, sagte Pieri. Er sah Gustav fragend an.<br />
„Wir haben <strong>hier</strong> mehrere Ärzte in Bergheim, aber<br />
kein Krankenhaus“, antwortete Gustav. „Der Bademeister,<br />
er heißt übrigens Georg Müller, wurde von einem<br />
Rettungswagen aus Neustadt abgeholt, <strong>als</strong> er sich sein
Bein gebrochen hatte. Der Fahrer des Krankenwagens<br />
war ein alter Bekannter des Bademeisters. Georg arbeitet<br />
außerhalb der Badesaison ebenfalls in seinem<br />
Hauptberuf <strong>als</strong> Sanitäter.“<br />
Pieri sah hinüber z<strong>um</strong> Parkplatz.<br />
„Es ist kein Wagen weggefahren seit unserer Ankunft“,<br />
überlegte er. „Der <strong>als</strong> Bademeister verkleidete<br />
Dieb ist <strong>als</strong>o zu Fuß gefl ohen. Wahrscheinlich nach<br />
Bergheim. Vielleicht erwischen wir ihn dort.“<br />
„Blödsinn!“, sagte Romy. „Der trägt bestimmt nicht<br />
mehr sein Hemd mit der Aufschrift ‚Bademeister‘. Wenn<br />
ihr in der Stadt r<strong>um</strong>laufen und ihn suchen wollt wie <strong>die</strong><br />
sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, meinetwegen.<br />
Ich bleibe <strong>hier</strong>.“<br />
201
„Ich komme mit“, sagte Lisa.<br />
Wenige Minuten später waren Gustav, Lisa und Pieri<br />
in der Stadt. Gustav und Lisa hielten Ausschau nach einem<br />
kräftig aussehenden jungen Mann, in der Hoffnung,<br />
in ihm den f<strong>als</strong>chen Bademeister wiederzusehen.<br />
Dem Krankenwagen, der am Straßenrand stand,<br />
schenkten sie keine Beachtung.<br />
„Ich fürchte, es hat wirklich wenig Sinn, den f<strong>als</strong>chen<br />
Bademeister <strong>hier</strong> in der Stadt zu suchen“, meinte Gustav<br />
enttäuscht. „Bei meinem schlechten Gedächtnis für<br />
Gesichter würde ich ihn wahrscheinlich sowieso nicht<br />
wiedererkennen.“<br />
„Ich habe auf den Mann überhaupt nicht geachtet“,<br />
gestand Lisa. „Außerdem ist er doch längst über alle<br />
Berge.“<br />
„Das glaube ich nicht“, widersprach Pieri. „Ich<br />
schätze, er sitzt in <strong>die</strong>ser Gaststätte da drüben und feiert<br />
seinen erfolgreichen Beutezug mit einem ausgiebigen<br />
Mittagessen. Wir brauchen nur zu warten, bis er<br />
herauskommt und sich in <strong>die</strong>sen Krankenwagen <strong>hier</strong><br />
setzt. Er ist der Fahrer <strong>die</strong>ses Wagens.“<br />
„Wie kommst du darauf?“, fragte Gustav.<br />
202<br />
Auflösung auf Seite 251/252
Wer ruft sich schon<br />
selbst an?<br />
Gustav betrachtete nachdenklich den Krankenwagen,<br />
neben dem er, Lisa und Pieri standen.<br />
„Ja, ich glaube, das ist der Wagen, der Georg Müller<br />
gestern Abend ins Krankenhaus nach Neustadt gebracht<br />
hat. Aber das ist kein Beweis, dass der Fahrer<br />
<strong>die</strong>ses Wagens wirklich der Bursche ist, der, verkleidet<br />
<strong>als</strong> Bademeister, <strong>die</strong> Leute am See bestohlen hat. Wenn<br />
er es wäre, wäre er doch bestimmt nicht so dreist, <strong>hier</strong>zubleiben.“<br />
„Sanitäter sind weiß gekleidet“, beharrte Pieri. „Der<br />
f<strong>als</strong>che Bademeister ist es auch. Sein Hemd mit der Aufschrift<br />
‚Bademeister‘ . . . Vielleicht ist es echt. Auf jeden<br />
Fall lässt sich eine solche Aufschrift leicht herstellen.<br />
Mit meinem Computer und einem geeigneten Drucker<br />
könnte ich das auch. Und war<strong>um</strong> sollte er abhauen?<br />
Nichts wirkt so ehrbar und harmlos wie ein Krankenwagen.“<br />
„Da kommt Wachtmeister Anders“, sagte Lisa. „Dem<br />
kannst du ja deine Theorie vortragen.“<br />
Der Wachtmeister erwiderte ka<strong>um</strong> den Gruß der<br />
jungen Leute. „Ich muss z<strong>um</strong> See“, sagte er. „Dort treibt<br />
sich ein Dieb her<strong>um</strong>.“<br />
„Nein, der ist jetzt in der Stadt“, widersprach Pieri.<br />
„Es ist der Fahrer <strong>die</strong>ses Krankenwagens.“<br />
203
„Wie kommst du darauf?“, wunderte sich der Wachtmeister.<br />
Pieri brauchte nicht zu antworten. Aus der Gaststätte<br />
auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam<br />
ein weiß gekleideter jüngerer Mann.<br />
Der Mann grinste. „Wer von euch ist der Patient, den<br />
ich ins Krankenhaus fahren soll?“, fragte er.<br />
„Wenn es nach <strong>die</strong>sem jungen Mann <strong>hier</strong> geht, wären<br />
Sie im Gefängnis besser aufgehoben“, antwortete<br />
Wachtmeister Anders und deutete auf Pieri. „Er beschuldigt<br />
Sie, am See etliche Badegäste bestohlen zu<br />
haben.“<br />
204
„Mich z<strong>um</strong> Beispiel“, fügte Lisa hinzu.<br />
„Blödsinn! Ich weiß gar nicht, wo <strong>die</strong>ser See ist.<br />
Ich wohne in Neustadt und komme nur gelegentlich<br />
<strong>die</strong>nstlich <strong>hier</strong>her nach Bergheim.“<br />
Pieri wandte sich an Gustav.<br />
„Ist das der Mann, der gestern Abend Georg Müller<br />
ins Krankenhaus nach Neustadt gefahren hat?“<br />
Gustav hob <strong>die</strong> Schultern.<br />
„Keine Ahnung. Ich sagte doch schon, mein Gedächtnis<br />
für Gesichter ist miserabel.“<br />
„Meines nicht“, sagte der Krankenwagenfahrer. „Ich<br />
erinnere mich, Sie gestern Abend gesehen zu haben.<br />
Aber was hat Georgs Unfall mit den Diebstählen am<br />
See zu tun?“<br />
„Der Dieb gibt sich <strong>als</strong> Bademeister aus“, antwortete<br />
Lisa. „Das kann er aber nur wagen, wenn er sicher weiß,<br />
dass der richtige Bademeister ihm nicht in <strong>die</strong> Quere<br />
kommen kann. Weil er nämlich mit einem gebrochenen<br />
Bein bestimmt nicht am See auftaucht.“<br />
„Klingt logisch“, nickte der Krankenwagenfahrer.<br />
„Aber es beweist absolut nichts gegen mich.“<br />
„Sie sollten den Krankenwagen durchsuchen, Herr<br />
Wachtmeister“ schlug Pieri vor. „Wahrscheinlich liegt<br />
<strong>die</strong> Tasche mit der Beute darin.“<br />
„Zu einer solchen Durchsuchung haben Sie kein<br />
Recht, Wachtmeister!“, protestierte der Sanitäter. „Sie<br />
können nicht auf <strong>die</strong> bloße Beschuldigung <strong>die</strong>ses Bengels<br />
<strong>hier</strong> . . .“<br />
„Hast du dein Handy dabei, Gustav?“, fragte Lisa<br />
plötzlich.<br />
205
„Klar“, antwortete Gustav. „Das habe ich doch immer<br />
dabei.“<br />
„Würdest du es mir kurz leihen?“<br />
„War<strong>um</strong>?“, fragte Gustav verdutzt.<br />
„Weil ich telefonieren muss.“<br />
„Wen willst du denn jetzt anrufen?“, wunderte sich<br />
Gustav.<br />
„Mich selbst!“, grinste Lisa. „Ich will beweisen, dass<br />
Pieri recht hat. Dieser Mann ist der Dieb.“<br />
Lisa griff nach dem Mobiltelefon, das Gustav ihr<br />
reichte. Schnell tippte sie eine N<strong>um</strong>mer ein. Zu ihrem<br />
Erstaunen hörte sie dann eine leise Melo<strong>die</strong> ganz in ihrer<br />
Nähe. Die Melo<strong>die</strong>, mit der ihr Handy sich immer<br />
meldete.<br />
Verwundert blickte sie sich <strong>um</strong>. Die Melo<strong>die</strong> konnte<br />
nur aus dem Krankenwagen kommen, neben dem sie<br />
standen.<br />
Lisa blickte durch das Fenster hinein. Jetzt sah sie<br />
<strong>die</strong> vollgestopfte Sporttasche auf dem Beifahrersitz.<br />
In <strong>die</strong>ser Tasche musste auch ihr Handy stecken. Das<br />
Handy, das man ihr am See gestohlen hatte.<br />
„Woher habt ihr das gewusst?“, fragte Gustav.<br />
206<br />
Auflösung auf Seite 252
Der Schla<strong>um</strong>eier<br />
Der f<strong>als</strong>che Bademeister leistete keinen Widerstand, <strong>als</strong><br />
Wachtmeister Anders ihn festnahm. Er trottete wie ein<br />
armer Sünder neben dem Polizisten her, <strong>als</strong> <strong>die</strong>ser ihn<br />
z<strong>um</strong> Revier brachte.<br />
Lisa war enttäuscht darüber, dass sie ihr Handy nicht<br />
sofort zurückbekommen hatte. Wachtmeister Anders<br />
hatte ihr gesagt, dass <strong>die</strong> Polizei das Telefon und <strong>die</strong><br />
anderen gestohlenen Gegenstände vorerst <strong>als</strong> Beweismittel<br />
beschlagnahmen müsse.<br />
„Gehen wir z<strong>um</strong> See zurück!“, sagte sie. „Romy wird<br />
sich freuen zu hören, dass sie ihr Geld bald zurückbekommen<br />
wird.“<br />
Sie waren ka<strong>um</strong> in <strong>die</strong> nächste Querstraße eingebogen,<br />
<strong>als</strong> Pieri an einer Straßenbaustelle stehen blieb.<br />
„Ist das nicht der Wagen des Heinis, der so gern<br />
durch Pfützen fährt und <strong>die</strong> Fußgänger nass spritzt?“,<br />
fragte Pieri.<br />
„Ja“, nickte Lisa. „Wer ist der Mann eigentlich?“<br />
„Er lebt erst seit ein paar Wochen <strong>hier</strong> in der Stadt“,<br />
antwortete Gustav. „Niemand kennt ihn näher, und<br />
niemand will ihn näher kennenlernen. In der kurzen<br />
Zeit hat er es geschaff t, sich unbeliebt zu machen. Er ist<br />
eingebildet und rücksichtslos.“<br />
„Die Schäden an seinem Wagen hat er inzwischen<br />
beseitigen lassen“, meinte Pieri.<br />
207
„Ich hätte gute Lust, weitere Schäden an <strong>die</strong>ser<br />
Karre zu verursachen“, sagte ein Mann in Arbeitskleidung,<br />
der auf dem Gehsteig stand und eine Schaufel in<br />
der Hand hielt. „Eine Unverschämtheit, seinen Wagen<br />
in einer Baustelle zu parken! Das Verbotsschild ist doch<br />
deutlich genug zu sehen!“<br />
Der Fahrer des Wagens trat eben aus der Tür des<br />
Hauses, vor dem der Wagen stand. Er hatte <strong>die</strong> Worte<br />
des Arbeiters noch gehört.<br />
„Richtig!“, grinste er. „Das Verbotsschild ist deutlich<br />
zu sehen. Wenn Sie Augen im Kopf hätten, würden Sie<br />
auch sehen, dass es hinter meinem Wagen steht. Ich<br />
habe den Wagen <strong>als</strong>o außerhalb der verbotenen Zone<br />
geparkt.“<br />
208
„Weil Sie das Schild ein paar Meter versetzt haben!“,<br />
empörte sich der Mann.<br />
„Blödsinn! Es stand schon <strong>hier</strong>, <strong>als</strong> ich gestern Abend<br />
kam und den Wagen abstellte.“<br />
„Das kann nicht stimmen“, widersprach Pieri. „Sie<br />
haben rückwärts geparkt und sind dabei zur Hälfte auf<br />
<strong>die</strong> Baustelle geraten, sind dann hinten <strong>um</strong> den Wagen<br />
her<strong>um</strong>gegangen, haben das Parkverbotsschild genommen<br />
und es ein paar Meter zurückgestellt.“<br />
Der Besitzer des Sportwagens lächelte siegesgewiss.<br />
„Du schilderst den Vorfall so genau, <strong>als</strong> hättest du<br />
ihn mit eigenen Augen gesehen“, spottete er.<br />
„Ich kann es immer noch sehen“, sagte Pieri.<br />
Aufl ösung auf Seite 253<br />
209
210<br />
Till Eulenspiegel<br />
„Diese Eis<strong>die</strong>le werde ich vermissen, wenn ich wieder<br />
zu Hause bin“, sagte Romy. „Bei uns gibt es keine solche<br />
Auswahl an Köstlichkeiten wie <strong>hier</strong>.“<br />
„Dann schlag dir den Bauch voll!“, riet Pieri. „Morgen<br />
fahren wir alle wieder heim.“<br />
Er sah zu der Tür hinüber, in der eine seltsame Gestalt<br />
erschien.
„Hallo Till!“, begrüßte der Besitzer der Eis<strong>die</strong>le den<br />
Gast.<br />
„Ich heiße nicht Till“, antwortete der andere. „Ich<br />
heiße Bernhard. Oder Benedikt. Oder so ähnlich. Ich<br />
weiß nicht mehr. Übrigens, weißt du, wie zwei Irrenärzte<br />
einander grüßen?“<br />
„Nein. Wie?“<br />
„Sie sagen: ‚Ihnen geht’s gut. Wie geht’s mir?‘“<br />
Jetzt entdeckte der sonderbare Kauz <strong>die</strong> beiden<br />
Mädchen und den Jungen und kam zu ihnen herüber.<br />
„Hübsche Mädchen!“, sagte er. „Und eine von ihnen<br />
ist auch noch reich. An <strong>die</strong> solltest du dich halten, mein<br />
Junge. Wie mein Vater immer sagte: Was man sich erheiratet,<br />
braucht man sich nicht zu erarbeiten.“<br />
Er blickte Lisa verzückt an.<br />
„Ich bin nicht reich“, sagte Lisa. „Meine Mutter hat<br />
nur einen kleinen Laden, und der bringt kein Vermögen<br />
ein.“<br />
„Du bist viel reicher, <strong>als</strong> du denkst“, sagte Till. Er<br />
streckte <strong>die</strong> rechte Hand aus, <strong>als</strong> wolle er Lisa am Ohr<br />
fassen. Als er <strong>die</strong> Hand wieder zurückzog und öff nete,<br />
hielt er eine große, golden schimmernde Münze darin.<br />
„Ich glaube, hinter dem anderen Ohr ist auch noch ein<br />
Goldtaler“, sagte er. Diesmal griff er mit der linken Hand<br />
zu, und wieder schien er aus Lisas Ohr eine goldene<br />
Münze zu ziehen.<br />
Er zeigte Lisa, Pieri und Romy <strong>die</strong> Münzen. Dann öff -<br />
nete er den Mund und steckte eine von ihnen hinein.<br />
Er biss ein paarmal darauf her<strong>um</strong>, verzog verzückt sein<br />
Gesicht, schluckte heftig, griff dann mit zwei Fingern<br />
211
in seinen Mund und zog ein zerkautes Stück golden<br />
schimmerndes Papier heraus.<br />
„Diese Taler schmecken köstlich“, sagte er. „Nur <strong>die</strong><br />
äußere Schicht ist schwer verdaulich.“<br />
Er reichte Lisa den zweiten Taler. Lisa begriff, dass<br />
das Innere der Münze aus Schokolade bestand.<br />
„Es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben,<br />
meine Damen“, sagte Till. Er verbeugte sich vor<br />
Lisa und Romy und ging, ohne irgendetwas bestellt<br />
zu haben. An der Tür blieb er noch einmal stehen und<br />
drehte sich <strong>um</strong>. „Ich darf meinen Schirm nicht vergessen“,<br />
murmelte er.<br />
Er ging ein paar Schritte zu dem Schirmständer an<br />
der Garderobe, nahm einen Schirm heraus, spannte ihn<br />
auf und ging endgültig. Die beiden älteren Damen, <strong>die</strong><br />
an der Tür saßen und sich eifrig miteinander unterhielten,<br />
gönnten ihm keinen Blick.<br />
„Komischer Vogel!“, meinte Pieri.<br />
212
„Till ist nicht ganz richtig da oben“, sagte der Besitzer<br />
der Eis<strong>die</strong>le und tippte sich an <strong>die</strong> Stirn. „Er stammt<br />
vom Lindenhof, einem Bauernhof ganz in der Nähe des<br />
Ferienlagers. Manche meinen, dass er eigentlich in eine<br />
Anstalt gehört, weil er gern anderen Leuten Streiche<br />
spielt, wie Till Eulenspiegel. Aber er ist ganz harmlos.“<br />
Die beiden älteren Damen bei der Tür hatten ihr Gespräch<br />
beendet und standen auf.<br />
„Jetzt kommt‘s gleich!“, flüsterte Pieri den beiden<br />
Mädchen zu.<br />
„Was kommt gleich?“, fragte Romy.<br />
„Der entsetzte Schrei: ,Mein Schirm ist weg‘!“<br />
Pieri hatte den Satz ka<strong>um</strong> beendet, <strong>als</strong> eine der<br />
beiden Damen einen schrillen Schrei ausstieß: „Mein<br />
Schirm ist weg! Dieser Verrückte hat ihn gestohlen!“<br />
„Ich stehle nie!“, sagte Till, der eben wieder <strong>die</strong> Tür<br />
öffnete und eintrat. „Ich bin nur manchmal ein bisschen<br />
geistesabwesend.“ Er reichte der Dame ihren<br />
Schirm zurück, verneigte sich höflich vor ihr und ging<br />
endgültig.<br />
„Woher hast du gewusst, was gleich geschehen<br />
würde, Pieri?“, fragte Romy.<br />
Auflösung auf Seite 253/254<br />
213
214<br />
Wie klaut man einen<br />
Elefanten?<br />
„Wie <strong>die</strong> Zeit vergeht!“, sagte Romy beim Frühstück.<br />
„Heute ist schon unser letzter Tag im Ferienlager.“<br />
„Der letzte war gestern“, widersprach Frank. „Denn<br />
heute bleiben wir ja nicht den ganzen Tag <strong>hier</strong>. Ich z<strong>um</strong><br />
Beispiel fahre schon am Vormittag nach Hause.“<br />
„Dann ist <strong>als</strong>o morgen dein erster Tag, an dem du<br />
wieder zu Hause bist“, beharrte Romy. „Also ist heute<br />
dein letzter Tag <strong>hier</strong>.“<br />
Frank schüttelte heftig den Kopf. „Nicht einmal mein<br />
letzter halber Tag. Mein letzter ganzer Tag <strong>hier</strong> war ja<br />
schon gestern.“<br />
„Das ist doch genau wie mit dem Zirkus“, sagte<br />
Romy. „Der hatte gestern seine letzte Vorstellung,<br />
heute bricht er seine Zelte ab, und morgen ist er nicht<br />
mehr <strong>hier</strong>. Also ist heute sein letzter Tag <strong>hier</strong> in Bergheim,<br />
oder etwa nicht?“<br />
„Von eurer hochinteressanten Diskussion bekomme<br />
ich Kopfweh“, klagte Lisa. „Ich habe sowieso schon<br />
schlecht geschlafen in der vergangenen Nacht. Die<br />
Leute vom Zirkus haben schon in der Nacht angefangen,<br />
ihre Zelte abzubauen, und heute in aller Herrgottsfrühe<br />
haben sie . . .“<br />
„Ich will euch nicht erschrecken“, unterbrach Gustav<br />
sie. Er war eben an den Tisch getreten. „Der Elefant
ist abgehauen. Rani. Er ist gutmütig, aber wenn er erschrickt,<br />
könnte er leicht . . .“<br />
„Nicht er, sondern sie“, korrigierte Frank. „Rani ist ein<br />
Weibchen.“<br />
„Und er . . . nein, sie ist riesengroß“, erzählte Gustav<br />
weiter. „Also haltet euch lieber fern, wenn ihr ihn . . . sie<br />
zu sehen bekommt.“<br />
Pieri vergaß auf der Stelle sein Frühstück. Er sprang<br />
auf und rannte z<strong>um</strong> Eingang des Zeltes.<br />
Frank grinste. „Er hält sich schon fern, bevor er Rani<br />
zu sehen bekommt.“<br />
„Du kennst Pieri schlecht“, widersprach Lisa. „Er läuft<br />
nicht davon, sondern macht sich auf <strong>die</strong> Suche nach<br />
dem Elefanten.“<br />
„Nach der Elefantin!“, korrigierte Frank.<br />
Lisa hörte ihm schon nicht mehr zu. Auch sie stand<br />
auf und ging weg.<br />
Die Elefanten waren nachts in einem Zelt untergebracht,<br />
ein gutes Stück von den Raubtieren entfernt.<br />
Sie waren mit einem Bein an eine dicke Kette gefesselt,<br />
deren Ende an einem mächtigen, tief in den Boden gerammten<br />
Pflock befestigt war. Fünf der sechs Elefanten<br />
waren noch da, nur Rani, das größte Tier, fehlte.<br />
Zirkusdirektor Rossini blickte ungläubig auf Ranis<br />
leere Fußfessel.<br />
„Du hast <strong>als</strong>o wieder einmal vergessen, sie anzubinden“,<br />
sagte er zu dem Elefantenwärter.<br />
„Bestimmt nicht!“, verteidigte sich <strong>die</strong>ser. „Das ist<br />
mir nur einmal in meinem Leben passiert. Meiner Gewohnheit<br />
gemäß habe ich auch heute früh, kurz vor Ta-<br />
215
gesanbruch, <strong>hier</strong> nach dem Rechten gesehen. Rani war<br />
noch <strong>hier</strong>, und sie war angebunden.“<br />
„Die Fessel ist nicht entzweigebrochen“, überlegte<br />
Direktor Rossini. „Also hat jemand Rani losgebunden.<br />
Aber wer klaut schon einen Elefanten? Und den Leuten<br />
<strong>hier</strong> vom Zirkus traue ich eine solche Tat auch nicht zu.“<br />
„Rani ist jedenfalls nicht in der Stadt“, meinte Roberto.<br />
„Dort wäre sie längst aufgefallen, und man hätte<br />
uns informiert. Wenn sie auf freiem Feld ist, wird man<br />
sie auch bald entdecken. Wahrscheinlich ist sie im<br />
Wald. Dort müssen wir sie suchen.“<br />
„Nein, sie ist auf dem Lindenhof“, mischte sich Pieri<br />
in das Gespräch ein. „Das ist ein ehemaliger Bauernhof,<br />
216
gar nicht weit von <strong>hier</strong>. Dort lebt ein sonderbarer Bursche<br />
namens Bernhard oder Benedikt oder so ähnlich.<br />
Er spielt gern anderen Leuten einen Streich. Deshalb<br />
nennt man ihn in Bergheim Till Eulenspiegel.“<br />
Direktor Rossini schüttelte den Kopf. „Niemand traut<br />
sich so nahe an einen Elefanten heran. Jedenfalls nicht,<br />
wenn der Wärter nicht dabei ist.“<br />
„Dieser Till Eulenspiegel ist auf einem Bauernhof<br />
aufgewachsen“, sagte Pieri. „Der hat doch keine Angst<br />
vor Tieren. Ich bin ganz sicher, dass ihr Rani auf seinem<br />
Hof fi ndet.“<br />
„Also gut!“, sagte Herr Rossini. „Auf z<strong>um</strong> Lindenhof!“<br />
„Wie kommst du darauf, dass es Till war, der den Elefanten<br />
geklaut hat?“, fragte Lisa, <strong>als</strong> <strong>die</strong> Zirkusleute gegangen<br />
waren.<br />
„Er hat es uns doch selbst gesagt“, antwortete Pieri.<br />
Aufl ösung auf Seite 254<br />
217
218<br />
Mich laust der Affe!<br />
Pieri hasste Abschiedsszenen, und es gab eine Menge<br />
Abschiedsszenen auf dem Bahnhof. Etliche der Kinder<br />
und Jugendlichen aus dem Ferienlager fuhren heute<br />
nach Hause und hatten sich deshalb auf dem Bahnhof<br />
versammelt.<br />
Lisa und ihre Freundin Romy lagen sich in den Armen<br />
und versprachen, sich oft anzurufen und zu schreiben<br />
und sich bald wiederzusehen. Pieri hatte den Eindruck,<br />
dass <strong>die</strong> beiden weinten.<br />
Er selbst hatte sich erst vor einer Viertelstunde von<br />
Frank verabschiedet, der mit einem anderen Zug gefahren<br />
war. Frank hatte nur gesagt: „Mach‘s gut!“, und<br />
Pieri hatte geantwortet: „Hau endlich ab!“ Beide waren<br />
der Meinung gewesen, dass das genug Zeremoniell für<br />
einen Abschied war.<br />
Auf einem anderen Bahnsteig wurden eben <strong>die</strong><br />
Tiere des Zirkus Rossini verladen. Pieri hatte noch genug<br />
Zeit, sich das anzusehen. Deshalb überquerte er<br />
auf einer Brücke <strong>die</strong> Bahngleise. Niemand kümmerte<br />
sich <strong>um</strong> ihn, alle Leute vom Zirkus waren vollauf mit ihrer<br />
Arbeit beschäftigt. Der Einzige außer Pieri, der nur<br />
her<strong>um</strong>stand und zusah, war Wachtmeister Anders.<br />
Pieri schaltete seinen Fotoapparat ein, <strong>um</strong> ein paar<br />
Aufnahmen zu machen. „Du solltest nicht nur <strong>die</strong> blöden<br />
Viecher und den noch blöderen Wachtmeister fo-
tografieren, sondern auch mich“, sagte eine Stimme<br />
hinter ihm.<br />
Er drehte sich <strong>um</strong>. Es war Till, der Mann, der nicht<br />
mehr so genau wusste, ob er Bernhard oder Benedikt<br />
oder sonst irgendwie hieß.<br />
„War<strong>um</strong> haben Sie den nicht eingesperrt?“, fragte<br />
Pieri den Wachtmeister.<br />
„Weil niemand Anzeige erstattet hat“, antwortete<br />
der Polizist. „Herr Rossini war glücklich, seinen Elefanten<br />
wiederzuhaben, und er lobte, dass Till sich vorzüglich<br />
<strong>um</strong> den Dickhäuter gekümmert hat. Er hat ihm<br />
auch eine Menge zu fressen gegeben, ganze Brotlaibe<br />
und zahlreiche Äpfel.“<br />
„Ein paar Äpfel für Rani habe ich mitgebracht“, sagte<br />
Till. „Meine dicke Freundin isst sie sehr gern.“<br />
Pieri und <strong>die</strong> beiden Männer standen vor einem Güterwagen,<br />
dessen Tor weit geöffnet war. Rani stand in<br />
<strong>die</strong>sem Tor und neben ihr ihr Wärter. Sie streckte den<br />
Rüssel aus, griff sich den Apfel, den Till ihr reichte, und<br />
schob ihn sich in den Mund. Pieri fotografierte <strong>die</strong><br />
Szene.<br />
„Möchtest du ihr auch gern ein paar Äpfel geben?“,<br />
fragte Till.<br />
„Ich möchte schon“, sagte Pieri, „aber . . .“ Er blickte<br />
besorgt zu dem riesigen Elefanten hoch.<br />
„Keine Angst!“, beruhigte ihn Till. „Elefanten fressen<br />
keine Menschen, aber Äpfel mögen sie.“<br />
Er reichte Till ein paar Äpfel aus der Einkaufstüte, <strong>die</strong><br />
er bei sich hatte. Pieri wusste nicht, wie er all <strong>die</strong>se Äpfel<br />
und dazu seine Kamera in den Händen halten sollte.<br />
219
„Gib mir <strong>die</strong> Kamera!“, sagte Wachtmeister Anders.<br />
„Ich passe schon auf sie auf.“<br />
Pieri reichte ihm <strong>die</strong> Kamera. Dann streckte er, immer<br />
noch ein wenig zögernd, den Arm aus, <strong>um</strong> Rani<br />
einen Apfel zu reichen. Rani griff geschickt mit ihrem<br />
Rüssel nach dem Obst. Pieri hatte das Gefühl, dass sie<br />
ihn anlächelte, <strong>als</strong> sie den Apfel in ihrem Maul verschwinden<br />
ließ.<br />
Beim zweiten Apfel hatte Pieri keine Angst mehr<br />
und traute sich bereits näher an den Elefanten heran.<br />
Nach wenigen Sekunden hatte Rani alle Äpfel geschluckt,<br />
<strong>die</strong> Pieri von Till bekommen hatte.<br />
„Mehr habe ich leider nicht“, sagte Pieri und streichelte<br />
das riesige Tier vorsichtig am Rüssel. Dann drehte<br />
er sich wieder zu den anderen <strong>um</strong>. Wachtmeister Anders<br />
gab ihm lächelnd seine Kamera zurück. Nur Till<br />
grinste so sonderbar. Aber das hatte nicht viel zu bedeuten,<br />
er grinste fast immer.<br />
Schon eine halbe Stunde später saßen Pieri und Lisa<br />
im Zug, der eben losfuhr. Lisa blickte durch das Fenster<br />
auf <strong>die</strong> kleine Stadt Bergheim zurück, solange sie sie<br />
sehen konnte. Pieri allerdings war viel mehr an den Fotos<br />
interessiert, <strong>die</strong> er im Ferienlager und zuletzt auch<br />
auf dem Bahnhof gemacht hatte. Er schaltete <strong>die</strong> Kamera<br />
ein und drückte auf den Wiedergabeknopf.<br />
„Mich laust der Aff e!“, entfuhr es ihm.<br />
„Dieses Foto habe ich überhaupt nicht gemacht!“,<br />
sagte Pieri. „Und außer Wachtmeister Anders und Till<br />
war niemand da. Nur der Elefantenwärter, aber der<br />
stand hinter mir neben Rani in der Tür des Eisenbahn-<br />
220
wagens. Alle anderen Leute auf dem Bahnsteig waren<br />
weit weg.“<br />
„Lass mal sehen!“, sagte Lisa. Auch sie betrachtete<br />
das Bild. „Du hast Roberto vergessen“, der im Aff enkostüm<br />
steckt“, sagte sie.<br />
„Den hatte ich überhaupt nicht gesehen. Na ja, <strong>als</strong><br />
Artist versteht er es, sich geräuschlos zu bewegen.<br />
Aber wer hat ihn fotografi ert?“<br />
Aufl ösung auf Seite 255<br />
221
222<br />
Auflösungen<br />
Aufl ösung zu<br />
Schach dem Dieb<br />
„Ich weiß immerhin, dass bei einem Schachbrett das<br />
Feld rechts unten, von jedem Spieler aus gesehen, weiß<br />
ist“, erklärte Pieri. „Diese Herren <strong>hier</strong> wissen es nicht. Ihr<br />
Brett liegt quer, <strong>die</strong> rechten unteren Eckfelder sind bei<br />
ihnen schwarz. Die beiden Männer haben <strong>als</strong>o keine<br />
blasse Ahnung vom Schachspiel.“<br />
„Tatsächlich!“, stimmte der Schaff ner mit einem Blick<br />
auf das Schachbrett zu. Er zog ein Mobiltelefon aus der<br />
Tasche. Während er eine N<strong>um</strong>mer eintippte, sagte er:<br />
„Am nächsten Bahnhof werden Sie abgeholt werden,<br />
meine Herren. Von der Polizei .“
Aufl ösung zu<br />
Ein komischer Kauz<br />
„Wenn Sie wieder mal in aller Ruhe und ungestört Mittagspause<br />
machen wollen, sollten Sie in Ihrem Kleinbus<br />
das Schild mit der Aufschrift „FERIENLAGER“ so<br />
zudecken, dass man es überhaupt nicht mehr lesen<br />
kann“, antwortete Lisa. „Wenn <strong>die</strong> untere Hälfte zu sehen<br />
ist, genügt das, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Schrift zu entziff ern.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Die Bande des Schreckens<br />
„Ich soll das getan haben?“, wunderte sich der Mann.<br />
„Ich war doch gar nicht in der Nähe!“<br />
„Natürlich waren Sie das!“, beharrte Lisa. Sie streckte<br />
plötzlich den Arm aus, griff in <strong>die</strong> Jackentasche des<br />
Mannes und zog <strong>die</strong> Armbinde heraus, <strong>die</strong> hastig<br />
dort hineingestopft und noch zur Hälfte sichtbar war.<br />
Ein gelbes Armband mit drei schwarzen Punkten darauf.<br />
„Sie sind der angebliche Blinde! Ihre dunkle Brille<br />
223
steckt da in Ihrer Brusttasche. Und Ihren Stock, mit dessen<br />
Spitze Sie den Reifen unseres Autos durchstochen<br />
haben, fi nden wir sicher in der Gasse, in der Sie vorhin<br />
verschwunden sind.“<br />
„Stimmt!“, grinste der Mann. „Aber mich werdet ihr<br />
nie fi nden!“<br />
Er drehte sich <strong>um</strong> und rannte davon. So schnell, dass<br />
weder Hannes noch <strong>die</strong> Kinder ihm folgen konnten.<br />
224<br />
Aufl ösung zu<br />
Wer ist <strong>hier</strong> der Chef?<br />
„Das soll der Leiter des Ferienlagers sein?“, wunderte<br />
sich Pieri. „Ich kenne keinen Mann mit Doktortitel, der<br />
in Jeans her<strong>um</strong>läuft.“<br />
„Du solltest dir das Foto <strong>hier</strong> auf dem Schreibtisch<br />
genauer ansehen“, sagte Lisa lächelnd. Sie hob es auf<br />
und hielt es Pieri unter <strong>die</strong> Nase.<br />
„Ja, jetzt erkenne ich es auch“, stimmte Pieri zu. „Die<br />
unbändigen Haare des Jungen, <strong>die</strong> Sommersprossen,<br />
<strong>die</strong> Brille . . . Das ist unzweifelhaft der Sohn von Dr.<br />
Großmann. Dem Mann in den Jeans da draußen.“
Aufl ösung zu<br />
Die Diebin<br />
„Frau Schulze arbeitet seit mehr <strong>als</strong> zehn Jahren für Sie,<br />
Herr Großmann“, antwortete Lisa. „Nie hat sie gestohlen<br />
oder betrogen. Wegen lächerlicher 50 Euro würde<br />
sie ihren Arbeitsplatz nie aufs Spiel setzen. Da sie außer<br />
Ihnen der einzige Mensch ist, der weiß, dass in <strong>die</strong>ser<br />
Schublade immer etwas Geld ist, würde der Verdacht ja<br />
sofort auf sie fallen. Sie müsste wirklich d<strong>um</strong>m wie <strong>die</strong><br />
Nacht sein, <strong>um</strong> so etwas zu tun. Und d<strong>um</strong>m kam sie mir<br />
wirklich nicht vor.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Erwischt<br />
Lisa griff in ihre Handtasche und holte einen Taschenspiegel<br />
heraus, den sie Pieri vor das Gesicht hielt.<br />
„Sieh in <strong>die</strong>sen Spiegel und kneife dabei das rechte<br />
Auge zu!“, sagte sie. Pieri tat es grinsend. Das Grinsen<br />
verging ihm sofort. Sein Spiegelbild hatte genau so gegrinst<br />
wie er, aber es hatte nicht das rechte Auge zugekniff<br />
en wie er, sondern das linke.<br />
„Jetzt begreife ich“, sagte er. „Wenn man in den Spiegel<br />
schaut, sieht man sich seitenverkehrt. Bei dem Spie-<br />
225
gelbild des Täters, das unser Zeuge gesehen hat, war<br />
das rechte Auge geschwollen. Und das bedeutet, dass<br />
es in Wirklichkeit das linke Auge war, das er sich bei<br />
dem Sturz verletzt hatte. Bei <strong>die</strong>sem Mann <strong>hier</strong> ist aber<br />
das rechte Auge grün und blau <strong>um</strong>randet. Er ist <strong>als</strong>o<br />
der F<strong>als</strong>che!“<br />
226<br />
Aufl ösung zu<br />
Der Überfall<br />
Wachtmeister Anders blickte Pieri skeptisch an.<br />
„Woher weißt du, dass Manni <strong>hier</strong> war, wenn du ihn<br />
<strong>hier</strong> nicht gesehen hast, sondern nur drüben in der Querstraße<br />
ein paar Minuten vor dem Überfall?“, fragte er.<br />
„Weil er so sicher ist, dass ihn niemand gesehen hat,<br />
<strong>als</strong> er nach dem Überfall fl oh“, antwortete Pieri. „Als<br />
er den Laden betrat, war kein Mensch auf der Straße.<br />
Und <strong>als</strong> er eine Minute später wieder herauskam, auch<br />
nicht. Das aber weiß nur der Täter selbst.“
Aufl ösung zu<br />
Wer ist der Dieb?<br />
Pieri lächelte. „Du kennst dich mit Kameras nicht aus,<br />
Mike, im Gegensatz zu Gustav. Du weißt nicht, dass Digitalkameras<br />
einen internen Speicher haben, auf dem<br />
sie <strong>die</strong> Bilder speichern, wenn <strong>die</strong> Karte voll ist. Meine<br />
Karte ist schon lange voll. Die letzten Aufnahmen habe<br />
ich mit <strong>die</strong>sem internen Speicher gemacht, auch <strong>die</strong><br />
Aufnahme, auf der der Dieb zu sehen ist. Gustav versteht<br />
etwas von Kameras. Wenn er der Dieb wäre, hätte<br />
er nicht nur <strong>die</strong> Karte verschwinden lassen, sondern<br />
auch den internen Speicher gelöscht. Das dauert nur<br />
Sekunden, wenn man weiß, wie es geht.“<br />
Pieri schaltete <strong>die</strong> Kamera ein. Er drückte ein paarmal<br />
auf einen Knopf.<br />
„Da ist das Bild“, sagte er dann. „Oben auf dem Berg<br />
<strong>die</strong> Ruine der Burg, und unten, ganz im Vordergrund,<br />
der Kerl mit Romys Rucksack in der Hand. Sein Gesicht<br />
ist nicht zu erkennen, es könnte <strong>als</strong>o Gustav sein. Aber<br />
Gustav trägt Jeans und Turnschuhe. Der Dieb auf dem<br />
Foto aber kurze Hosen und Sandalen. Wie du, Mike!“<br />
227
228<br />
Aufl ösung zu<br />
Alles Gute kommt von oben<br />
„Er kann es nicht gewesen sein“, sagte Romy. „Die<br />
Straße war trocken, dort wo der Wagen stand. Also<br />
stand er schon <strong>hier</strong>, <strong>als</strong> es anfi ng zu regnen.“<br />
„Das bedeutet nichts“, widersprach Lisa. „Wahrscheinlich<br />
wurde der Parkplatz <strong>hier</strong> gerade frei, <strong>als</strong> der<br />
Sportwagen kam.“<br />
„Der Fahrer wusste genau, war<strong>um</strong> ich unter den<br />
Wagen schaute“, fügte Pieri hinzu. „Er hatte <strong>als</strong>o ein<br />
schlechtes Gewissen.“<br />
„Sein schlechtes Gewissen ist kein Beweis gegen ihn.“<br />
„Aber der nasse linke Ärmel seines Jacketts“, sagte<br />
Pieri. „Du erinnerst dich doch, dass der Fahrer des Autos<br />
seinen linken Arm aus dem Fenster streckte und dem<br />
Ehepaar spöttisch zuwinkte? Bei <strong>die</strong>sem Wolkenbruch<br />
genügte das, <strong>um</strong> den Ärmel nass zu machen.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Der Apfel<strong>die</strong>b<br />
„Wenn du nie in <strong>die</strong>sem Garten warst, Florian, woher<br />
weißt du dann, dass es dort einen schwarzen Pudel<br />
gibt?“, fragte Lisa.
„Richtig“, stimmte Pieri zu. „Max hat nur ganz allgemein<br />
von einem Hund gesprochen, der ihn angeknurrt<br />
hat. Rasse oder Farbe hat er nicht erwähnt. Da Florian<br />
weiß, dass es ein schwarzer Pudel war, muss er den Vorfall<br />
gesehen haben, auch wenn er das abstreitet.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Der Linkshänder<br />
„Sie sollten sich nicht den Mann auf dem Foto ansehen“,<br />
sagte Lisa, „sondern <strong>die</strong> Aufschrift über der Tür<br />
des Gebäudes, aus dem der Mann gerade kommt.<br />
Die Aufschrift lautet ‚BANK‘, aber in Spiegelschrift! Daraus<br />
folgt, dass das Bild seitenverkehrt ausgedruckt ist.<br />
Wenn es richtig ausgedruckt ist, hält der Bankräuber<br />
<strong>die</strong> Pistole in der rechten Hand. Er ist <strong>als</strong>o Rechtshänder,<br />
im Gegensatz zu Herrn Bergmann <strong>hier</strong>.“<br />
„Stimmt!“, nickte Wachtmeister Anders. „Herr Klein,<br />
gehen Sie in Ihrer Abneigung gegen Bergmann schon<br />
so weit, Beweise zu fälschen? Sie können wirklich froh<br />
sein, wenn Herr Bergmann Sie nicht wegen Verle<strong>um</strong>dung<br />
und übler Nachrede anzeigt.“<br />
229
230<br />
Aufl ösung zu<br />
Die Fensterscheibe<br />
Lisa lächelte. „Wir beide haben Markus eine ganze Weile<br />
angestarrt und das Muttermal nicht gesehen. Weil es<br />
ständig von seinem Haar verdeckt ist.“<br />
„Aber es ist doch da!“, sagte Pieri.<br />
„Sicher, und das weiß sein Friseur natürlich. Er hat<br />
ihm ja oft <strong>die</strong> Haare geschnitten. Aber aus dem Obergeschoss<br />
eines Hauses, schräg von oben, kann er das<br />
Muttermal unmöglich gesehen haben. Deshalb glaube<br />
ich Markus, dass er nicht der Täter war.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Aufruhr am See<br />
„Stimmt, struppige schwarze Mischlingshunde gibt es<br />
viele“, sagte Lisa. „Aber Rokko ist sicher der einzige von<br />
ihnen in <strong>die</strong>ser Stadt, der vier weiße Pfoten hat.“
Aufl ösung zu<br />
Ritter Kunibert<br />
Pieri zeigte auf Franks rechtes Handgelenk. „Hast du<br />
schon einmal ein Gespenst mit einer Armbanduhr gesehen?“,<br />
fragte er zurück. „Nein, ich habe überhaupt<br />
noch nie ein Gespenst gesehen“, gestand Manuel verschüchtert.<br />
„Woher soll ich dann wissen, ob sie Armbanduhren<br />
tragen?“<br />
„Alle Gespenster sind mindestens 300 oder 500<br />
Jahre alt oder noch älter. Und dam<strong>als</strong> gab es noch<br />
keine Armbanduhren. Und dass es sich <strong>um</strong> Frank handelt<br />
. . . Nun, er selbst hat uns doch beim Abendessen<br />
von dem Geist erzählt. Außer ihm wusste niemand <strong>hier</strong><br />
im Lager davon. Da liegt der Gedanke doch nahe, dass<br />
er sich selbst <strong>als</strong> Geist verkleidet hat. Und weiße Betttücher<br />
gibt es <strong>hier</strong> in den Schlafzelten ja schließlich<br />
genug.“<br />
231
232<br />
Aufl ösung zu<br />
Raubritter auf Burg Drachenfels<br />
„Es war ihr Wagen, der <strong>die</strong> Diebe verraten hat“, sagte<br />
Pieri. „Er stand verkehrt her<strong>um</strong>. Bereit, wieder wegzufahren,<br />
Richtung Bergheim. Aber <strong>die</strong> Besitzer <strong>die</strong>ses<br />
Kiosks hätten sich bestimmt nicht <strong>die</strong> Zeit genommen,<br />
bei ihrer Ankunft erst den Wagen zu wenden und dann<br />
erst zu schauen, welchen Schaden <strong>die</strong> Diebe angerichtet<br />
haben.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Das Grab des Kreuzritters<br />
Lisa lächelte. „Es erfordert wirklich nicht viel Scharfsinn<br />
herauszufi nden, dass der wackere Ritter Gundolf niem<strong>als</strong><br />
<strong>hier</strong> begraben war. Die Inschrift <strong>hier</strong> an der Seite<br />
des Sarkophags verrät, dass er im Heiligen Land gestorben<br />
ist.“<br />
„Richtig“, nickte Frank. „Hier im Buch steht, dass er<br />
ein Begleiter von Kaiser Friedrich Barbarossa war, der
während des 3. Kreuzzugs im Jahre 1190 im Fluss Saleph<br />
ertrunken ist.“<br />
„Dam<strong>als</strong> hat sich bestimmt niemand <strong>die</strong> Mühe gemacht,<br />
<strong>die</strong> Toten des Kreuzzugs nach Deutschland zurückzubringen,<br />
Tausende Kilometer weit“, sagte Lisa.<br />
„Gundolf wurde <strong>als</strong>o nicht <strong>hier</strong> neben seiner Frau beigesetzt,<br />
sondern irgendwo im Morgenland. Das <strong>hier</strong><br />
war <strong>als</strong>o nicht sein Grab, sondern eigentlich nur ein Gedenkstein,<br />
errichtet zur Erinnerung an ihn.“<br />
Aufl ösung zu<br />
In der Folterkammer<br />
„Du hast wieder mal recht“, stimmte der Mann Lisa zu.<br />
„Aber woher weißt du das?“<br />
„Die Verließe befanden sich niem<strong>als</strong> im Erdgeschoss“,<br />
antwortete Lisa. „Und ganz gewiss hatten sie nicht so<br />
riesige, noch dazu unvergitterte Fenster. Hier hätte<br />
man <strong>die</strong> Gefangenen viel zu leicht befreien können.“<br />
„Ganz recht“, nickte der Mann. „Dieser Ra<strong>um</strong> <strong>hier</strong><br />
wurde erst vor einigen Jahrzehnten <strong>als</strong> Verließ und Folterkammer<br />
hergerichtet. Die Kellerrä<strong>um</strong>e der Ruine sind<br />
leider nicht mehr zugänglich.“ Er lächelte. „Das Ganze<br />
ist ein Schwindel, den ich mir selbst ausgedacht habe.<br />
Die meisten Besucher fi nden den Ra<strong>um</strong> <strong>hier</strong> trotzdem<br />
233
echt gruselig. Aber das Fenster <strong>hier</strong>, tja, das werden<br />
wir wohl z<strong>um</strong>auern müssen.“<br />
234<br />
Aufl ösung zu<br />
Der Schatz in der Drachenhöhle<br />
„Im Jahr 15 vor Christus wusste noch kein Mensch etwas<br />
von Christus“, antwortete Lisa. „Der wurde ja erst<br />
15 Jahre später geboren. Also konnte man dam<strong>als</strong> auch<br />
nicht <strong>die</strong>se Jahreszahl auf <strong>die</strong> Münze schreiben. Ich<br />
glaube, der Graf hat sich einen Scherz erlaubt.“<br />
Graf Drachenfels lächelte vergnügt. „Ich plane, <strong>hier</strong><br />
in Zukunft Ritterspiele zu veranstalten“, sagte er strahlend.<br />
„Dazu gehört auch eine Schatzsuche. Und das<br />
eben war nur ein kleiner Test. Da <strong>die</strong> Sache euch aber<br />
so viel Spaß gemacht hat, wird sie sicherlich auch anderen<br />
Menschen, vor allem den Kindern, Spaß machen.<br />
Ich überlege nur noch, ob ich nicht auch einen Drachen<br />
in <strong>die</strong> Höhle dort unten setzen soll. Natürlich nur<br />
aus Pappe, aber mit einem riesigen, weit aufgerissenen<br />
Maul und langen, spitzen, Furcht einfl ößenden Zähnen.<br />
Wie denkt ihr darüber?“<br />
„Ich denke, wir sollten uns jetzt auf den Rückweg ins<br />
Ferienlager machen“, sagte Lisa. „Sonst kommen wir zu<br />
spät z<strong>um</strong> Mittagessen.“
Aufl ösung zu<br />
King Kong in Bergheim<br />
„Kein Mensch kann einen Aff en so gut nachahmen“,<br />
sagte Pieri. „Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mich losließ,<br />
dann davonrannte und in aff enartiger Geschwindigkeit<br />
auf dem Zebrastreifen <strong>die</strong> Straße . . . Jetzt verstehe<br />
ich, was du meinst! Einem Aff en sind Zebrastreifen und<br />
sonstige Fußgängerübergänge vollkommen gleichgültig.<br />
Er würde <strong>die</strong> Straße überqueren, wo es ihm gerade<br />
in den Sinn kommt. Nur ein Mensch geht z<strong>um</strong> nächsten<br />
Zebrastreifen, wenn er <strong>die</strong> Straße überqueren will.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Die dicke Königin<br />
„Wer ist <strong>die</strong>ser vorlaute Bengel?“, fragte der Dompteur.<br />
„Der vorlaute Bengel ist hinter Ihrem Zug hergelaufen“,<br />
antwortete Pieri. „Ich bin an den vier Elefanten<br />
vorbeigekommen, <strong>die</strong> am Rande der Wiese angekettet<br />
waren. Jedenfalls drei von ihnen. Der vierte, Rani, war<br />
235
nicht angekettet. Aber das ist mir gar nicht richtig aufgefallen.<br />
Erst jetzt, wenn ich zurückdenke, weiß ich . . .“<br />
„Ich hatte Rani angekettet“, beharrte der Wärter. „So<br />
etwas vergesse ich nie. Ganz bestimmt hat Roberto sie<br />
losgebunden.“<br />
„Der kann es nicht getan haben“, widersprach Pieri.<br />
„Als sie mit Rani kamen, war er dort drüben bei Herrn<br />
Großmann im Büro.“<br />
„Das ist richtig“, bestätigte Herr Großmann.<br />
„Und zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt war Rani schon frei“, fuhr<br />
Pieri fort. „Weil Sie es versä<strong>um</strong>t hatten, sie anzuketten.“<br />
„Ich weiß wirklich nicht, wie das geschehen konnte“,<br />
sagte der Wärter verlegen.<br />
„Und Sie sollten auch nie wieder leichtfertig einen<br />
Unschuldigen verdächtigen“, fügte Herr Großmann<br />
hinzu. „Wir alle machen mal einen Fehler. Aber dann<br />
muss man auch dazu stehen.“<br />
236<br />
Aufl ösung zu<br />
Jetzt schlägt‘s 13<br />
„Nein, <strong>die</strong> Uhr geht richtig“, widersprach Lisa. „Aber<br />
Sonnenuhren halten sich nicht an <strong>die</strong> Sommerzeit. Du<br />
weißt doch, dass zu Beginn des Sommers <strong>die</strong> Uhren eine<br />
Stunde vorgestellt werden. Aber Sonnenuhren kann
man nicht vorstellen, sie hinken im Sommer hinter den<br />
anderen Uhren eine Stunde her. Als Markus <strong>hier</strong> am<br />
Marktplatz vorbeikam, zeigte <strong>die</strong> Sonnenuhr auf zwölf,<br />
aber es war schon 1 Uhr. Eine volle Stunde nach der Tat.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Der größte Clown der Welt<br />
„Ja, woran hast du erkannt, dass <strong>die</strong>ser Clown <strong>hier</strong> Roberto<br />
ist?“, fragte auch Romy.<br />
„Da drüben hängt sein Aff enkostüm. Jedenfalls ein<br />
Teil davon. Die Gorilla-Maske“, grinste Lisa.<br />
Aufl ösung zu<br />
Die alte Hexe<br />
„Du hast recht, <strong>die</strong> Hexe da unten ist Lisa“, bestätigte<br />
Romy. „Aber woran hast du das erkannt?“<br />
„An ihren Schuhen“, antwortete Pieri. „Sie hatte, wie<br />
ich schon sagte, vor der Vorstellung Sandalen an. Und<br />
237
<strong>die</strong>se blöden gestreiften Ringelsocken. Sandalen waren<br />
ihr für <strong>die</strong> Arena wohl zu unbequem. Also hat sie<br />
mit dir <strong>die</strong> Schuhe getauscht. Da deine Turnschuhe<br />
jetzt <strong>die</strong> Hexe trägt, muss <strong>die</strong> Hexe Lisa sein.“<br />
238<br />
Aufl ösung zu<br />
Der vergessliche Dieb<br />
„Was er vergessen hatte?“, fragte Lisa zurück. „Das da!“<br />
Sie zeigte auf <strong>die</strong> schwarze Augenklappe. „Damit ist<br />
er in den letzten Tagen sicher von etlichen Menschen<br />
<strong>hier</strong> in der Stadt gesehen worden. Er musste sie sich<br />
<strong>als</strong>o wieder zurückholen, damit <strong>die</strong> vergessene Augenklappe<br />
ihn nicht verraten konnte.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Nächtliche Überstunden<br />
„Einer meiner Bekannten?“, wiederholte der Wachtmeister<br />
verständnislos.
„Sie sind ihm erst gestern Abend begegnet“, sagte<br />
Lisa. „Dieser Herr Becker, der von dem fl üchtigen Dieb<br />
über den Haufen gerannt wurde. Und der sich danach<br />
so eilig verabschiedet hat, <strong>als</strong> Sie den Dieb verfolgten.<br />
Da Sie nur daran dachten, den einen Gauner nicht entkommen<br />
zu lassen, haben Sie nicht bemerkt, dass der<br />
Werkzeugkasten von Herrn Becker sich bei dem Sturz<br />
geöff net hatte.“<br />
„Ja, jetzt erinnere ich mich!“, rief Pieri aufgeregt. „In<br />
dem Koff er lag eine Eisensäge. Er hat in <strong>die</strong>ser Nacht<br />
noch mehr Verkehrszeichen abgesägt.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Fahrerfl ucht<br />
„Empörend!“, schimpfte der Radfahrer. „Da wird man<br />
fast überfahren, dann hilfl os auf der Straße liegen gelassen,<br />
und schließlich muss man sich auch noch gefallen<br />
lassen, dass man der Lüge bezichtigt wird!“<br />
„Sie sagten, dass der Autofahrer scharf gebremst<br />
hat, Ihnen gerade noch ausweichen konnte und dann<br />
z<strong>um</strong> Stehen kam“, sagte Lisa. „Bei einer solchen Vollbremsung<br />
sind immer Bremsspuren auf der Straße zu<br />
sehen. Aber <strong>hier</strong> gibt es keine Bremsspuren! Sie sind<br />
<strong>als</strong>o ohne irgendein Fremdverschulden gestürzt.“<br />
239
240<br />
Aufl ösung zu<br />
Musikfreunde<br />
Holger, Hannes und Lisa blickten Pieri erstaunt an.<br />
„Es wäre möglich, dass <strong>die</strong> Diebe durch das Fenster<br />
gekommen sind“, sagte Pieri. „Aber sie sind nicht durch<br />
das Fenster abgehauen. Das Cello unter dem Fenster<br />
wäre ihnen im Weg gewesen. Wenn sie darauf getreten<br />
wären wie auf eine Leiter, hätten sie es zertrampelt.<br />
Z<strong>um</strong>indest aber hätten sie es <strong>um</strong>gestoßen. Da es<br />
noch steht, müssen sie den Ra<strong>um</strong> durch den einzigen<br />
anderen Ausgang verlassen haben. Durch <strong>die</strong> Tür. Und<br />
zu der hat nur Holger den Schlüssel.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Frechheit siegt – aber nicht immer<br />
„Das Plakat da draußen verkündet, dass am 17. 8. <strong>um</strong><br />
19 Uhr 30 <strong>die</strong> letzte Vorstellung des Theaterstücks ist“,<br />
sagte Pieri. „Also heute Abend. Aber war<strong>um</strong> schaff t<br />
man <strong>die</strong> Kulissen und alles, was man für das Stück
aucht, schon vorher weg? Diese Männer <strong>hier</strong> sind<br />
<strong>als</strong>o gar nicht vom Theater. Sie sind <strong>die</strong> Komplizen von<br />
Holger. Die Diebe!“<br />
Aufl ösung zu<br />
Doch im Wald, da sind <strong>die</strong> Räuber<br />
„Ist auch das kein Beweis?“, fragte Pieri. Er griff in den<br />
Koff erra<strong>um</strong> und zog <strong>die</strong> Einkaufstüte unter dem Werkzeugkasten<br />
hervor. Jetzt war der ganze Firmenname zu<br />
lesen: „preiswert“.<br />
Gustav zog sein Handy aus der Tasche. „Ich denke,<br />
das sind genug Indizien, <strong>um</strong> <strong>die</strong> Polizei zu informieren“,<br />
sagte er.<br />
Aufl ösung zu<br />
Die Räuberhöhle<br />
Lisa lachte. „Hast du nicht gesehen, womit der Hund<br />
spielte?“<br />
241
„Klar. Er hatte eine Quietschente, einen Knochen, einen<br />
alten Pantoff el . . .“<br />
„Pantoff el! Da sieht man wieder mal, dass ihr Jungs<br />
keine Ahnung habt von Mode! Der Hund spielte mit einem<br />
Damenschuh mit hohem Absatz. Ein Mann, der<br />
z<strong>um</strong> ersten Mal solche Schuhe trägt, kann darin ka<strong>um</strong><br />
drei Schritte weit gehen.“<br />
„Du meinst, der Mann und <strong>die</strong> Frau, <strong>die</strong> den Supermarkt<br />
überfallen haben, waren . . .“<br />
„ . . . zwei Männer“, ergänzte Lisa. „Einer hatte sich<br />
<strong>als</strong> Frau verkleidet. Da <strong>die</strong> Polizei einen Mann und eine<br />
Frau sucht, fühlen sich <strong>die</strong> beiden Männer völlig sicher.“<br />
242<br />
Aufl ösung zu<br />
In der Bärenschlucht<br />
„Sieh dir doch mal das Boot an!“, sagte Lisa.<br />
„Ein ganz gewöhnliches Faltboot“, meinte Pieri. „Es<br />
schwimmen wahrscheinlich Dutzende von Booten auf<br />
<strong>die</strong>sem Fluss her<strong>um</strong>. Ich kann nichts Besonderes erkennen.“<br />
„Alle anderen Boote sind oben off en“, sagte Lisa. „In<br />
jedem von ihnen ist genügend Platz für einen großen<br />
Hund. In <strong>die</strong>sem Kajak da nicht. Also läuft Hubertus am<br />
Ufer entlang neben dem Boot her.“
Aufl ösung zu<br />
Noch ein Reifenstecher<br />
„Das verstehe ich nicht“, wunderte sich Lisa. Sie sprach<br />
leise, <strong>um</strong> von den beiden Männern drüben am Fluss<br />
nicht gehört zu werden. „Die Autos von Räubern sehen<br />
genauso aus wie <strong>die</strong> Autos anderer Leute.“<br />
„Du bist doch auch der Meinung, dass der Hund<br />
dort drüben den Räubern gehört, oder?“<br />
„Klar!“<br />
„Hunde brauchen ab und zu etwas zu fressen. Und<br />
in <strong>die</strong>sem Auto liegt eine Dose mit Hundefutter.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Die Festnahme<br />
Lisa ging <strong>die</strong> wenigen Schritte zu dem „Spielzeug“, das<br />
der Hund hatte fallen lassen. Sie hob es auf. Es war eine<br />
Pistole.<br />
„Plastik“, sagte sie. „Deshalb ist sie auf dem Wasser<br />
geschwommen, und Hubertus konnte sie mitneh-<br />
243
men, <strong>als</strong> er ans Ufer schwamm. Mit einem solchen Ding<br />
kann man einer überraschten Kassiererin im Supermarkt<br />
Angst einjagen, aber nicht auf Polizisten schießen.<br />
Im Grunde hat Hubertus recht: Das Ding taugt nur<br />
<strong>als</strong> Spielzeug.“<br />
244<br />
Aufl ösung zu<br />
Noch ein Einbruch<br />
Herr Großmann, Frau Schulze, Gustav und Lisa blickten<br />
Pieri an.<br />
„Weißt du etwa, wer es war?“, fragte Herr Großmann.<br />
„Klar“, antwortete Pieri. „Der Verbrecher hat doch<br />
seine Fingerabdrücke hinterlassen. Da drüben an der<br />
Wand unter dem Fenster. Genauer gesagt, seine Pfotenabdrücke.<br />
Es war Hubertus.“<br />
„Deshalb <strong>als</strong>o ist der Bursche jetzt so faul und schläfrig!“,<br />
sagte Gustav. „Kein Wunder, wenn man gerade 24<br />
Steaks verdrückt hat . . .“
Aufl ösung zu<br />
Später Besuch<br />
Der Clown lag auf dem Rücken. Über ihm stand, mit<br />
seinen Vorderpfoten auf seine Brust gestützt, Hubertus<br />
und leckte ihm mit seiner riesigen breiten Zunge das<br />
Gesicht ab.<br />
„Dem scheint <strong>die</strong> Schminke zu schmecken“, lachte<br />
Romy.<br />
„Klar“, nickte Roberto. „Ist ja auch keine Schminke,<br />
sondern Marmelade, Schokolade, Zuckerwasser und<br />
dergleichen.“<br />
Hubertus schnappte nach der riesigen Plastiknase<br />
des Clowns und riss sie ab. Jetzt war das Gesicht des<br />
Mannes, fast völlig befreit von der Farbe, deutlich zu<br />
sehen.<br />
„Gustav!“, riefen alle rings<strong>um</strong> im Chor.<br />
Gustav stand auf. Er verbeugte sich leicht und deutete<br />
er mit seiner verbundenen rechten Hand auf seine<br />
Brust. In <strong>die</strong>sem Moment wurde auch Lisa schlagartig<br />
klar, woran Pieri Gustav erkannt hatte.<br />
„Ich nix Gustav“, sagte er. „Ich Il Grande Gustavo,<br />
zweitbestes Clown von Welt!“<br />
245
246<br />
Aufl ösung zu<br />
Keine Gitarre für Pieri<br />
„Der Hund heißt Hubertus“, antwortete Pieri auf <strong>die</strong><br />
Frage von Wachtmeister Anders, „und er gehört den<br />
beiden fl üchtigen Räubern. Als er vorhin plötzlich voller<br />
Freude aufsprang und davonrannte, habe ich auch<br />
nicht sofort begriff en, was los war. Aber <strong>als</strong> Herr Großmann<br />
sagte, dass ein Jagdhund nicht hinter anderen<br />
Tieren herhetzt, wusste ich sofort, was Hubertus entdeckt<br />
hatte: seine beiden Herrchen. Er war auf dem<br />
Weg zu ihnen. Und da er auf das Haus zurannte, mussten<br />
<strong>die</strong> beiden sich ja dort befi nden.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Pech gehabt!<br />
„Sein Hund hat ihn verraten“, antwortete Pieri. „Er stand<br />
vor der Tür und wollte hinein. Aber zu Wildfremden<br />
würde er bestimmt nicht gehen. Er wusste, dass sein<br />
Herrchen in dem Wagen ist.“
„Dieser Köter wird mir allmählich genauso unsympathisch<br />
wie du!“, ärgerte sich der Ertappte. „Ihr beide<br />
passt wirklich gut zusammen.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Ausgefl ogen?<br />
„Woher willst du das alles wissen?“, wunderte sich Romy.<br />
„Hast du denn den Rauch aus dem Kamin nicht gesehen?“,<br />
fragte Pieri zurück.<br />
„Nein, und ich sehe auch jetzt keinen Rauch.“<br />
„Weil das Feuer schon so gut wie erloschen war,<br />
<strong>als</strong> wir kamen. Bei <strong>die</strong>sem schönen Sommerwetter<br />
brauchte der Räuber das Feuer bestimmt nicht, <strong>um</strong><br />
sich zu wärmen. Er hat sich <strong>als</strong>o ein Frühstück zubereitet.<br />
Das ist schon eine Weile her, weil das Feuer inzwischen<br />
ausgegangen ist. Er ist <strong>als</strong>o mit dem Frühstück<br />
schon fertig. Und da er nicht im Dunkeln sitzen und in<br />
<strong>die</strong> Finsternis starren möchte, hat er sich eben aufs Ohr<br />
gelegt. Sonst gibt es ja für ihn nichts zu tun. Ich glaube,<br />
Lisa, jetzt ist <strong>die</strong> Zeit für einen Anruf bei der Polizei!“<br />
247
248<br />
Aufl ösung zu<br />
Knastbrüder<br />
„Das Bild sieht genauso aus, wie ich mir eine Gefängniszelle<br />
vorstelle“, sagte Frank. „Abgesehen von dem<br />
fröhlichen Grinsen der beiden Gefangenen.“<br />
„Schau dir nicht <strong>die</strong> beiden Kerle auf der Pritsche an,<br />
sondern den Fußboden!“, sagte Pieri. „Man sieht Licht,<br />
das durch ein Fenster hereinfällt. Mit dem Schatten eines<br />
Fensterkreuzes – aber ohne Gitterstäbe! Kannst du<br />
dir eine Gefängniszelle vorstellen, deren Fenster nicht<br />
vergittert ist?“<br />
Aufl ösung zu<br />
Auf heißer Spur<br />
„Das Bild zeigt ein Haus, in dem man Getränke bekommt<br />
und wahrscheinlich auch etwas zu essen“, sagte<br />
Pieri. „Und <strong>die</strong> Reklametafel hinter den beiden Männern<br />
zeigt einen Bären in einem kleinen Boot. Wo gibt<br />
es in <strong>die</strong>ser Gegend Bären und Boote?“
„Bären gibt es nirgends“, antwortete Lisa. Sie verstand<br />
jetzt, worauf Pieri hinauswollte. „Aber es gibt<br />
eine Bärenschlucht, und dort gibt es auch einen Fluss<br />
und einen Bootsverleih. Nämlich das Haus, das wir auf<br />
dem Foto sehen. Und es gibt dort einen Parkplatz mit<br />
vielen Autos darauf . . .“<br />
Aufl ösung zu<br />
Ein Männlein steht im Walde<br />
Pieri öff nete <strong>die</strong> Fahrertür des Wagens, griff hinein und<br />
zog den kleinen Weidenkorb unter der Gitarre auf dem<br />
Beifahrersitz hervor.<br />
„Pilze“, sagte er. „Frisch geschnitten, noch voller<br />
Erde. Die haben Sie eben erst im Wald gesammelt. Dabei<br />
haben Sie <strong>die</strong>sen Wagen entdeckt. Den wollten Sie<br />
stehlen, mussten aber feststellen, dass der Tank leer ist.“<br />
„Ich wollte nur . . .“ Der Mann stockte. Es fi el ihm<br />
keine glaubhafte Ausrede ein. Dann riss er Pieri das<br />
Körbchen mit den Pilzen aus der Hand und rannte davon,<br />
in den Wald hinein.<br />
„Er rennt, <strong>als</strong> wäre <strong>die</strong> Polizei hinter ihm her“, lachte<br />
Manuel. „Oder ein wütendes Wildschwein.“<br />
„Lass ihn rennen!“, sagte Lisa. „Er hat ja keinen Schaden<br />
angerichtet.“<br />
249
250<br />
Aufl ösung zu<br />
Künstlerpech<br />
„Das <strong>hier</strong> ist eine Elektrogitarre“, sagte Gustav. „Im<br />
Grunde nur ein Brett mit ein paar Saiten darauf und einem<br />
Anschluss für den Verstärker. Die Gitarre aber, <strong>die</strong><br />
sich Pieri bei uns im Ferienlager geliehen hat, ist eine<br />
ganz normale Gitarre, wie sie in Spanien üblich ist. Viel<br />
größer, dicker, innen hohl und ohne elektrischen Anschluss.<br />
Elektrogitarren haben wir überhaupt nicht.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Die Stimme vom Himmel<br />
„Die Kirchturmuhr hat mich darauf gebracht“, sagte Pieri.<br />
„Sie schlug 1 Uhr. Aber an der Tür steht, dass der Laden<br />
von zwölf bis halb zwei geschlossen ist. Ich denke,<br />
wenn der eigene Neff e kommt, öff net man auch mal<br />
außerhalb der Geschäftszeiten. In der Aufregung über<br />
das, was der Neff e zu erzählen hatte, hat Herr Kleinschmidt<br />
dann vergessen, <strong>die</strong> Tür wieder abzusperren.“
Aufl ösung zu<br />
Die M<strong>um</strong>ie<br />
„Der Bademeister?“, wiederholte Gustav. „Unsinn! Ich<br />
habe dir doch erzählt, dass er sich das Bein gebrochen<br />
hat. Mit seinem Gipsbein kann er ka<strong>um</strong> laufen. Schon<br />
gar nicht unauff ällig.“<br />
„Ich meine nicht den richtigen Bademeister, sondern<br />
den f<strong>als</strong>chen“, sagte Pieri. „Den Mann mit der Aufschrift<br />
‚Bademeister‘ auf seinem Hemd!“<br />
Aufl ösung zu<br />
Die Nadel im Heuhaufen<br />
„Du hast uns doch selbst erzählt, dass der echte Bademeister<br />
sich gestern Abend ein Bein gebrochen hat<br />
und dass er mit einem Krankenwagen nach Neustadt<br />
gebracht wurde“, antwortete Pieri. „Wahrscheinlich haben<br />
<strong>die</strong> meisten Leute <strong>hier</strong> in der Stadt das überhaupt<br />
nicht mitbekommen. Zu den wenigen Leuten, <strong>die</strong> wissen,<br />
dass es heute keinen Bademeister am See gibt, ge-<br />
251
hören <strong>die</strong> Sanitäter, <strong>die</strong> Georg Müller ins Krankenhaus<br />
gebracht haben. Und einer von ihnen ist, wie du sagst,<br />
ein alter Bekannter von Georg. Er ist <strong>als</strong>o mit großer<br />
Wahrscheinlichkeit der Dieb!“<br />
252<br />
Aufl ösung zu<br />
Wer ruft sich schon selbst an?<br />
„Es ist heiß heute“, sagte Pieri. „Jeder zieht sich so leicht<br />
an wie möglich. Sogar Wachtmeister Anders trägt ein<br />
Uniformhemd mit kurzen Ärmeln. Nur <strong>die</strong>ser Krankenwagenfahrer<br />
<strong>hier</strong> hat sich angezogen wie ein Eskimo<br />
am Nordpol. Weil er unter seiner Jacke noch das Hemd<br />
mit der Aufschrift ‚Bademeister‘ trägt!“<br />
„Stimmt genau! Besser hätte ich es nicht erklären<br />
können, Pieri“, stimmte Lisa ihm zu, und <strong>die</strong> beiden<br />
grinsten sich verschwörerisch an.<br />
„Diese verdammte Hitze!“, fl uchte der Krankenwagenfahrer.<br />
„Ich wollte mir vor der Heimfahrt noch ein<br />
eiskaltes Wasser gönnen, sonst wäre ich schon längst<br />
weg von <strong>hier</strong> . . .“
Aufl ösung zu<br />
Der Schla<strong>um</strong>eier<br />
„Sie haben gestern Abend in der Dunkelheit nicht <strong>die</strong><br />
dicke Schicht Sand gesehen, <strong>die</strong> hinter Ihrem Wagen<br />
liegt“, fuhr Pieri fort. „Die Fußspuren, <strong>die</strong> Sie darin hinterlassen<br />
haben, sind noch deutlich zu sehen. Auch auf<br />
dem Gehsteig. Sie führen von der Autotür hinten <strong>um</strong><br />
Ihren Wagen her<strong>um</strong>, z<strong>um</strong> ursprünglichen Standort des<br />
Verbotszeichens und weiter zu seinem jetzigen.“<br />
Dem Autobesitzer war bei <strong>die</strong>ser Beweisführung das<br />
Grinsen vergangen.<br />
„Das wird Sie eine saftige Strafe kosten“, sagte der<br />
Arbeiter. Jetzt war er es, der grinste.<br />
Aufl ösung zu<br />
Till Eulenspiegel<br />
„Als <strong>die</strong>ser Bernhard oder Benedikt oder Till hereinkam,<br />
warst du gerade vollauf damit beschäftigt, <strong>die</strong><br />
Karte mit den Eisspezialitäten zu stu<strong>die</strong>ren und dir et-<br />
253
was auszusuchen“, antwortete Pieri. „Wenn du dir stattdessen<br />
den komischen Kerl angesehen hättest, hättest<br />
du gemerkt, dass er gar keinen Schirm dabeihatte. Der<br />
Schirm, den er dann mitnahm, konnte <strong>als</strong>o nicht sein<br />
eigener sein.“<br />
Aufl ösung zu<br />
Wie klaut man einen Elefanten?<br />
Pieri deutete auf einen der Masten, <strong>die</strong> das Elefantenzelt<br />
trugen. An dem Mast hing ein Spiegel, etwa so<br />
groß wie ein Buch. Auf den Spiegel war mit Farbe eine<br />
Eule gemalt.<br />
„Till hat sein Autogramm hinterlassen“, lachte Pieri.<br />
„Eulenspiegel!“<br />
254
Aufl ösung zu<br />
Mich laust der Affe!<br />
Lisa lachte. “Für einen Menschen, der gern und viel fotografi<br />
ert, ist das eine sehr d<strong>um</strong>me Frage! Da sonst niemand<br />
in der Nähe war, kannst nur du selbst <strong>die</strong> Aufnahme<br />
gemacht haben . . .“<br />
„Daran würde ich mich erinnern“, widersprach Pieri.<br />
„ . . . oder <strong>die</strong> drei Männer vor dir“, sprach Lisa weiter.<br />
„Wachtmeister Anders und Till sind zu weit weg<br />
von der Kamera, <strong>die</strong> kommen <strong>als</strong>o nicht in Frage. Also<br />
hat der Gorilla <strong>die</strong>ses Selbstporträt gemacht – mit dem<br />
ausgestreckten Arm.“<br />
255
©2011 by Helmut Lingen Verlag GmbH & Co. KG,<br />
Opladener Str. 8, 50679 Köln<br />
Autor: Helmut Neubert<br />
Illustrationen: Christoph Heuer<br />
Illustrationen Lisa & Pieri: Evelyn Neuss<br />
Coverillustration: Evelyn Neuss<br />
Das Werk einschließlich aller seiner Texte ist urheberrechtlich geschützt.<br />
Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts<br />
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