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Sakrale Wurzeltaschendivertikel - Rheuma Schweiz

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<strong>Sakrale</strong> <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong><br />

Die Nomenklatur der spinalen zystischen Veränderungen ist verwirrend, da der Begriff «Zyste»<br />

sehr grosszügig gebraucht wird und es sich in den meisten Fällen eigentlich um Divertikel handelt.<br />

Entsprechend ihrer Lokalisation lassen sich grundsätzlich Wurzeldivertikel und Sakralkanaldivertikel<br />

unterscheiden. Die relativ häufig auftretenden <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong> wurden erstmals 1938<br />

von Tarlov als «perineurale Zyste» beschrieben.<br />

Fallbeschreibung 1<br />

ANDREA BÄR / PIUS BRÜHLMANN / ARNALDO BENINI<br />

Die 42-jährige Patientin wurde wegen seit mehreren Monaten<br />

bestehender, therapieresistenter Schmerzen im Gesäss links<br />

mit Ausstrahlung über den linken Trochanter und entlang des<br />

lateralen Teils des Oberschenkels bis zum Knie zugewiesen.<br />

Befunde<br />

Bei der klinischen Untersuchung bestand eine lang gezogene<br />

Hyperkyphose der BWS. Die LWS-Beweglichkeit war für die<br />

Neigung nach beiden Seiten und für die Extension zu jeweils<br />

einem Drittel schmerzhaft eingeschränkt. Ausserdem bestanden<br />

linksseitig Myotendinosen am Beckenkamm, gluteal<br />

sowie entlang des Tractus iliotibialis. Eine ISG-Funktionsstörung<br />

oder neurologische Ausfälle lagen nicht vor. Lasègue<br />

und Femoralisdehnungsschmerz waren negativ.<br />

Konventionell-radiologisch bestand eine lumbosakrale Übergangsstörung<br />

mit Nearthrose L5/S1 rechts.<br />

Therapie<br />

Mehrfache Steroidinfiltrationen am Beckenkamm, am<br />

Trochanter und im Bereich des Tuber ischiadicum, ein<br />

Sakralblock sowie physiotherapeutische Behandlungen führten<br />

jeweils nur zu einem kurzfristigen Rückgang der<br />

Beschwerden. Bei Verdacht auf eine Intervertebralgelenksdysfunktion<br />

L5/S1 links im Rahmen der lumbosakralen Übergangsstörung<br />

wurde eine CT-gesteuerte Infiltration der<br />

Intervertebralgelenke L5/S1 links durchgeführt. Dabei kam<br />

nebst einer schweren beidseitigen Facettengelenks-Arthrose<br />

L5/S1 sowie einer weniger ausgeprägten Facettengelenks-<br />

Arthrose L4/5 rechts eine Ausweitung des Neuroforamens<br />

L5/S1 links zur Darstellung. Die weitere Abklärung mittels<br />

CT ergab auf Höhe des zweiten Sakralwirbels raumfordernde<br />

<strong>Wurzeltaschendivertikel</strong> beidseits, links ausgeprägter als<br />

rechts, welche die linke Nervenwurzel S1 komprimieren. In<br />

der MRI-Untersuchung konnten multiple Sakraldivertikel<br />

(«Tarlov’sche Zysten») im Bereich der dorsalen Nervenwurzel<br />

S1 mit entsprechenden ossären Arrosionen im Os<br />

sacrum sowie weniger ausgeprägte Divertikel im Bereich der<br />

ventralen Nervenwurzel L5 nachgewiesen werden.<br />

Bei progredienter radikulärer Schmerzsymptomatik der<br />

Wurzel S1 links wurde die Operationsindikation gestellt<br />

(Chirurg Arnaldo Benini, Schulthess Klinik Zürich). Intra-<br />

operativ war die knöcherne Lamina über der maximalen Ausdehnung<br />

des 2 mal 2 cm grossen <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong>s<br />

massiv ausgedünnt und durchsichtig. Nach Abtragung der<br />

Lamina wurde der Liquor aus dem <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong><br />

abpunktiert und das Divertikel anschliessend durch doppeltes<br />

Zusammennähen um gut 50 Prozent verkleinert.<br />

Der postoperative Verlauf war komplikationslos. Die periphere<br />

Schmerzausstrahlung und die Sensibilitätsstörungen<br />

bildeten sich im Verlauf vollständig zurück. Die glutealen<br />

Schmerzen mit Ausstrahlung über den Trochanter und den<br />

linken lateralen Oberschenkel persistieren bei längerem<br />

Stehen und Gehen.<br />

Fallbeschreibung 2<br />

Bei der 38-jährige Patientin traten vor elf Jahren im Anschluss<br />

an eine Angina tonsillaris linksseitige lumbosakrale Schmerzen<br />

auf, die damals als reaktive ISG-Arthritis beurteilt worden<br />

waren. Die CT der Iliosakralgelenke und eine Skelettszintigraphie<br />

waren damals allerdings unauffällig. Seither bestanden<br />

bei der Patientin wechselnde Schmerzen im Bereich der<br />

ISG linksbetont, vor allem bei längerem Sitzen. Nach dem<br />

Heben einer schweren Last kam es zu einer Schmerzexazerbation<br />

lumbosakral mit Schmerzausstrahlung ins Gesäss links<br />

sowie entlang des linken Oberschenkels dorsal und ventral.<br />

Befunde<br />

Bei der klinischen Untersuchung fand sich eine Druckdolenz<br />

über den Dornfortsätzen L5 und S1 sowie diffus über dem<br />

Sakrum, die LWS-Beweglichkeit war in Flexion und Extension<br />

schmerzhaft zu zwei Drittel eingeschränkt mit<br />

Schmerzausstrahlung ins linke Bein. Die Sensibilität war im<br />

Bereich des Gesässes links, am Oberschenkel dorsal und ventral<br />

sowie am lateralen Fussrand vermindert. Kraft und<br />

Muskeleigenreflexe waren normal auslösbar. Ein Nervendehnungsschmerz<br />

konnte nicht provoziert werden.<br />

Ein MRI der LWS zeigte eine medio-laterale Diskushernie<br />

L5/S1 links mit Kompression der Wurzel S1 links. Es wurde<br />

ein lumboradikuläres Syndrom der Wurzel S1 links mit nicht<br />

genau dermatombezogenen sensorischen Ausfällen diagnostiziert.<br />

34–2004<br />

5<br />

GASTKOLUMNE


6<br />

Therapie<br />

Trotz Durchführung eines Sakralblockes sowie später einer<br />

epiduralen Infiltration auf Höhe L5/S1 und physiotherapeutischen<br />

Massnahmen war die Schmerzausstrahlung ins linke<br />

Bein nur vorübergehend regredient. Im Verlauf beschrieb die<br />

Patientin starke Schmerzen im Sakrumbereich sowie eine zunehmende<br />

Sensibilitätsstörung im Gesäss links, entsprechend<br />

den Dermatomen S1, S2 und S3. Ausserdem kam es neu zu<br />

einer erschwerten Miktion und Defäkation. Auffällig waren<br />

eine starke Druck- und Berührungsempfindlichkeit über dem<br />

Sakrum sowie ausgeprägte muskuläre Verspannungen paravertebral<br />

lumbal, gluteal sowie entlang des Tractus iliotibialis.<br />

Zum Ausschluss einer ISG-Pathologie wurde eine MRI-Untersuchung<br />

der Iliosakralgelenke durchgeführt. Diese zeigte<br />

bei beidseits unauffälligen Iliosakralgelenken sakral gelegene<br />

Dura-Divertikel auf Höhe S2 links und S3 rechts. Computertomographisch<br />

konnten durch die Divertikel bedingte Arrosionen<br />

des Os sacrum ausgeschlossen werden.<br />

Nach linksseitiger Hemilaminektomie L5 konnte die mediolateral<br />

gelegene, etwa kleinfingerkuppengrosse Diskushernie<br />

L5/S1 links entfernt und der Recessus lateralis S1 links erweitert<br />

werden (Chirurg Arnaldo Benini, Schulthess Klinik<br />

Zürich). Nach teilweiser Entfernung der Lamina sacralis<br />

rechts-lateral der Dornfortsätze kam die um das fünffache<br />

vergrösserte Wurzeltasche S3 zur Darstellung. Unter dem<br />

Mikroskop wurde sichtbar, dass die einzelnen Wurzelfasern<br />

S3 rechts nicht entlang der Basis der Wurzeltasche verliefen,<br />

sondern über die ganze Wand der Wurzeltasche aufgefächert<br />

waren. Ohne Schädigung neuraler Strukturen war somit eine<br />

Verkleinerung der Wurzeltasche nicht möglich, und es konnte<br />

lediglich eine ausgedehnte Dekompression durchgeführt werden.<br />

Postoperativ kam es zu einer vollständigen Rückbildung der<br />

Miktions- und Defäkationsbeschwerden. Gut vier Monate<br />

postoperativ bestehen noch lumboradikuläre Restbeschwerden<br />

S1 links sowie Schmerzen sakral beidseits, sodass längeres<br />

Sitzen immer noch nicht möglich ist.<br />

Kommentar<br />

Die Nomenklatur der spinalen zystischen Veränderungen ist<br />

verwirrend, insbesondere da der Begriff der «Zyste» sehr<br />

grosszügig gebraucht wird und es sich in den meisten Fällen<br />

eigentlich um Divertikel, also Ausstülpungen (Erweiterung<br />

des Subarachnoidalraumes) handelt. Eine Zyste ist definitionsgemäss<br />

eine durch eine Kapsel abgeschlossene sackartige<br />

Geschwulst mit dünn- oder dickflüssigem Inhalt, wobei die<br />

echten Zysten mit einem Epithel ausgekleidet und die Pseudozysten<br />

nur von Bindegewebe umgeben sind. Ein Divertikel<br />

hingegen entspricht einer sackförmigen Ausstülpung umschriebener<br />

Wandanteile eines Hohlorgans.<br />

Wurzeldivertikel und Sakralkanaldivertikel<br />

Entsprechend ihrer Lokalisation lassen sich grundsätzlich<br />

Wurzeldivertikel und Sakralkanaldivertikel unterscheiden.<br />

Nach Nabors et al. unterteilt man die benignen sakralen<br />

meningealen Divertikelbildungen in drei Kategorien:<br />

normal<br />

3.a<br />

3.b<br />

Schematische Darstellung<br />

der sakralen meningealen Divertikel<br />

1. Extradurale meningeale Divertikel ohne<br />

Nervenwurzelfasern<br />

1.a Extradurale meningeale Divertikel<br />

(extradurale Arachnoidaldivertikel)<br />

1.b Sakral Meningozelen<br />

(okkulte sakrale Meningozelen)<br />

2. Extradurale meningeale Divertikel mit<br />

Nervenwurzeln (Tarlov's «perineurale Zysten»<br />

oder <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong>)<br />

3. Intradurale Arachnoidaldivertikel<br />

3.a ohne Nervenwurzelfasern<br />

3.b mit Nervenwurzelfasern<br />

Der Begriff «extradural» bedeutet, dass das Divertikel über<br />

das Niveau der Dura hinausgeht. So kann es sich zum einen<br />

um die Ausstülpung von Arachnoidea durch eine Dehiszenz<br />

der Dura handeln (I.A. extradurale Arachnoidalzysten) oder<br />

um eine Ausstülpung sämtlicher Wandschichten inklusive<br />

Dura über das normale Niveau der Dura hinaus (I.B. okkulte<br />

sakrale Meningocelen und II. Tarlov’s «perineurale Zysten»).<br />

Histologische Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass<br />

bei allen Formen der extraduralen Divertikel (I. und II.) die<br />

einlagige Epithelschicht der Arachnoidea in den Divertikeln<br />

1.a<br />

1.b<br />

2.


nicht immer nachgewiesen werden kann, sondern teilweise<br />

nur fibröses Bindegewebe vorliegt. Es wird angenommen,<br />

dass sich die Struktur der Arachnoidea mit der zunehmenden<br />

Ausstülpung zurückgebildet hat.<br />

<strong>Wurzeltaschendivertikel</strong>: Tarlov-Zysten<br />

<strong>Wurzeltaschendivertikel</strong> (Typ II) sind relativ häufig und wurden<br />

erstmals 1938 von Tarlov beschrieben. Tarlov war der<br />

Meinung, dass diese Zysten zwischen Endoneurium und<br />

Perineurium hervorgehen und nannte sie deshalb «perineurale<br />

Zysten». Die von ihm angenommene fehlende Verbindung<br />

zum Subarachnoidalraum wurde später nach Einführung wasserlöslicher<br />

Kontrastmittel widerlegt. Demnach entsprechen<br />

die frei mit dem Subarachnoidalraum kommunizierenden, so<br />

genannten perineuralen Tarlov-Zysten eigentlich den ursprünglich<br />

davon abgegrenzten <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong>n.<br />

Die <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong> sind meist am Übergang der<br />

dorsalen Nervenwurzel ins Ganglion lokalisiert und treten<br />

typischerweise auf Höhe S2 und S3 auf. Sie sind meistens multipel<br />

vorhanden und sind dadurch charakterisiert, dass sie<br />

Nervenwurzelfasern enthalten, wodurch sie sich von den übrigen<br />

extraduralen Zysten unterscheiden.<br />

Die meisten Patienten mit <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong>n sind<br />

asymptomatisch. Die Divertikel können jedoch lokale oder<br />

radikuläre Schmerzen verursachen und je nach Lokalisation,<br />

Grösse und Verhältnis zu den Nervenwurzeln zusätzlich zu<br />

sensomotorischen Ausfällen, Blasen- oder Mastdarmfunktionsstörungen<br />

führen. Die Beschwerden sind in der Regel<br />

über Monate oder Jahre progredient.<br />

Ätiologie<br />

Die Ätiologie der benignen sakralen meningealen Divertikel<br />

ist unklar. Nebst Traumen und durchgemachten Infektionen<br />

werden degenerative und kongenitale Entstehungsmechanismen<br />

diskutiert, wobei der kongenitale Mechanismus favorisiert<br />

wird. Ausserdem treten diese Divertikel gehäuft bei<br />

Bindegewebskrankheiten (Ehlers’ Danlos Syndrom, Marfan<br />

Syndrom), bei der Akromegalie und bei der Spondylitis ankylosans<br />

auf.<br />

MRI-Untersuchung<br />

Heutzutage ist die MRI-Untersuchung die Methode der<br />

Wahl, um sakrale meningeale Divertikel darzustellen. Diese<br />

Untersuchung ist der Computertomographie mit zusätzlicher<br />

Myelographie überlegen. Die zusätzliche Anwendung der<br />

Computertomographie kommt insbesondere bei der Frage<br />

nach Knochenarrosionen durch die Divertikel zum Zuge.<br />

CT Arrosion des Sakrums beidseits durch Wurzeldivertikel<br />

MRI Wurzeldivertikel S2 beidseits<br />

34–2004<br />

7


8<br />

PERSÖNLICH Herzliche<br />

MRI Wurzeldivertikal S1 (klein) und S2 (gross) rechts<br />

Gratulation<br />

Im Anschluss an ihre Probevorlesungen von Mitte Januar 2004 am UniversitätsSpital Zürich<br />

erhielten Thomas Pap, Assistenzarzt, und Daniel Uebelhart, Leitender Arzt IPM, die Habilitation.<br />

Die Kolleginnen und Kollegen der <strong>Rheuma</strong>klinik und des Institutes für Physikalische Medizin<br />

gratulieren herzlich und wünschen ihren beiden Kollegen bei ihrer Lehrtätigkeit viel Erfolg.<br />

Dr. med. Thomas Pap, Assistenzarzt, Zentrum für Experimentelle<br />

<strong>Rheuma</strong>tologie Universitätsklinikum Magdeburg und<br />

UniversitätsSpital Zürich (10 Prozent) erhielt aufgrund seiner<br />

Arbeit «Zelluläre Grundlagen der aseptischen Lockerung<br />

von Gelenkprothesen» die Habilitation<br />

Operationsindikation<br />

In der Regel sind die <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong> asymptomatisch.<br />

Akute und chronische Kreuzschmerzen sowie radikuläre<br />

Kompressionsbeschwerden sind selten auf ein <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong><br />

zurückzuführen. Die Operationsindikation<br />

besteht nur in den Fällen, in denen die radikulären Beschwerden<br />

mit den <strong>Wurzeltaschendivertikel</strong>n übereinstimmen. In<br />

diesen seltenen Fällen besteht die Behandlung der symptomatischen<br />

sakralen Divertikel in der chirurgischen Resektion<br />

des Divertikels. Die Dura kann nach Abtragung des<br />

Divertikels (bestehend aus Arachnoidea alleine oder aus<br />

Arachnoidea und Dura) entweder direkt verschlossen oder<br />

bei grossen Divertikeln durch Faltung gerafft werden. Eine<br />

Resektion der Divertikelwand kann unmöglich sein, wenn die<br />

Nervenfasern nicht nur am Boden der Zyste verlaufen, sondern<br />

sich fächerförmig der gesamten Divertikelwand entlang<br />

ausbreiten. In solchen Fällen bleibt lediglich die ossäre Dekompression<br />

des Divertikels.<br />

PD Dr. med. Daniel Uebelhart, Leitender Arzt, Physikalische<br />

Medizin, <strong>Rheuma</strong>klinik und Institut für Physikalische Medizin,<br />

UniversitätsSpital Zürich, erarbeitete sich seine Umhabilitation<br />

mit dem Thema «Muskuloskelettale Konsequenzen<br />

der Immobilisation».

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