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Am Abgrund der Wahrheit

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<strong>Am</strong> <strong>Abgrund</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Wahrheit</strong><br />

Im Gedenken an<br />

Carl Friedrich von Weizsäcker<br />

Hans-Bernd Neumann<br />

M<br />

it ungeheurer Begeisterung hat am Anfang<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts eine Generation<br />

von zum Teil sehr jungen Forschern die<br />

Grenzen <strong>der</strong> klassischen Vorstellungen über<br />

die Natur gesprengt. Nicht nur unsere Vorstellungen<br />

von Raum und Zeit wurden grundlegend<br />

überholt, son<strong>der</strong>n auch die Frage nach dem<br />

Aufbau <strong>der</strong> Materie erfuhr Antworten, die alle<br />

bisherigen Vorstellungen umstürzten. Umgestoßen<br />

wurde von den Forschern nebenbei eine<br />

bisherige Säule <strong>der</strong> Wissenschaften, das Kausalitätsprinzip<br />

(<strong>der</strong> direkte Zusammenhang von<br />

Ursache und Wirkung), und es wurde durch einen<br />

neuen weiter reichenden Begriff von Wirklichkeit<br />

ersetzt. Diese, so hieß es jetzt, entstehe<br />

erst durch den handelnden und beobachtenden<br />

Menschen. Eine Wirklichkeit außerhalb <strong>der</strong><br />

menschlichen Teilhabe, ein »Ding an sich«, ist<br />

dieser neuen Weltsicht fremd.<br />

Mitten in diesem Aufbruch stand Carl Friedrich<br />

von Weizsäcker, ein Schüler und Freund<br />

von Werner Heisenberg und Niels Bohr. Weizsäcker<br />

gehört zu denjenigen, die früh erkannten,<br />

welch ungeheure Kräfte mit dieser neuen Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>der</strong> Welt freigelegt<br />

werden können. Dies wird beson<strong>der</strong>s deutlich<br />

in den Gesprächen <strong>der</strong> genannten drei Atomphysiker,<br />

die 1941 mit dem Versuch scheiterten,<br />

ein Moratorium für den Bau von Atomwaffen<br />

zu erreichen. Die Kriegsjahre schienen den Bau<br />

einer Uranbome für von Weizsäcker zu verbieten.<br />

Wie viele seiner Forschergeneration war er<br />

zerrissen zwischen forschen<strong>der</strong> Neugier angesichts<br />

des Neuen und <strong>der</strong> ungeheuren Gewalt,<br />

die sich in den neuen Kräften offenbarte. Einerseits<br />

steht er für die Aussage ein: »Wir wollten<br />

wissen, ob Kettenreaktionen möglich wären. Ei-<br />

nerlei, was wir mit den Kenntnissen anfangen<br />

würden – wissen wollten wir es«. An<strong>der</strong>erseits<br />

meinte er: »Es genügte eben nicht, dass wir eine<br />

Familie waren, vielleicht hätten wir ein internationaler<br />

Orden sein müssen, mit disziplinarischer<br />

Gewalt über seine Mitglie<strong>der</strong>. Aber ist<br />

dies bei <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft<br />

überhaupt durchführbar?«<br />

1945 kam es zur Vernichtung <strong>der</strong> japanischen<br />

Städte Hiroshima und Nagasaki durch<br />

Atombomben. Weizsäcker erhielt die Nachricht<br />

davon zusammen mit an<strong>der</strong>en führenden<br />

Atomforschern des Deutschen Reiches in englischer<br />

Gefangenschaft, und sie erschütterte<br />

ihn zutiefst. Er selbst hatte nur die ungeheure<br />

Möglichkeit von Atomwaffen geahnt, jetzt aber<br />

waren diese Waffen Wirklichkeit geworden und<br />

wurden gegen die Menschheit angewendet. Die<br />

Die Christengemeinschaft 6 | 2012 35<br />

Biografisches<br />

Carl Friedrich von<br />

Weizsäcker<br />

(*28. Juni 1912;<br />

† 28. April 2007)<br />

Dr. Hans-Bernd<br />

Neumann,<br />

geboren 1964, Pfarrer,<br />

Beethovenweg 20,<br />

72076 Tübingen


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des hartherzigen Großbauern zu leiden hat.<br />

Gäbe es nicht Tyrax, seinen treuen Hund,<br />

die alte Großmutter und die kleine Antje,<br />

er würde wahrscheinlich allen Lebensmut<br />

verlieren. Doch inspiriert von seinem<br />

Glücksstern, dem Wid<strong>der</strong>, nimmt sein<br />

Leben eine ungeahnte Wendung.<br />

Er heuert als Schiffsjunge an und lernt den<br />

Seemannsberuf. Auf dem Gipfel seiner<br />

Laufbahn, als Kapitän eines eigenen Schiffs,<br />

entdeckt er das Geheimnis seiner Herkunft<br />

und kehrt schließlich an den Ort seiner<br />

Kindheit zurück, wo er seine wahre Lebensbestimmung<br />

findet.<br />

entsetzliche Gefahr, dass durch die von ihm mitentwickelten<br />

neuen wissenschaftlichen Grundlagen die gesamte Menschheit<br />

und die Schöpfung vernichtet werden könnte, ließen<br />

ihn seinen inneren Fokus in den Nachkriegsjahren von <strong>der</strong><br />

direkten Erforschung <strong>der</strong> Physik auf die grundsätzlichen<br />

Fragen des neuen Weltbildes lenken. Zur zentralen Frage<br />

wurde dabei, welche Verantwortung <strong>der</strong> forschende Mensch<br />

für seine Forschungsergebnisse hat.<br />

1956 wurde unter dem damaligen Bundesverteidigungsminister<br />

Franz Josef Strauß die Aufrüstung <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland mit taktischen Atomwaffen gefor<strong>der</strong>t.<br />

In dieser Diskussion meldeten sich 18 namhafte Atomforscher,<br />

fe<strong>der</strong>führend Heisenberg, Hahn und von Weizsäcker,<br />

mit einem Aufsehen erregenden Manifest zu Wort, in dem<br />

sie die eindeutige Ablehnung dieser For<strong>der</strong>ung seitens <strong>der</strong><br />

Politik formulierten. Zu diesem Zeitpunkt schien nur die<br />

zivile Nutzung <strong>der</strong> Kernenergie den Forschern akzeptabel.<br />

Dreißig Jahre später (1986) kommt von Weizsäcker angesichts<br />

<strong>der</strong> Reaktorunglücke von Harrisburg und Tschernobyl<br />

in seiner viel beachteten Schrift: »Die Zeit drängt« zu<br />

dem Urteil: »Heute kann ich für die Zeit, für die wir planen<br />

können, nicht mehr zur Kernenergie als leiten<strong>der</strong> Energiequelle<br />

raten.« Dies schreibt einer, <strong>der</strong> den Zugang zu dieser<br />

Naturkraft wesentlich mit eröffnet hat.<br />

Von Weizsäcker wurde 1979 von Willy Brandt gefragt,<br />

ob er sich in das <strong>Am</strong>t des Bundespräsidenten wählen lassen<br />

würde. Er lehnte dies ab, unter an<strong>der</strong>em wegen <strong>der</strong> von ihm<br />

deutlich empfundenen Verantwortung seiner Person in den<br />

Wirrnissen <strong>der</strong> Zeit zwischen 1933 und 1945.<br />

Von Weizsäcker lebte eine mo<strong>der</strong>ne Biografie, die sich dadurch<br />

auszeichnet, dass durch begeistertes, tiefsinniges Erforschen<br />

<strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Mensch an den <strong>Abgrund</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong><br />

eines neuen Bewusstseins geführt wird. Dieser <strong>Abgrund</strong><br />

lässt sich für den mo<strong>der</strong>nen Menschen nur überbrücken,<br />

wenn er sich mit gleicher Intensität, mit <strong>der</strong> er die Natur erforscht,<br />

für die moralischen Fragen seines Forschens öffnet.<br />

Dabei ist es unumgänglich, sich auch mit <strong>der</strong> spirituellen<br />

Seite dieses neuen Bewusstseins zu befassen. Von Weizsäcker<br />

wagte diesen Schritt, indem er nicht mehr nur an den<br />

physikalischen Grundfragen weiterforschte, son<strong>der</strong>n zusammen<br />

mit dem Philosophen Jürgen Habermas die Folgen<br />

des neuen Bewusstseins bewegte, welches sich nicht nur in<br />

den Phänomenen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Physik zeigt. Mit <strong>der</strong> stringenten<br />

Methode eines mo<strong>der</strong>nen Wissenschaftlers erforschte<br />

er die Grenze <strong>der</strong> metaphysischen Welt zwischen Natur<br />

und Geist. Als Ergebnis dieser Forschung ergibt sich ein moralisch<br />

durchdrungenes Bild <strong>der</strong> Wirklichkeit.<br />

Die Christengemeinschaft 6 | 2012

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