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Märchen sind Träume der Menschheit - Die Christengemeinschaft ...

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<strong>Märchen</strong> <strong>sind</strong> <strong>Träume</strong> <strong>der</strong> <strong>Menschheit</strong><br />

Wandlung im <strong>Märchen</strong>, aus tiefenpsychologischer Sicht nach C.G. Jung<br />

Dörte Wrede<br />

<strong>Märchen</strong><br />

Es war einmal vor langer, langer Zeit …,<br />

als <strong>der</strong> Mensch noch die Sprache <strong>der</strong><br />

Tiere und Pflanzen verstand, die, wie<br />

Sonne, Mond und Sterne, ihm den Weg wiesen.<br />

Damals galten auch <strong>Träume</strong>, Visionen noch als<br />

wegweisend. Wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> erzählt, mit<br />

Lebenserfahrung und Weisheit angereichert,<br />

entfalteten sie sich zu den <strong>Märchen</strong>, wie sie uns<br />

heute begegnen.<br />

<strong>Märchen</strong> »<strong>sind</strong> <strong>Träume</strong> <strong>der</strong> <strong>Menschheit</strong> und<br />

beantworten Probleme <strong>der</strong> <strong>Menschheit</strong>.« 1<br />

C.G. Jung entdeckte neben <strong>der</strong> individuellen<br />

eine transzendente Schicht des Unbewussten,<br />

das sogenannte kollektive Unbewusste. <strong>Die</strong>ser<br />

transzendente Bereich gilt als <strong>der</strong> unbewusste<br />

Mutterboden aller schöpferischen Kräfte, allen<br />

Menschen in gleicher Weise zugehörig. Aus dieser<br />

Tiefenschicht stammen die <strong>Märchen</strong>. »<strong>Die</strong><br />

<strong>Märchen</strong>erzählungen <strong>der</strong> entlegensten Völker<br />

weisen in <strong>der</strong> Ähnlichkeit ihrer Motive auf<br />

das Vorhandensein und die Gebundenheit <strong>der</strong><br />

Fantasie des Menschen an Urbil<strong>der</strong>, die Archetypen,<br />

hin.« 2<br />

<strong>Die</strong> Archetypen <strong>sind</strong> erlebbare Wirklichkeit,<br />

da sie in Bil<strong>der</strong>n, Visionen und <strong>Träume</strong>n sich<br />

dem Bewusstsein annähern und Schicksal mitgestalten.<br />

<strong>Die</strong> typische bildhafte Symbolsprache gilt es<br />

zu entschlüsseln, »die Seele mit Hilfe <strong>der</strong> Seele<br />

verstehen, d.h. symbolisch denken«. 3<br />

Das Symbol, da es sowohl in das Unbewusste<br />

wie das Bewusstsein reicht, bildet die Brücke<br />

zwischen diesen beiden Lebensbereichen des<br />

Menschen.<br />

Tiefenpsychologisch verstanden stellen die<br />

<strong>Märchen</strong> Entwicklungs- und Wandlungsprozesse<br />

hin zu Individualität dar. Dabei finden<br />

sich bestimmte Lebensthemen in abgewandelter<br />

Form immer wie<strong>der</strong>. So die Loslösung von den<br />

Eltern samt ihren Lebensanschauungen und<br />

die Suche nach dem eigenen Glück, den eigenen<br />

Werten und dem Eigen-Sinn in <strong>der</strong> Welt. Es geht<br />

um Wachstum und Entwicklung zu Selbständigkeit<br />

und Selbstvertrauen. Gefahr und Not in <strong>der</strong><br />

Fremde wollen erlebt und überwunden werden,<br />

und nicht zuletzt gilt es, die Suche und Begegnung<br />

mit dem an<strong>der</strong>en Geschlecht durchzustehen<br />

und zu leben.<br />

Immer beginnen die <strong>Märchen</strong> mit einer Notsituation.<br />

Es herrscht eine gewisse Einseitigkeit<br />

und Stagnation. In »Schneeweißchen und Rosenrot«<br />

z.B. leben Mutter und Töchter in fast<br />

paradiesischer Einheit miteinan<strong>der</strong>, es fehlt<br />

das männliche Prinzip. Im <strong>Märchen</strong> »<strong>Die</strong> Nixe<br />

im Teich« weiß <strong>der</strong> völlig verarmte Vater nicht,<br />

dass seine Frau schwanger ist, was darauf hinweist,<br />

dass das weibliche Prinzip kaum, wenn<br />

überhaupt, Beachtung findet. Der alte, kranke<br />

König kann Hinweis darauf sein, dass die Lebensmuster<br />

und Werte veraltet <strong>sind</strong> und nicht<br />

mehr tragen. »Nichts geht mehr.« Solche Mangelsituationen<br />

for<strong>der</strong>n den Wandel.<br />

Ganz bestimmte Verhaltensweisen zeigen<br />

sich im <strong>Märchen</strong> als för<strong>der</strong>lich für den Fortgang<br />

des Geschehens, wenn es auch keine allgemeingültige<br />

Lösung für individuelle Konflikte gibt.<br />

Je<strong>der</strong> Held, jede Heldin muss den für ihn/sie<br />

selbst stimmigen Weg finden, da er o<strong>der</strong> sie sich<br />

in Übereinstimmung mit dem Selbst sowie dem<br />

großen Ganzen weiß. Das Wissen kommt ihm<br />

aus <strong>der</strong> eigenen Tiefe. Beide müssen sich auf den<br />

Weg machen, um sich aus Begrenzung und Unselbständigkeit<br />

zu befreien. <strong>Die</strong> Bedingungen,<br />

etwa ans Ende <strong>der</strong> Welt zu gehen o<strong>der</strong> zum Teufel<br />

in die Tiefe zu steigen, scheinen dabei schier<br />

unlösbar, unmenschlich. Das weist nach C. G.<br />

Jung darauf hin, dass Held und Heldin für den<br />

Menschen ein archetypisches Vorbild, eine allgemeine<br />

Strukturgrundlage für Wandlung und<br />

Erneuerung <strong>sind</strong>.<br />

Erste Voraussetzung für das Gelingen ist das<br />

»Ja, ohn’ warum«. So fragt die Hexe Baba Jaga<br />

1 S. Oeri: <strong>Die</strong> Mutter<br />

im <strong>Märchen</strong><br />

2 C.G. Jung GW<br />

6/327<br />

3 M.L.v. Franz,<br />

Erlösungsmotive im<br />

<strong>Märchen</strong><br />

Dr. Dörte Wrede,<br />

geboren 1940,<br />

HP Psychoterapie<br />

Döscherstsr. 3,<br />

22083 Hamburg<br />

<strong>Die</strong> <strong>Christengemeinschaft</strong> 7– 8 | 2012 49


erzählt<br />

den Prinzen: »Bist du geschickt o<strong>der</strong> kommst du<br />

von selbst?« Je nach Einstellung, ob willig o<strong>der</strong><br />

unwillig, erweisen sich die Kräfte, die den Weg<br />

geleiten, als hilfreich o<strong>der</strong> hemmend. Tiere z.B.,<br />

Symbole des eigenen Lebensinstinkts, o<strong>der</strong> Vögel<br />

als geistige Kräfte und unwillkürliche, rettende<br />

Ideen, <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die alte Weise, sie wissen<br />

den Weg zum Ziel. Ihr Wort gilt es zu beachten.<br />

Hilfsbereitschaft und Mitgefühl <strong>sind</strong> gefor<strong>der</strong>t,<br />

das Essen mit dem Alten am Wegrand zu teilen,<br />

den schweren Sack <strong>der</strong> gebeugten Alten ein<br />

Stück des Weges zu tragen.<br />

Es erfor<strong>der</strong>t Mut und Tapferkeit, in »den<br />

dunklen Wald« zu gehen d.h., sich dem Unbewussten<br />

zuzuwenden und die eigene dunkle<br />

Seite zu betrachten, den Schatten z.B. in<br />

Gestalt <strong>der</strong> Stiefmutter o<strong>der</strong> des unbezogenen<br />

Vaters. Der Weg birgt Gefahren in sich, die<br />

Ängste und an<strong>der</strong>e Emotionen auslösen, da <strong>der</strong><br />

Mensch nicht weiß, was ihm begegnet und bestimmt<br />

ist. Um den eigenen Schatten zu wissen,<br />

macht einen toleranter sich selbst und<br />

an<strong>der</strong>en gegenüber. Und <strong>der</strong> Schatten ist auch<br />

eine Schatzkammer, da er noch nicht gelebtes<br />

Leben enthält.<br />

Hingabe und Leidensfähigkeit <strong>sind</strong> gefor<strong>der</strong>t,<br />

wie die junge Frau in dem <strong>Märchen</strong> »<strong>Die</strong><br />

Nixe im Teich« zeigt. Sie nimmt das Schicksal<br />

an und durchlebt alle Wut, allen Schmerz und<br />

alle Trauer bis zur Erschöpfung. Aber über die<br />

Gefühle kommt sie zu sich selbst.<br />

Jung war aufgrund seiner Erfahrung davon<br />

überzeugt, dass die Annahme und Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit scheinbar unbeherrschbaren<br />

Situationen und als negativ erlebten Affekten<br />

in <strong>der</strong> Psyche den gegensätzlichen, positiven Aspekt<br />

beleben und Heilung ermöglichen kann. So<br />

erfährt auch die junge Frau Hilfe, auch deshalb,<br />

weil sie ihre <strong>Träume</strong> für wahr nimmt. Aber<br />

noch ist zunächst Geduld gefor<strong>der</strong>t, Tun im<br />

Nichtstun, bis die Zeit für den nächsten Schritt<br />

reif ist.<br />

<strong>Die</strong> weise Frau sagt zu ihr: »Warte bis <strong>der</strong><br />

Mond voll ist, dann … und Du wirst sehen, was<br />

geschieht.« Dreimal geschieht dies, und auch<br />

dann noch muss sie geschehen lassen und annehmen,<br />

was ihr bestimmt ist.<br />

Noch ist die Zeit, <strong>der</strong> Mensch nicht reif. Es<br />

findet Ver-Wandlung in Frosch und Kröte statt<br />

und zugleich Trennung. Je<strong>der</strong> Entwicklungsund<br />

Heilungsprozess hat seine för<strong>der</strong>nden und<br />

hemmenden Phasen. Hier scheint es, dass eine<br />

»animalische« Beziehung, in <strong>der</strong> die geistige Seite<br />

fehlt, keine Basis für eine wirkliche, liebende<br />

Beziehung ist.<br />

Schafe in <strong>der</strong> Einsamkeit hüten heißt, in die<br />

Stille gehen, schweigen, sich besinnen, sammeln<br />

und <strong>der</strong> eigenen inneren Stimme lauschen. Im<br />

Baum sitzen und Hemden nähen kann für eine<br />

Frau bedeuten, in intensiver Konzentration sich<br />

auf die eigenen geistigen Kräfte zu besinnen,<br />

die es aus <strong>der</strong> Verzauberung des noch »tierisch«<br />

unbewussten, vogelgleichen Zustandes zu befreien<br />

gilt. In <strong>der</strong> Stille wachsen dem Menschen<br />

heilende Kräfte zu; plötzlich weiß er von innen<br />

heraus, welchen Weg er gehen kann und muss,<br />

um ans Ziel zu kommen. Dann mag geschehen,<br />

was geschehen will. Mann und Frau, Prinz und<br />

Prinzessin begegnen einan<strong>der</strong> und »erkennen«<br />

sich. »Und sie feierten Hochzeit und lebten<br />

glücklich bis an das Ende ihres Lebens.«<br />

Ein Kindheitstraum, ein ersehnter Wunsch<br />

erfüllt sich, eine lange verdrängte Eigenschaft<br />

belebt sich, wird toleriert, eine Projektion kann<br />

zurückgenommen werden, eine neue Liebe im<br />

weitesten Sinne blüht auf und Selbstvertrauen,<br />

Selbstsicherheit und Zuversicht in den »weiteren«<br />

Weg.<br />

Das Ich wird durch die Einflussnahme des<br />

Unbewussten nicht zerstört o<strong>der</strong> ersetzt, son<strong>der</strong>n<br />

es wird durch die Anerkennung des Unbewussten,<br />

durch die Annahme <strong>der</strong> <strong>Träume</strong> als<br />

Realität und die Integration <strong>der</strong> Erkenntnisse<br />

zur Vollständigkeit und Ganzheit erweitert.<br />

Wir vollziehen eine Wandlung hin zu mehr<br />

Individualität, »unserer innersten, letzten und<br />

unvergleichbaren Einzigartigkeit, zum eigenen<br />

Selbst« (C. G. Jung) und damit zugleich zum an<strong>der</strong>en<br />

Menschen.<br />

50<br />

<strong>Die</strong> <strong>Christengemeinschaft</strong> 7– 8 | 2012

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