PDF-Format - Hans Joachim Teschner
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Titel<br />
<strong>Hans</strong> <strong>Joachim</strong> <strong>Teschner</strong><br />
DER RAUB<br />
DES<br />
WABBELSTEINS<br />
Gnadenlos Verlag<br />
26316 Varel<br />
www.hajoteschner.de<br />
© <strong>Hans</strong> <strong>Joachim</strong> <strong>Teschner</strong><br />
Alle Rechte vorbehalten
Zippel und Bimballo<br />
»Hoch lebe König Wabbel der Zweite!« Vor dem Balkon der Wabbelburg<br />
hatten sich die Wabbelanier eingefunden, um ihrem König zu huldigen.<br />
König Wabbel II. Füllte mit seiner imposanten Gestalt den gesamten Bal-<br />
kon aus.<br />
»Es wabbelt!« rief er der Menge zu und warf eine Handvoll Gummibär-<br />
chen über den Platz.<br />
»S'wabbelt! S'wabbelt!« schallte es hundertfach zurück.<br />
»Wabbelanier!« rief der König, »wie ihr wisst, feiert morgen Königin<br />
Wabbeline ihren Geburtstag. Aus diesem Anlass bleiben die Schulen<br />
geschlossen, und es darf nicht gearbeitet werden. Zu dem Fest in der Wab-<br />
belburg sind alle Bürger eingeladen. Es gibt Freibier und Wackelpudding.«<br />
Ein tosender Jubel brauste auf und unterbrach die Ansprache. Der König<br />
hob die Hand und rief: »Es wabbelt!«<br />
»S'wabbelt! S'wabbelt!« donnerte es vom Platz, »Hoch lebe Königin<br />
Wabbeline.«<br />
Plötzlich hörte man eine schrille hohe Stimme: »S'wibbelt, s'wibbelt!«<br />
Das war Schneider Zippels dünne Fistelstimme, die da so aufgeregt kickste<br />
und tremolierte.<br />
Bimballo, der Wirt des Gasthauses Goldener Dotter, puffte den Schnei-<br />
der Zippel mit seinem dicken Schmerbauch in die Rippen: »Es wabbelt,<br />
heißt es. Wann wirst du endlich begreifen, dass der offizielle Gruß S'wab-<br />
belt heißt.«<br />
Zippel verlor das Gleichgewicht. Er trudelte, schlingerte, und ruderte<br />
mit den Armen. Normalerweise konnte einen Wabbelanier nichts aus dem<br />
Gleichgewicht bringen. Einzig Schneider Zippel machte da eine Ausnahme.<br />
Er hatte auch nicht wie alle anderen einen kugelrunden, ballonartigen<br />
Bauch, mit dem es sich richtig schön wabbeln ließ. Wenn Zippel vor Freude<br />
wabbeln wollte, klapperte es nur dürre und trocken. Meistens verlor er<br />
dabei die Balance. Und wenn ein Nachbar ihn freundschaftlich anpuffte, fiel<br />
er sowieso gleich über seine Glasnudelbeine. Wegen seiner spillerigen<br />
Gestalt hänselten ihn die Kinder, und sie riefen ihm nach:<br />
»Schmergel, schrumpel, Schneiderbauch, passt durch jeden Garten-<br />
schlauch.«<br />
Darüber erboste sich Zippel so sehr, dass er die freche Bande mit erho-<br />
bener Nähnadel verfolgte und mit überschnappender Stimme schrie:<br />
»Stech euch, stech euch in die Beine, wie die wilden Stachelschweine.«
Aber die übermütigen Wabbelkinder lachten nur und spuckten ihre<br />
Bubblegums und Gummibärchen auf die Straße. Prompt glitschte der auf-<br />
gebrachte Schneider darauf aus und brach sich fast die Beine. Vor Scha-<br />
denfreude wabbelten die Kinder so heftig, dass sich die Fensterscheiben<br />
bogen.<br />
Aber zurück zur Wabbelburg. Wieder einmal lag Zippel auf dem Pflaster<br />
und strampelte mit seinen Glasnudelbeinen. Bimballo, der schmerbäuchige<br />
Gastwirt, half Zippel wieder auf die Füße. Inzwischen hatte sich König<br />
Wabbel II. Vom Balkon zurückgezogen, und die Menge verlief sich in den<br />
Straßen.<br />
»Komm«, brummte Bimballo gutmütig, »komm Zippel. Wir gehen zu<br />
mir in den Goldenen Dotter. Ich geb dir ein Glas Honigbier aus.«<br />
Man muss wissen, dass die Wabbelanier alle Getränke mit Honig misch-<br />
ten. Ein Glas Bier bestand aus einem halben Glas Honig, in das ein Viertel<br />
Maß Bier hineingezapft wurde.<br />
Zippels Augen leuchteten auf. Durstig leckte er sich die schmalen Lip-<br />
pen. »Angenommen Kamerad,« fistelte er mannhaft und wabbelte mit sei-<br />
nem ganzen Körper. Oh je, es klang wie ein Sack alter Knochen. Mitleidig<br />
puffte Bimballo den Schneider an und schubste ihn in Richtung Goldener<br />
Dotter. Zwar stolperte Zippel unterwegs noch dreimal über seine eigenen<br />
Glasnudelbeine, aber er war wenigstens vor den Kindern sicher. Denn vor<br />
Bimballos mächtigen Schmerbauch hatten sie einen Heidenrespekt.
Im Goldenen Dotter<br />
Zwei Stunden später saß Zippel immer noch im Goldenen Dotter. Zu<br />
Hause wartete niemand auf ihn. Welche Frau wollte schon solch einen spil-<br />
lerigen Mann haben? Er konnte ja nicht einmal richtig wabbeln. So ver-<br />
brachte Zippel viele Abende bei seinem Freund Bimballo. Die Leute frotzel-<br />
ten schon, er habe ein Auge auf Melanie geworfen, der Tochter Bimballos.<br />
In ganz Wabbelanien fand man kein schöneres Mädchen als Melanie. Mit<br />
ihrem anmutigen Wabbeln verdrehte sie die Köpfe aller Männer. Und tat-<br />
sächlich schielte Zippel sehnsüchtig hinter ihr her. Aber er dachte bei sich:<br />
»Es ist hoffnungslos. Ich und Melanie? Da wabbeln ja die Hühner.«<br />
»Noch ein Glas Honigbier,« rief er Melanie traurig zu, »und außerdem<br />
einen Spezialwackelpudding.« Melanies Spezialwackelpudding war bis weit<br />
über die Landesgrenzen berühmt. Es handelte sich um einen Vierfar-<br />
ben-Wackelpudding mit einem Sahnehäubchen darauf, so zart, dass er wie<br />
von selbst auf der Zunge zerging. Wenn Reisende durch Wabbelburg<br />
kamen, blieben sie oft eine Nacht länger, um abends bei Bimballo in den<br />
Goldenen Dotter einzukehren. Denn den Genuss des Spezialwackelpud-<br />
dings wollte sich niemand entgehen lassen. Aber natürlich war auch Mela-<br />
nies Schönheit nicht ganz unschuldig am guten Geschäft des Gasthauses.<br />
Wie Zippel warfen viele Gäste der Wirtstochter sehnsüchtige Blicke nach.<br />
Wer nun glaubt, dass es im ganzen Lande Eifersüchteleien und Ehestrei-<br />
tereien wegen Melanie hätte geben müssen, irrt sich gewaltig. Denn um<br />
Melanie warben zwei Gesellen, mit denen sich niemand ernstlich anlegen<br />
wollte. Die beiden Helden kamen sich fast täglich in die Haare wegen der<br />
schönen Wirtstochter, obschon sie unzertrennliche Freunde waren. Ganz<br />
Wabbelanien fieberte um den Ausgang dieses zähen Buhlens. Sogar Wet-<br />
ten wurden abgeschlossen, wer von den beiden Kumpanen schließlich die<br />
Gunst Melanies erringen würde. Aber zum Leidwesen Bimballos konnte und<br />
konnte sich seine Tochter nicht entscheiden, denn sie hatte beide gleich<br />
gern. Mitunter sang Bimballo in einem klagenden Ton ein seltsames Lied:<br />
»Wieder gehen zwanzig Jahre<br />
in das schöne Wabbelan.<br />
Melanie kriegt graue Haare<br />
aber keinen Ehemann.«<br />
Wer waren nun die beiden Wabbelanier, die sich wegen Melanie schier<br />
die Beine ausrissen? Um das zu erfahren, brauchte man im Goldenen Dot-<br />
ter nicht lange zu warten.
Krachend schlug die Wirtshaustür auf. »S'wabbelt!« brüllte eine mächti-<br />
ge, voluminöse Bassstimme. Ein enorm dicker, kugelbäuchiger und musku-<br />
löser Wabbelanier schob sich durch den Türrahmen.<br />
»S'wabbelt, Plumplum«, riefen einige Einheimische. Plumplum, der<br />
neue Gast, stapfte mit kurzen festen Schritten durch den Raum. Zwar war<br />
er von kleiner Gestalt, aber alles an ihm war rund und gedrungen. Selbst<br />
das stärkste Puffen konnte ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen.<br />
her.<br />
»S'wibbelt, Plimplim, s'wibbelt,« fistelte nun auch Zippel von der Theke<br />
»Aaah Zippel!« brüllte Plumplum donnernd, »wieder mal die Einsamkeit<br />
begießen, he?«<br />
Plumplum nahm Kurs auf den Schneider. Auf seinem Weg puffte er ein<br />
paar Bekannte an, und so nebenbei stieß er mit seinem prallen Bauch vier<br />
Stühle um.<br />
»Aaah!« schrie Plumplum ungehalten, »wozu stehen diese elenden<br />
Holzgestelle im Weg herum? Ein anständiger Mensch setzt sich doch nicht<br />
mitten in den Weg!«<br />
Und er schob mit seinen keulenförmigen Armen ein paar Tische mitsamt<br />
den davor sitzenden Gästen einfach an die Wand. Schließlich war er bei<br />
Zippel angelangt und drehte sich behäbig um. Der Raum des Gasthauses<br />
sah nun aus wie ein Bahnhofswartesaal: rechts und links an den Wänden<br />
klebten die Gäste hinter zusammengerückten Tischen und Stühlen. Eine<br />
breite Gasse in der Mitte zeugte von Plumplums ungestümen Durchmarsch<br />
durch die Stube.<br />
Mitleidig puffte Plumplum gegen Zippels Klapperbauch. Zippel trudelte,<br />
ruderte mit den Armen und wäre auf die Nase gefallen, hätte Plumplum<br />
ihn nicht mit seinen Keulenarmen aufgefangen.<br />
»Mußt mehr Pudding essen, Schneider!« brüllte Plumplum. Noch nie<br />
hatte jemand ihn leise reden hören. Und so übertönte seine Bassstimme<br />
alle anderen Gespräche.<br />
»Nimm dir ein Beispiel an mir, Zippel. Dann bekommst du einen echten<br />
wabbelanischen Bauch.« Mit seinen dicken Wurstfingern tippte er sich in<br />
seinen gewölbten Bauch.<br />
Gerade schob Melanie einen riesigen Teller herüber, auf dem ein dreistö-<br />
ckiger Wackelpudding schlingerte. Durch die grüne Waldmeisterfarbe<br />
schimmerten Rosinen, und auch die Oberfläche war über und über mit<br />
Rosinen gespickt. Dieses opulente Mahl hatte den Namen Plumpudding,<br />
denn Melanie hatte ihn eigens für Plumplums großen Hunger erfunden.<br />
Seufzend schaffte Bimballo wieder Ordnung in der Gaststube. Er stellte
die Tische und Stühle zurück in den Raum, so dass alle Gäste reichlich<br />
Platz hatten. Bei den Fremden, die noch immer vor Schreck kein Wort her-<br />
ausbrachten, entschuldigte er sich mit tiefen Bücklingen.<br />
Plumplum hatte seinen Plumpudding schon zur Hälfte aufgegessen, als<br />
erneut die Eingangstür aufgestoßen wurde und der Straßenwind durch die<br />
Stube blies.<br />
»S'wabbelt! Ahoi!« Ein baumlanger Wabbelanier stieß mit seinem Kopf<br />
gegen den Türpfosten. Der pralle Wabbelbauch verjüngte sich nach oben<br />
hin, so dass die hünenhafte Gestalt wie eine übergroße Birne aussah. Auch<br />
der Kopf ähnelte stark einer Birne.<br />
»S'wabbelt, Hübeldübel«, antworteten einige Wabbelburger. Plumplum<br />
ließ sich nicht beim Essen stören. Sollte er etwa jeden Tag zehnmal seinen<br />
Freund Hübeldübel grüßen?<br />
»Heiß die Segel! Schotten dicht!« rief Hübeldübel und knallte die Tür so<br />
heftig zu, dass sie in den Angeln schepperte.<br />
»S'wibbelt, Hübeldübel, s'wibbelt.« Zippeis krächzige Fistelstimme<br />
erreichte das Ohr des Hünen.<br />
»Ahoi Zippel, wieder mal die Einsamkeit begießen, he?« Trotz der<br />
großen Lautstärke hatte Hübeldübels Stimme einen singenden melodischen<br />
Tonfall, wie man ihn nur von irischen Seeleuten her kennt. Tatsächlich war<br />
Hübeldübel früher jahrelang als Schiffszimmermann durch die Welt<br />
geschippert.<br />
»Kurs hart Backbord. Volle Fahrt voraus!« befahl er sich nun selbst,<br />
drehte sich zur Theke und nahm tatsächlich Fahrt auf. Schon kippten die<br />
ersten Stühle links und rechts über Bord. »Beim Klabautermann«, rief er,<br />
»was stehen diese elenden Holzgestelle auf der Kommandobrücke herum.<br />
Ein anständiger Fahrensmann setzt sich doch nicht mitten auf den Steg.«<br />
Und mit seinen langen, birnenförmigen Armen schob er einfach Tische<br />
und Stühle und die darauf sitzenden Gäste an die Wand. Schnaufend<br />
erreichte er Zippel und puffte ihn so ungestüm, dass dieser auf den Boden<br />
fiel, noch bevor ihn jemand auffangen konnte.<br />
Bimballo raufte sich die Haare: Wieder einmal hatte seine gemütliche<br />
Gaststube eine starke Ähnlichkeit mit einem Bahnhofswartesaal. Rechts<br />
und links an der Wand klebten die Gäste hinter zusammengerückten<br />
Tischen und Stühlen. Eine breite Gasse in der Mitte zeugte von Hübeldü-<br />
bels Durchmarsch durch die Stube.
Der Muntermacher<br />
Und wieder mußte Bimballo Ordnung in seiner Gaststube schaffen.<br />
Missmutig brummte er in seinen Bart: »Einen Bahnhof sollte man hier bau-<br />
en. Den Wartesaal kriege ich schließlich umsonst.«<br />
»Murmelt hier jemand laut?« kam die schallende Antwort von der The-<br />
ke. Plumplum war – trotz seines lauten Organs – keineswegs schwerhörig.<br />
Derweil hatte Melanie ins Regal gegriffen und einen großen gläsernen<br />
Stiefel herausgenommen. Diesen stellte sie unter den Honigzapfhahn und<br />
ließ ihn bis zur Hälfte mit dem gelben Trank volllaufen. Alsdann füllte sie<br />
den Stiefel bis an den Rand mit hochprozentigem Rum aus Jamaika. Ein<br />
entsetzliches Getränk. Hübeldübel nannte es seinen Muntermacher. Vor-<br />
sichtig hob er den Stiefel an die Lippen und ließ den zähflüssigen Inhalt<br />
langsam in seine Kehle laufen.<br />
Mit offenen Mäulern beobachteten die Gäste den Riesenschluck. Gleich<br />
müsste er tot umfallen, dachten sie. Das konnte doch niemand lebendig<br />
überstehen.<br />
Jetzt hörte man deutlich ein Gluckern, welches aus Hübeldübels Birnen-<br />
bauch kam. Es klang, als ob eine Regentonne mit Wasser aufgefüllt würde.<br />
Zuerst ein tiefes Glubsen. Dann pladderte es in einer höheren Tonlage.<br />
Dann ging es in ein helles Plitschern über. Gleich musste der Bauch voll<br />
sein. Atemlos verfolgten die Gäste das Schauspiel. Mit aufgerissenen<br />
Augen starrte Melanie auf den Hünen.<br />
Da! Ein tiefes, ungehobeltes Rülpsen fuhr aus der Kehle des Säufers.<br />
Seine Augen kollerten und drehten sich. Der Stiefel glitt aus seiner Hand.<br />
Schwankend hob sich die birnenförmige Gestalt, drehte sich zweimal im<br />
Kreise und fiel der Länge nach auf die Dielen.<br />
»Einen Arzt!« rief ein Gast aufgeregt.<br />
»Einen Leichenbestatter!« rief ein anderer, »der ist doch mausetot.«<br />
»Einen Wackelpudding!« brüllte Plumplum dazwischen.<br />
»Einen Wackelpudding?« Empört wandten sich die Gäste um. »Einen<br />
Wackelpudding? Wozu einen Wackelpudding?«<br />
»Na ich habe Hunger, was sonst?« donnerte Plumplum und klatschte<br />
sich auf den Bauch.<br />
»Unhold! Roher Geselle! Monstrum!« Und was die aufgebrachten Gäste<br />
noch alles riefen. Empört blubberten sie Pumplum an, dass einem Angst<br />
und Bange werden konnte<br />
Wenn ein Wabbelanier ärgerlich war, blubberte er nämlich drohend,
überhaupt hatte man in Wabbelanien stets seine Gefühle zu zeigen. Wer<br />
sich freute oder heiter war, hatte gefälligst zu wabbeln. Bei Wut und Ärger<br />
musste geblubbert werden. Auch ihre Angst durften die Einwohner nicht<br />
verbergen. Dann bibberten sie und fröstelten. Und dicke große Kullerträ-<br />
nen wurden vergossen, wenn ein trauriges Ereignis die Familie heimsuchte.<br />
Ganz und gar unhöflich war es aber, wenn einer sich verstellte oder seine<br />
Gefühle vor den Mitmenschen verbarg.<br />
So wundert es nicht, dass die Gäste den hartherzigen Plumplum<br />
anblubberten. Nur mit Mühe konnte Bimballo sie in Schach halten, und<br />
derbe puffte er sie mit seinem Schmerbauch auf ihre Plätze zurück.<br />
»Gemach, gemach«, brummte er beruhigend.<br />
»Ahoi.«<br />
War das nicht Hübeldübels Stimme?<br />
»Ahoi! Heiß die Segel!« Unüberhörbar erscholl der Singsang des ehe-<br />
maligen Seefahrers. Benommen kam der Hüne wieder auf die Beine.<br />
Melanie schluckte dreimal, bevor sie wieder ein Wort herausbekam. So<br />
war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.<br />
»Oh du schlimmer Narr.« Vor Erleichterung schlang sie ihre Arme um<br />
Hübeldübels Hals und küsste ihn mitten auf den Mund.<br />
»Aaah!« brüllte Plumplum, »so also erschleicht man sich neuerdings<br />
einen Kuss.«<br />
»Erschleichen?« fragte sein Kumpan erbost, »was soll das heißen?«<br />
»Das soll heißen, dass alles nur ein mieser Trick war. Alles Schauspiel. Pfui<br />
Teufel!« »Beim Klabautermann«, wollte Hübeldübel einwenden, aber sein<br />
Freund fuhr ihm hitzig in die Parade: »Und unfair ist es. Besonders unfair.<br />
Jeder weiß, dass ich selbst nie das Gleichgewicht verlieren kann. Also kann<br />
ich auch nicht umfallen. Also kriege ich auch keinen Kuss von Melanie.«<br />
Plumplum sprang von seinem Hocker und puffte Hübeldübel so heftig in die<br />
Seite, dass dieser durch den Raum rutschte. Schnell hüpfte Plumplum hin-<br />
terher. Doch Hübeldübel umfaßte mit seinen langen Birnenarmen seinen<br />
kugelrunden Gegner und presste ihn mit aller Kraft. Plumplum streckte die<br />
Zunge raus. Sein Kugelkopf lief rot an.<br />
»Schnell Melanie«, rief Bimballo, »hol die saure Milch.« Und zu Zippel<br />
gewandt: »Hast doch sicher eine Nähnadel dabei. Gib sie schon her.«<br />
Trotz seiner Atemnot hatte Plumplum seine Keulenarme gegen Hübeldü-<br />
bels Taille gestemmt und preßte sie seinerseits wie einen Schraubstock<br />
zusammen. Hübeldübel röchelte. Sein Birnenkopf lief ebenfalls rot an.<br />
Keiner der Gäste wagte es, dazwischen zu gehen. Melanie stürzte aus<br />
der Küche, einen großen Topf saurer Milch in den Händen. Bimballo sprang
hinter der Theke hervor. In der Faust schwang er die große Ersatznähnadel<br />
von Zippel. Platsch! Da ergoss sich auch schon klumpige saure Milch auf<br />
die beiden Kampfhähne. Ein gut geführter Nadelstich piekste Plumplums<br />
dicken Hintern. Auch Hübeldübel bekam einen Streich ab.<br />
»Autsch!« jaulte Plumplum. K<br />
»Igitt!« schüttelte sich Hübeldübel.<br />
Die beiden Freunde fuhren auseinander. Angewidert prustete Hübeldü-<br />
bel die saure Milch aus der Nase. Plumplum rieb sich den schmerzenden<br />
Hintern.<br />
»Hohoho«, lachte Hübeldübel und zeigte voll Schadenfreude auf den<br />
jaulenden Kugelbauch.<br />
»Hahaha«, lachte Plumplum mit verzerrtem Gesicht zurück: »hast wohl<br />
eine Schönheitsmilch nötig, he?«<br />
Beide kamen so heftig ins Wabbeln, dass die Gläser in den Regalen zu<br />
klirren und zu tanzen anfingen. Auch Bimballo schlug sich auf seinen<br />
Schmerbauch vor Erleichterung. Nun konnten sich auch die anderen Gäste<br />
nicht mehr halten und wabbelten, was das Zeug hielt. Durch die Fenster<br />
schielten aufgescheuchte Straßenpassanten herein, um zu erfahren, was<br />
im Goldenen Dotter vor sich ging.<br />
»Ruhe bitte!« Bimballo klopfte mit einem Löffel gegen ein Glas. »Ruhe<br />
Leute. Wir wollen nicht vergessen, dass unsere gute Königin Wabbeline<br />
morgen ihren Geburtstag feiert. Sie wird sicher nichts dagegen haben,<br />
wenn wir schon heute darauf antrinken. Deshalb sind alle von mir auf ein<br />
Freibier eingeladen.«<br />
»Hoch lebe Königin Wabbeline. Hoch Bimballo!« Eine solch ausgelasse-<br />
ne Stimmung hatte der Goldene Dotter schon lange nicht erlebt.
Ein seltsamer Gast<br />
Nur einer der Anwesenden schien sich nicht so recht freuen zu können.<br />
Sein Tischnachbar, der Bauer Knollhut, der auf dem Markt süße Melonen<br />
verkaufte, dachte schon die ganze Zeit: 'Eine seltsame Figur. Irgendwie<br />
unangenehm. Richtig unheimlich.'<br />
Aber Bauer Knollhut prostete ihm dennoch freundlich zu. Der Fremde,<br />
denn ein Wabbelanier konnte er unmöglich sein, beugte sich zu Knollhut<br />
hinüber und flüsterte: »Wer sind diese beiden rohen Gesellen?«<br />
»Ach, das weißt du nicht? Du kennst Hübeldübel und Plumplum nicht?<br />
Die Hüter des legendären Wabbelsteins?«<br />
Der Fremde rückte noch näher heran. »Hüter des Wabbelsteins? Diese<br />
ungehobelten Brüder behüten den legendären Wabbelstein?« Und zu sich<br />
selbst wisperte er: »He he, das trifft sich günstig.«<br />
Bauer Knollhut rümpfte sich die Nase. Ihm schien, als habe jemand<br />
einen faulen Hering auf den Tisch gelegt.<br />
Plötzlich fuhren beide erschrocken hoch. Wie ein Felsbrocken hatte sich<br />
Plumplum vor ihnen aufgepflanzt.<br />
»Wird hier etwa laut gemurmelt!« brüllte er mit seiner gewohnten Baß-<br />
stimme. »Seit wann wird in Wabbelanien geflüstert und gewispert?«<br />
Denn eines gehörte in Wabbelburg und Umgebung zu den ganz ungehö-<br />
rigen Manieren: geheimnisvoll zu tun und hinter der vorgehaltenen Hand<br />
zu flüstern.<br />
»Aaah Bauer Knollhut!« polterte Plumplum erfreut. »Hoffentlich sind die<br />
Melonen dieses Jahr besonders süß.« Mit seinen Wurstfingern drückte der<br />
Hüter des Wabbelsteins den Bauern auf den Stuhl.<br />
»Und wie ist dein Name, Fremder? Denn ein Wabbelanier kannst du ja<br />
wohl nicht sein.«<br />
Neben Plumplum hatte sich nun auch Hübeldübel aufgebaut. Mißtrau-<br />
isch betrachteten beide den Fremden. Der hatte so gar nichts Wabbeliges<br />
an sich. Eckig stachen seine Schultern durch die Jacke, eine spitze Nase<br />
ragte aus einem Raubvogelgesicht, und ein hervorstehender Eckzahn hack-<br />
te nervös auf der Unterlippe herum. Zwar schien der Mann erschreckt,<br />
aber er bibberte nicht und zeigte auch sonst keine Gefühle. Kühl erwiderte<br />
er: »Mein Name ist Brutus Ranzig. Fischhändler aus Kloakien. Verkaufe<br />
abgehangene Seeigel und gepökelte Stichlinge.«<br />
Verblüfft glotzten die beiden Haudegen sich an.<br />
»Seeigel?«
»Stichlinge?« Angeekelt schüttelten sie sich. »Ein echter Wabbelanier<br />
mag doch keine Stichlinge. Höchstens mal einen Süßwasseraal in Honiga-<br />
spik.«<br />
»Einen komischen Geschmack haben die Leute hier,« grantelte Brutus<br />
Ranzig. Voller Schadenfreude meckerte er Hübeldübel an: »He he, keine<br />
Stichlinge mögen, aber sich die saure Milch aus dem Bart lecken, he he.«<br />
»Potztausend!« fluchte Hübeldübel und wollte sich schon den Fremden<br />
vornehmen. Aber er hielt inne und schnüffelte mit seiner birnenförmigen<br />
Nase an Ranzig herum.<br />
»Der Kerl stinkt wie eine sieben Tage alte Makrele!« Plumplum hatte<br />
seine Stirn in Falten gelegt und grübelte. »Stichling?« dachte er, »an was<br />
erinnert mich das bloß?« Mit seinem Kugelbauch puffte er den Fremden<br />
an.<br />
»Autsch«, heulte er auf, »der Kerl piekt. Ist selbst stachelig wie ein<br />
Seeigel.«<br />
»Beim Klabautermann.« Hübeldübel griff sich an den Kopf. »Stinkt wie<br />
ein toter Fisch und piekst wie ein Seeigel? Das könnte ja direkt ein Sta-<br />
chelländer sein.«<br />
Mit einem Schlag war es still in der Gaststube. Stachelland! Das feindli-<br />
che Stachelland! Schon das Wort jagte den Wabbelaniern Schauer über<br />
den Rücken, und sie bibberten wie Espenlaub. Die bösen Stachelländer<br />
waren kriegslüsterne Plünderer jenseits des Faltengebirges. Herrscher über<br />
Stachelland war der brutale Generalissimo Krtzkrr Krieger. Ständig lebten<br />
die Wabbelanier in der Furcht vor den Überfällen seiner Soldaten. Und hier<br />
in Wabbelburg, ausgerechnet im Goldenen Dotter, sollte sich ein Stachel-<br />
länder eingeschlichen haben?<br />
Aber Brutus Ranzig ließ sich nicht einschüchtern. Kaltblütig meckerte<br />
er: »Was redet ihr denn? Seht ihr nicht, dass ich Honigbier trinke und<br />
Wackelpudding esse? Kein Stachelländer würde auch nur einen Schluck<br />
herunter bekommen. Ersticken würde er daran.«<br />
Zum Beweis kippte Ranzig sich ein volles Glas Honigbier in den Hals.<br />
»Recht hat er!« brüllte Plumplum, »ein Stachelländer würde eher seine<br />
Großmutter verkaufen als ein Glas Honigbier trinken.«<br />
Bimballo, der seinen Gast nicht verprellen wollte, meldete sich besorgt:<br />
»Mir scheint, die Aufregung ist unserem Gast auf den Magen geschlagen.<br />
Er ist ja schon ganz grün im Gesicht. Lasst ihn in Ruhe.«<br />
In der Tat sah Ranzig recht mitgenommen aus. Schluckend wankte er<br />
zum Ausgang, um frische Luft zu schnappen. Draußen, vor der Gaststätte,<br />
brach er das ganze Bier wieder aus. Doch weder Bimballo noch Zippel noch
sonst einer bemerkte dies.<br />
Die Straßenlaternen leuchteten schon. Viele Gäste brachen auf, um für<br />
die morgige Geburtstagsfeier ausgeschlafen zu sein. Nur Ranzig, Zippel<br />
und die beiden Haudegen hockten noch zusammen und palaverten.<br />
Geschickt hatte Ranzig das Gespräch auf den Wabbelstein gebracht, den<br />
Staatsschatz von Wabbelanien.<br />
»Wie kommt es«, fragte er listig, »dass die Hüter des Wabbelsteins in<br />
der Kneipe Bier trinken statt den Staatsschatz zu hüten? Habt ihr keine<br />
Angst, dass er gestohlen wird?«<br />
»Aaah!« brüllte Plumplum und klatschte seine Hand mit solcher Wucht<br />
auf Ranzigs Rücken, dass dieser einen alten Zahn ausspuckte. »Hahaha,<br />
was für ein Possenreißer. Ihr Kloakier seid schon lustige Pickelheringe.<br />
Erklär du es ihm, Hübeldübel, du kannst es besser.«<br />
»Ahoi. Also höre: Die beiden Hüter des Wabbelsteins, diese mutigen<br />
und unerschrockenen Helden, diese tapferen und...«<br />
»Hör auf Hübeldübel, das nimmt ja kein Ende,« stöhnte Bimballo, »kurz<br />
gesagt: Um zum Wabbelstein zu gelangen, müssen sechs eiserne Tore<br />
geöffnet werden. Drei Schlüssel verwahrt Plumplum, die anderen drei<br />
Hübeldübel. Nur abwechselnd können sie die schweren Tore aufschließen.<br />
Einer allein kommt nicht durch. Der Wabbelstein selbst aber ist in einem<br />
Schrein aufbewahrt. Dieser Schrein hängt an einem Hanfseil und ist mit<br />
einem komplizierten Schifferknoten befestigt, den allein Hübeldübel auflö-<br />
sen kann. Sollte aber doch jemand unbefugt den Knoten lösen, würden alle<br />
Glocken in Wabbelburg zu läuten anfangen. Denn das Hanfseil ist mit allen<br />
Glockensträngen in der Stadt verbunden. Es gibt nur zwei Einwohner, die<br />
stark genug sind, das Seil zu halten, ohne dass die Glocken läuten. Na und<br />
wer kann das schon sein außer den Hütern des Wabbelsteins, die leibhaftig<br />
neben dir sitzen.«<br />
»Eine starke Rede«, applaudierte Zippel.<br />
»Hat nur einen klitzekleinen Fehler«, meckerte Ranzig hinterhältig.<br />
»So? Welchen denn, du Schlaumeier?« »Na na, nicht so feindselig, mein<br />
lieber Zippel.« Brutus Ranzig tat sehr besorgt. »Es könnte doch jemand die<br />
Schlüssel stehlen.« »Haha, köstlich.« Plumplum wabbelte vor Heiterkeit.<br />
»Dieser jemand müßte uns den Schlüsselbund vom Hals reißen. Hast du so<br />
was schon gehört Hübeldübel?« Vergnügt klopften sich die beiden Recken<br />
auf die Brust: sechs Schlüssel klingelten metallisch.<br />
»Lasst es gut sein«, ließ Melanie sich vernehmen. Sie war müde und<br />
gähnte. »Dies ist die letzte Runde vor dem Geburtstag der Königin.«<br />
»Dann lass einen Stiefel auf meine Kosten rundgehen.« Ranzig war auf-
gesprungen und warf Geldstücke auf die Theke.<br />
»Ahoi. Der Kerl lernt endlich gute Wabbelsitten.« Bimballo zapfte einen<br />
großen Stiefel Honigbier. Den ersten Schluck nahm Ranzig selbst. Keiner<br />
bemerkte, wie er mit einer flinken Bewegung ein braunes Pulver in den<br />
Stiefel streute.<br />
Als nächster nahm Zippel einen großen Schluck. Die Hüter des Wabbel-<br />
steins ließen sich auch nicht lange bitten. Bimballo schließlich schüttete<br />
den Rest hinunter. Er hob den leeren Stiefel und rief: »Hoch lebe Königin<br />
Wabbeline!«<br />
»«S'wibbelt«, lallte Zippel, »ein verdammt starkes Gesöff.« Melanie<br />
löschte die Lichter.
Die Geburtstagsfeier<br />
Wohin man auch schaute: überall festlicher Glanz, herausgeputzte Wab-<br />
belanier und aufgeregtes Treiben. Aus den Fenstern hingen Fahnen und<br />
Girlanden. Hoch oben über den Zinnen der Burg flatterte die sechseckige<br />
Nationalflagge mit dem Wabbelwappen: zwei Gummibärchen, die einen<br />
Bienenkorb bewachten. Unten in den Straßen strömten die Leute zur Burg.<br />
Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, dass auf dem Burg-<br />
hof etwas Außergewöhnliches vorbereitet wurde. Zimmerleute hatten über<br />
Nacht eine hölzerne Plattform errichtet, zu der eine kurze Treppe führte.<br />
Neben dem Podest ragte ein quadratischer Sockel auf, der irgendetwas<br />
Großes und Rundes trug. Dieses rätselhafte Gebilde wurde von einem rie-<br />
sigen weißen Tuch verhüllt, welches aus 10 Bettlaken zusammengenäht<br />
war.<br />
Staunend gafften die Wabbelburger das Ungetüm an, und sie schnatter-<br />
ten durcheinander.<br />
Im großen Festsaal der Burg hatte die Feier bereits begonnen. An einem<br />
langen Tisch in der Mitte hatten die Ehrengäste Platz genommen. Der Tisch<br />
war mit einem schneeweißen Damasttuch bedeckt. Echte Bienenwachsker-<br />
zen warfen ein warmes Licht auf die Kristallgläser und silbernen Bestecke<br />
und verbreiteten einen verführerischen Geruch.<br />
»Hoch lebe Königin Wabbeline!« riefen die Ehrengäste wohl zum fünf-<br />
zehnten oder sechzehnten Mal. Dankend nahm Wabbeline die Geschenke<br />
entgegen und wabbelte mit unnachahmlicher Würde.<br />
Gerade verbeugte sich eine Abordnung des Kurortes Bad Glibberheim,<br />
das direkt am Glibbersee lag und für seine Glibberbäder berühmt war. Auf<br />
ein Zeichen öffneten goldbetresste Lakaien die Flügeltür, und hereinge-<br />
schoben wurde ein reich verziertes Himmelbett. Der Bürgermeister von<br />
Bad Glibberheim räusperte sich und sprach: »Verehrte Königin Wabbeline.<br />
Dieses Himmelbett ist ein Geschenk der Bürger von Bad Glibberheim. Es<br />
ist ein ganz besonderes Bett. Seine Matratzen sind nicht etwa mit pieksen-<br />
den Federn oder kratzigem Stroh gefüllt. Nein, der Inhalt dieser einzigarti-<br />
gen geschmeidigen Unterlage besteht aus Glibberwasser vom Glibbersee.<br />
Wer sich auf dieses Glibberwasserbett niederlegt, vergisst alle Sorgen und<br />
sinkt wie auf Wattewolken in den schönsten Schlummerschlaf.«<br />
»Aah« und »Ooh«, riefen die Ehrengäste. Wabbelnd zollten sie dem<br />
Bürgermeister ihre Anerkennung. Neugierig trat die Königin an das Was-<br />
serbett. Zwei pummelige Möpse tollten auf dem glucksenden Glibberma-
tratzen herum. Entzückt klatschte Wabbeline in die Hände und nahm die<br />
Möpse auf den Arm.<br />
»Von wem stammt denn dieses reizende Geschenk?« wollte sie wissen,<br />
»ist das ein Geheimnis?«<br />
Niemand meldete sich. Die Ehrengäste zuckten mit den Schultern und<br />
blickten um sich. Anscheinend fühlte sich keiner angesprochen.<br />
Für einen Augenblick runzelte Wabbeline die Stirn, doch beim Anblick<br />
der drolligen Möpse fing sie wieder an zu wabbeln.<br />
Auch König Wabbel II zog seine Stirn in Falten. Ratlos beugte er sich zu<br />
seinem Nachbarn, dem Professor Eierschädel. Professor Eierschädel galt<br />
als der genialste<br />
Kopf im Land und war der engste Berater des Königs.<br />
»Eine recht ungewöhnliche Art, ein Geschenk zu überreichen«, meinte<br />
der König.<br />
»Ungewöhnlich, unbedenklich und unbeholfen«, antwortete der Profes-<br />
sor. »Außerdem unübersichtlich, unheimlich, unverständlich, ungeheuer-<br />
lich, unüberbrückbar, ungebührlich, ja sogar unabänderlich!«<br />
»Mmh«, brummte Wabbel II, »etwa auch ungezogen?« Für einen<br />
Augenblick stutzte Professor Eierschädel. »Ungezogen? Vielleicht ungele-<br />
gen, ungekürzt, unförmig oder auch unermüdlich, jedoch keineswegs<br />
ungezogen.« Zustimmend nickte der König. Schließlich wollte er nicht<br />
zugeben, dass er nichts begriffen hatte. Der Professor war so schlau, dass<br />
niemand ihn verstand.<br />
»Seht nur«, rief Königin Wabbeline, »auf den Halsbändern sind Namen<br />
eingraviert.«<br />
Professor Eierschädel steckte sich seine Brille auf die Nase und nahm<br />
den ersten Mops in Augenschein.<br />
»Aha«, dozierte er, »eine korinthische Hieroglyphe aus der Zeit Rosinel-<br />
los, der auch der Zuckerkranke genannt wurde.«<br />
»Ja, ja«, drängte Wabbeline, »was aber bedeutet die Inschrift auf wab-<br />
belanisch?«<br />
»Mmh, mmh. Wenn ich auch des Korinthischen mächtig bin, so ist dies<br />
ein besonders schwieriger Fall, da hier offensichtlich eine Geheimschrift<br />
verwendet wurde. Dennoch erlaube ich mir zu sagen, dass es sich um das<br />
Wort Blumm handeln muß.«<br />
»Blumm?« fragte Wabbel II, »was bedeutet denn Blumm?« »Komisch«,<br />
unterbrach Wabbeline etwas unsicher, »ich kann es auch auf wabbelanisch<br />
lesen. Dann heißt es einfach Hübel.« »Hübel?« fragte ihr Gemahl, »das<br />
bedeutet doch auch nichts.« »Nun zum anderen Mops,« mahnte Eierschä-
del unwirsch, denn er hielt den Einwurf der Königin für äußerst unwissen-<br />
schaftlich. »Auf dem anderen Halsband lautet die genaue Übersetzung<br />
Pübel.« »Pübel?« Der König schämte sich langsam wegen seiner offenkun-<br />
digen Dummheit, »was soll denn Pübel bedeuten?« »Komisch«, meldete<br />
sich wieder Wabbeline, »auch hier kann ich auf gut wabbelanisch lesen. Es<br />
heißt Plum.« Angewidert putzte Professor Eierschädel seine Brille. Er<br />
rümpfte die Nase und dachte: »Ungebildete Laien.« Mit hochrotem Kopf<br />
erhob sich jetzt Melanie. Auch sie gehörte zu den Ehrengästen, allerdings<br />
eher auf Wunsch des Königs.<br />
»Wenn ich etwas sagen darf«, hauchte sie eingeschüchtert, denn vor so<br />
vielen wichtigen Persönlichkeiten war ihr ganz bibberig zumute.<br />
»Nur zu, schönes Kind«, ermunterte sie der König, und er blickte sie<br />
sehnsüchtig an. Dafür bekam er erst einmal einen Puff von Wabbeline.<br />
»Also diese beiden Namen zusammen, also Hübel und Plum, also das<br />
sind doch die Abkürzungen von Hübeldübel und Plumplum.«<br />
»Ja zum heiligen Wackelpudding!« rief der König ganz unmajestätisch.<br />
»Natürlich. Die Möpse sind die Geschenke von Hübeldübel und Plumplum<br />
und hören auf die Namen Hübel und Plum.«<br />
Nun wurde vor Freude erst einmal ausgiebig gewabbelt. Das Rätsel<br />
schien gelöst. Nur Professor Eierschädel verbohrte sich weiterhin in seine<br />
korinthische Theorie, und mit schulmeisterlichem Ton nörgelte er: »Wo<br />
sind sie denn, die beiden Helden? Ich kann sie nirgendwo entdecken. Seit<br />
wann kann man Möpse auf einem Wasserbett servieren, ohne selbst anwe-<br />
send zu sein?«<br />
Alle Augen richteten sich auf Melanie. Am liebsten wäre sie unter den<br />
Tisch gekrochen. Sollte sie etwa gestehen, wie sie heute morgen die Wirts-<br />
stube vorgefunden hatte? Bimballo hatte schlafend auf dem Honigfass<br />
gesessen. Schneider Zippel hing wie eine lauwarme Makkaroni über der<br />
Theke und pfiff aus beiden Nasenlöchern. Hübeldübel und Plumplum lagen<br />
übereinander und schnarchten um die Wette. Selbst saure Milch konnte sie<br />
nicht wieder aufwecken. Einzig, dieser übelriechende Brutus Ranzig war<br />
wie vom Erdboden verschluckt.<br />
»Nun?« rief der König.<br />
»Also, ja also. Es ist so, dass die beiden auf der Suche sind.« »Was<br />
suchen sie denn ausgerechnet am Geburtstag der Königin?« »Also sie<br />
suchen ihr Geburtstagsgeschenk, nämlich die beiden Möpse. Diese hatten<br />
sich losgerissen. Und nun suchen die beiden Kumpanen in der ganzen<br />
Stadt nach ihnen.« Puh, das war ihr gerade noch rechtzeitig eingefallen.<br />
Liebevoll streichelte Wabbeline die Möpse. Plötzlich begann sie zu
lachen: »Die furchtlosen Hüter des Wabbelsteins schleichen also hinter<br />
zwei Möpsen her!«<br />
Bei rechtem Licht betrachtet war es wirklich eine komische Situation.<br />
Die Geburtstagsgäste wabbelten vor Heiterkeit.<br />
Melanie allerdings war gar nicht zum Lachen. Schnell lief sie in den<br />
Nebenraum und rollte einen bereitstehenden Servierwagen in den Saal.<br />
Auf dem Wagen schlingerte der schönste Wackelpudding, den Melanie je<br />
gebacken hatte: der Königswackelpudding. Eine einzige Kerze brannte dar-<br />
auf, denn niemand kannte das Alter der Königin. Mit großer Würde blies<br />
Wabbeline die Kerze aus. Dann wurde der Wackelpudding unter die Gäste<br />
verteilt. Dazu gab es einen 12 Jahre alten Honigwein aus Bimballos Wein-<br />
keller.<br />
Immer festlicher und ausgelassener wurde die Stimmung. Insgeheim<br />
warteten zwar alle mit Spannung auf das Geschenk des Königs, aber sie<br />
ließen sich den Genuss des Speisen und Getränke dadurch nicht verder-<br />
ben.<br />
Gerade, als der König das Wort ergreifen wollte, rummste es laut. Mit<br />
einem Knall flog die Tür auf. Ein kalter Wind fegte durch die Beine der Leu-<br />
te und pustete die Kerzen aus. Im Halbdunkel des Saals bot sich der<br />
Geburtstagsversammlung ein schreckliches Bild: Zwei zerzauste und rotäu-<br />
gige Gestalten torkelten auf das Festmahl zu. Zwischen sich hatten die<br />
wüsten Gesellen eine schlaffe, jämmerliche Figur eingeklemmt, die sie wie<br />
einen Wasserschlauch hinter sich herschleiften. In der Mitte des Saals<br />
angelangt, ließen sie den Schlauch einfach fallen und brüllten mit heiserer<br />
Stimme: »Hoch lebe Königin Wabbeline! S'wabbelt!«<br />
Entsetzt stoben die Gäste vor dem Lärm zurück. »Ein Überfall«, jam-<br />
merte Eierschädel, »die Korinther fallen ein.«<br />
»S'wibbelt,« winselte es dazwischen, »s'wibbelt.« »Zippel? Bist du es?«<br />
Es war Melanies ängstliche Stimme. Rasch zündete sie eine Kerze an.<br />
Zippel lag auf dem Parkett, die Glasnudelbeine ineinander verknotet,<br />
mit rudernden Armen.<br />
»Ahoi! Laß fallen Anker!« erklang Hübeldübels Singsang, und er sackte<br />
seinerseits auf den Boden.<br />
»Aaah! Armseliges Gewürm«, schnaubte Plumplum, »keine Standfestig-<br />
keit mehr heutzutage.«<br />
»Das geht zu weit!« König Wabbel II blubberte furchterregend. »Am<br />
Geburtstag der Königin! Eine Zumutung! Eine Bloßstellung! Der Nieder-<br />
gang der wabbelanischen Ehre! Ich verlange eine sofortige Erklärung.«<br />
Mit spitz erhobenem Zeigefinger kreischte auch Professor Eierschädel
los: »Ungezogen, unverschämt und ungedübelt, äh, meine natürlich unge-<br />
hobelt.«<br />
»Ein Skandal!« blubberten die Ehrengäste.<br />
Hübeldübel wunderte sich. »Mir ist so« bemerkte er, »als würde hier<br />
laut geblubbert.«<br />
»Scheint seit heute üblich zu sein,« lallte Plumplum. Die beiden waren<br />
noch ganz durcheinander im Kopf. Alles schwamm vor ihren Augen.<br />
»Hihihi«, fistelte Zippel, »ganz neue Sitten, ganz neu.« Doch nun<br />
bewies König Wabbel II seine staatsmännische Überlegenheit und seine<br />
große Umsicht. Er winkte den Musikern, die in einer Ecke warteten und<br />
rief: »Wir wollen uns die Feier nicht verderben lassen. Die drei scheinen<br />
betrunken zu sein. Wir anderen wollen singen und tanzen.« Daraufhin nah-<br />
men die Männer ihre Frauen bei der Hand und führten sie zu der freigelas-<br />
senen Tanzfläche. Die Kapelle spielte zum Wabbeltanz auf. Alle sangen mit,<br />
tanzten und wiegten sich im Takt, und die fröhliche Stimmung kehrte wie-<br />
der ein.
»Es wabbelt, es schnabbelt,<br />
es schlingert im Takt.<br />
Wir wiegen uns, biegen uns,<br />
neigen uns zart.<br />
Wir walzen und balzen<br />
und pendeln im Kreise.<br />
Wir schunkeln und schmunkeln<br />
und summen ganz leise.<br />
Das Lied von Wabbelanien,<br />
von Sirup und Geranien.<br />
Das Lied vom Wabbelstein,
von Pudding und Honigwein.<br />
Es wabbelt und schnabbelt in Wabbelanien, wippelt und zippelt in Wip-<br />
pelesien,<br />
püffelt und müffelt in Kloakien,<br />
stichelt und stachelt im Stachelland,<br />
am schönsten ist es im Wabbelland.<br />
Obwohl doch Melanie das begehrteste Mädchen im Lande war, saß sie<br />
allein am Tisch. Sie mochte nicht tanzen. Wenn sie an die Vorgänge im<br />
Goldenen Dotter dachte, krampfte sich ihr Herz zusammen, und sie hatte<br />
schlimme Vorahnungen.<br />
»Es ist an der Zeit«, verkündete der König nach dem Tanz, das Geheim-<br />
nis meines Geburtstagsgeschenks zu lüften. Folgt mir auf den Burghof.«<br />
Auf demPlatz wimmelte es vor Wabbelaniern. Vor dem Holzpodest<br />
erregte ein seltsamer Mann die Aufmerksamkeit der Leute. Linkisch hüpfte<br />
er von einem Bein auf das andere. Es handelte sich um Felix Kräuselohr,<br />
seines Zeichens Hofkünstler und Maler der königlichen Familie. Eine<br />
schwarze Baskenmütze hielt seine krausen Haarlocken zusammen. Seinen<br />
gewaltigen Schnurrbart hatte der Künstler nach oben gezwirbelt, so dass<br />
die Bartspitzen bis an die Ohren reichten. Zu allem Überfluss hatte er sie<br />
auch noch rot und grün gefärbt, über der ausgebeutelten Pumphose flat-<br />
terte eine Zirkusweste, an der Troddeln und silberne Kettchen baumelten.<br />
»Und nun, Meister Kräuselohr«, befahl Wabbel II, »enthülle das Werk.«<br />
Behände hüpfte der Künstler auf das Podest und ergriff eine Falte des<br />
Tuches, welches das geheimnisvolle Geburtstagsgeschenk verbarg. Lang-<br />
sam und weihevoll zog er das Tuch ab.<br />
»Aaah.« Ein Raunen ging durch die Menge. Vor den Wabbelaniern erhob<br />
sich die lebensechte Statue der Königin Wabbeline.<br />
»Es lebt«, flüsterten die Zuschauer ehrfürchtig. Und wirklich schien die<br />
Statue sich zu bewegen. Ganz deutlich war ein Wabbeln und Schwanken zu<br />
bemerken. Selbst der König brachte vor Staunen kein Wort heraus. Wie<br />
konnte er auch ahnen, dass Meister Kräuselohr in monatelangen Versu-<br />
chen ein neues Material erfunden hatte. Es war ein Gemisch aus Gelee,<br />
Melasse, Gummilösung und Bienenwachs. Aus diesem Kunststoff war die<br />
Statue geformt, und sie bebte und vibrierte beim kleinsten Luftzug.<br />
So etwas hatte Wabbelburg noch nicht gesehen. Die Einwohner moch-<br />
ten ihren Augen nicht trauen. Kein Wort, kein Laut war zu hören.<br />
»Doong!! Doong!!« Wie ein Kanonenknall platzte die große Kirchturm-
uhr in das Schweigen.<br />
»Ding!! Dong!! Dang!!« Eine weitere Glocke schlug an, dann noch eine<br />
und noch eine. Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein und ließ die Stadt<br />
erbeben. Alle Glocken läuteten Sturm. Lauter und lauter wurde das Getö-<br />
se. Vor Schmerz hielten sich die Leute die Ohren zu. Es wollte kein Ende<br />
nehmen.<br />
Dann, als es keiner mehr aushalten konnte, brach der Höllenlärm<br />
abrupt ab. Eine unheimliche Stille lähmte die Herzen der Wabbelanier.<br />
Endlich, nach ewigen Minuten, fasste sich einer ein Herz und flüsterte:<br />
»Der Wabbelstein.«<br />
Aber das Flüstern toste in den Ohren wie ein Wasserfall. Eine weißhaari-<br />
ge Frau klagte mit brüchiger Stimme: »Der Wabbelstein ist geraubt wor-<br />
den.«<br />
Bleich vor Schrecken rief Wabbel II: »Holt mir die Hüter des Wabbel-<br />
steins.«<br />
Sie standen schon neben ihm. Mit fester Stimme rief Hübeldübel: »Noch<br />
sind die Eisentore fest verschlossen. Seht und hört her, ihr Hasenfüße.«<br />
Die beiden Recken stiegen auf das Holzpodest und klopften sich mit den<br />
Fäusten auf die Brust. Platsch, klang es, und nochmals: Platsch. Kein<br />
metallisches Klingeln, kein Schlüsselgeklirr. Die Schlüssel waren fort.<br />
Es gab keinen Zweifel mehr: Der Wabbelstein war gestohlen worden.
Die Untersuchung<br />
Der Krisenstab tagte. König Wabbel II hatte die Geburtstagsfeier abge-<br />
brochen und den Sicherheitsrat des Landes einberufen. Zum Rapport wur-<br />
den bestellt: die Hüter des Wabbelsteins sowie Bimballo, Zippel und Mela-<br />
nie. Professor Eierschädel führte den Vorsitz. Beigeordnet waren ihm<br />
Innenminister Schleimer und Kommandant Lanzetto. Lanzetto befehligte<br />
die Festung Sextagon an der Grenze zu Stachelland.<br />
Forsch begann Professor Eierschädel mit dem Verhör.<br />
»Melanie, steh auf und berichte. Ungetrübt, ungelogen und unge-<br />
schminkt. Was geschah gestern im Goldenen Dotter? Alle Einzelheiten sind<br />
von größter Bedeutung.«<br />
Mit zitternden Knien berichtete Melanie vom Verlauf des verhängnisvol-<br />
len Abends. Immer wieder wurde sie unterbrochen von Aha- und Soso-Ru-<br />
fen. Sie verschwieg nichts. Erst mit der Schilderung des nächsten Morgens<br />
endete sie. »Und ich schwöre beim legendären Wabbelstein: nicht einmal<br />
mit saurer Milch konnte ich die Schlafenden wecken. Zumindest für<br />
Hübeldübel ist dies ganz außergewöhnlich und noch nie vorgekommen.«<br />
»Das kann ich bestätigen«, ergänzte Wabbel II.<br />
»Nun zu Plumplum«, raunzte Kommandant Lanzetto, »was geschah<br />
nach dem Glockenläuten?«<br />
Plumplum riss seinen Mund auf und brüllte wie gewohnt »Aaah!«, doch<br />
zur Strafe zuckte ein böser Stich durch sein Gehirn. Mit belegter Stimme<br />
und eingezogenem Kopf fuhr er fort: »Alle sechs Eisentore waren weit<br />
geöffnet. Vom Schrein mit dem Wabbelstein keine Spur. Stattdessen hing<br />
weit oben im Glockenturm das zerfranste Hanfseil. Der Knoten war halb<br />
offen, halb zerschnitten.«<br />
Kommandant Lanzetto unterbrach den Bericht Plumplums. »Hübeldübel!<br />
Um was für einen Knoten handelte es sich, und wie konnte es geschehen,<br />
dass er geöffnet werden konnte?«<br />
»Ahoi. Den Schrein hatte ich gleich vierfach gesichert. Eingeschnürt<br />
hatte ich ihn mit einem komplizierten Knoten, der in der Schiffersprache<br />
Doppelter Palstek heißt. Zusätzlich hatte ich den Wabbelstein gesichert<br />
durch einen Tampen mit einem Spezialknoten, dem sogenannten Boots-<br />
mannstuhl. Ein drittes Seil kniff das Ganze ein mit einem Knoten, der den<br />
Namen trägt Festes Auge. Das lange Tauwerk musste verkürzt werden<br />
durch einen raffinierten Knoten. Dieser Knoten ist als Englische Trompete<br />
bekannt. Den gesamten Vierfachknoten befestigte ich weit über Kopfeshö-
he an das Hanfseil. Außer mir hätte niemand die Knoten lösen können.<br />
Zerschnitten werden konnten sie höchstens mit einer solch scharfen Klin-<br />
ge, wie sie nur im Stachelland herstellt und benutzt wird.«<br />
Plumplum ergänzte, immer noch noch leise und vorsichtig: »Und auf<br />
dem Boden fanden wir rostige Nägel und Glasscherben, wie sie in den<br />
Straßen und Häusern von Stachelland herumliegen.«<br />
Verwundert starrte Bimballo den kugelrunden Recken an und meinte:<br />
»Noch nie habe ich ihn flüstern hören, äußerst ungewöhnlich und nicht<br />
vorgekommen.«<br />
»Das kann ich bestätigen«, ergänzte wiederum der König.<br />
»Keine Ablenkung bitte!« bellte Innenminister Schleimer, »wer führt<br />
hier eigentlich die Untersuchung?«<br />
»Herr Kollege!« kreischte Eierschädel los, »ungeziemlich, unangemes-<br />
sen und unverfroren! Wollen Sie mich etwa kritisieren?«<br />
»Seit wann siezen wir uns?« fauchte der Innenminister zurück. Man<br />
muss wissen, dass das Siezen in Wabbelanien einer Beleidigung gleichkam.<br />
»Ungekämmt und ungekocht! Seit dem Tode des Grütz von Becherlin-<br />
gen, den Sie vermutlich nicht kennen und den ich dennoch hiermit zitiere:<br />
Sie können mich mal.«<br />
»Was zum Teufel hat dieser Grützbecher mit dem Verschwinden des<br />
Wabbelsteins zu schaffen, he?«<br />
Eisig blubberte sich der Sicherheitsrat an. Wieder einmal musste König<br />
Wabbel mit staatsmännischer Umsicht die Wogen glätten.<br />
»Wir stehen kurz vor der Aufklärung«, beruhigte er, »die Fakten liegen<br />
auf dem Tisch. Welche Rückschlüsse zieht ihr? Wer also ist der Räuber, und<br />
wo ist der Wabbelstein?«<br />
Nach einer kurzen Denkminute verkündete der Vorsitzende des Rats,<br />
Professor Eierschädel, sein Urteil: »Unwiderlegbar und unwidersprochen!«<br />
Er zeigte mit seinem Finger auf Bimballo. »Nehmt ihn fest, den Dieb des<br />
Wabbelsteins. Er ist der Täter.«<br />
»Bimballo?« rief Hübeldübel zweifelnd, »unser Bimballo?« Melanie<br />
begann zu schluchzen und vergoss große Kullertränen. Bimballo selbst<br />
stemmte störrisch seine Fäuste in die Taschen.<br />
»Aaah!« brüllte Plumplum ungeachtet seiner schmerzenden Kopfstiche,<br />
»den Beweis! Ohne Beweis keine Festnahme.«<br />
»Ungehobelt, unbeherrscht und unleidlich. So höre denn: einzig Bimbal-<br />
lo war nicht auf der Feier anwesend und konnte ungesehen zum Wabbel-<br />
stein. Gestern im Goldenen Dotter hat er ein starkes Schlafmittel in das<br />
Honigbier geschüttet. Als alle eingeschlafen waren, konnte er unbemerkt
die Schlüssel an sich nehmen. Dann hat er sich ebenfalls schlafend<br />
gestellt. Oder aber, noch schlimmer, Melanie hat ihm als Komplizin gehol-<br />
fen. So war es. Rabentochter elende! Ungeziemlich, ungezogen und unbe-<br />
scheiden.«<br />
»Ungeheuerlich«, stöhnte Wabbel II und sackte in sich zusammen, »wie<br />
konnte ich mich nur so täuschen.«<br />
Finster blubberten Hübeldübel und Plumplum vor sich hin. Das passte<br />
ihnen nicht. Das glaubten sie nicht. Nicht Bimballo, der nicht! Und schon<br />
gar nicht Melanie. An diese beiden würden sie keine Hand anlegen. Selbst<br />
wenn sie schuldig waren.<br />
»Nun, was wartet ihr noch,« bellte Innenminister Schleimer, »dies ist<br />
ein Befehl. Verhaftet sie und werft sie in das Verlies. Bei Feuerquallen und<br />
saurer Milch sollen sie büßen.«<br />
Zippel richtete sich auf. Er bibberte mit allen seinen Knochen. »Verehr-<br />
ter König Wibbel, oh, äh, Wabbel.«<br />
ten.<br />
»Was will der Schneider noch?« knurrte Kommandant Lanzetto ungehal-<br />
»S'wibbelt ergebenst.« Zippel stolperte zum Verhandlungstisch, trudel-<br />
te, ruderte mit den Armen und fiel auf die Nase. Keiner half ihm. Er setzte<br />
sich auf. »Ich bitte ergebenst zu bedenken, dass Bimballo das Schlafmittel<br />
nicht in den Stiefel geschüttet haben kann.«<br />
»Ungläubig und ungebildet. Ein Schneider will also wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse untergraben. Korinther! Salzlecker!«.<br />
Aber Eierschädel hatte nicht mit der Verbissenheit Zippels gerechnet.<br />
»Zwei Beweise«, fistelte er, »erstens: Bimballo hat selbst vom Bier getrun-<br />
ken. Alle haben es gesehen. Also musste er selbst einschlafen und konnte<br />
die Schlüssel nicht stehlen. Zweitens: wo ist dieser übelriechende Brutus<br />
Ranzig geblieben? Der hätte als erster einschlafen müssen. Im Gegenteil«,<br />
Zippel ereiferte sich und fuchtelte mit seinen schlakserigen Armen vor der<br />
Nase des Innenministers herum, »im Gegenteil: Fischhändler Ranzig war<br />
der einzige, der das Schlafpulver in das Bier geschüttet haben kann. Und<br />
zwar erst, nachdem er schon getrunken hatte. Wir anderen bekamen kein<br />
Honigbier, sondern Baldrianbier.«<br />
»So muss es gewesen sein«, jubelte Melanie. Sie zog Zippel zu sich und<br />
gab ihm einen Kuss.<br />
»Seht einer an!« schrien Plumplum und Hübeldübel eifersüchtig, »so<br />
also erschleicht man sich neuerdings einen Kuss.«<br />
Beide pufften Zippel erbost in die Rippen, so dass dieser kopfüber in die<br />
Ecke flog. Aber völlig unbeeindruckt leuchtete ein seliges Lächeln auf sei-
nem Gesicht: Melanie hatte ihm, Zippel, einen Kuss gegeben.<br />
Noch gab Professor Eierschädel sich nicht geschlagen. »Eine korinthi-<br />
sche Finte«, rief er, »unbelegt, unverantwortlich und äußerst ungelegen.«<br />
Mit Innenminister Schleimer konnte er allerdings nicht mehr rechnen.<br />
Dieser, ein gewiefter Taktiker, der an dem Ministersessel klebte wie eine<br />
Fliege an einem Honigfliegenfänger, hatte bereits den Sinneswandel des<br />
Königs bemerkt und dessen sehnsüchtige Blicke zu Melanie ganz richtig<br />
gedeutet: für Wabbel II war Brutus Ranzig schuldig. Schleimer ließ die<br />
Gelegenheit nicht aus, sich beim König beliebt zu machen. Er klopfte mit<br />
den Knöcheln auf den Tisch und erklärte mit fester Stimme: »Ich stelle<br />
abschließend fest. Der hier unbekannte Fischhändler Brutus Ranzig hat ein<br />
Schlafmittel eingesetzt, um an die Schlüssel zu kommen. Den Trubel der<br />
Geburtstagsfeier hat er ausgenutzt, um unbemerkt die Eisentore zu öffnen.<br />
Mit einer scharfen Klinge hat er dann die 4 Knoten zerschnitten und ist mit<br />
dem Wabbelstein geflüchtet. Dieser Ranzig kann aufgrund der Beschrei-<br />
bungen und Indizien nur und ausschließlich ein Stachelländer gewesen<br />
sein. Demnach befindet sich der Wabbelstein jetzt in der Stachelburg des<br />
Generalissimo Krtzkrr Kriegers. Die Untersuchung ist hiermit abgeschlos-<br />
sen.«<br />
Betroffen hämmerte sich Wabbel II an die Schläfen. Der Wabbelstein<br />
war also im Stachelland. Was war zu tun?
Der Geheimplan<br />
Der erste Vorschlag kam von Kommandant Lanzetto. »Ganz einfach. Wir<br />
ziehen alle Truppen zusammen. Dann rücken wir in Stachelland ein und<br />
erobern die Stachelburg. In einem Handstreich setzen wir Krtzkrr Krieger<br />
fest und zwingen ihn, den Wabbelstein herauszugeben.«<br />
»Was für Truppen?« fragte Innenminister Schleimer. »Wir haben doch<br />
gar keine Truppen.«<br />
»Dann müssen wir eben eine Armee aufbauen. Die Wabbelanier werden<br />
zum Dienst an der Waffe eingezogen.«<br />
»Zum Dienst an der Waffe! Das ist ja zum Wabbeln. Wir kriegen keine<br />
10 Mann dazu, eine Kanone abzufeuern. Die Wabbelanier sind viel zu fried-<br />
liebend.«<br />
So ging es hin und her.<br />
Professor Eierschädel hatte sich derweil in den hinteren Teil des Bera-<br />
tungszimmers zurückgezogen. Er brütete etwas aus. Vor ihm auf dem<br />
Tisch lag ein hoher Stoß Papier. Mit einem Bleistift kritzelte er ein Blatt<br />
nach dem anderen voll. Kaum hatte er eins fertig, betrachtete er es miss-<br />
mutig, grunzte »Untauglich und unausführbar«, knüllte das Blatt zusam-<br />
men und warf es auf den Boden. Seine Füße versanken schon in den<br />
Papierknäueln.<br />
Plumplum meldete sich zu Wort. »Wir, nämlich Hübeldübel und ich, wir<br />
als Hüter des Wabbelsteins sind uns unseres großen Versagens bewusst.«<br />
Er vergoss dicke Kullertränen, was bekanntlich in Wabbelanien keine<br />
Schande war. »Diese Schuld kann nur von uns beiden wieder gutgemacht<br />
werden, und niemand sonst braucht sich in Gefahr zu bringen. Wir beide<br />
werden allein in Stachelland eindringen und den Wabbelstein<br />
zurückholen.«<br />
»Unerschrocken aber unbedacht«, antwortete Eierschädel. Er meinte<br />
seinen letzten Entwurf, den er gerade zusammenballte und unter den Tisch<br />
warf. Inzwischen waren seine Knie von Papiermüll bedeckt.<br />
»Ausgeschlossen!« rief auch König Wabbel. »lhr kommt noch nicht ein-<br />
mal bis zur Stachelburg. Jeder kennt euch. Ihr würdet sofort entdeckt wer-<br />
den. Zu zweit habt ihr gegen die stachelige Soldateska keine Chance.<br />
Außerdem ist euch das Land jenseits der Grenze nahezu unbekannt. Wir<br />
besitzen nur sehr lückenhafte Kenntnisse von Stachelland.«<br />
Innenminister Schleimer entrollte eine Landkarte von Wabbelanien. Die<br />
Zeichnung leuchtete in den blühensten Farben. Alle Einzelheiten waren lie-
evoll ausgemalt: die Hauptstadt Wabbelburg, der Fluss Gelantine, der<br />
nahe der Hauptstadt vorbeifloss, der Glibbersee mit dem Kurort Bad Glib-<br />
berheim, die Polleninsel, die Melonenplantagen, der Gummibaumwald, das<br />
Faltengebirge mit dem Vulkan, Straßen und Dörfer und vieles andere mehr.<br />
Schleimer hängte die Landkarte auf einen Kartenständer. Mit einem<br />
Stock wies er auf das Faltengebirge. »In diesem unwegsamen Gebiet ver-<br />
läuft die Grenze. Zwei Pässe führen ins Stachelland: der Schwartenpass<br />
und der Scherbenpass. Was aber jenseits der Pässe auf euch wartet, weiß<br />
niemand mit Sicherheit. Nicht einmal den genauen Standort der Haupt-<br />
stadt Stachelburg ist uns bekannt.«<br />
Der Innenminister entrollte eine weitere Karte. Ein zackiger, sternförmi-<br />
ger Umriss stellte die Grenzen Stachellands dar. Links am äußeren Rand<br />
war der Übergang zum Faltengebirge eingezeichnet. Die beiden Pässe ver-<br />
liefen von Wabbelanien aus ins Nichts, in eine weiße Einöde.<br />
Erneut hob Schleimer der Stock und zeigte auf einen Klecks in der Mitte<br />
von Stachelland. »Dort vermuten wir die Hauptstadt Stachelburg. Sie kann<br />
aber auch weiter rechts liegen oder sogar ganz oben an der Grenze zu<br />
Kloakien. Was aber an Gefahren auf dem Weg dorthin lauert, wissen wir<br />
nicht. Die weiße Einöde auf der Karte stellt keineswegs Wüstengebiet oder<br />
Sumpfgelände dar. Mit Sicherheit können wir nur sagen, dass unser Falten-<br />
gebirge in ein Klippengebirge übergeht. Danach kommt Niemandsland.<br />
Gerüchten zufolge gibt es dort tiefe Erdspalten, kochende Schwefelquellen,<br />
Kakteen- und Nadelwälder und eisige Flüsse.«<br />
»Unerforscht und undurchdringbar«, grunzte Eierschädel und wischte<br />
das hundertste Blatt vom Tisch.<br />
Trotzig stapfte Hübeldübel mit dem Fuß auf. »Ha, Soldateska, zum Wab-<br />
beln. Wagt es jemand, an unserem Mut zu zweifeln?«<br />
Kommandant Lanzetto mischte sich ein: »Niemand zweifelt an eurem<br />
Mut. Aber euer Mut hat auch den Diebstahl des Wabbelsteins nicht verhin-<br />
dern können. Also..«<br />
»So geht es!« unterbrach ihn Professor Eierschädel. Und mit eitlem<br />
Stolz rief er: »Hier ist die Lösung!«<br />
Raschelnd kam er aus seinem Papierberg hervor. In der Hand hielt er<br />
ein vollgeschriebenes Blatt. »Ein Geheimplan! Unlesbar und unerklärlich.«<br />
Bei den letzten Worten beschlich König Wabbel ein unangenehmes<br />
Gefühl. 'Hoffentlich verstehe ich es diesmal', dachte er kleinmütig. Sehr<br />
viel Hoffnung hatte er nicht.<br />
»Diesen Geheimplan«, erklärte Eierschädel, »habe ich in korinthischen<br />
Hieroglyphen aufgezeichnet. Niemand außer mir kann die Zeichen und
Runen entziffern. Einfach aber genial. Denn niemand kann den Plan enträt-<br />
seln und dem Gegner verraten.«<br />
»Mmh, mmh«, brummte Wabbel II. Insgeheim hoffte er, ein anderer<br />
würde vielleicht eine dumme Frage stellen.<br />
»Weiter jetzt. Der Geheimplan beruht auf einer List. Rosinello der<br />
Zuckerkranke benutzte sie vor 200 Jahren. Mit dieser List vertrieb er die<br />
Kloakier, die doch sage und schreibe die Prinzessin Rosaline entführen<br />
wollten.«<br />
»Keine Ablenkung bitte!« bellte Schleimer in den Vortrag hinein. »Zur<br />
Sache! Die Zeit drängt.«<br />
»Wollen Sie mich schon wieder kritisieren?« kreischte Eierschädel los.<br />
Nun wurde es Plumplum zu dumm. Er stapfte zum Professor und entriss<br />
ihm das Papier.<br />
»Aah!« brüllte er. »Tatsächlich! Es ist nicht zu lesen. Genial. Völlig<br />
unverständlich.«<br />
»Zeig her.« Hübeldübel beugte sich über den Plan. »Hier ist ganz deut-<br />
lich eine Figur zu erkennen. Sie steht auf dem Kopf. Sieht aus wie eine<br />
menschliche Bohnenstange, die Kopfstand übt.«<br />
»Unlösbar, unlösbar«, triumphierte Eierschädel.<br />
'Egal', dachte Wabbel II, 'was sie auch von mir halten, ich muß es fra-<br />
gen.' Laut fragte er: »Wenn es niemand lesen kann, wie soll der Plan denn<br />
ausgeführt werden? Wir kennen ihn schließlich selbst nicht.«<br />
»Soll hier die Genialität meines Geheimplans angezweifelt werden?«<br />
Der Professor tat beleidigt. »In dem Fall zitiere ich Grütz von Becherlingen.<br />
Sie können mich mal alle.«<br />
»Komisch.« Melanies Stimme zitterte noch etwas. »Ich kann es auch<br />
auf gut wabbelanisch entziffern. Hier steht: Dies ist der Ausweis von<br />
Schneider Zippel aus Wabbelanien. Zippel ist als Spion unterwegs, um das<br />
Versteck des Wabbelsteins auszukundschaften. Der Besitzer dieses Auswei-<br />
ses hat freie Fahrt durch Stachelland.«<br />
Wie vom Donner geschlagen verstummten die anderen.<br />
»Ja«, redete Melanie munter weiter, »und die Bohnenstange hier ist<br />
Zippels Passbild.«<br />
»Aber wieso macht er einen Kopfstand?« fragte ihr Vater Bimballo.<br />
»Kopfstand? Im Gegenteil. Er schlenkert wie gewohnt auf seinen Glas-<br />
nudelbeinen. Seht doch.«<br />
Sie reichte den Geheimplan den anderen zurück. Bevor diese sich<br />
äußern konnten, sprang Eierschädel auf Melanie zu und giftete : »Verrat!<br />
Korinthische Spionin! Habs doch gleich gewusst. Sie hat den Geheimplan
auf den Kopf gestellt. Man muss ihn umgedreht lesen. Dann ist er nicht zu<br />
enträtseln.«<br />
»Aha«, machten alle verblüfft.<br />
König Wabbel bekam Kopfschmerzen. Hatte er als einziger die Vermu-<br />
tung, dass der Geheimplan gar nicht so geheim war? Wenn er doch nur die<br />
Gedanken der anderen lesen könnte.<br />
Als hätte Innenminister Schleimer die Gedanken seines Königs erraten,<br />
spöttelte er bissig: »Das soll also geheim sein? Dann müsste aber noch<br />
eine Gebrauchsanweisung beiliegen, auf der steht, wo oben und unten ist.<br />
Damit keiner das Blatt richtig herum, also verkehrt herum, also wie auch<br />
immer herum hält.«<br />
»Wo ist eigentlich Zippel geblieben?« fragte Bimballo.<br />
Zippel war verschwunden.<br />
»Hab ihn gar nicht weggehen hören«, meinte Lanzetto.<br />
»Da, schaut mal.« Melanie zeigte auf die Papierknäuel. »Der Papierhau-<br />
fen bewegt sich.«<br />
Ein langes dünnes Glasnudelbein streckte sich aus den Knäueln. Zippel<br />
hatte sich verkrochen. Er bibberte, ja er fröstelte vor Angst. Nach Stachel-<br />
land wollte er nicht gehen, weder als Spion noch als Schneider noch als<br />
Fischhändler. Er war nicht mutig.<br />
»Warum ausgerechnet der bibberige Zippel?« wollte der König vom Pro-<br />
fessor wissen.<br />
»Unersetzlich und unnachahmlich. Zippel ist der einzige unter uns, der<br />
nicht wie ein Wabbelanier aussieht. Kein Stachelländer würde ihn als Spion<br />
verdächtigen. Außerdem kann Zippel mit spitzen Nadeln umgehen. Wir<br />
schicken ihn als Nagel-, Nadel- und Kratzbürstenhändler nach Stachelburg.<br />
Dort muss er sich das Vertrauen von Krtzkrr Krieger erschleichen und aus-<br />
spionieren, wo der Wabbelstein versteckt ist.«<br />
»Er wird sich vor lauter Angst verraten«, zweifelte Bimballo.<br />
»Mein Geheimplan wird ihm helfen«, widersprach Eierschädel. »Der<br />
Ausweis beweist seine korinthische Herkunft. Er muss nur richtig herum<br />
gehalten werden.«<br />
»Mein wabbelanisches Bibbern wird mich verraten.« Zippel hatte alles<br />
mitgehört. Er kroch aus dem Papierberg. »Bestimmt werde ich vor Angst<br />
sterben.« In seiner Vorstellung sah er sich schon als Gefangener des<br />
schrecklichen Generalissimo Krieger. Vor Selbstmitleid weinte er große Kul-<br />
lertränen.<br />
»Das kann man ja nicht mit ansehen«, rief Hübeldübel, »außerdem,<br />
was passiert, wenn Zippel wider Erwarten zurückkehrt? Den Wabbelstein
haben wir dann immer noch nicht.«<br />
Alle richteten sich dem Professor zu. »Wenn wir erst einmal den Plan<br />
von Stachelland und der Stachelburg haben, werden Hübeldübel und<br />
Plumplum den Wabbelstein in einer Nacht- und Nebelaktion zurückholen.<br />
Und zwar mit korinthischer List und Tücke.«<br />
Hals.<br />
Melanie hatte sich zu Zippel gesetzt. Sie schlang einen Arm um seinen<br />
»Es muss sein«, redete sie ihm zu. »Wabbelanien sieht auf dich. Es wird<br />
die größte Heldentat in der wabbelanischen Geschichte.« Und sie küsste<br />
ihm nochmals mitten auf den Mund.<br />
»Schon wieder!« brüllte Plumplum, »so also erschleicht man sich neuer-<br />
dings gleich zwei Küsse!«<br />
Wütend fielen die Hüter des Wabbelsteins über den Schneider her und<br />
rissen an seinen Glasnudelbeinen. Unnötig zu sagen, dass etliche Töpfe<br />
saurer Milch vergossen werden mussten, um die Hitzköpfe abzukühlen.<br />
Unnötig auch zu sagen, dass Zippel nun endgültig überredet war. Welcher<br />
Mann konnte schon Melanies Küssen widerstehen?
Der Abschied<br />
Zippel erschrak. Er stand vor seinem großen Spiegel. Ein furchterregen-<br />
der Bursche fuchtelte ihn drohend an.<br />
»Was habt ihr bloß mit mir gemacht«, jammerte er. »Vor meinem eige-<br />
nen Spiegelbild bekomme ich Angst.«<br />
»Umso besser«, antwortete Professor Eierschädel. »Unangenehm aber<br />
unerlässlich.«<br />
Zwar sah Zippel ohnehin nicht wie ein echter Wabbelanier aus. Aber der<br />
Professor hatte gemeint, man müsse ihn zusätzlich noch tarnen. Sozusa-<br />
gen aus Sicherheitsgründen.<br />
Zunächst hatten sie Zippel vollständig entkleidet. Melanie war inzwi-<br />
schen mit einer Liste von Gegenständen unterwegs, die sie besorgen soll-<br />
te. Statt seiner bequemen Pumphose bekam Zippel eine enge, kneifende<br />
und steinharte Lederhose übergezogen.<br />
»Lasst mir wenigstens meine Hosenträger«, klagte Zippel. Stattdessen<br />
schnürte Hübeldübel den Klapperbauch mit einem Gürtel zusammen, der<br />
aus rostigen Eisengliedern zusammengefügt war.<br />
»Hier, fang!« Plumplum warf dem Schneider eine Jacke zu. Es klapperte<br />
und klirrte blechern. Die Jacke, eine fremdländische Uniformjacke, hatte<br />
anstelle von Knöpfen Metallösen und -schlösser. Eisennieten hielten die<br />
Nähte zusammen. Sogar ein alter verbogener Orden baumelte an der lin-<br />
ken Brusttasche.<br />
»Sie kratzt«, beklagte sich Zippel. »Davon wird meine Haut wund und<br />
schorfig.«<br />
»Na gut«, brummte Bimballo, »zieh deine Schneiderweste darunter. Die<br />
Jacke wird sie verbergen. Du musst sie nur immer ordentlich zuknöpfen.«<br />
»So, und jetzt noch die Stiefel.« Kommandant Lanzetto reichte Zippel<br />
ein Paar schwarze Reiterstiefel. Hacken und Spitzen waren mit Eisen<br />
beschlagen. An den Absätzen blinkten scharfkantige Sporen. Gehorsam<br />
schlüpfte Zippel in die Folterinstrumente. Wehmütig trauerte er seinen<br />
gemütlichen Puschen nach. Sicher würden bald Blasen und Hühneraugen<br />
seine Füße piesacken.<br />
Zum Schluss setzte Innenminister Schleimer Zippel eine Mütze auf den<br />
Kopf. Schleimer hatte sie in seiner Rumpelkammer gefunden, in der er<br />
allerlei Unnützes aus vergangenen Tagen aufbewahrte. Die Mütze war ein<br />
sogenannter Dreispitz. So eine Art dreieckiger Hut.<br />
»Der Korinther ist fertig.« Wohlgefällig drehte Eierschädel den Schnei-
der hin und her.<br />
»Mmh«, brummte König Wabbel, der sich bis dahin alles schweigend<br />
angesehen hatte. »Ich finde, er sieht eher aus wie ein entflohener Soldat<br />
aus Kloakien.«<br />
bel.<br />
»Als Karnevalsprinz ist er auch nicht zu verachten«, überlegte Hübeldü-<br />
Es klopfte. Vorsichtig öffnete Lanzetto die Tür. Eine große Kiste schob<br />
sich durch den Spalt, gefolgt von Melanie.<br />
»Huch«, rief sie erschrocken und ließ die Kiste fallen. »Was ist das?«<br />
»Was ist das, was ist das«, äffte Eierschädel nach, »natürlich ein Korinther.<br />
Sieht doch jeder ohne hinzugucken.« Melanie prustete los. Sie vergaß ganz<br />
die Anwesenheit des Königs und des Ministers. »Ein Korinther ist das?<br />
Sieht eher wie eine Vogelscheuche aus. Wie eine etwas unglückliche<br />
Schneidervogelscheuche.« Sie wabbelte und konnte gar nicht aufhören.<br />
»Zur Sache!« pfiff Innenminister Schleimer die respektlose Wirtstochter<br />
an. Melanie verstummte sofort. Sie klappte den Deckel der Kiste auf. »Wie<br />
befohlen: rostige Nägel, spitze Nadeln in allen Größen und ein Sortiment<br />
Kratzbürsten. War gar nicht so leicht, so etwas in Wabbelanien aufzutrei-<br />
ben.«<br />
»Gut gemacht«, lobte Schleimer beruhigt. »An die Kiste befestigen wir<br />
einen Riemen. Auf diese Weise erhalten wir einen Bauchladen für Zippel.«<br />
»Dann geht es also los«, seufzte der Schneider.<br />
Professor Eierschädel gab letzte Anweisungen: »Der Geheimplan, bezie-<br />
hungsweise der korinthische Ausweis, gehört in die Jackentasche hinter<br />
dem Orden. Hübeldübel und Plumplum begleiten Zippel bis zur Grenze.<br />
Dort warten sie auf seine Rückkehr. Kommandant Lanzetto wird ebenfalls<br />
mitgehen, allerdings nur bis zur Festung Sextagon. Bei Gefahr können die<br />
Hüter des Wabbelsteins sich dorthin zurückziehen. Es kann losgehen.<br />
S«wabbelt!«<br />
»S'wabbelt. Ahoi!« rief Hübeldübel. »Heiß die Segel!« »Wartet!« Mela-<br />
nie zog schnell ein paar Tüten aus ihrer Tasche. »Hier habe ich noch ein<br />
paar Süßigkeiten für den Weg.« Zippel erhielt die erste Tüte und – einen<br />
Kuss! Flink sprang Melanie zu Plumplum, der gerade zu einem neidischen<br />
Gebrüll ansetzen wollte, und gab ihm ebenfalls einen Kuss. Und natürlich<br />
eine Tüte Wegzehrung.<br />
»Beim Klabautermann!« schrie Hübeldübel. Er platzte fast vor Eifer-<br />
sucht. Da hatte er auch schon einen süßen Kuss auf dem Mund und eine<br />
Tüte in der Hand.<br />
Lanzetto leckte sich schon die Lippen in der Vorfreude auf einen der
schönsten Küsse Wabbelaniens. Doch er bekam nur eine Tüte Süßigkeiten<br />
in die Hand gedrückt. So freigebig war Melanie nun auch nicht, und ihr<br />
Herz schlug beklommen für ihre drei Freunde.<br />
Zippel riss die Tür auf und stiefelte auf die Straße. Die Beschläge knall-<br />
ten auf den Steinen, die Sporen klirrten, die Gürtelkette quietschte, die<br />
Metallschlösser schepperten, die Kratzbürsten im Bauchladen polterten<br />
durcheinander. Es klang, als hätte jemand einen Karton Blechbüchsen aus<br />
dem Fenster gekippt. Hübeldübel und Plumplum fühlten sich nicht beson-<br />
ders wohl in der Begleitung eines solchen Gefährten. Etliche Meter zurück<br />
folgte Lanzetto, der so tat, als habe er nichts mit den Dreien zu tun.<br />
So stolperten sie durch die Straßen Wabbelburgs. Bei dem Lärm, den<br />
Zippel verursachte, öffneten sich viele Fenster. »Beim heiligen Wabbel-<br />
stein!« riefen die Hausfrauen entsetzt und schlugen die Fensterläden wie-<br />
der zu, »was für eine schreckliche Kreatur.« Denn sie erkannten Zippel<br />
unter seinem Dreispitz nicht.<br />
Ein letztes Mal wandte sich Zippel um. In der Tür vom Goldenen Dotter<br />
standen Bimballo und Melanie. Mit großen Kullertränen in den Augen wink-<br />
ten sie ihm nach. Schwächlich hob Zippel einen Arm. Es klirrte und kniff. Er<br />
zerdrückte eine dicke Träne auf der Wange. Dann gab er sich einen Ruck,<br />
und die vier Wabbelanier marschierten aus Stadt hinaus.
Brückenzoll<br />
Zunächst ging es durch die weiten Melonenfelder vor den Stadtmauern.<br />
Beim Anblick Zippels beugten sich die Bauern tief in ihre Arbeit. Sie fürch-<br />
teten, die fremdartige Gestalt könnte sie womöglich ansprechen, oder noch<br />
Schlimmeres könnte passieren. Zwar erkannten sie Plumplum und<br />
Hübeldübel, aber irgendwie war ihnen die seltsame Gesellschaft nicht ganz<br />
geheuer. Dass in einiger Entfernung Kommandant Lanzetto folgte, flößte<br />
den Landbewohnern auch nicht gerade Zutrauen ein.<br />
So marschierten die vier unbehelligt durch Dörfer und Felder. Allmählich<br />
gewöhnte sich Zippel an seine neue Kleidung. Ja, es stellte sich ein gewis-<br />
ser Sinneswandel ein. Zum ersten Mal in seinem Leben hatten die Leute<br />
Angst vor ihm. Und wenn es schon nicht Angst war, so sprach doch<br />
Respekt und Vorsicht aus ihrem Verhalten.<br />
Und erst die Kinder: schreiend liefen sie in die Häuser oder versteckten<br />
sich hinter den Schürzen ihrer Mütter. Bald machte sich Zippel einen Spaß<br />
daraus und rief drohend: »Stech euch, stech euch in die Beine!« Bibbernd<br />
stoben die Kinder davon, und die Straßen waren wie leergefegt.<br />
»Übertreibs nicht«, brummte Plumplum und puffte Zippel an. Doch der<br />
Schneider hielt sich gut auf den Beinen. Zwar schwankte er wie ein Mast-<br />
baum auf hoher See, fiel aber nicht auf die Nase. Dass er in der steifen<br />
Lederhose gar nicht einknicken konnte, verriet er den anderen allerdings<br />
nicht.<br />
»Eigentlich müsste der Fluß Gelantine schon zu sehen sein«, rief von<br />
hinten Lanzetto. »Nach der nächsten Biegung kommen wir an die Brücke.«<br />
Zippel blieb in der Kurve stehen. Vor ihm floss träge die Gelantine. In<br />
weichen Windungen teilte sie die Felder. Wiegende Pappeln säumten die<br />
Ufer. Eine sanft schaukelnde Hängebrücke bog sich über den Fluss. Vor der<br />
Brücke, mitten auf dem Weg, versperrte eine alte, dürre Frau den Über-<br />
gang.<br />
Seltsamerweise hielt sie die Augen geschlossen. Krummbucklig stützte<br />
sie sich auf einen knotig geschnitzten Stock. Eine riesige Nase verunzierte<br />
ihr runzliges Gesicht. Ohne die Augen zu öffnen rief sie herrisch: »Den<br />
Brückenzoll! Ohne Brückenzoll kein Übergang. Jeder hat 5 Gummibärchen<br />
zu zahlen.«<br />
»Haha«, brüllte Plumplum belustigt, »den Brückenzoll also. Was<br />
bewachst du denn, Mütterchen? Wofür sollen wir dir etwas zahlen?«<br />
Er stapfte auf die Brücke zu und wollte sich an der buckligen Gestalt
vorbeidrücken. Blitzschnell zog die Alte ihren Knüppel hoch und versetzte<br />
Plumplum unversehens einen Hieb zwischen die Schultern. Mit gebieteri-<br />
scher Stimme wiederholte sie: »Den Brückenzoll! 5 Gummibärchen!«<br />
»Sie ist ja blind«, rief Zippel und fuchtelte mit seinen langen Armen vor<br />
den Augen der Alten herum. Ohne die Augen zu öffnen schwenkte das<br />
krumme Weib ihren Stock und stach Zippel in den Bauch. »Den Brücken-<br />
zoll! 5 Gummibärchen!«<br />
Zippel fiel auf die Nase.<br />
Hübeldübel staunte die Alte an. Aus ihrem bunten Kopftuch stachen<br />
zwei spitze lange Ohren heraus, die sich unabhängig voneinander ständig<br />
in alle Richtungen drehten. Die Nasenflügel bebten wie zwei Nüstern und<br />
schnüffelten und schnieften ununterbrochen in den Wind.<br />
»Du riechst nach Honigschnaps«, schnaubte sie den Hünen an. »Ich<br />
höre die Umrisse deiner Gestalt. Du siehst aus wie eine reife Birne. Du<br />
musst Hübeldübel sein. Komm mir nicht zu nahe, Hüter des Wabbelsteins.«<br />
Drohend schwang sie ihren Prügel über den Kopf des Recken.<br />
»Hoho«, dröhnte Hübeldübel, »wenn du nicht aus dem Wege gehst,<br />
ergreifen wir dich und werfen dich in die Gelantine.«<br />
»Versucht es nur«, kreischte die Alte, und sie hüpfte so behände hin<br />
und her, dass Hübeldübel und Plumplum sie nicht zu fassen bekamen.<br />
Dabei schlug und stach sie auf die beiden ein, bis diese schimpfend<br />
zurückwichen.<br />
Kommandant Lanzetto lachte. »Seht an, seht an. Eine alte blinde Frau<br />
schlägt die mutigen Helden in die Flucht.« Er wabbelte vor Vergnügen.<br />
»Wir müssen weiter, Freunde. Gebt ihr schon den Brückenzoll.«<br />
Verschämt zogen die Hüter des Wabbelsteins ihre Tüten mit der Weg-<br />
zehrung aus der Tasche. Jeder zahlte der Alten 5 Gummibärchen. Als Zip-<br />
pel an der Reihe war, wich die Bucklige einen Schritt zurück. Ihre Ohren<br />
spitzten sich, und die Nasenflügel flatterten.<br />
»Wer ist das?« rief sie und hob den Knüppel. »Er riecht wie ein Schnei-<br />
der und rasselt wie ein Soldat. Dieser Mensch stimmt nicht. Er verstellt<br />
sich. Ein schlechter Wabbelanier, wenn es überhaupt einer ist.« Und ohne<br />
Vorwarnung warf sie Zippel den Stock zwischen die Beine.<br />
Zippel ergriff die Flucht. Keuchend rannte er über die Brücke. Der Rie-<br />
men seiner Kiste mit den Nadeln und Kratzbürsten schnitt in seine Schul-<br />
ter. Die anderen hetzten ihm nach. An dem gegenüberliegendem Ufer setz-<br />
ten sich die Freunde erst einmal hin und steckten sich ein paar von Mela-<br />
nies Süßigkeiten in den Mund. Noch außer Atem klärte Lanzetto die ande-<br />
ren auf: »Wir nennen sie einfach nur die Zöllnerin, da wir ihren richtigen
Namen nicht kennen. Über Nacht taucht sie auf, und über Nacht ver-<br />
schwindet sie auch wieder. Überall wo sie erscheint, verlangt sie einen Zoll<br />
in Form von Gummibärchen. Mal ist sie auf der Brücke, mal an einer Weg-<br />
kreuzung, mal am Stadttor. Mit ihren Ohren und ihrer Nase hört und riecht<br />
sie mehr, als wir sehen können. Abgesehen von ihrer Gier nach Gummibär-<br />
chen ist sie sonst harmlos und friedfertig.«<br />
»Im höchsten Grade unwabbelanisch«, mäkelte Zippel, der ja auch<br />
nicht gerade ein Musterbeispiel war.<br />
»Nun«, antwortete Lanzetto in einem unergründlichen Tonfall, »keiner<br />
weiß eigentlich, ob sie überhaupt aus Wabbelanien kommt. Auf einmal war<br />
sie da. Und manchmal ist sie wieder für Wochen verschwunden.«<br />
Der Kommandant stand auf. »In einer guten Stunde können wir am<br />
Glibbersee sein.« Er marschierte los und sonderte sich nun nicht mehr von<br />
den anderen ab.
In der Federnhöhle<br />
Eine gute Stunde marschierten sie ohne Unterbrechung. Zippel begann<br />
zu jammern und zu klagen. Die Lederhose kniff, der Riemen des Bauchla-<br />
dens schnürte in seine Schultern, die Stiefel drückten, die Jacke kratzte,<br />
und unter dem Dreispitz schwitzte er seine Haare nass. Doch seine Gefähr-<br />
ten pufften ihn höchstens mal und kümmerten sich nicht weiter um ihn.<br />
Endlich kam der Glibbersee in Sicht. Zippel seufzte auf. Zur linken Hand<br />
schimmerten die Dächer von Bad Glibberheim in der Nachmittagssonne.<br />
»Wir können zwischen zwei Wegen wählen«, erklärte Lanzette. »Entwe-<br />
der wir gehen durch die Stadt und umrunden den See, oder wir überque-<br />
ren den See mit dem Fährschiff.«<br />
»Und was schlägst du vor?« fragte Hübeldübel.<br />
»Nun«, antwortete Lanzetto, »wenn wir es besonders eilig haben,<br />
kommt die Fähre in Betracht, da dies der kürzeste und schnellste Weg ist.<br />
Allerdings, wenn wir durch Bad Glibberheim gehen und um den See, könn-<br />
te man hie und da ein Glas Honigbier schlürfen und vielleicht sogar ein<br />
warmes Heilbad nehmen im sprudelnden Glibberwasser.«<br />
pen.<br />
Bei dieser Vorstellung bekamen die Hüter des Wabbelsteins feuchte Lip-<br />
»Ahoi«, rief Hübeldübel, »wenn mir auch als alter Fahrensmann die<br />
Seefahrt zuPass kommt, muss ich doch zugeben, dass eine Erfrischung in<br />
Form eines Honigbieres oder eines Muntermachers erwogen werden<br />
muss.« Er kniff ein Auge zu und versuchte, eine Gaststätte ausfindig zu<br />
machen.<br />
»Wir sollten abstimmen«, meinte Plumplum. »Ich stimme für die längst<br />
überfällige Stärkung durch ein oder zwei oder drei Honigbiere.«<br />
»Oder vier oder fünf oder wieviel denn noch?« Zippel war es, der so<br />
aufmüpfig auftrat. »Habt ihr vergessen, dass der Wabbelstein geraubt wer-<br />
den konnte, weil wir ein Honigbier, vielmehr ein Baldrianbier zuviel getrun-<br />
ken hatten?«<br />
Das traf. Ohne weitere Diskussionen stolperten die vier zum Landungs-<br />
steg, an dem die Fähre angetäut war. Breitbeinig, mit verschränkten<br />
Armen, wartete der Fährschiffer auf dem Steg. Einigermaßen misstrauisch<br />
musterte er die Ankömmlinge. Der Fährmann besaß nur eine gesunde<br />
Hand. Am anderen Arm war anstelle der Hand ein Eisenhaken befestigt,<br />
der den Schiffer eher wie ein Pirat aussehen ließ denn als friedfertiger<br />
Fährmann.
»Wen führt ihr denn da mit euch, Lanzetto?« fragte er und schlug sei-<br />
nen Eisenhaken in das Holz des Geländers.<br />
»Drei Freunde aus Wabbelburg«, antwortete der Kommandant.<br />
»Plumplum und Hübeldübel werden dir bekannt sein, die Hüter des Wab-<br />
belsteins. Und mein Nachbar hier ist ein Spion in geheimer Mission. Ein<br />
echter Korinther.«<br />
»Korinther?« fragte der Fährmann argwöhnisch, »sieht eher aus wie ein<br />
heimtückischer Kloakier. Seit dem Raub des Wabbelsteins kommt mir kein<br />
verdächtiges Individuum mehr über den See.« Zur Bekräftigung riß er mit<br />
dem Eisenhaken einen Splitter aus dem Geländer.<br />
»Kloakier? Eine Beleidigung! Vor dir steht ein echter Korinther«, quäkte<br />
Zippel dazwischen und zog seinen Geheimplan aus der Tasche. »Hier ist<br />
der Ausweis.«<br />
Lanzetto zuckte zusammen. Hübeldübel und Plumplum hielten den<br />
Atem an. Jetzt würde sich zum ersten Mal zeigen, was der Ausweis wert<br />
war.<br />
Mit seiner gesunden Hand nahm der Fährmann den Schein und studier-<br />
te ihn lange, ohne eine Miene zu verziehen. Unschlüssig schüttelte er den<br />
Kopf. »Kann ich nicht entziffern. Was ist das für eine seltsame Schrift?«<br />
»Korinthisch, echt korinthisch. Das ist der Beweis!« trumpfte Zippel auf.<br />
Wieder schüttelte der Fährmann den Kopf. »Kloakisch ist es jedenfalls<br />
nicht und stachelländisch auch nicht. Was für ein merkwürdiges Doku-<br />
ment.«<br />
Die Freunde atmeten auf. Es schien zu klappen. Schnell riss Zippel den<br />
Schein wieder an sich. Es war zu befürchten, dass der misstrauische Fähr-<br />
mann ihn drehte oder wendete und dann den Geheimplan entdeckte. Aus-<br />
drücklich hatte Professor Eierschädel darauf bestanden, dass die Aktion<br />
auch in Wabbelanien geheim blieb.<br />
Die vier sprangen an Bord, der Fährmann löste die Leinen und setzte<br />
das einzige Segel. Zusätzlich ergriff er die Ruder und manövrierte den<br />
Kahn aus dem Hafen.<br />
Hübeldübel hatte sich vorn in die Bootsspitze gesetzt. Wie er so auf die<br />
leicht wogende See schaute, legte sich ein abwesender Ausdruck auf sein<br />
Gesicht, und seine Augen begannen zu schimmern. Erinnerungen aus sei-<br />
ner Seefahrerzeit stiegen in ihm auf. Wehmütig summte er ein altes See-<br />
mannslied, und vor seinen Augen zogen die Länder und Leute vorbei,<br />
denen er auf seinen Reisen begegnet war. Einmal hatte sie ein Sturm auf<br />
die Insel der Fischköpfigen verschlagen, die sich ausschließlich von Plank-<br />
ton und Seegras ernährten. Im Land der Buckligen wiederum mussten sie
sich gebückt und mit krummen Rücken fortbewegen, sonst hätte man ihr<br />
Schiff verbrannt. Und in einem Urwaldgebiet, das sie vom Fluss aus<br />
erforschten, entdeckten sie einen Stamm Eingeborener, der die schönsten<br />
und verführerischsten Mädchen hervorbrachte. Doch sobald man sie<br />
berührte, schrumpelte ihre Haut, gilbte wie trockenes Pergamentpapier,<br />
und schlohweiße quastige Haarbüschel sprossen an ihren Beinen. Ein fer-<br />
nes Dröhnen und Grollen von Unwettern hallte in Hübeldübels Ohren wider<br />
und wuchs zu einem unheimlichen Gebrumm. Der Recke kniff sich<br />
schmerzhaft in den Arm, um den Traum loszuwerden. Doch das summende<br />
Tosen nahm eher zu und lag schwer in der Luft wie eine Gewitterwolke.<br />
»Was ist das?« schrie Plumplum. Ärgerlich rieb er sich die Ohren. »Mir<br />
ist, als hätte ich eine dicke Drohne im Ohr.«<br />
Zippel bibberte. »Ich höre es auch. Das ist der Untergang. Das Ende der<br />
Welt. Die Posaunen des Jüngsten Gerichts.« Er stülpte sich seinen Dreispitz<br />
über die Ohren, um dem Dröhnen zu entkommen.<br />
»Beim Klabautermann!« rief Hübeldübel, »es klingt wie ein Schwarm<br />
von Mörderbienen, die im Anflug sind. Wir sind verloren.«<br />
Lanzetto lachte: »Ganz so unrecht hast du nicht. Das Summen kommt<br />
von der Polleninsel, die wir gerade Passieren.«<br />
Er wies mit dem Arm über die Reling. Linden- und Akazienalleen durch-<br />
zogen eine Insel mit blühenden Raps- und Heidekrautfeldern. Auf der gan-<br />
zen Insel waren Ansiedlungen mit Bienenstöcken und Bienenkörben aufge-<br />
stellt. Ein schweres Dröhnen und Summen lag über dem Eiland. Dunkle<br />
Wolken von Bienenschwärmen zogen von Feld zu Feld, von Bienenweide zu<br />
Bienenweide.<br />
»Unsere wabbelanische Honigfarm«, erläuterte Lanzetto, »aber keine<br />
Angst, wir legen nicht an.«<br />
Mit sicheren Schlägen führte der Fährmann das Schiff an der Insel vor-<br />
bei. Allmählich verebbte das Dröhnen.<br />
»Ahoi, Land in Sicht!« rief Hübeldübel erleichtert.<br />
Bald hatten sie das gegenüberliegende Ufer erreicht. Nachdem sie den<br />
Fährmann ausgezahlt hatten, sagte Lanzetto: »Von hier aus ist es noch ein<br />
kräftiger Fußmarsch durch den Gummibaumwald. Er steigt schon auf 800<br />
Meter Höhe an. Danach fällt der Weg ab ins Schattental, in dem die Fes-<br />
tung Sextagon liegt. Dort wollen wir übernachten.«<br />
Der Marsch durch den Gummibaumwald erwies sich schon bald als<br />
äußerst beschwerlich. Zwar verbreiteten die samtigen grünen Blätter eine<br />
angenehme kühle Frische, aber die Steigungen wurden zusehends steiler.<br />
Lanzetto hatte die Führung übernommen. Trotz seiner steifen Lederho-
sen strauchelte Zippel hin und wieder und musste von den beiden Recken<br />
gestützt und geschoben werden. Mit jeder Steigung wurde auch das<br />
Gejammer Zippels lauter.<br />
»Es ist nicht auszuhalten«, schimpfte Plumplum, »diese Korinther sind<br />
die armseligsten Jammerlappen weit und breit.«<br />
Da setzte sich Zippel mit einem Plumps auf den Hosenboden. »Aber<br />
sein Leben auf das Spiel setzen darf man als Korinther«, lamentierte er<br />
aufgebracht.<br />
Besorgt betrachtete Lanzetto den klapperigen Spion. »Wir müssen eine<br />
Abkürzung nehmen«, entschied er, »und den Bauchladen übernimmt von<br />
jetzt an Hübeldübel.«<br />
Er schob ein paar Äste zur Seite und schlug in einen schmalen Pfad ein.<br />
»Wir müssen in Tuchfühlung bleiben!« rief er, »jeder ergreift die Hand<br />
des Vordermanns!«<br />
Hübeldübel ergriff die Hand Lanzettos, gefolgt von Plumplum, der mit<br />
seinen muskulösen Wurstfingern Zippels Gelenk gepackt hatte.<br />
»Wir kommen durch die Federnhöhle«, warnte der Kommandant. »Hal-<br />
tet euch gut fest. Wer sich in der Höhle verirrt, kommt nie wieder heraus.«<br />
Sie mussten sich bücken und unter buschige Zweige kriechen. Dann<br />
war es auf einmal stockfinster. Weiche Daunen, kitzlige Federn strichen an<br />
ihren Gesichtern entlang. Sie hatten das Gefühl, durch ein riesiges Feder-<br />
bett zu waten. Die Luft stand stickig und schwer, der Atem stockte, ängst-<br />
lich klammerten sich die drei Wabbelburger an den Händen und folgten<br />
Lanzetto, der als einziger den Weg durch die watteartige Höhle kannte.<br />
Plumplum wollte ihm etwas zurufen, aber flausige Federn verklebten ihm<br />
Mund und Nase. Es kitzelte. Er musste niesen und prusten. Doch seine<br />
donnernde Bassstimme verpuffte klanglos in den flockigen Federnschwa-<br />
den und wirbelte Wolken von weiteren Federn und Daunen auf. An den<br />
Wänden schienen riesige Straußenfedern zu sprießen. Ab und zu fiel aus<br />
einer unergründlichen Lichtquelle, einem Loch oder einem Schacht, ein<br />
Lichtschleier auf die Federnwolken, und die verschwommenen Umrisse des<br />
Vordermannes geisterten schemenhaft durch die wabernde Federngruft.<br />
Doch augenblicklich verschlang der dumpfe trockene Flaumnebel die kurze<br />
Vision.<br />
Zippel bibberte. Angsttropfen rannen unter seinem Dreispitz auf seine<br />
Nase. Sein dünner Arm, von Plumplum erbarmungslos vorwärts gezogen,<br />
bibberte wie ein Zitteraal. Plumplum fühlte zu seinem Entsetzen, wie der<br />
Angstschweiß Zippels Gelenk naß und glitschig machte. Langsam entglitt<br />
Zippels schlaffe Hand seinem Griff. Plötzlich gab es einen Ruck. Zippels
Hand flutschte aus seinen Fingern und verschwand im trüben Federnlaby-<br />
rinth.<br />
»Halt!« brüllte Plumplum. Aber Hübeldübel vernahm nur einen dumpfen<br />
Laut. Plumplum riss an Hübeldübels Hand und stemmte seine Beine in den<br />
Boden. Hübeldübel fluchte. Doch instinktiv jagte der Gedanke von einer<br />
Gefahr durch seinen Kopf.<br />
Währenddessen zerrte Lanzetto vorne mit Macht an Hübeldübels ande-<br />
rem Arm. Die Luft wurde schon knapp. Es wurde höchste Zeit, den Aus-<br />
gang zu erreichen. Hübeldübel wurde schier auseinandergerissen. Auf der<br />
einen Seite Plumplum, auf der anderen Seite Lanzetto, die beide mit<br />
äußerster<br />
Kraftanstrengung zogen und zerrten.<br />
Ohne lange zu überlegen schlug sich Hübeldübel auf Plumplums Seite.<br />
Mit einem Ruck riss er Lanzetto von den Beinen. Alle drei stürzten in die<br />
Tiefe der Höhle zurück. Mit seinem freien Arm ruderte Plumplum in den<br />
Federn herum. Wenn er doch wenigstens etwas sehen könnte. Da, kaum<br />
hörbar, vernahm er hinter sich ein röchelndes Rasseln. Plumplum spannte<br />
seine Keulenarme und zog mit einer letzten Kraftanstrengung Hübeldübel<br />
und Lanzetto zu sich. Dann tastete er in die Richtung des Geräusches.<br />
Etwas Zappeliges berührte seine Hand. Schnell packte er zu und umklam-<br />
merte es mit eisernem Griff. Dann puffte er Hübeldübel an. Dieser schubs-<br />
te Lanzetto auf die Füße. Der Kommandant hustete und keuchte. Schwin-<br />
delig wankte er ein Stück weiter. Dann fiel er um. Stur stiefelte Hübeldübel<br />
in der gleichen Richtung weiter und zerrte den ohnmächtigen Kommandan-<br />
ten mit sich.<br />
Plötzlich blitzte ein Strahl auf. Ein grelles Licht blendete die Recken. Sie<br />
hatten den Ausgang erreicht. Über und über mit Federn bedeckt schleifte<br />
Plumplum ein dürres zuckendes Glasnudelbein ans Tageslicht. Zippel war<br />
gerettet.
Umbo von Bumbo<br />
Der Verlauf des weiteren Marsches war abermals durch mühseliges<br />
Klettern und Kraxeln gekennzeichnet. Die dünne Höhenluft machte den<br />
Vieren schwer zu schaffen. Keuchend erreichten sie schließlich den höchs-<br />
ten Punkt des Gummibaumwaldes. Vor ihren Augen breitete sich ein<br />
dunkles Tal aus, dessen düstere Finsternis jedes Leben in sich verschlang.<br />
»Das Schattental«, erklärte Lanzetto, »wir sind bald da. Inmitten des<br />
Tales liegt die Festung Sextagon. Erkennen kann man sie von den Bergen<br />
aus nicht. Die kalten Schatten bedecken die Festung wie ein ewiger Mantel<br />
der Nacht und schützen sie vor den Blicken der Stachelländer, falls diese<br />
sich so nahe heranwagen sollten.«<br />
Aufatmend setzten die vier ihren Marsch fort. Die Aussicht auf ein reich-<br />
haltiges Nachtmahl und ein kuscheliges Ruhebett schien ihren Füßen Flügel<br />
zu verleihen. In engen Windungen und Serpentinen schlängelte sich der<br />
Pfad in die Tiefe. Doch auch der Abstieg stellte sich als ebenso mühselig<br />
und anstrengend heraus wie der Aufstieg, da die Wanderer jeden Schritt<br />
überaus behutsam setzen mussten, um nicht zu straucheln und rettungslos<br />
in die zerklüfteten Schluchten zu stürzen.<br />
Immer spärlicher und verkrüppelter klammerte sich der Baumbesatz an<br />
die kargen Felsen. Bald erreichten die Baumspitzen nur noch Kopfeshöhe,<br />
so, als bekämen sie keine Luft zum Leben. Steinige Geröllhalden verdräng-<br />
ten den saftigen Blätterwald. Noch streiften letzte Strahlen der unterge-<br />
henden Sonne die Wangen der Wanderer, doch die zerklüfteten und schrof-<br />
fen Schattenbilder der umliegenden Granitbrüche tauchte die vier in eisig-<br />
feuchte Umarmungen.<br />
Nur einmal noch wich das beklemmende Schattenreich der sinkenden<br />
Abendsonne. Gerade hatten die vier Freunde einen besonders gefährlichen<br />
Überhang bewältigt, als sich vor ihnen unvermutet ein Felsdurchgang öff-<br />
nete und ein glattes, ebenes Plateau freigab. Ein diffuser Lichtkegel wärm-<br />
te den Boden der Hochebene, aus dem weiße Dunstschwaden aufstiegen.<br />
An den Berghängen, die die Ebene begrenzten, grünten exotische Pflan-<br />
zen. Zwischen schwankenden Palmen und duftenden Eukalyptusbäumen<br />
klebte an einem sanft aufsteigenden Hang ein elfenbeinfarbener Tempel,<br />
an dessen Säulen Efeu und Weinreben rankten. Von irgendwo plätscherte<br />
das sprudelnde Rieseln eines Gebirgsbaches.<br />
Die müden Wanderer glaubten zu träumen. Selbstverloren verweilten<br />
sie vor dem Panorama und genossen den satten Frieden dieses Paradieses.
Jählings wurden sie aus ihrem Traum gerissen.<br />
»Hüh und hott! Galopp, galopp!« gellte eine herrische Stimme durch die<br />
wundersame Oase. Klatschende Peitschenhiebe brachen sich an den Hän-<br />
gen wider.<br />
»Hüh und hott, du faules Vieh!« gellte es abermals. »Streck dich zum<br />
Galopp, schlappe Schindermähre!«<br />
Ein wunderliches Gespann bewegte sich in einem unendlich trägen Tem-<br />
po auf dem Weg zum Tempel. Ein kugelrundes Männchen hockte auf einer<br />
Riesenschildkröte und schwang eine siebenschwänzige Bullenpeitsche, die<br />
klatschend auf den Panzer niedersauste. Auf dem verschwitzten roten Kopf<br />
trug der Reiter eine beulenförmige schwarze Melone. Vor Anstrengung<br />
ächzte und fluchte er, strampelte mit den kurzen Beinen, puffte und boxte<br />
mit den Fäusten auf den Panzer, riss unbeherrscht an einer Leine, die um<br />
den Kopf des Tieres geschlungen war und brachte sich fast um vor Hast<br />
und Dringlichkeit.<br />
»Hüh und hott, galopp, galopp!« hetzte er das Panzertier, und sieben<br />
knallende Striemen zerschnitten die Luft.<br />
Gemächlich schob die Schildkröte ihren Kopf aus dem Panzer. Sie schien<br />
zu überlegen. Dann hob sie, schläfrig, mit kaum wahrnehmbarer Bewe-<br />
gung einen Fuß, ließ ihn ungelenk in der Luft stehen, um ihn endlich<br />
schwerfällig einen Zentimeter weiter auf den Boden plumpsen zu lassen.<br />
Davon schien das Tier so erschöpft zu sein, dass es in einen totenähnlichen<br />
Schlaf zu fallen schien.<br />
Der Reiter riss sich die Melone vom Kopf und wedelte seinem schweiß-<br />
überströmten Gesicht kühle Luft zu.<br />
Neugierig stapfte Hübeldübel auf das Gespann zu und pflanzte sich in<br />
seiner ganzen hünenhaften Länge vor der Schildkröte auf.<br />
»Aus dem Weg!« schrie das Männchen aufgeregt und stülpte sich die<br />
Melone auf den Schädel. »Siehst du nicht, dass ich es eilig habe? Fort mit<br />
dir!« Mit diesen Worten klatschte er ungehalten die Bullenpeitsche über<br />
den Rücken des Panzertiers.<br />
»Hoho Meister«, dröhnte der Hüne, »Pass mal auf, dass dir der Fahrt-<br />
wind nicht den Topf von der Glatze weht.«<br />
»Was sind das für despektierliche Worte?« schrie der Melonenträger,<br />
»wenn ich nicht so in Eile wäre, würde ich es dir schon besorgen.«<br />
»Fürwahr!« brüllte Plumplum, »wir können kaum Schritt halten. Wie ist<br />
denn der werte Name unseres Blitzkuriers?«<br />
Ohne in seinem Bemühen einzuhalten, rackerte sich das Männchen wei-<br />
ter auf der Schildkröte ab.
»Gestatten«, rief er stolz und ließ die Peitsche sausen, »Graf Umbo von<br />
Bumbo.« Und warnend fügte er hinzu: »Vorsicht da, sonst reite ich euch in<br />
Grund und Boden. Hüh und hott!«<br />
»S'wibbelt, Herr Graf«, fistelte Zippel und zog grüßend seinen Dreispitz.<br />
»Habt ihr noch Platz auf eurem Schnelltransporter?«<br />
»Spottet nur!« krakelte Umbo von Bumbo und ritt wie der Teufel auf der<br />
Schildkröte herum. »Wäre ich erst zu Hause, würde ich euch mit meinem<br />
Vierspänner schon Beine machen.«<br />
Kopfschüttelnd standen die vier um das Gefährt herum.<br />
»Warum steigst du nicht ab und läufst das letzte Stück?« schlug Lanzet-<br />
to vor. »Der Tempel ist ja schon in Sicht.«<br />
»Merke dir«, belehrte ihn der Reiter, »ein von Bumbo geht nie zu Fuß.<br />
Hast du je einen gräflichen Bumbo auf seinen eigenen Beinen gesehen?<br />
Ha!«<br />
Erschöpft legte der Graf eine Verschnaufpause ein.<br />
Das schien nun die Schildkröte wieder zum Leben zu erwecken. Vorsich-<br />
tig lugte sie unter ihrem Panzer hervor. Was hatte die ungewohnte Ruhe<br />
auf ihrem Rücken zu bedeuten? Hatte sie etwa einen Schritt in die falsche<br />
Richtung getan?<br />
Derweil musterte Umbo von Bumbo mit zusammengekniffenen Augen<br />
den fremdartigen Aufzug Zippels. Just in dem Augenblick, als er den<br />
Schneider darauf ansprechen wollte, gab es einen Ruck, und der gräfliche<br />
Reiter rutschte über den Panzer auf den Kopf der Schildkröte.<br />
»Was war das?« schluckte der Graf und glotzte in die undurchdringli-<br />
chen Augen seines Reittieres. Schläfrig schlossen sich dessen wimpernlo-<br />
sen Lider und verabschiedeten sich auf diese Weise von seinem Herrn.<br />
cken.<br />
»Hat wohl den Rückwärtsgang eingelegt«, konstatierte Lanzette tro-<br />
»Wie, Rückwärtsgang?« belferte der Graf wie von Sinnen. »Heisst das,<br />
die vermaledeite Kröte ist einen Schritt zurückgegangen?«<br />
»Das ist ja wohl nicht zu übersehen«, heulte Zippel mit quiekender Fis-<br />
telstimme. »Helft mir doch, schnell!«<br />
Das Panzertier hatte sich auf seinen Fuß gesetzt! Er war festgeklemmt.<br />
Hübeldübel und Plumplum sprangen hinter das Tier und hieften den<br />
zentnerschweren Panzer um einige Zentimeter in die Höhe. Zippel kam<br />
frei.<br />
»Fort mit euch!« wütete der krebsrote Bumbo. »Einen ganzen Tagesritt<br />
habe ich euretwegen verloren. Aus dem Weg! Hüh und hott! Galopp,<br />
galopp!«
Mit eingezogenen Köpfen flüchteten die Freunde aus dem Gefahrenbe-<br />
reich der Bullenpeitsche. Wüste Flüche schmetterten durch das Plateau.<br />
Wie Pistolenschüsse klatschten und knallten die Peitschenhiebe durch die<br />
Schluchten. Noch als die vier erschöpft die Festung Sextagon erreichten,<br />
hallten die Felswände vom Getöse des wild dahergaloppierenden Umbo von<br />
Bumbo wider.
An der Grenze<br />
Nach einem traumlosen, bleischweren Schlaf in der Festung Sextagon<br />
waren Zippel, Plumplum und Hübeldübel schon vor dem Morgengrauen<br />
aufgebrochen. Die übrigen Bewohner der Festung – es waren ohnehin nur<br />
einige wenige Wabbelanier – sollten von der Mission der drei erst gar<br />
nichts erfahren. War der Aufstieg durch den Gummibaumwald schon<br />
beschwerlich genug gewesen, so geriet der Marsch zur Grenze alsbald zur<br />
Tortur. Mitunter verlief sich der Pfad an den steinigen Hängen in verkruste-<br />
te Geröllfelder, dann wieder mussten Felsklippen übersprungen oder rei-<br />
ßende Wildwasser durchwatet werden. Noch bevor die ersten Sonnenstrah-<br />
len über die Gebirgskämme fingerten, erreichten die drei eine Gabelung,<br />
die den Weg zu den Pässen teilte. Ein verwittertes schiefes Holzschild stak<br />
am Wegesrand. Die rauen Stürme und Hagelschauer vergangener Jahre<br />
hatte die Schrift auf dem Wegweiser ausgewaschen und unleserlich<br />
gemacht. Wenn man Lanzetto glauben wollte, musste die linke Abbiegung<br />
zum Schwartenpass führen, während der rechte Weg durch den Scherben-<br />
pass lief.<br />
Die drei Wanderer hockten sich neben das trostlose Holzschild, das<br />
ihnen wie ein geborstenes Grabkreuz vorkam. Um ihre gedrückte Stim-<br />
mung zu heben, verschlangen sie die letzten Reste von Melanies Süßigkei-<br />
ten. Welchen der beiden Pässe sollten sie begehen? Während Hübeldübel<br />
und Plumplum die Vor- und Nachteile der beiden Möglichkeiten abwogen,<br />
aber zu keinem Entschluß kamen, versank Zippel in ein dumpfes Schwei-<br />
gen. Je mehr er über seine Mission nachdachte, desto wahnwitziger kam<br />
sie ihm vor.<br />
Der erste Sonnenstrahl fand seinen Weg über die Gebirgsränder und<br />
weckte den Schneider aus seinen Gedanken. Entschlossen sprang er auf<br />
die Beine und fistelte: »Ich nehme den linken Weg, der zum Schwarten-<br />
pass führt. Es ist sowieso egal, für welchen Weg ich mich entscheide.«<br />
»Wie du meinst«, meinte Hübeldübel, »dann lasst uns aufbrechen. Bis<br />
zum Pass wollen wir dich noch begleiten. Danach musst du allein weiter-<br />
kommen.«<br />
Kameradschaftlich puffte Plumplum den Schneider an, und sie traten<br />
ihren letzten gemeinsamen Marsch an.<br />
Außer ihrem Keuchen und gelegentlichen Fluchen war kein Laut zu<br />
hören. Hinter der Wegkreuzung schien die Welt tot und leer zu sein. Kein<br />
Vogel zwitscherte, keine Eidechse huschte über die Steine, keine noch so
kleine Maus äugte neugierig aus ihrem Loch. Selbst der Wind schien die<br />
Einöde vergessen zu haben, und ein modriger Geruch von Fäulnis und Ver-<br />
wesung breitete sich aus.<br />
Schweigend waren die drei Freunde etwa eine gute Stunde durch die<br />
erstarrte Landschaft gestiegen, als die Felswände zu beiden Seiten steiler<br />
und abweisender in die Höhe wuchsen. Der Pfad verjüngte sich zu einem<br />
Schlauch. Jeder Versuch, die glatten und feuchten Felswände zu erklim-<br />
men, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zwei-, dreimal schon<br />
hatte Plumplum Mühe, seinen mächtigen Kugelbauch durch die Passage zu<br />
zwängen. Beim vierten Mal schlug er erbost mit der Faust gegen den Fels<br />
und spie einen derben Fluch in die Schlucht. Ein schauriges Echo brach<br />
sich an den Wänden. Hundertfach hallte der Fluch auf die Köpfe der drei<br />
zurück.<br />
»Ahoi, Pass in Sicht!« rief Hübeldübel, der vorausgegangen war, und<br />
blieb stehen. Zippel zwängte sich an ihm vorbei. Vor ihm lag der Schwar-<br />
tenpass. Die steilen Wände unterschieden sich kaum von den bisherigen<br />
Felsen. Allerdings streckten sich spröde Borsten dem Wanderer entgegen.<br />
Sie schienen wie die struppigen Haare eines Gebirgsriesen aus den Wän-<br />
den zu sprießen. Unablässig rieselte eine schmierige Flüssigkeit von der<br />
Höhe herab und versickerte in ölig-schleimigen Lachen zwischen den<br />
Gesteinsbrocken. Ein schaler, ranziger Geruch verpestete die Schlucht, ein<br />
Geruch, der Zippel in der nächsten Zeit nicht mehr verlassen sollte, und<br />
der ihn bis an sein Lebensende in seinen Alpträumen verfolgen sollte.<br />
Dahinein mischten sich Schwaden von säuerlich-ätzenden Nebeln.<br />
Hübeldübel war dem Erbrechen nahe.<br />
»Sieht wirklich aus wie zwei aufgestellte Speckschwarten«, würgte er<br />
und hielt sich die Nase zu.<br />
Da er den Abschied nicht länger hinauszögern wollte, riss er sich den<br />
Bauchladen von den Schultern, hängte ihn Zippel um und rief: »Ahoi Zip-<br />
pel. Nur Mut. Plumplum und ich müssen hier zurückbleiben. Wir warten auf<br />
dich an der Wegkreuzung beim alten Holzschild. S«wabbelt!«<br />
»S«wabbelt!« brüllte auch Plumplum so laut er konnte, um Zippel mit<br />
ein bisschen vorgetäuschter Schneidigkeit aufzurichten.<br />
»S'wibbelt«, kam es verloren von des Schneiders Lippen. Stolpernd und<br />
strauchelnd verschwand er in den struppigen Borsten und der triefenden,<br />
stinkenden Schmiere des Schwartenpasses.
Feindberührung<br />
»Halt! Wer da?«<br />
Drohend platzte der Ruf in die Grabesruhe. Zippel hielt inne und drückte<br />
sich eng hinter einen Felsvorsprung. Sein Gesicht war zerkratzt. Jacke und<br />
Hose waren von der ranzigen Flüssigkeit verschmiert, und sein Dreispitz<br />
ließ die Ecken hängen. Der Gestank des Schwartenpasses hatte die Kleider<br />
des Schneiders getränkt und umhüllte ihn wie eine unsichtbare zweite<br />
Haut. Mehrmals war Zippel in den rauen Borsten hängengeblieben. Nach<br />
etwa zweihundert Metern hatten die schwartigen Wände plötzlich angefan-<br />
gen zu pulsieren. Sie atmeten, wölbten sich zu vollgefressenen Bäuchen<br />
auf und quetschten den Spion in ihre Mitte, bis der letzte Atem aus seinem<br />
Brustkorb gepresst war. Einen Augenblick verharrten die Schwarten in die-<br />
sem Zustand, und lauwarmes Fett tropfte auf die Schultern des Einge-<br />
klemmten. Einen Moment glaubte Zippel einen dumpfen Herzschlag zu<br />
spüren, der auf seinen Klapperbauch paukte. Hatten die ekligen Wände<br />
vor, ihn aufzusaugen, ihn zu fressen oder zu erdrücken? Doch sie ließen ab<br />
von ihm, zogen sich zusammen und falteten sich. Ein unerträglicher<br />
Gestank wurde durch den so entstehenden Hohlraum aus dem oberen<br />
Spalt hereingesaugt. So, als hätten die schmierigen Borstenwände eine<br />
überdrüssige Abscheu vor dem Wabbelanier, krampften sie sich noch ein-<br />
mal zusammen und spuckten ihn mit einer schwabbernden Kontraktion aus<br />
dem Pass.<br />
Minutenlang hatte Zippel auf dem Boden gelegen, bevor er wieder zur<br />
Besinnung kam. Er sammelte seinen Bauchladen auf und schaute sich um.<br />
Dies also war Stachelland. Scharfkantige Klippen säumten den Weg.<br />
Unvermindert stand der modrig-säuerliche Geruch in der Luft. Kein Laut<br />
irgendeines Lebewesens oder einer Vegetation war zu vernehmen.<br />
'Aha, es stimmt also', dachte Zippel und hob einen rostigen Nagel vom<br />
Boden auf. Überall, wo Stachelländer auftauchten, hinterließen sie diese<br />
rätselhaften Nägel und Glasscherben. Demnach waren hier also Stachellän-<br />
der vorbeigekommen.<br />
Zippel schulterte seinen Bauchladen und klomm den kaum markierten<br />
Pfad hoch. Auf dem höchsten Grat angekommen, überschaute er mit<br />
einem langen Blick das Klippengebirge. Durch schroffe Felsschründe führte<br />
der Weg ins Tal. Von den Überhängen troff milchig-trübes Salzwasser und<br />
bildete glitzernde Zapfen aus Salz und kristallinem Gestein.<br />
»Halt! Stehenbleiben!«
Der Befehl war nicht misszuverstehen. Aus den Augenwinkeln konnte<br />
Zippel eine Bewegung hinter einem Felsvorsprung ausmachen.<br />
»Lasst mich durch!« rief Zippel, »ich bin unterwegs zur Stachelburg.«<br />
»Wie heißt die Losung?« Diesmal schien die Stimme aus einer Spalte zu<br />
kommen, vielleicht war es aber auch ein weiterer Stachelländer.<br />
'Losung?' dachte Zippel bitter. An die Existenz einer Losung hatte keiner<br />
gedacht, nicht einmal der geniale Professor Eierschädel. Sollte seine Reise<br />
schon hier enden, bloß weil er eine dumme Losung nicht kannte?<br />
'Egal was ich auch mache', dachte Zippel verzweifelt, 'es ist in jedem<br />
Fall falsch.'<br />
Und mit diesen letzten Gedanken im Kopf stürmte er hinter dem Fels-<br />
brocken hervor, fuchtelte mit seinen Spagetti-Armen und schrie mit über-<br />
schlagender Stimme: »Stech euch, stech euch in die Beine, wie die wilden<br />
Stachelschweine!«<br />
Dabei verhaspelte er sich mit seinen Beinen, trudelte und fiel auf die<br />
Nase. Rostige Nägel, Nadeln und Kratzbürsten klapperten in der Kiste, die<br />
Sporen an den Stiefeln klirrten und sein Eisengürtel schepperte wie eine<br />
Armee von Zinnsoldaten.<br />
»Verloren«, schluchzte Zippel und blinzelte ins trübe Licht. Zwei hagere<br />
schiefe Gestalten schoben sich rasselnd in sein Blickfeld und salutierten.<br />
»Stech dich! Krztkrr!« pfiffen sie durch ihre schwarzen Zahnlücken und<br />
knallten ihre Hacken zusammen. Beide waren bis über die Ohren mit Mes-<br />
sern, Stecheisen, Lanzen und Pistolen bewaffnet.<br />
»Stech euch in die Beine«, krächzte Zippel nochmals ohne zu wissen,<br />
was er da sagte.<br />
»Es ist uns eine Ehre«, erwiderten die beiden Waffenträger und spuck-<br />
ten zum Beweis rostige Nägel vor die Füße Zippels.<br />
Der Schneider verstand gar nichts mehr. Was sollte das bedeuten? »Wer<br />
seid ihr denn?« fragte er dümmlich und bereute seine Frage im gleichen<br />
Atemzug.<br />
»Krtzkrr«, schnarrte der Größere der beiden. In seinen schrägen Augen<br />
flackerte es misstrauisch auf. »Das müsstest du doch wissen. Wir sind die<br />
Soldaten Reibstein und Geierblick. Unser Spezialauftrag lautet, dich mit<br />
dem gestohlenen Wabbelstein bis zum Schwarzen See zu geleiten. Warum<br />
fragst du, Brutus? Und wo ist eigentlich der Wabbelstein?«<br />
Wie ein Vorhang fiel es Zippel von den Augen: Diese martialischen Sol-<br />
daten vermuteten in ihm Brutus Ranzig. Sie mussten wohl schon eine<br />
geschlagene Woche gewartet haben ohne Nachricht aus Stachelburg. Bru-<br />
tus Ranzig aber hatte offensichtlich die andere Route genommen und war
über den Scherbenpass geflohen.<br />
Nervös nestelte Zippel an den Metallösen seiner Jacke herum. Die wil-<br />
desten Gedanken jagten durch sein Gehirn. Auf keinen Fall durften die Sol-<br />
daten hinter seine wahre Identität kommen. Wie konnte er nur das aufkei-<br />
mende Misstrauen zerschlagen?<br />
»Rührt euch!« fistelte er und versuchte, seiner Stimme einen militäri-<br />
schen Klang zu geben. »Zwar darf ich niemanden über den Wabbelstein<br />
Auskunft geben, aber ihr dürftet schon erraten haben, was ich in dieser<br />
Kiste mit mir führe.« Dabei klopfte er geheimnisvoll auf den Bauchladen.<br />
»Helft mir auf die Beine.«<br />
»Zu Befehl, krtzkrr!« schnarrte Soldat Geierblick und ergriff Zippels<br />
Hand. »Uuaah«, fügte er mit angeekelter Miene hinzu, »du stinkst ja wie<br />
zu besten stachelländischen Feiertagen.«<br />
Zippel bekam Aufwind. Geierblick und Reibstein schienen seine Maske-<br />
rade nicht zu durchschauen. Den echten Brutus Ranzig hatten sie entweder<br />
nur flüchtig oder überhaupt nicht gesehen. Der Schneider, der schon auf<br />
der Reise durch Wabbelanien an Selbstvertrauen gewonnen hatte, wuchs<br />
über sich hinaus. Mit der größten Selbstverständlichkeit näselte er: »Ein<br />
echter Stachelländer verliert niemals seinen guten Stallgeruch. In die Stie-<br />
fel und ab nach Stachelburg.«<br />
Reibstein meckerte vor Vergnügen auf. Voller Respekt spuckte er einen<br />
rostigen Nagel in den Sand. Dann griff in seinen Beutel und holte eine<br />
Handvoll Glasscherben und rostiger Nagelenden hervor. »Hier Kumpan.<br />
Eine kleine Erfrischung. Du wirst sie benötigen. Krtzkrr.«<br />
Woher sollte Zippel auch wissen, dass die Stachelländer Nägel und<br />
Scherben wie Kaugummi kauten. Dass sie mit Vorliebe an Salzklumpen<br />
leckten und lutschten, als seien es die süßesten Lollies. Dass sie sich piek-<br />
ten und kniffen, wenn sie lustig taten. Dass es als fein galt, den Nachbarn<br />
anzurülpsen. Und besonders vornehm war es, dem Gegenüber auf das<br />
Auge zu spucken, möglichst mit einem abgelutschten Kieselstein. Wenn die<br />
Stachelländer hinter einem Mädchen her waren, bewarfen sie es mit<br />
Schmutz und beleidigten es in der allergröbsten Weise. Beim Küssen bis-<br />
sen sie sich in die Lippen und rissen sich an den Haaren. Zippel hatte noch<br />
viel Schreckliches zu lernen. Kein Wunder, dass die Wabbelanier vor den<br />
grässligen Stachelländern bibberten.<br />
Mit zusammengebissenen Lippen fügte Zippel sich in sein Schicksal und<br />
nahm die sogenannte Erfrischung entgegen. Vor den Augen der waffen-<br />
strotzenden Soldaten schob er sich einen rostigen Nagel zwischen die Zäh-<br />
ne. Sogar ein schiefes Grinsen brachte er zustande. Reibstein und Geier-
lick bleckten ihre schwarzen Zähne und rülpsten Zippel mit üblem Mund-<br />
geruch an. Der Abstieg in das unbekannte Stachelland begann.
Im Tal der Zyklopen<br />
Bis sich das erste lebende Gestrüpp am Wegesrand zeigte, verging ein<br />
alptraumartiger Marsch. An jedem Salzzapfen, der von den feuchten Wän-<br />
den hing, hielten die beiden Soldaten an. Genüsslich leckten sie daran und<br />
forderten Zippel ebenfalls dazu auf. Aus Angst, er könne sich verraten,<br />
folgte er ihrem Wunsch, und ihm war schon nach kurzer Zeit speiübel.<br />
Außerdem bekam er einen unersättlichen Durst. Seine Zunge hing ihm aus<br />
den Mundwinkeln, und er hätte den erstbesten Bergsee bis auf den letzten<br />
Tropfen austrinken können. Reibstein und Geierblick schienen dagegen mit<br />
jeder Salzportion munterer zu werden.<br />
Mit großer Überwindung gewöhnte sich Zippel zudem an, bei jedem Halt<br />
ein oder zwei Nägel oder Glasscherben auszuspucken. Einmal traf er verse-<br />
hentlich das Ohr des Soldaten Geierblick, was dieser mit einem erfreuten<br />
Krächzen quittierte, denn er hielt es für eine besondere Auszeichnung.<br />
Die ersten Pflanzen am Wegrand machten einen kranken Eindruck. Ihre<br />
gelben scharfkantigen Blätter hingen ausgedörrt halb im Staub. Stängel<br />
und Äste waren mit Stacheln übersät. Geierblick riss einen Strauch aus der<br />
Erde und klatschte ihn über den Nacken seines Vordermanns Reibstein.<br />
Dieser wieherte vor Vergnügen und trabte wie ein Geißbock über Stock<br />
und Stein. Zippel erschauderte. Zu solch eigenartigen Vergnügungen konn-<br />
te er beim besten Willen nicht überredet werden.<br />
Hie und da ragten auch schon ausgetrocknete Kakteen mit geisterhaft<br />
erhobenen Armen aus dem fruchtlosen Boden. Schwarze Kolkraben und<br />
gierige Aasgeier tauchten aus Felsnestern auf und verfolgten die drei wie<br />
eine sichere Beute.<br />
Ein tiefes Grollen ließ plötzlich den Boden erbeben. Reibstein sprang mit<br />
einem Satz herum und rammte Geierblick mit dem Kopf in den Bauch. Die-<br />
ser brach stöhnend zusammen und riss Zippel mit um. Mit einem giganti-<br />
schen Reißen und Knirschen öffnete sich direkt vor ihren Füßen die Erde zu<br />
einem schwarzen Spalt. Er war so tief, dass der Grund im Dunkel ver-<br />
schwand. Eines von Zippels Glasnudelbeinen hing kraftlos in den Höllen-<br />
schlund hinein. Stinkende, kochend heisse Schwefeldämpfe stiegen aus der<br />
Spalte und versengten Zippels Fuß. Entsetzt krallte er sich an einen krüp-<br />
peligen Baum und zog sich aus dem Loch. Geierblick und Reibstein dage-<br />
gen schnupperten an dem jauchigen Dampf, als wäre es die frischeste<br />
Waldluft.<br />
Die Erdspalte zwang sie zu einem weiten Umweg. Schließlich erreichten
sie eine Anhöhe, von der aus sie ein seltsam friedliches Tal überblicken<br />
konnten.<br />
»Krtzkrr«, knarzte Reibstein, »das Tal der Zyklopen. Wenn wir Pech<br />
haben, wachen sie auf. Von jetzt ab darf kein Laut die Stille stören. Wir<br />
müssen uns barfuß durch das Tal schleichen.«<br />
Zippel begriff nicht ganz. Gehorsam schnürte er seine Stiefel auf und<br />
band sie sich um den Hals. Drunten im Tal konnte er lediglich drei unförmi-<br />
ge Felsbrocken ausmachen.<br />
»Kommt mir reichlich übertrieben vor«, näselte er geringschätzig.<br />
»Die friedliche Stille täuscht«, flüsterte Geierblick, »schau nur: Die drei<br />
Zyklopen befinden sich im tiefsten Schlaf. Dabei verwandeln sie sich in<br />
harmlose Felsbrocken. Jeder Zyklop ist mit nur einem Facettenauge ausge-<br />
stattet, mit dem er wie ein Rieseninsekt das ganze Tal überblicken kann.<br />
Mit jeweils drei schlauchartigen Armen können sie in die entferntesten<br />
Winkel des Tals langen.«<br />
»Warum locken wir sie nicht ins Gebirge?« fragte Zippel.<br />
»Du fragst, Brutus, als wärst du zum ersten Mal in Stachelland«,<br />
bemerkte Reibstein finster, »es ist doch im ganzen Land bekannt, dass die<br />
Zyklopen in der Erde angewachsen sind. Da es ihnen im Tal so langweilig<br />
ist, greifen sie sich jedes Lebewesen in ihrer Nähe. Dann spielen sie mit<br />
den Unglücklichen, werfen sie wie Bälle in die Luft und lutschen ununter-<br />
brochen an ihnen herum, denn sie sind ganz närrisch auf stachelländischen<br />
Salz- und Fischgeruch. Wer sich nicht befreien kann, verhungert. Und bis-<br />
her ist noch niemand ihren Greifarmen entkommen.«<br />
Bei den letzten Worten durchzuckte Zippel ein abwegiger Gedanke. So<br />
eine Art Plan formte sich in seinem Gehirn. Prüfend suchte er in den<br />
Taschen seiner Jacke und seiner unbequemen Lederhose.<br />
Dem übervorsichtigen Geierblick blieb diese Bewegung nicht verborgen.<br />
Ein offenkundiges Misstrauen stand in seinem Gesicht. Verschwörerisch<br />
zog er Reibstein beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Irgendetwas stimmt<br />
nicht mit diesem Brutus Ranzig. Und in der Kiste habe ich es scheppern<br />
hören, was so gar nicht wie ein Wabbelstein klang. Wenn wir das Tal hinter<br />
uns haben, knöpfen wir uns diesen Meisterdieb vor und durchsuchen die<br />
Kiste.«<br />
Nunmehr belauerte jeder jeden. Die Soldaten ließen Zippel vorangehen,<br />
da sie ihn jederzeit im Auge behalten wollten. Wohl spürte Zippel die ver-<br />
änderte Stimmung, aber er ließ sich nichts anmerken. So erreichten sie<br />
mit gepresstem Atem den Gebirgsfuß. Das Tal der Zyklopen lag vor ihnen.<br />
Mit gebücktem Rücken schlichen sich die drei auf den ersten Felsbrocken
zu, der direkt im Wege lag. Nun konnten sie an den Umrissen deutlich die<br />
unförmige Gestalt des Zyklopen erkennen. Wie versteinert ragte er aus der<br />
Erde auf. Auf seinem Schoß ruhten drei verschlungene Arme. Das einzige<br />
Auge im klotzigen Schädel wurde durch ein lappenförmiges Lid bedeckt,<br />
welches wimpernlos bis auf die breiten Nasenflügel niederhing.<br />
Zippel erschrak, als er beim Näherschleichen das ganze Ausmaß des<br />
Zyklopen gewahr wurde. Der Koloss überragte ihn, der auch nicht gerade<br />
kurz geraten war, um seine dreifache Länge und hatte die Breite eines<br />
Scheunentors. Auf Zehenspitzen, Schritt für Schritt setzend, umrundeten<br />
sie den schlafenden Klumpen. Wohl eine halbe Stunde brauchten sie für<br />
die paar Meter.<br />
Die beiden anderen Zyklopen wuchsen wie Zwillinge nebeneinander aus<br />
der Erde. Zwischen ihnen blieb nur eine schmale Gasse frei. Den ersten<br />
Zyklopen im Rücken, robbten die drei auf den einzigen Durchgang zu. Gei-<br />
erblick, der scharf hinter Zippel herkroch, hob mit einem Mal seine Nase.<br />
Woher kam plötzlich dieser eklige süße Geruch? Er robbte näher an Zippel<br />
heran. Der Geruch wurde intensiver. Ein unglaublicher Verdacht keimte in<br />
seinem kalten Herzen, und ein wilder Hass bemächtigte sich seiner. Mit vor<br />
Wut verzerrtem Gesicht robbte er weiter.<br />
Ein dröhnendes Röcheln ließ die drei in ihrer Bewegung erstarren. Minu-<br />
tenlang rührten sie sich nicht vom Fleck. Reibstein, der gerade ein Bein<br />
erhoben hatte, wagte nicht, es wieder auf die Erde zu stellen. Zippel hielt<br />
es nicht länger aus. Er rutschte durch die Gasse und blickte dann hinter<br />
sich.<br />
gang.<br />
'Jetzt', dachte er, 'jetzt oder nie.'<br />
»S'wibbelt, Herr Zyklop!« schrie er, sprang auf und raste zum Talaus-<br />
Ein brüllendes Donnern antwortete ihm. Die drei Kolosse erbebten. Die<br />
schlauchartigen Arme schossen in die Höhe und fuhren wie giftige Schlan-<br />
gen auf Geierblick und Reibstein herab. Im Nu hatten sie die Soldaten<br />
gepackt und in die Luft geschleudert. Drei riesige Facettenaugen schillerten<br />
in tausend Brechungen und suchten das Tal ab. Noch bevor Zippel den<br />
Ausgang erreichte, hatten die Augen seine Fluchtbewegung erfasst.<br />
Unbarmherzige Zyklopenfinger schlangen sich um seine spillerige Gestalt<br />
und rissen ihn in die Höhe. Ein haifischartiges Maul öffnete sich. Schlürfend<br />
quoll eine mit grünem Schleim bedeckte Zunge über die wulstigen Lippen.<br />
Zippel wollte seine Ersatznadel zücken und sie in die Zunge stechen. Doch<br />
bevor er sie zu packen bekam, versank er in grünem Schleim und glaubte<br />
zu ertrinken.
»Ööüüööh!« röhrte der Zyklop, der Zippel ableckte. Angewidert schüt-<br />
telte er seinen mächtigen Körper, so dass der Boden zu beben und wackeln<br />
begann. Felsbrocken lösten sich von den Gebirgswänden, krachten pol-<br />
ternd die Hänge hinab und rissen Geröll, Steine und Baumstämme mit<br />
sich. Abermals erhob sich das Röhren des Zyklopen und übertönte die don-<br />
nernde Steinlawine, »Ööüüööh! Eklig süß, eklig süß, ööüüööh!«<br />
In einem Schwall von Spucke und Schleim brach der Koloss den Schnei-<br />
der aus und wischte ihn anwidert aus dem Tal. Zippel fiel in Ohnmacht.<br />
Aber auch die tiefe Besinnungslosigkeit konnte nicht seine verkrampfte<br />
Hand lösen, die ein paar zerquetschte Gummibärchen umschloss.
Zippels Traum<br />
Ein glühendes Augenpaar stürzte vom sternenlosen Himmel. Kurz vor<br />
dem steifen Körper Zippels schwenkte die Fledermaus scharf ab und ver-<br />
schwand im Zickzackflug im Dunkel der Nacht. In der Ferne heulte ein Wolf<br />
auf. Ein unregelmäßiges Klirren und Knacken zeugte vom heimlichen Trei-<br />
ben im Schutz der Dämmerung: Ratten und Echsen huschten über das<br />
Pflaster der Straße und stießen an Glasscherben und Nägel, die überall<br />
verstreut herumlagen. Ein schmutziggrauer Bodennebel bedeckte wie ein<br />
Leichentuch die unbestellten und verwahrlosten Felder. Am Straßenrand<br />
und in den Gräben verfaulte Unrat und Müll und vermischte die Nebelbrühe<br />
mit einem schwefligen Verwesungsgestank.<br />
Wie betäubt lag Zippel am Straßenrand, halb aufgerichtet an seinem<br />
Bauchladen, der seinen Rücken stützte. Mit schweren Atemzügen sog er<br />
den stachelländischen Pestgeruch in seine Lungenflügel, um tiefer und<br />
tiefer in die Bewusstlosigkeit zu sinken. Ein Traum ohne Sinn und Handlung<br />
quälte sein Gemüt in einem Wechselbad aus Angst, Hoffnung, Freude und<br />
Schrecken.<br />
Er sieht Melanie auf sich zuschweben mit ihren verführerischen Lippen.<br />
Sie öffnet den Mund. Eine mit grünem Schleim bedeckte Zunge quillt her-<br />
vor und spuckt rostige Nägel auf das Pflaster. Königin Wabbeline bückt<br />
sich danach und hebt zwei drollige Möpse vom Boden. Bei der Berührung<br />
versteinern sie zu unförmigen Felsklumpen, die das Aussehen von zwer-<br />
genhaften Zyklopen annehmen. Mit einem spitzen Schrei lässt Wabbeline<br />
die verwandelten Möpse fallen. Beim Aufschlag reisst die Erde auseinan-<br />
der. Schwefliger Qualm wabert aus der Spalte, und eine Riesenschildkröte<br />
kommt über den Rand gekrochen, angetrieben von einem wie verrückt<br />
galoppierenden Umbo von Bumbo. Kommandant Lanzetto stellt sich ihm in<br />
den Weg. Schläfrig öffnet die Schildkröte ein Lid, welches ein schillerndes<br />
Facettenauge freigibt. Ööüüöö, röhrt das Tier, und Umbo von Bumbo knallt<br />
mit einer siebenschwänzigen Bullenpeitsche auf Lanzetto ein. Die Enden<br />
der Peitsche züngeln wie die Schlangenarme der Zyklopen hin und her. Mit<br />
einem Stiefel Honigbier tritt Bimballo an den Reiter. Dieser säuft mit einem<br />
einzigen Schluck das Glas leer und verwandelt sich nacheinander in einen<br />
meckernden Brutus Ranzig, den schwankenden Hübeldübel und schließlich<br />
in Königin Wabbeline. Aber sie lebt nur zum Schein, kann sich von ihrem<br />
Sockel nicht fortbewegen und wird von dem nervös herumhüpfenden Felix<br />
Kräuselohr mit einem schwarzen Laken bedeckt. Da ertönen alle Glocken
von Wabbelburg. Zippel, Bimballo und die beiden Hüter des Wabbelsteins<br />
liegen schnarchend im Goldenen Dotter, während Brutus Ranzig auf ihren<br />
Bäuchen tanzt und zwei Schlüsselringe über seinem spitzen Schädel krei-<br />
sen lässt. Splitternd kracht die Tür auf. Ein wüst aussehender Pirat mit<br />
einem Haken an dem rechten Arm versperrt den Weg. Melanie flüchtet<br />
durch die Hintertür und fällt in eine stickige Höhle voller Federn und Dau-<br />
nen. Zippel kann sie an der Hand packen. Sie küsst ihn, und die Federn<br />
verwandeln sich in einen Berg voll zerknüllter Papierblätter. Professor Eier-<br />
schädel wartet vor dem Papiermüll und ruft: Die Losung oder ihr seid ver-<br />
urteilt! Zippel ruft: Stech euch in die Beine! Und die Soldaten Reibstein<br />
und Geierblick nehmen den Professor in ihre Mitte und füttern ihn mit<br />
Nägeln, Glasscherben und Salzklumpen. Ein Bienenschwarm fälll über die<br />
Soldaten her und frisst ihre Haare und Zehnägel. Borstige Steilwände<br />
schieben sich von beiden Seiten zusammen, und ranziges Fett trieft von<br />
der Höhe. Mit einem ordinären Rülpsen spucken die Schwarten die Solda-<br />
ten in das Tal der Zyklopen, wo Zippel sie schon erwartet. Laut schreiend<br />
hält er ein paar zerquetschte Gummibärchen unter die Nase der Zyklopen.<br />
Angewidert werfen die Kolosse den Schneider aus dem Tal. Ein schwarzes<br />
Tuch fällt auf Zippels leblosen Körper. Jemand schnauft, zerrt und schleift<br />
ihn über den Boden. Dann plätschert es, als ob Ruder in eine ölige See<br />
gestoßen werden. Es schwankt wie in einer trägen Schaukel. Dann knirscht<br />
es, mit einem Ruck hört das Schwanken auf. Wieder zerrt jemand an Zip-<br />
pels Kleidern und schleppt und schleift ihn über den Boden. Eine Kiste wird<br />
in seinen Rücken gedrückt. Das Tuch wird von seinem Kopf gezogen, doch<br />
er sieht nur schemenhafte Umrisse: es ist Nacht. Die Zöllnerin kniet an<br />
seiner Seite und versucht, seine verkrampften Finger aufzubiegen, um an<br />
die Gummibärchen heranzukommen. Den Brückenzoll, keift sie, fünf Gum-<br />
mibärchen. Die Kraft in Zippels Hand lässt nach, und die Zöllnerin entwin-<br />
det ihm gierig die Süßigkeiten. Behände hüpft sie auf die Beine und will in<br />
die Nacht entfliehen. Doch sie hält noch einmal inne und verweilt nach-<br />
denklich einen Augenblick. Mit einer überraschend warmen und mütterli-<br />
chen Stimme murmelt sie: Nicht Schneider noch Soldat, doch ein guter<br />
Wabbelanier. Sanft legt sie ihre knochige Hand auf Zippels Stirn und<br />
berührte mit den Fingerspitzen seine Augen. Ein heißer Strahl fährt in Zip-<br />
pels Glieder. Eine übernatürliche Kraft wächst in seinen Muskeln und<br />
Gelenken. Seine Glieder beginnen zu kribbeln und angenehm zu jucken.<br />
Die betäubenden Dämpfe weichen aus seinem Gehirn. Kräftig hebt und<br />
senkt sich sein Brustkorb. Mit tiefen Atemzügen reinigt sich der Körper des<br />
Schneiders von den abgestandenen Giften der letzten Stunden.
Zippel schlug die Augen auf.<br />
»Wo bin ich?« stammelte er noch etwas benommen. Verwundert starrte<br />
er auf seine rechte Hand: Die Gummibärchen waren verschwunden. Wie<br />
eine gichtige Kralle stachen seine aufgebogenen Finger in den Sand. Wäh-<br />
rend er Leben und Blut in seine Finger hineinmassierte, glaubte er einen<br />
leisen Tritt zu vernehmen, der sich eilig entfernte. Das Stoßen eines Krück-<br />
stockes schien die Schritte zu begleiten.<br />
Nun erst bemerkte Zippel die bizarre Kulisse, die sich vor dem grauen<br />
Horizont abzeichnete. Eine düstere spitzwinklige Burg erhob sich drohend<br />
über eine Stadt aus verkommenen Bruchbuden, schiefen Hütten und bau-<br />
fälligen Kasernen. Die Türme und Zinnen der Burg hatten die Form von rie-<br />
sigen Stacheln, die nicht nur steil in den Himmel ragten und die tief hän-<br />
gende Wolkendecke ritzten, sondern auch seitlich, quer und in alle Rich-<br />
tungen stachen, so, als wollten sie argwöhnisch die ganze Stadt belauern<br />
und sich gegebenenfalls auf sie stürzen. Aasgeier hockten mit eingezoge-<br />
nen glatzigen Schädeln auf den Häuserfirsten, und Schwärme von Fleder-<br />
mäusen flatterten durch die schwarzen Löcher zerborstener Fensterschei-<br />
ben. Das irre Schreien einer räudigen Katze wehte zu Zippel hinüber. Eine<br />
dünne gelbliche Rauchfahne hinter der meterdicken Stadtmauer verriet<br />
menschliches Leben in den Trümmern der Unterstadt. Glasscherben und<br />
Stacheldraht auf der Mauer ließen eindeutige Rückschlüsse auf die Gast-<br />
freundschaft der Bewohner zu. Das einzige eiserne Tor, zu dem die Straße<br />
führte, war fest verschlossen und schien nur am Tage geöffnet zu werden.<br />
»Stachelburg«, flüsterte Zippel beklommen. Er konnte den Blick nicht<br />
von der Zitadelle wenden, die sich wie ein gefräßiges Stacheltier zwischen<br />
die windschiefen Behausungen eingegraben hatte.<br />
Ein scheppernder, geborstener und unharmonischer Glockenklang kün-<br />
dete die stachelländische Uhrzeit an. Sechsmal, in unregelmäßigen Abstän-<br />
den, gellte der Missklang über das Land. Träge erhob sich ein Geier in die<br />
Lüfte, dann noch einer und noch einer. Fensterläden klapperten, und ein<br />
Hahn krähte.<br />
Zippel erhob sich und klopfte seine Kleider ab. »Es ist soweit«, murmel-<br />
te er. Entschlossen schulterte er seinen Bauchladen.
Ein wüstes Gelage<br />
»Stech dich, Krtzkrr!«<br />
Brutus Ranzig verbeugte sich, so gut es seine schiefe Gestalt zuließ.<br />
Herablassend winkte Generalissimo Krtzkrr Krieger den Dieb des Wabbel-<br />
steins zu sich und spie einen Schwall Scherben auf die schmutzigen Dielen.<br />
Sie befanden sich im Spiegelsaal der Stachelburg. An den roh behaue-<br />
nen Wänden zeugten zersplitterte Spiegel und zerfetzte Vorhänge von den<br />
ungezügelten Wutausbrüchen des Diktators. Von der Decke hingen<br />
Wäscheleinen, an denen einige verrostete Kerzenhalter notdürftig befestigt<br />
waren. Unförmige, dickbäuchige Kerzen blakten und rußten darin und<br />
schwärzten die Spinnweben und Mottennester an der Decke. Ein struppiger<br />
erbeuteter Adventskranz hatte die Anfälle des Generals überlebt und ließ<br />
seine vertrockneten Nadeln auf die strähnigen Haare der Soldaten fallen.<br />
Der Boden war übersät mit Scherben, Nägeln, Fischgräten und fauligen<br />
Essensresten. Quiekend stoben fette Ratten durch den Unrat und verbissen<br />
sich im Kampf um die madige Beute.<br />
Wohl an die fünfzig Soldaten waren eingeladen worden, um den Raub<br />
des Wabbelsteins zu feiern. Sie lümmelten auf angeknacksten Stühlen und<br />
Obstkisten herum, die als Sitzgelegenheiten im Saal verstreut herumlagen.<br />
Ein von Messer- und Beilhieben verunstaltetes Eichenbrett diente als Tisch.<br />
Wer nun eine prunkhafte Festtafel erwartet hatte, wurde schnell eines Bes-<br />
seren belehrt: lediglich ein Kübel mit dem billigsten Fuselschnaps thronte<br />
auf der Bohle. Etwas anderes schienen die Soldaten aber auch nicht erwar-<br />
tet zu , haben, denn jeder hatte einen verbeulten Blechnapf mitgebracht,<br />
mit dem er die hochprozentige Tunke schöpfen konnte.<br />
Am Fuß des Tisches hatte die Militärjunta Platz genommen. Neben<br />
Oberst Speiteufel sah man den Leibwächter des Diktators, Hauptmann<br />
Bleifuß. Dieser hatte seinen Namen von seiner Beinprothese, die er mit<br />
Blei hatte ausgießen lassen. Mit einer solch furchtbaren Waffe ausgestat-<br />
tet, konnte er Türbohlen, Lanzen und Mauern zertrümmern. Wer sich ihm<br />
in den Weg stellte, wurde rücksichtslos niedergestampft. Abgesehen von<br />
dieser Besonderheit verfügte Bleifuß über enorme Körperkräfte. Selbst sei-<br />
nen glatzköpfigen Schädel benutzte er als Rammbock. Kein Wunder also,<br />
dass Krtzkrr Krieger ihn zum Leibwächter ernannt hatte.<br />
Wer die stachelländischen Verhältnisse nicht gekannt hätte, würde die<br />
hagere Gestalt neben Bleifuß vermutlich übersehen haben. Mochte man sie<br />
beim flüchtigen Hinsehen zunächst noch für unscheinbar, ja unbedeutend
gehalten haben, so änderte sich dieser Eindruck schnell in einem schreckli-<br />
chen Ausmaß. Eine schleichende, unausweichbare Bedrohung ging von der<br />
Figur aus. Wie von einer Totenhand berührt schien die Luft und das Leben<br />
um ihn herum zu erstarren. Mit seinen nadelgroßen schwarzen Pupillen<br />
durchbohrte er seine Nachbarn, so dass diese erschaudernd wegblicken<br />
mussten, denn sie fürchteten, von dem Blick aufgespießt zu werden. Der<br />
Haaransatz dieses Stachelländers begann direkt bei den Augenbrauen, und<br />
seine schmalen, stets zusammengepressten Lippen schienen einen tiefen<br />
Hass verbergen zu wollen. Öffnete der Mann den Mund, so drangen tonlo-<br />
se, krächzende Befehle an die Ohren der Angesprochenen, die sich wie von<br />
einem seelenlosen, unbarmherzigen Roboter angegriffen fühlten. Dem<br />
magischen Zwang dieses eiskalten Wesens konnte sich keiner entziehen.<br />
Dies war General Krtzkrr Krieger!<br />
Gerade wandte er sich einem verbogenen Männchen zu, das ihm heim-<br />
lich hinter vorgehaltener Hand etwas zuflüsterte. Von dem Männchen ging<br />
etwas Schmutziges, Hinterhältiges aus, und selbst die abgebrühtesten Sta-<br />
chelländer gingen ihm aus dem Weg. Geheimrat Ziegenlippe, und nur um<br />
diesen handelte es sich, galt als graue Eminenz in Stachelland, als ein-<br />
flussreichster und engster Berater des Diktators. Ohne die bösartigen Intri-<br />
gen und arglistigen Pläne seines Vertrauten hätte Krieger seine uneinge-<br />
schränkte Macht in Stachelland nicht ausüben können.<br />
»Merkwürdig«, wisperte Ziegenlippe, »warum hat Brutus Ranzig den<br />
Scherbenpass benutzt und nicht wie befohlen den Schwartenpass?«<br />
»Er wird seine Gründe gehabt haben«, raunzte Krieger, »immerhin hat<br />
er seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt, und der Wabbelstein ist in unse-<br />
ren Händen.«<br />
»Gründe hin, Gründe her. Dies ist ein offener Fall von Befehlsverweige-<br />
rung!«<br />
Damit setzte Geheimrat Ziegenlippe den ersten Stachel des Misstrauens<br />
in den General.<br />
Krieger richtete seine stechenden Augen auf Ranzig. Wie eine durch-<br />
dringende Nadel spürte dieser den Blick in seinem Nacken, und er fing zu<br />
schwitzen an.<br />
»Außerdem«, fuhr Ziegenlippe fort, »außerdem werden mir merkwürdi-<br />
ge Dinge vom Tal der Zyklopen zugetragen.«<br />
»Rede schon!« herrschte Krieger den Geheimrat an. Gleichzeitig proste-<br />
te er den Soldaten zu, die grölend über den Kübel Fuselschnaps herfielen.<br />
Ziegenlippe meckerte hämisch auf: »Man hat Geschrei aus dem Tal der<br />
Zyklopen gehört. Einer meiner Spitzel war zufällig in der Nähe. Er ist sich
sicher, dass es die Stimmen von Reibstein und Geierblick waren. Jemand<br />
muss sie den Zyklopen ausgeliefert haben.«<br />
Krieger erbleichte. Seine Zähne gruben sich in die Lippen, bis sie blute-<br />
ten. Das Gegröle der Soldaten verstummte so plötzlich wie es aufgekom-<br />
men war: so kündigte sich einer der gefürchteten Wutausbrüche Kriegers<br />
an.<br />
»Weiter! Weiter!« geiferte der Diktator und packte den Geheimrat am<br />
Kragen.<br />
»Das ist in der Tat noch nicht alles«, beeilte sich Ziegenlippe zu berich-<br />
ten, »die Zöllnerin soll im Land sein. Man hat ihre Fußspuren und den<br />
Abdruck ihres Krückstockes gefunden.«<br />
»Gift und Galle!« Krieger tobte. Schaum bildete sich vor seinen Lippen.<br />
Er sprang auf und warf seinen Becher dem erstbesten Soldaten an den<br />
Kopf. Mit einem erstickten Aufschrei riss er sich die Uniformjacke auf, dass<br />
die Knöpfe absprangen und die Taschen in Fetzen flogen.<br />
»Verrat!« brüllte er und geiferte und sabberte schleimigen Speichel auf<br />
seine Hose. Dann stürzte er sich auf Ranzig und packte dessen Haare. Wie<br />
von Sinnen zerrte er ihn durch den Saal und trat ihn mit den Füßen.<br />
Schließlich warf er ihn vor die klumpige Beinprothese seines Leibwächters.<br />
Hauptmann Bleifuß schnappte den Gebeutelten an der Kehle.<br />
»Wirf ihn in einen der oberen Stacheltürme und gib ihm Honigbier zu<br />
trinken!« kreischte Krieger, »bis er ein vollständiges Geständnis ablegt.<br />
Fort mit ihm!«<br />
Bleifuß schleifte den wimmernden Ranzig durch den Saal. Mit Fußtritten<br />
und Schimpfwörtern verabschiedeten sich die Soldaten von ihrem Kolle-<br />
gen, denn eine echte Kameradschaft war unter den heruntergekommenen<br />
Söldnern und Desperados unbekannt. Im Gegenteil, der Vorfall schien ihre<br />
Festtagsstimmung noch zu heben.<br />
»Trotz alledem«, rief Krieger, der wie aus einer Trance zu erwachen<br />
schien, »der Wabbelstein ist unser, und niemand wird ihn wieder aus dem<br />
Labyrinth der Stacheltürme zurückholen können.«<br />
Der General schöpfte einen neuen Becher voll Fuselschnaps. »Es ist Zeit<br />
zum Essenfassen. Holt die Eimer herein. Zur Feier des Tages werden gepö-<br />
kelte Stichlinge serviert. Dazu gibt es Feuerquallen, Fliegenpilze in saurer<br />
Milch, abgehangene Seeigel und zerstoßene Katzenkrallen.«<br />
»Stech dich krtzkrr!« heulten die Soldaten auf und stürzten sich auf die<br />
Eimer mit den entsetzlichen Speisen. Es versprach, eines der wüstesten<br />
Feste zu werden, die die Stachelburg erlebt hatte.<br />
Und so geschah es. Schon bald zeigte der Fuselschnaps seine verhee-
ende Wirkung. Oberst Speiteufel feierte mit Geheimrat Ziegenlippe zum<br />
wiederholten Mal Verbrüderung. Mit rührseligen Tränen in den Augen<br />
spuckten sie sich volle Breitseiten von Nägeln und Scherben ins Gesicht<br />
und rupften sich die Haare aus. Hauptmann Bleifuß, der sich des Verräters<br />
entledigt hatte, gurgelte und erbrach sich quer über den Tisch. Die Solda-<br />
ten grölten, gossen sich Schnaps über die Köpfe und schlugen mit<br />
Blechlöffeln auf die Töpfe ein.<br />
»Musik!« befahl General Krieger.<br />
Da in Stachelburg keine Musik ausgeübt wurde, und es somit auch kei-<br />
ne Musiker gab, nahmen die Söldner das Geschäft selbst in die Hand. Ein<br />
ohrenbetäubendes, schrilles Katzenkonzert war die Folge. Mehrere Solda-<br />
ten kratzten mit ihren Fingern auf Schiefertafeln, dass die Ratten quiekend<br />
in ihre Löcher flüchteten. Zwei andere holten verstimmte Fideln aus der<br />
Ecke und sägten mit zerfaserten Bögen darauf herum, als wollten sie die<br />
Instrumente zu Kleinholz machen. Alles, was auch nur irgendwie einen<br />
scheppernden Klang verursachte, wurde mit Fäusten, Messern, Löffeln und<br />
Schwertern bearbeitet. Dazu grölten die Betrunkenen unmelodisch durch-<br />
einander, wobei es einzig auf die Lautstärke und nicht auf einen schönen<br />
Klang ankam.<br />
Bis zum Exzess steigerte sich das Gelage. Als im Morgengrauen die ers-<br />
ten Geier auf der Suche nach Aas aufstiegen, lagen die Gänge der Stachel-<br />
burg voll von betrunkenen Söldnern und Desperados. Es konnte noch Tage<br />
dauern, bis der letzte Tropfen Fusel ausgetrunken war, bis das letzte<br />
Fischskelett auf die Dielen gespuckt wurde.<br />
Gegen Mittag des zweiten Tages jedoch machte Ziegenlippe einen Vor-<br />
schlag, der von allen begeistert aufgenommenen wurde.<br />
»Wir brauchen zwischendurch eine Abwechslung«, lallte er, »Lasst uns<br />
doch mal auf den Marktplatz gehen und uns bei den Marktfrauen umsehen.<br />
Da gibt es sicher allerlei zu kneifen und zu kratzen.«<br />
Mit einem tierischen Gebrüll wälzte sich die haltlose Soldateska auf das<br />
verriegelte Tor. Krtzkrr Krieger meckerte böse auf.<br />
»Schade«, rief er, »dass wir keinen fetten Wabbelanier zum Pieken und<br />
Quälen dabei haben. Das würde dem Fest die richtige Würze geben.«<br />
Er schloss das Tor auf. Wie glühende Nadeln stachen die gleißenden<br />
Strahlen der Vormittagssonne in die blutunterlaufenen Augen der Bande.<br />
Geblendet wichen die Wüstlinge zurück. Allmählich gewöhnten sie sich an<br />
das Tageslicht. Schmutzige Stoppelbärte sprossen in ihren aufgedunsenen<br />
Gesichtern. Mit zerzausten Haaren und stinkenden Uniformen wälzte sich<br />
die rohe Meute durch die Gassen Stachelburgs und bewegte sich unheilvoll
auf den Marktplatz zu.
Der Stachelmarkt<br />
Viele der verwahrlosten Häuser und Hütten, an denen Zippel vorbeimar-<br />
schierte, schienen unbewohnt zu sein. Bei näherem Hinsehen konnte er<br />
jedoch heimliche Bewegungen hinter den Pferdedecken und Bettlaken aus-<br />
machen, die hier als Gardinen dienten. So trostlos hatte sich Zippel die<br />
Hauptstadt Stachelburg nicht vorgestellt. Wie mochte es erst in den Dör-<br />
fern und Ansiedlungen auf dem Land aussehen. Die Türen hingen schief in<br />
ihren Angeln und waren vielfach durch Kohlen- und Kartoffelsäcke ersetzt<br />
worden. Kaum ein Fenster besaß ein intaktes Fensterglas. Als Ersatz waren<br />
notdürftig Bretter und Dachpappen davorgenagelt worden. Zippel fröstelte<br />
bei dem Gedanken an die Wintermonate. Ob die Einwohner in ihren Häu-<br />
sern Lagerfeuer unterhielten, um sich halbwegs vor der Kälte zu schützen?<br />
Diese und viele andere Fragen konnte Zippel sich nicht beantworten.<br />
Nirgendwo sah er Handwerksbetriebe oder Kaufläden. Kein Schneider, kein<br />
Frisör, kein Bäcker öffnete sein Geschäft, was keineswegs der frühen Mor-<br />
genstunde zuzuschreiben war. Stattdessen trieben sich wenig vertrauener-<br />
weckende Gestalten herum. In ihren zerlumpten Uniformen drückten sie<br />
sich in die dunklen Ecken der Gassen, so, als triebe sie ein schlechtes<br />
Gewissen weg von der entlarvenden Helligkeit der Straße.<br />
'Wenn mich nicht alles täuscht', dachte Zippel, 'besteht die ganze Stadt<br />
aus Wegelagerern, die von Raub und Diebstahl leben.'<br />
Trotz der feindseligen Atmosphäre, die von den windschiefen Häusern<br />
und Gestalten ausging, fürchtete sich Zippel nicht. Die Leichtigkeit, mit der<br />
er die Torwache überrumpelt hatte, machte ihn zuversichtlich. Noch hatte<br />
er das Bild seines Streiches vor Augen:<br />
Da wartet er vor dem Stadttor. Seinen ganzen Mut nimmt er zusam-<br />
men. Vorsichtshalber steckt er sich eine Handvoll Nägel und Scherben in<br />
den Mund, mit der er die Wächter landesüblich und standesgemäß begrü-<br />
ßen will. Nichtsahnend und verschlafen riegeln diese kurz nach sechs Uhr<br />
das Tor auf. Zippel holt tief Atem und rotzt die ganze Ladung Nägel in die<br />
Gesichter der Wächter. Die Verblüffung über soviel Freundlichkeit ver-<br />
schlägt ihnen die Sprache. »Stech euch, krtzkrr!« schreit nun Zippel und<br />
scharrt mit den Füßen wie der Leibhaftige, wenn ihm eine Laus über die<br />
Leber juckt. Übermütig schlägt er mit dem Bein aus und treibt seinen Spo-<br />
ren in das Holz des Tores. Nun ergreift wirklich der Teufel von ihm Besitz.<br />
Mit seiner großen Ersatznadel sticht er den beiden Wächtern kurzerhand in<br />
die Arme. »Gestatten, Rippel aus Korinth!« erklärt er, »Nagel-, Nadel- und
Kratzbürstenhändler auf der Durchreise.« Seinen Namen hat Zippel ein<br />
wenig geändert, denn man kann nie wissen! Die beiden Wächter rappeln<br />
sich wieder auf. »Den Ausweis!« verlangen sie, und der Schock steht<br />
immer noch auf ihren Gesichtern geschrieben. Zippel zückt seinen Ausweis<br />
und hält ihn frech vor die Nase des ersten Wächters. Der bleibt stumm.<br />
Studiert und studiert. Bis er achselzuckend fragt: »Was für einen Sinn hat<br />
ein Ausweis, wenn man ihn nicht lesen kann, krztkrr?« Noch immer reitet<br />
dieses kecke Teufelchen den Schneider, und er dreht den Ausweis um und<br />
fragt: »Und nun? Bist du jetzt zufrieden?«<br />
Wie vom Donner gerührt glotzt der Wächter auf den Zettel. Gleich fallen<br />
ihm die Augen aus dem Kopf. »Pest und Cholera«, stottert er«,das sind ja<br />
wabbelanische Buchstaben!« »Eben, eben«, kontert Zippel, »das ist ja der<br />
Trick. Darauf wärst du Pfiffikus wohl nie gekommen. Die korinthischen Hie-<br />
roglyphen sind halt so oder anders zu lesen. Je nachdem, je nach Bedarf.<br />
Mal wabbelanisch, mal korinthisch, mal kloakisch., dann wieder stachellän-<br />
disch. In jedem Fall aber sibyllinisch und erst recht<br />
korinthifistisch. Zu guter Letzt stellt sich das Papier als spionistisch im<br />
Sinne korinthisch-verbrämter Sophistik in der Auslegung kyrillischer Malefi-<br />
zenz dar.« Nach dieser tiefsinnigen und rätselhaften Rede lupft Zippel sei-<br />
nen Dreispitz zum Gruß: »Und damit wünsche ich noch einen guten Tag.«<br />
Ohne zu fragen nimmt Zippel den Ausweis wieder an sich, schultert seinen<br />
Bauchladen und marschiert einfach los, eine lustige Weise auf den Lippen.<br />
Das einzige, was ihn in seinem Rücken noch verfolgt, ist ein dümmliches<br />
Grunzen. Und das ist alles. Basta.<br />
Seit diesem Erlebnis verfielen die Wächter in ein krankhaftes, verbohr-<br />
tes Grübeln und Deuteln und nahmen ihre Aufgaben nachlässig und in<br />
geistiger Abwesenheit wahr. Zippel aber kicherte beim Gedanken an diesen<br />
Streich vergnügt in sich hinein. Das war wirklich ein tolldreistes Stück<br />
gewesen. Was würden Plumplum und Hübeldübel wohl für Augen machen,<br />
wenn er davon berichtete!<br />
Je mehr er sich der Stadtmitte näherte, desto stärker wurde das Leben<br />
in den Straßen. Auch die anderen Menschen nahmen die gleiche Richtung<br />
wie der Schneider. Hauptsächlich Frauen strebten zur Stadtmitte, und sie<br />
schleppten wie Zippel Kisten mit sich, hatten Säcke geschultert oder scho-<br />
ben zweirädrige Karren vor sich her, die mit seltsamen Dingen beladen<br />
waren. Faule Fische, verdorbene Äpfel und die verwesten Kadaver von Kat-<br />
zen, Kötern und Ratten wurden hier fortgetragen, und sie verstärkten noch<br />
den Gestank, der sowieso ständig die Luft schwängerte.<br />
'Liegt die Müllkippe etwa mitten in der Stadt'? Dachte Zippel, bis ihm
ein furchtbarer Verdacht kam. Er trat an einen der quietschenden Wagen<br />
heran und blickte genauer hin. In einem matschigen Kohlkopf stak ein<br />
Preisschild, und auf einem verschimmelten Haufen Pflaumen lag ein Stück<br />
Pappe. Sonderangebot! 1A Qualität! Las Zippel. Kein Zweifel, dies waren<br />
Marktfrauen auf dem Weg zu ihren Verkaufsständen.<br />
»Puh«, schnaufte Zippel, »von solch einer Frau möchte ich nicht durch-<br />
gefüttert werden!« Als Junggeselle schaute er sich das weibliche<br />
Geschlecht immer etwas genauer an, in einer vagen Hoffnung, aber diese<br />
hier? Verfilzte Haarsträhnen fielen ungekämmt in ihre stumpfsinnigen<br />
Gesichter. Ein fauliger Geruch brach aus ihren schwarzen Mundhöhlen, die<br />
Nasen schnodderten von ewigen Erkältungen, und unter den langen zer-<br />
splitterten Fingernägeln mooste Dreck von Wochen. Ungepflegte, zerschlis-<br />
sene Kleider hingen in Fetzen von den dürren, schrundigen Körpern.<br />
Das wichtigste Bekleidungsutensiel in Stachelburg schien die Wäschelei-<br />
ne zu sein. Damit banden sich die Einwohner ihre Kleider zusammen. Die<br />
Wäscheleine diente sowohl als Hosenträger wie auch als Schnürsenkel.<br />
Löcher wurden damit gestopft, sofern sich überhaupt jemand die Mühe<br />
machte, ein Loch oder ein klaffendes Eck auszubessern. Als Kinnriemen für<br />
die Helme musste die Wäscheleine ebenso herhalten wie als Klingelleine,<br />
Peitsche zum Vertreiben der Ratten oder einfach nur als Krawatte oder<br />
Hutschnur, sollte mal einer an einem Anfall von Eitelkeit oder Schönheits-<br />
sinn erkranken. Herrschte Mangel an den beliebten Salzklumpen, wurde<br />
ersatzweise auf den Enden einer Leine gekaut. Ja, Zippel glaubte gesehen<br />
zu haben, wie eine der Frauen ein Wäscheleinenstück genüsslich hinunter-<br />
schluckte und danach zufrieden rülpste.<br />
Zippel selbst fiel kaum auf. Was war auch schon Besonderes an so einer<br />
spillerigen Klappergestalt? Von den vielen Abenteuern waren Zippels Klei-<br />
der zerrissen, und sein zerbeulter Dreispitz ließ die zerfransten Ecken hän-<br />
gen. Und das Scheppern und Klirren seiner Sporen und seines Eisengürtels<br />
klang wie Musik in den Ohren der Stachelländer.<br />
Zusehends füllten sich die Gassen mit Marktfrauen und herumlungern-<br />
den verdächtigen Individuen. Alle hatten offensichtlich das gleiche Ziel. Als<br />
das Gedränge so zunahm, dass einer den anderen schob und stieß, öffnete<br />
sich die Straße und mündete in einen großen Platz. Schmutziger noch als<br />
die Gassen, übersät mit Abfällen und Resten und durchsetzt von üblen<br />
Gerüchen aller Art war der Platz erfüllt vom Kreischen und Feilschen der<br />
Händler und Käufer. Mit Brettern, Kisten, Wellblechstücken und sonstigem<br />
Sammelsurium waren Verkaufsstände aufgerichtet worden, mehr proviso-<br />
risch, vorgesehen nur einmalig für ein paar Stunden. Danach trat man mit
Füßen die wackelige Konstruktion ein und ließ alles so liegen, wie es<br />
zusammengebrochen war. Am nächsten Tag suchte man sich gierig die am<br />
besten erhaltenen Stücke heraus und knotete sie mit einer Wäscheleine zu<br />
einem Tresen zusammen, der ebenfalls nur den Vormittag überlebte. Einen<br />
soliden Verkaufsstand herzurichten und für Dauer aufzustellen, machte bei<br />
der stachelländischen Wesensart keinen Sinn: schon nach wenigen Minuten<br />
würden sich die neidischen Nachbarn wie Aasgeier über den Stand herma-<br />
chen, um die fette Beute in ihre unersättlichen Krallen zu bekommen.<br />
Zippel sah nun manches klarer.<br />
'Kein Wunder', dachte er, 'dass alles verkommen und vernachlässigt ist.<br />
Redliche Arbeit ist hier wohl ein Schimpfwort. Da bleibt nur das Rauben<br />
und Stehlen. Und wer einmal ein gutes Stück ergattert hat, einen Pelz viel-<br />
leicht oder ein paar glänzende Stiefel oder auch eine solide Haustür, der<br />
muss von da an ständig um sein Eigentum fürchten. Da lässt man lieber<br />
gleich alles verkommen. Ist halt bequemer so. Deshalb auch die vergam-<br />
melte Ware, die löchrigen Socken, die Schimmelpilzkulturen. Mit einem gut<br />
ausgerüsteten Sortiment erstklassiger Produkte würde man sich in Lebens-<br />
gefahr begeben.'<br />
Mühselig schob sich Zippel durch die Menge auf der Suche nach einem<br />
freien Platz, wo er sich aufstellen konnte. Zwar erblickte er hie und da eine<br />
Lücke, doch die keifende Nachbarschaft ließ seinen Schritt beschleunigen.<br />
Schon lagen sich die ersten Käufer in den Haaren und prügelten sich um<br />
ein vermeintliches Schnäppchen.<br />
Zum anderen Ende des Platzes nahm die Dichte und das gewinnsüchti-<br />
ge Feilschen merklich ab. Allerdings kamen hier auch nicht so viele Leute<br />
her. Vielleicht, weil sie in ihrer unmäßigen Gier gleich am Anfang alles mit-<br />
nehmen wollten, was einen Vorteil versprach. Wie von ungefähr betrat Zip-<br />
pel eine Lücke zwischen zwei Ständen. Das eigenartige Gefühl beschlich<br />
ihn, als habe irgendeine geheime Macht ihn hierher gelockt. Jedenfalls<br />
fühlte er sich mit einem Mal etwas wohler, und er stellte seinen Bauchladen<br />
auf zwei leere Obstkisten, die noch frei herumlagen. Nun schaute er sich<br />
um, seine Nachbarn in Augenschein zu nehmen. Links von ihm hockte ein<br />
unglaublich hässliches Männlein auf einem Schweinekoben und pries Där-<br />
me, Schweineaugen, Innereien und ungeschabte Schwarten an. Alles war<br />
mit Kot besudelt. Missgünstig lutschte der gnomenhafte Händler an einer<br />
abgekauten Stummelpfeife. Abwechselnd steckte er seinen Finger zum<br />
Stopfen in den Pfeifenkopf und dann in seine eklige Ware, um zu prüfen,<br />
ob etwa Ratten oder Würmer ihn um seinen Gewinn prellen wollten. Ange-<br />
widert wandte sich Zippel ab.
Zu seiner Rechten gewahrte er einen Stand, der ebenso wie die anderen<br />
provisorisch mit einer Wäscheleine am Einsturz gehindert wurde. Dennoch<br />
unterschied sich dieser Tresen mit den ausgestellten Waren von den übri-<br />
gen. Nicht, dass es sich um besonders auffällige Produkte handelte. Nein,<br />
es waren Kleinigkeiten, die Zippels Neugierde weckte: die Knoten schienen<br />
sorgfältiger gebunden zu sein, die Waren lagen geordnet auf einer Ver-<br />
kaufsfläche, die anscheinend vorher gesäubert worden war. Ein Schild mit<br />
liebevoll gemalten Buchstaben verwies auf die Art des Ladens: Spezialitä-<br />
ten und Hausgemachtes!<br />
Von der Marktfrau dieses sogenannten Spezialitätenladens sah Zippel<br />
nur den Rücken, denn sie schien auch noch den Boden hinter dem Tresen<br />
zu fegen. Also betrachtete sich Zippel die Auslage. Recht trostlos sah es<br />
darauf aus. Neben einigen Karotten und Gurken, die allerdings eine frische<br />
Farbe aufwiesen, langweilte sich ein Kürbis, so armselig, so klein wie ein<br />
wabbelanischer Apfel. Doch dann erblickte der Schneider etwas, was er<br />
seit seinem Grenzübergang nicht mehr gesehen hatte, und wovon er schon<br />
zu träumen anfing: ein Honigbrot und daneben einen Wackelpudding!<br />
Träumte er vielleicht? Ungläubig schnupperte er in die verpestete Luft.<br />
Das war keine Fata Morgana. Ein kaum wahrnehmbarer süßlicher Geruch<br />
streifte an seiner Nase vorbei.<br />
'Natürlich,' dachte Zippel, 'der Geruch hat mich hierher gelockt!' Und er<br />
schnüffelte und schnoberte, bis seine Nase fast im Wackelpudding versank.<br />
Da richtete sich die Marktfrau auf.<br />
»Ja, bitte?« fragte sie mit einer Stimme, die wohl herb klingen sollte,<br />
aber eine samtene Weichheit nicht übertünchen konnte.<br />
Zippel blickte in zwei große dunkelblaue Augen, die ihn wie zwei klare<br />
Bergseen zu verschlingen schienen. Dem Schneider wurde es siedend heiß.<br />
Das Puls klopfte dröhnend in seiner Schläfe. Schluckend fasste er sich an<br />
den Hals. Was war mit ihm? Keinen Moment konnte er seine Augen von<br />
den ihren lösen. Ihm wurde schwindelig.<br />
»S'wibbelt«, flüsterte er heiser, wusste aber gar nicht, was er da sagte.<br />
Erschreckt weiteten sich die Pupillen der Frau. Sie wich einen Schritt<br />
zurück.<br />
»Melanie?« fragte Zippel blöde. Doch nein, das war unmöglich.<br />
Die Frau lachte kurz auf und sagte spröde: »Ich heiße Rosalinde. Wer<br />
bist du, und was willst du von mir?«<br />
»Zippel, der Schneider«, krächzte Zippel. Wieder war ihm nicht<br />
bewusst, was ihm da entfuhr, und wieder wich die Frau einen Schritt<br />
zurück.
»Zippel?« fragte sie.<br />
Da platzte der Knoten. Zippel fuhr zusammen. »Nein, nein!« rief er<br />
eilig, »Rippel aus Korinth. Nadel-, Nagel- und Kratzbürstenhändler.«<br />
Rosalinde maß ihn mit einem langen klugen Blick. Trotz ihrer stachellän-<br />
dischen Magerkeit strahlte sie eine weibliche Wärme aus, die ihr hier ver-<br />
mutlich mehr Feinde als Freunde machte.<br />
»Wenn ich nur etwas Geld hätte«, sagte Zippel und betrachtete hungrig<br />
den Wackelpudding.<br />
»Geld?« fragte Rosalinde, »Geld gibt es hier nicht. Wir leben von<br />
Tauschgeschäften. Aber mit Nägeln oder Kratzbürsten kann ich nichts<br />
anfangen.«<br />
Doch dem scharfen Schneiderblick war nicht entgangen, dass die vielen<br />
Flicken auf der Schürze der Marktfrau sauber und akkurat gesetzt waren,<br />
dass aber die Nadelstiche viel zu große Löcher hinterlassen hatten und den<br />
Effekt der Flickerei fast wieder aufhoben. Er ging zu seinem Bauchladen,<br />
öffnete die Kiste und entnahm ihr drei der feinsten Nadeln.<br />
»Nun?« fragte er. Zu den Nadeln legte er noch eine Rolle Zwirn auf den<br />
Tisch. Die Wangen Rosalindes röteten sich wie beim Auspacken eines<br />
Weihnachtsgeschenkes. Und so kam der Tausch zustande. Obwohl der<br />
Wackelpudding im Vergleich zu Melanies Kunstwerken ein kümmerlicher<br />
fester Klumpen war, schmeckte er Zippel wie die Krönung aller Wackelpud-<br />
dinge. Gesättigt und mit einem süßen Gefühl im Herzen begann er, seine<br />
Waren anzupreisen. Zwischendurch schielte er heimlich zu seiner Nachba-<br />
rin, und seine Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz.
Schlechte Aussichten<br />
Leider verlief das Geschäft nicht so, wie Zippel es sich erwartet hatte.<br />
Ziel war es ja, den Kontakt zu Krtzkrr Krieger herzustellen. Dazu wollte er<br />
mit besonders günstigen Angeboten einige Soldaten anlocken. Diese hät-<br />
ten ihn dann schon irgendwie zur Stachelburg gebracht oder ihm verraten,<br />
wie er an den General herankommen könnte. Doch es war wie verhext:<br />
keiner der Soldaten aus Kriegers Armee ließ sich erblicken. Zwar lungerten<br />
immer mal wieder verwahrloste Gestalten vor Zippels Stand herum und<br />
glotzten begehrlich in seinen Bauchladen. Die Uniformen dieser Galgenvö-<br />
gel aber schienen ebenso wie Zippels Uniformjacke aus einer Rumpelkam-<br />
mer oder einem Raubüberfall zu stammen und verwies ihre Träger auf<br />
einen niederen Stand. Die echte stachelländische Uniformierung hatte Zip-<br />
pel noch von dem Zusammentreffen mit Reibstein und Geierblick in guter<br />
Erinnerung. Hier auf dem Stachelmarkt also schien der falsche Ort für eine<br />
Begegnung mit der Soldateska zu sein.<br />
Nach zwei Stunden hatte Zippel erst ein einziges Geschäft getätigt:<br />
gegen ein paar Nägel hatte er eine solide Wäscheleine bekommen, die er<br />
sich wie ein Lasso um die Schultern warf. Immerhin gab es in Stachelland<br />
ein paar Güter, die einen so hohen Stellenwert hatten, dass man sie wie<br />
Geld verwenden konnte. Dies waren in erster Linie Nägel – möglichst<br />
angerostete -, von denen Zippel noch jede Menge besaß. Hoch im Kurs<br />
standen auch Wäscheleinen. Geradezu wie mit Gold aufgewogen aber wur-<br />
den Salzklumpen. Wer einen Salzklumpen sein eigen nannte, konnte sich<br />
alles eintauschen, jeden Wunsch erfüllen und im Überfluss baden. Wenn er<br />
nur nicht den Fehler beging, mit seinem Reichtum zu prahlen und auf den<br />
Putz zu hauen. Genauso gut hätte er sein eigenes Todesurteil aufsetzen<br />
können. Im Gegenteil, zurückhaltend und unauffällig musste er vorgehen.<br />
Einige wenige Krümel musste er aus seinem Beutel kratzen und wehleidig<br />
lamentieren, dass dies seine letzte Habe sei; man möge ihm großzügig<br />
dafür Nägel und saure Milch eintauschen. Selbst dieser Trick funktionierte<br />
mitunter nicht, und Zippel sah mit Entsetzen, wie solch ein Salzkrümelver-<br />
käufer von dem gierigen Mob fast in Stücke gerissen wurde. Mit verzerrten<br />
Mäulern rissen sie ihm die Kleider vom Leib, trennten Nähte und Taschen<br />
auf in der Vermutung eines geheimen Salzversteckes, und leckten zu guter<br />
Letzt seinen salzigen Angstschweiß, wie rettungslos süchtig, wie in einem<br />
Rauschzustand. Zippel wurde über dieses Erlebnis sehr nachdenklich. Er<br />
ertappte sich, wie ein Hauch von Mitleid seine Seele berührte, den er
jedoch gleich wieder abschüttelte.<br />
Auch das Geschäft seiner Nachbarin stand unter keinem guten Stern.<br />
Die wenigen Stachelländer, die in diesen hinteren Teil des Platzes vordran-<br />
gen, sogen scharf die Luft ein, rümpften die Nase und verließen schnur-<br />
stracks ihren Stand. »Eklig süß!« spien manche angewidert aus.<br />
»Deine Backkünste scheinen hier nicht zu verfangen«, sagte Zippel und<br />
versank ihn ihren traurigen blauen Augen.<br />
»Ja ich weiß«, erwiderte sie, »aber ich bringe es einfach nicht fertig,<br />
das Brot so sauer und salzig zu backen, wie es hier gewünscht wird. Es<br />
sind immer nur ein paar durchreisende Ausländer, die mir etwas abkau-<br />
fen.«<br />
»Wie kommt es«, fragte Zippel, und er bemühte sich um einen harmlo-<br />
sen Tonfall, »dass ich hier keine Soldaten des Generals sehe? Mit ihnen<br />
könnte ich sicher bessere Geschäfte machen.«<br />
Rosalinde sah ihn scharf an. Zippel errötete. Schließlich sagte sie:<br />
»Wenn du Geschäfte mit den Soldaten machen willst, ist es besser, du<br />
gehst aus meiner Nähe. Ich jedenfalls habe keinen Bedarf nach Krtzkrr<br />
Krieger und seiner Armee. Im übrigen kannst du unter Umständen noch<br />
eine Woche warten, bis sie aus der Stachelburg herauskommen. Man sagt,<br />
sie feiern ein Fest, den Sieg einer Schlacht oder so etwas Ähnliches. Bei<br />
solchen Gelegenheiten betrinken sie sich, bis der letzte Becher geleert ist,<br />
bis der letzte Tropfen aufgeleckt ist. Und das kann sieben oder acht Tage<br />
dauern.«<br />
»Heiliger Wabbelstein«, fluchte Zippel. Acht Tage konnte er nicht war-<br />
ten. Bis dahin hatte man ihn vermutlich entlarvt und ausgeliefert.<br />
Erst jetzt bemerkte er den ängstlichen Ausdruck Rosalindes. Hatte er<br />
was Falsches gesagt? Fing er etwa schon an, mit sich selbst zu reden?<br />
»Na dann«, sagte Zippel so leichthin, »es wird Zeit, die Zelte abzubre-<br />
chen.«<br />
Die Mittagsstunde war schon weit überschritten, und die meisten Händ-<br />
ler hatten ihre Sachen eingeladen und waren auf dem Heimweg. Zippel<br />
und Rosalinde packten ebenfalls zusammen und bahnten sich einen Weg<br />
durch das Chaos und die zurückgebliebenen Trümmer.<br />
»Mir scheint, du hast den gleichen Weg wie ich«, sagte Rosalinde, nach-<br />
dem sie schon zwei Straßen gemeinsam gelaufen waren. Zippel hielt an.<br />
Das war ihm gar nicht aufgefallen. Es war ihm wie die größte Selbstver-<br />
ständlichkeit vorgekommen. Wo sollte er sonst auch hin? Die Stachelburg,<br />
deren spitzen Türme in allen Richtungen über der Stadt hingen, war verrie-<br />
gelt und verrammelt.
»Gibt es hier kein Gasthaus, wo ich übernachten kann?« fragte Zippel<br />
scheinheilig und sah sich suchend um.<br />
»Es gibt nur eine Herberge in Stachelburg«, antwortete Rosalinde. »Sie<br />
heißt 'Zur Daumenschraube' und ist die berüchtigste Spelunke im ganzen<br />
Land. Man munkelt, dass viele Reisende von dort aus spurlos verschwun-<br />
den sind. Wer sehr vorsichtig und mutig ist, mag dort ein Unterkommen<br />
finden, ohne Schaden davonzutragen. Du findest sie, wenn du die erste<br />
Straße rechts einbiegst. Es ist eine Sackgasse, an deren Ende die Absteige<br />
liegt.«<br />
»So muss es wohl sein«, seufzte Zippel und trank noch einen letzten<br />
langen Blick aus Rosalindes Augen.<br />
Auch auf ihrem Gesicht schien sich ein Schatten von Traurigkeit zu<br />
legen. Ein etwas alberner Gedanke fuhr durch Zippels Hirn: »Könntest du<br />
nicht meine kostbare Nadelsammlung mitnehmen und sicher aufbewahren?<br />
Morgen auf dem Markt kannst du sie mir zurückgeben.«<br />
Der Vorwand, mit dem er sie wiederzusehen hoffte, war wirklich weit<br />
hergeholt. Aber Zippel erntete weder Spott noch Ablehnung auf seinen<br />
Vorschlag. Rosalinde nahm seine Nadeln, gab ihm noch ihre Adresse für<br />
alle Fälle und begab sich auf den Heimweg. Zippel schlug in die bezeichne-<br />
te Straße ein, die sich bald zu einer schmuddeligen Gasse verjüngte, in die<br />
kaum Licht einfiel, und deren Ende von einer verlotterten Kaschemme<br />
zugebaut war.
Skunk<br />
Das Wort Spelunke war noch zu fein für die Bruchbude, die Zippel<br />
betrat. Nachdem er den staubigen Sack am Eingang zurückgeschlagen hat-<br />
te, schlug ihm ein so dicker, rauchgeschwängerter Dunst entgegen, dass er<br />
glaubte, ersticken zu müssen. Minutenlang kämpfte er gegen den Brech-<br />
reiz an, der ihn schlucken und würgen machte. Die gleiche Zeit brauchten<br />
seine Augen, um sich an das Halbdunkel des Lochs anzupassen. Allmählich<br />
schälten sich die Konturen der Einrichtung und der Gäste aus dem damp-<br />
fenden Brei. Es gab lediglich einen rechteckigen Raum, an dessen Wände<br />
roh zusammengefügte Bretter als Sitzgelegenheiten dienten. Wackelige<br />
Kisten und Kästen verdienten den Namen Tisch nicht, wurden aber in<br />
Ermangelung jeglichen Mobiliars dafür missbraucht. Sogar eine Art Tresen<br />
bereicherte die luxuriöse Ausstattung dieses Palasthotels. Das Angebot an<br />
Getränken war schnell abgezählt und bereitete dem Gast keine Qual der<br />
Wahl: ein einziger Kübel stand auf dem Tresen. Der Inhalt, eine schwap-<br />
pende Brühe von undefinierbarer Farbe, schien eine Mischung aus saurer<br />
Milch, Salzlake und selbstgebranntem Schnaps zu sein, der eine unwider-<br />
stehliche Anziehungskraft auf Fliegen und Geschmeiß ausübte. Jedenfalls<br />
war der Stiel des Schöpflöffels, der in der Brühe schwamm, von einer Trau-<br />
be grünlich-schillernder Fliegen belagert.<br />
Aus den Ecken gierten hungrige Augenpaare und maßen Zippel vom<br />
Kopf bis zur Zehenspitze. Erwartungsvoll blieben sie an seinem Bauchladen<br />
kleben. Zippel beachtete sie nicht weiter und schritt zur Theke, wie wir den<br />
Tresen mit dem einsamen Kübel einmal nennen wollen. Hinter der Theke<br />
lauerte schon der Wirt, ein aufgedunsener, fetter Kahlkopf, dessen specki-<br />
ge Hose mit einer Wäscheleine am Abrutschen gehindert wurde. Dies war<br />
auch schon das einzige Kleidungsstück, denn selbst die ausgebeutelte<br />
Hose schien dem Träger lästig warm und unbequem zu sein, denn er<br />
schwitzte immerfort Bäche von übelriechendem Schweiß aus, der weiß-<br />
graue Spuren und Ränder hinterließ, so dass der nackte Oberkörper des<br />
Kolosses mit Streifen von eingetrockneten Schweißbächen tätowiert war.<br />
Da der Schweiß des Wirtes die einzige Flüssigkeit war, die sein Körper ken-<br />
nenlernte, hatte der schmutzige Brustkorb mit den krustigen Streifen<br />
große Ähnlichkeit mit dem Fell eines Stinktieres. Und so wurde der Besitzer<br />
der Absteige auch gerufen: Skunk, wie das Stinktier.<br />
Skunk also erwartete den Schneider und grüßte mit keiner asthmatisch<br />
röchelnden Stimme: »Stech dich, krtzkrr.«
»Stech dich«, erwiderte Zippel, »Rippel aus Korinth. Bin auf der Durch-<br />
reise und brauche eine Unterkunft für ein, zwei oder drei Nächte.«<br />
Skunk matschte eine Fliege zusammen und grunzte: »Da bist du genau<br />
richtig bei mir, Rippel. Was aber kannst du mir anbieten. Umsonst gibt es<br />
hier nichts.«<br />
Der räuberische Blick des Wirtes verhieß nichts Gutes. Zippel dachte an<br />
die Warnung Rosalindes, und er beschloss, besonders auf der Hut zu sein.<br />
Es war wohl besser, wenn er seinen Bauchladen erst gar nicht öffnete und<br />
den Blicken der Spitzbuben preisgab. Er rollte seine neuerworbene<br />
Wäscheleine auf und sagte: »Nun, wie wär's mit einer soliden Wäscheleine<br />
für die erste Nacht?«<br />
»Wäscheleine?« rief Skunk in den Raum, »he Leute, sieht meine Her-<br />
berge, der weithin bekannte und beliebte Gasthof 'Zur Daumenschraube',<br />
etwa aus, als brauchte sie eine Wäscheleine? Ist hier irgendwas baufällig?«<br />
Die drohenden Geräusche, die aus dem Dunst kamen, klangen wie das<br />
tiefe Grollen in einem Bullenstall.<br />
»Eine Beleidigung!« krächzte ein hohlwangiger Gast, »lass dir das nicht<br />
bieten, Skunk. Schon gar nicht von einem Fremden.«<br />
'Na, das fängt ja gut an', dachte Zippel und überlegte, wie er die Leute<br />
beruhigen könnte. Schnell überblickte er die Situation: sieben oder acht<br />
Stachelländer lungerten auf der Bank herum. Alle hatten abgebissene Pfei-<br />
fen zwischen den Zähnen und nuckelten wie süchtig daran herum. Hier lag<br />
die Ursache für den atemberaubenden Qualm, der den Raum ausräucherte.<br />
Dieses Bild kam Zippel bekannt vor. Richtig, Hübeldübel hatte von sol-<br />
chen Spelunken berichtet. War Zippel etwa in eine Opiumhöhle geraten?<br />
Was rauchten diese ausgemergelten Figuren mit den stumpfsinnigen<br />
Gesichtern?<br />
»He!« rief Zippel, »ich dachte, hier könnte ich etwas Gutes zum Rau-<br />
chen bekommen, etwas ganz Spezielles. Dafür habe ich noch einige Nägel<br />
in der Kiste mitgebracht.«<br />
»Ach so«, röchelte Skunk mit pfeifendem Atem, »warum hast du das<br />
nicht gleich gesagt. Zeig einmal her.«<br />
Es blieb Zippel nichts anderes übrig, als die Kiste zu öffnen. Neugierig<br />
torkelten die anderen Gestalten heran, um sich den Inhalt anzusehen. Wie<br />
Zippel erschreckt feststellte, flackerte ein diebisches Verlangen über die<br />
stumpfsinnigen Gesichter. Die vielen Nägel und die starken Kratzbürsten<br />
schienen hier einen unermesslichen Reichtum darzustellen. Zu spät wurde<br />
Zippel klar, dass er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. 'Beim<br />
Wabbelstein,' dachte er, 'hätte ich Rosalinde nicht die Nadelsammlung
gegeben, wäre ich schon ein toter Mann.'<br />
Mit offenem Maul glotzte Skunk in die Kiste. Speichel troff auf sein Kinn<br />
und seine Brust und vermischte sich mit den Schweißrinnsalen. Noch starr-<br />
ten die Galgenvögel wie gelähmt in den glänzenden Schatz, noch brachten<br />
sie keinen vernünftigen Gedanken zustande. Zippel wusste, es konnte nur<br />
eine Frage von Augenblicken sein, bis sie sich auf ihn stürzen würden.<br />
Blitzschnell zog er seine Ersatznadel und warf den Deckel der Kiste kra-<br />
chend zu. Dann machte er auf der Stelle kehrt, um die letzte Chance für<br />
eine Flucht zu ergreifen. Doch er hatte nicht mit dem räuberischen Instinkt<br />
des Wirtes gerechnet. Brüllend warf sich der Koloss ihm in den Weg und<br />
versperrte den Ausgang. Die übrigen Strauchdiebe erwachten langsam aus<br />
ihrer Teilnahmslosigkeit und schwankten auf Zippel zu. Zippel stach mit<br />
wilden Hieben auf die Süchtigen ein. Doch selbst die tiefsten Stiche zeigten<br />
keine Wirkung: das Rauschgift hatte die Süchtigen unempfindlich gegen<br />
Schmerzen gemacht.<br />
Eine Erinnerung fuhr durch Zippels Kopf: wie war doch die Zöllnerin hin-<br />
und hergesprungen, ohne dass die Hüter des Wabbelsteins sie packen<br />
konnten. Prügel mussten sie sogar einstecken.<br />
'So muss es gehen', dachte er und sprang auf den Tresen. Die Meute<br />
folgte ihm, immer noch stumpfsinnig, immer noch feindselig. Dann sprang<br />
Zippel in die Ecken, auf die Bank und wieder hinter den Tresen. Skunk hat-<br />
te seinen massigen Körper vor den Eingang gepflanzt und rührte sich nicht<br />
fort.<br />
'Wie kriege ich ihn nur weg?' dachte Zippel verzweifelt, während er in<br />
die hinterste Ecke flüchtete. Der Bauchladen behinderte ihn und ließ seine<br />
Kräfte erlahmen. Aber noch waren die Bewegungen der Süchtigen kraftlos<br />
vom Rauschgiftgenuss. Mit letzter Kraft rannte Zippel noch einmal zur The-<br />
ke und warf seinen Verfolgern den Kübel in den Weg. Da brüllte Skunk auf<br />
und wälzte sich in den Raum. Zippel fasste mit beiden Händen seine<br />
Ersatznadel und rammte sie in den feisten Bauch des Wirtes. Die Nadel<br />
versank in dem Fett wie in ein warmes Stück Butter. Nichts Passierte.<br />
Skunk hob seine vor Speck wabbernden Arme und wollte zu einem alles<br />
entscheidenden Schlag ausholen. Zippel zog die Nadel zurück. Sein letztes<br />
Stündlein hatte geschlagen. Vor Angst begann Zippel zu bibbern, zu<br />
schlottern und zu klappern, wie er noch nie gebibbert hatte.<br />
Da geschah etwas schier Unglaubliches. Eine dröhnende Stimme ließ die<br />
Kaschemme erbeben. Wie ein Gewitter donnerte sie auf die Köpfe der<br />
Halunken nieder: »Es wabbelt!!«<br />
Entsetzt starrte Skunk den Schneider an. Und wieder erhob sich die
Stimme: »Hoch lebe Wabbel II!« Ein ungläubiges Erstaunen ließ die Süch-<br />
tigen erstarren. Wie in einem Wachsfigurenkabinett hielten sie in der<br />
Bewegung inne. Warum stierten die Galgenvögel ihn so an? Zippel wandte<br />
sich um, um zu sehen, ob vielleicht jemand hinter ihm stand. Niemand<br />
sonst war da. Verkrampft vor Wut stand ihm die Meute gegenüber. Die<br />
Spannung wuchs. Wie schon am Schwartenpass hielt Zippel es schließlich<br />
nicht mehr aus und er hob an, mit seiner Fistelstimme zu schreien.<br />
»Stech euch, stech in die Beine!« donnerte die Stimme, »wie die wilden<br />
Stachelschweine!«<br />
Nun erstarrte Zippel vor Verblüffung: war das wirklich seine Stimme?<br />
Hatte vielleicht die grenzenlose Angst seine Stimme brechen lassen? Wie<br />
zur Probe rief er nochmals: »S'wabbelt!« Ohne Zweifel, die dröhnende<br />
Stimme kam aus seinem Brustkorb.<br />
Waren die Stachelländer beim ersten Klang noch wie hypnotisiert, so<br />
erholten sie sich jetzt von ihrem Schock.<br />
'Nichts wie weg,' dachte Zippel und raste zum Ausgang. Ein tierisches<br />
Gebrüll erhob in seinem Rücken und verfolgte ihn. Zippel sprang im Zick-<br />
zack durch die Straßen, bis er eine leerstehende Hütte fand, in der er sich<br />
versteckte und die Nacht abwartete.
Eine unruhige Nacht<br />
Erschreckt fuhr Rosalinde aus ihrem unruhigen Schlaf. War da nicht ein<br />
Geräusch an der Tür? Kerzengerade saß sie auf ihrem Bett und versuchte,<br />
das Dunkel der Hütte mit den Augen zu durchbohren. Nach einer Weile<br />
beruhigte sie sich wieder.<br />
'Ich muss geträumt haben', dachte sie und zog sich die Decke über den<br />
Kopf. An ein Einschlafen war kaum zu denken. Gegen ihren Willen wander-<br />
ten ihre Gedanken immer wieder zu dem wüst aussehenden Fremden mit<br />
der lächerlich dünnen Stimme. Die gegensätzlichsten Gefühle stritten sich<br />
in Rosalindes Brust. Einerseits schauderte sie vor dem schmutzigen und<br />
zerfetztem Aussehen des Nagelverkäufers, andererseits fühlte sie sich auf<br />
unerklärliche Weise zu ihm hingezogen. Dann wiederum ängstigte sie ein<br />
bohrender Verdacht, den sie schnell wegschob, der jedoch hartnäckig wie-<br />
der auftauchte und sich als untergründiges Misstrauen bei ihr einnistete.<br />
Besorgt dachte sie an das Paket mit den kostbaren Nadeln. Zu Hause<br />
angekommen, hatte sie es nicht lassen können, einen Blick in die Nadel-<br />
sammlung zu werfen. Wie groß war ihr Erstaunen gewesen, als sie neben<br />
Steck-, Näh-, Stopf- und Stricknadeln sogar einige Häkelhaken und Rund-<br />
stricknadeln entdeckte. Alle aus edelstem Metall, ohne eine Spur von Rost<br />
und penibel nach Art und Größe geordnet. Von Neugier und Überraschung<br />
übermannt hatte Rosalinde auch noch unter die glitzernden Nadeln gefasst<br />
und dort etliche Rollen Garn vorgefunden, die dort versteckt waren. Neben<br />
Näh-, Stopf- und Strickgarn in verschiedenen Farben und Stärken hatte sie<br />
sogar eine Rolle mit kostbarem Seidenfaden gefunden in einer ihr unbe-<br />
kannten leuchtenden Farbe.<br />
Zippel hatte, entgegen aller Vorsichtsregeln, es nicht über sich<br />
gebracht, ohne seine geliebten Garne loszuziehen. Und so hatte er noch in<br />
Wabbelburg heimlich den Zwirn und die Seide unter die Nadeln gesteckt.<br />
Niemand außer ihm sollte davon erfahren. Nun hatte er in Rosalinde eine<br />
Mitwisserin.<br />
Vor Angst zog sich ihr Herz zusammen: diese Nadel- und Garnsammm-<br />
lung stellte in Stachelland einen so unermesslichen Schatz dar, dass der<br />
Besitzer in akuter Lebensgefahr steckte. Vergleichbar war er höchstens mit<br />
dem Besitz einer Kiste Salzklumpen. Vergeblich hatte Rosalinde ein Ver-<br />
steck in ihrer ärmlichen Hütte gesucht. Schließlich hatte sie einige Bohlen<br />
unter ihrem Bett gelöst und das Paket in den Hohlraum darunter gescho-<br />
ben. Sie machte sich keine Illusionen: vor den plündernden Strauchdieben
und den marodierenden Soldaten des Krtzkrr Krieger war das Versteck<br />
nicht sicher.<br />
Abermals schreckte Rosalinde aus dem Halbschlaf. Sie hatte nicht<br />
geträumt: drängende Schläge pochten an die mit Brettern verriegelte Tür.<br />
Wie ein dumpfer, drohender Befehl verlangten sie Einlass. Beim zweiten<br />
Mal wurde das Klopfen lauter, dringlicher.<br />
»Mach auf, Rosalinde!« Dumpf und tief klang die Stimme aus der Nacht.<br />
Rosalinde zitterte. Diese Stimme war ihr unbekannt. Sie klang gepresst,<br />
so, als ob der Besitzer die Nachbarn nicht wecken wollte.<br />
»Hab keine Angst, Rosalinde. Ich bin's, Rippel vom Markt.« Nein, das<br />
war nicht Rippel! Allzu deutlich hatte Rosalinde die lächerliche dünne Fis-<br />
telstimme des Nagelverkäufers im Ohr. Aber woher wusste der Geselle da<br />
draußen von Rippel und von ihrer Bekanntschaft? Rosalinde erschrak: dann<br />
musste er auch von dem Nadelschatz wissen! »Verschwinde«, rief sie unter<br />
der hochgezogenen Bettdecke, »bei mir gibt es nichts zu holen. Ob du dich<br />
als Rippel verstellst oder nicht: ich habe nichts.« Ein unterdrückter Fluch<br />
antwortete ihr. »So ist das also!« Die tiefe Stimme klang maßlos ent-<br />
täuscht. »Meine Nadelsammlung ist schon verscherbelt. Das hätte ich mir<br />
ja denken können. Ihr Stachelländer seid doch alle gleich.« Der Räuber<br />
wusste also von den Nadeln.<br />
»So leicht gebe ich mein Eigentum nicht auf«, rief die dumpfe Stimme<br />
vor der Tür, aber sie war mit einem verwundeten und mutlosen Klang<br />
belegt, der Rosalinde ins Herz stach. »Dann lege ich mich eben vor die<br />
Tür.«<br />
Rosalinde war völlig verwirrt und ratlos. Wer war der Mann vor der Tür?<br />
Rippel war es nicht, ihn hätte sie sofort an der Stimme erkannt. Für einen<br />
Stachelländer benahm er sich dagegen äußerst ungewöhnlich. Ein stachel-<br />
ländischer Plünderer hätte schon nach den ersten Worten die Tür einge-<br />
schlagen, Rosalinde aus der Hütte gejagt und noch die armseligsten Krü-<br />
mel aufgestöbert und an sich gerafft. Dieser hier legte sich vor die Tür!<br />
Und wenn sie nicht alles täuschte, fing er sogar zu schnarchen an.<br />
Auf Zehenspitzen schlich sich Rosalinde durch das Zimmer. Die Bretter,<br />
mit denen sie den Türeingang verriegelt hatte, ließen einen Spalt frei,<br />
durch den sie in die Nacht spähen konnte. Ein von Wolken verhangener<br />
Mond warf sein trübes Licht auf die Gasse. Von dem Eindringling, der so<br />
schnell aufgegeben hatte, waren nur seine Beine zu sehen, die über Kreuz<br />
auf dem Kopfsteinpflaster lagen. Der milchige Lichtschein spiegelte sich am<br />
Fuß des Schlafenden und fiel in Rosalindes angestrengt aufgerissenen<br />
Augen. Ein Sporen! War Rippel überfallen und seiner Kleider beraubt wor-
den?<br />
Behutsam zog Rosalinde ein Brett nach dem anderen aus der Fassung.<br />
Nachdem sie das letzte Brett entfernt hatte, erkannte sie das ganze Aus-<br />
maß ihres Irrtums: Rippel lag der Länge nach auf dem kalten Pflaster,<br />
schnaufend und schnarchend vor Erschöpfung. Der fahle Mond hatte sein<br />
Gesicht, das von den Abenteuern eine gesunde rote Farbe angenommen<br />
hatte, in eine kranke gelbe Maske verwandelt.<br />
Lange kniete Rosalinde vor dem Schneider und betrachtete ihn. Schließ-<br />
lich seufzte sie und gab sich einen Stoß, um ihn zu wecken.<br />
Zippel war, trotz der maßlosen Enttäuschung über den Betrug Rosalin-<br />
des, in einen bleiernen Schlaf gefallen. Als er die Augen aufschlug, glaubte<br />
er zu träumen. Vor ihm saß Melanie. Mit ihrem süßesten Kuss hatte sie ihn<br />
geweckt. Im Hintergrund erhob sich die bizarre Silhouette der Stachelburg<br />
mit ihren drohend ausgespreitzten Stacheltürmen. Er rieb sich die Augen.<br />
Melanie verwandelte sich in ein zerlumptes, mageres Mädchen. »Rosalin-<br />
de?« stammelte Zippel und fasste sich an die Kehle. An seine neue Stimme<br />
hatte er sich selbst noch nicht gewöhnt. Er glaubte sich noch immer im<br />
Schlaf und berührte ihre Wange. Sie wehrte sich nicht. Zippel richtete sich<br />
auf.<br />
»Komm schon herein«, forderte Rosalinde ihn auf. Sie gingen in den<br />
einzigen Wohnraum der Hütte und klemmten die Bretter wieder vor die<br />
Türöffnung. Rosalinde entfachte ein Feuer in dem kleinen Kanonenofen und<br />
setzte einen Kräutertee auf.<br />
Während Zippel den heißen Tee in kleinen Schlucken genoss, erzählte er<br />
von seinem Erlebnis mit Skunk in der Daumenschraube. Schweigend hörte<br />
sich Rosalinde an, wie die Furcht Rippels Stimme hatte brechen lassen und<br />
in eine tiefe Männerstimme verwandelt hatte. Dass er zu aller Überra-<br />
schung 'S'wabbelt!' gerufen hatte, verschwieg der Schneider wohlweislich.<br />
Die Hütte, in der er nach seiner Flucht untergekrochen war, war ihm<br />
schließlich nicht sicher genug erschienen. Jeden Moment hätte der Besitzer<br />
zurückkommen können. Deshalb hatte er es vorgezogen, zu Rosalinde zu<br />
gehen.<br />
Zippel sah sich etwas enttäuscht in dem Raum um. »Hier kann ich ja<br />
auch schlecht übernachten«, sagte er.<br />
Rosalinde öffnete eine kleine Tür an der hinteren Seite. »Du kannst hier<br />
in der Speisekammer schlafen«, sagte sie, »sie ist ohnehin fast leer.«<br />
So gut es eben ging, richtete sich Zippel in der Speisekammer ein. Bei<br />
seiner Länge musste er sich wie ein Flitzebogen krümmen, was ihm aber<br />
kaum etwas ausmachte, denn er war es von Kindheit an gewöhnt, in zu
kurzen Betten zu schlafen. In dem wohligen Gefühl, bei Rosalinde in<br />
Sicherheit zu sein, schlief er bis zum Morgengrauen, ohne ein einziges Mal<br />
aufzuwachen. Erst als Rosalinde ihn mit einer Hühnerfeder an der Nase kit-<br />
zelte, erwachte er und fühlte sich gestärkt und zu neuen Abenteuern<br />
bereit.<br />
Rosalinde hatte schon den Frühstückstisch gedeckt, der, wie sollte es<br />
anders sein, aus einer leeren Holzkiste bestand. Ein süßer Geruch weckte<br />
die letzten Lebensgeister des Schneiders, und er stürzte sich hungrig an<br />
den Tisch. Vor ihm lagen, neben der dampfenden Tasse Tee, fünf zerdrück-<br />
te Gummibärchen!<br />
»Beim heiligen W...« rief Zippel, und er konnte gerade noch das verrä-<br />
terische Wort Wabbelstein verschlucken. »Wo kommen denn die Gummi-<br />
bärchen her?«<br />
»Och«, antwortete Rosalinde, »so genau weiß ich das auch nicht. Ab<br />
und zu, in unregelmäßigen Abständen, legt irgendjemand mir des Nachts<br />
Süßigkeiten auf den Tisch. Meistens sind es Gummibärchen und Honigwa-<br />
ben. Ohne diese Honigwaben könnte ich schließlich mein Honigbrot nicht<br />
backen. Wie der geheimnisvolle Besucher hereinkommt, weiß ich auch<br />
nicht . Das geht schon seit meiner Kindheit so.«<br />
Zippel erfuhr nun, dass Rosalinde als Waisenkind bei verschiedenen<br />
Familien aufgewachsen war. Lange hatte es keine Familie mit ihr ausgehal-<br />
ten, da sie mit ihrer Vorliebe für Süßigkeiten ständig für Ärger und<br />
Abscheu sorgte. Schon als kleines Mädchen hatte sie unter ihrem Kopfkis-<br />
sen die heimlichen Lutscher und Honigbonbons gefunden, und sie machte<br />
sich schon lange keine Gedanken mehr darüber.<br />
Zippel aber betrachtete mit zunehmender Besorgnis die Gummibärchen.<br />
Der Verdacht, der ihm beim ersten Augenschein gekommen war, verdichte-<br />
te sich zur Gewissheit: dies waren seine zerdrückten Gummibärchen, die<br />
ihm aus den aufgebogenen Fingern gestohlen worden waren. Wie kamen<br />
sie hier in Rosalindes Hütte? Gab es etwa einen Komplizen? Aber warum<br />
gab er sich nicht zu erkennen? War es dieselbe Person, die ihn in seiner<br />
Bewusstlosigkeit bis vor die Stachelburg geschleppt hatte? Sein wirrer lan-<br />
ger Traum fiel ihm wieder ein: zum Schluss glaubte er die Zöllnerin<br />
erkannt zu haben. Aber er war sich nicht sicher, ob es noch Traum oder<br />
schon Wirklichkeit war.<br />
Fragend sah Rosalinde ihn an, aber Zippel grübelte nur mit zusammen-<br />
gezogenen Augenbrauen und aß schweigend sein Brot. Nachdem sie die<br />
Nadeln aus dem Versteck hervorgeholt hatten, begaben sie sich beide auf<br />
den Weg zum Markt, Rosalinde mit einer bangen Ahnung im Herzen, Zippel
mit dem eisernen Willen, in die Stachelburg einzudringen. Beide konnten<br />
nicht wissen, wie schnell ihre Gedanken an diesem Tag Wirklichkeit wur-<br />
den.
Das Zusammentreffen<br />
Nichts deutete an diesem Tag auf ungewöhnliche Ereignisse hin. Wie<br />
immer hatten sich die Händler und Marktfrauen um die Bretter und Kisten<br />
gestritten, die sie für ihre provisorischen Stände benötigten. Das habgieri-<br />
ge Kreischen und Keifen erfüllte den Stachelmarkt, und wie am Vortag ver-<br />
zogen sich Rosalinde und Zippel zum hinteren Ende des Platzes. Es dauerte<br />
auch nicht lange, bis sich das widerwärtige Männchen einfand, der seinen<br />
Schweinekoben hinter sich herschleppte und Kaldaunen, Pansen und<br />
Schweineklauen vor sich ausbreitete.<br />
Der Vormittag verrann. Kein stachelländischer Soldat steckte seine Nase<br />
in das Treiben. Zippel blickte immer häufiger auf die Uhr und zupfte nervös<br />
an seinen Ärmeln. Er schlug den Deckel seines Bauchladens auf und mus-<br />
terte zum hundertsten Male seinen Besitz. Als er wieder aufschaute, blickte<br />
er direkt in die verschlagenen Augen eines Kloakiers, der einen abscheuli-<br />
chen Geruch ausdünstete.<br />
»Ist wohl geheim?« hechelte der Kloakier und versuchte lüstern, in die<br />
Kiste zu schielen. Zippel warf den Deckel zu und spuckte den Fremden an.<br />
Meckernd wandte der sich um und nahm Rosalinde in Augenschein.<br />
»Sieh da, sieh da«, grinste er anzüglich, »eine stachelländische Honig-<br />
kuchenbäckerin. Mal sehen, ob sie auch so süß schmeckt wie ihre Waren.«<br />
Dabei kniff er sie in den Arm und reckte seinen ungewaschenen Hals vor,<br />
um ihr mit seinen sabbernden Lippen und seinen schwarzen verfaulten<br />
Zähnen einen Kuss aufzudrücken. Zippel spürte eine unerklärliche Wut in<br />
sich aufsteigen. Er sprang den Kloakier an, puffte ihn und stach ihn mit<br />
seiner Ersatznadel in den Schenkel. Vor Schmerz jaulte dieser wie ein<br />
getretener Hund auf und flüchtete fluchend in den Trubel des Stachelmark-<br />
tes.<br />
Rosalinde fand keine Zeit mehr, Zippel zu danken. Ein Höllenlärm brach<br />
über den Stachelmarkt herein. Kreischend hasteten entsetzte Marktfrauen<br />
an ihnen vorüber, ihre gesamte Habe zurücklassend. Auf der anderen Sei-<br />
te, am Eingang des Platzes wütete Krtzkrr Krieger und seine betrunkene<br />
Soldateska. Grölend und spuckend walzten sie die Stände nieder und fielen<br />
über die ausgebreiteten Waren her. Wer von den Marktfrauen nicht mehr<br />
rechtzeitig hatte flüchten können, wurde von den Soldaten gepackt, an<br />
den Haaren gerissen, gepiesackt, getreten und mit fletschenden Zähnen<br />
geküsst, bis die Lippen bluteten. Besonders tollwütig gebärdete sich<br />
Geheimrat Ziegenlippe, der sich im Schutz von Hauptmann Bleifuß und sei-
ner Eskorte sicher fühlte und hemmungslos seine Macht ausspielte. Mit<br />
schnalzenden Lauten sprang er auf den Rücken einer fetten Marktfrau und<br />
ritt diese erbarmungslos durch die zusammenbrechenden Stände, bis sie<br />
vor Erschöpfung auf die Knie sackte.<br />
»Es ist schlimmer, als ich dachte«, flüsterte Zippel. Ohne sich dessen<br />
bewusst zu sein, hatte er seinen Arm um Rosalinde gelegt und sie beschüt-<br />
zend an sich gedrückt. Rosalinde schmiegte ihren mageren Körper fest an<br />
den seinen. Erst als Zippel die Wärme des Mädchens spürte, erkannte er<br />
ihre bedrohliche Situation. Für eine Flucht war es freilich zu spät. Alle Aus-<br />
gänge des Platzes waren inzwischen von den Soldaten besetzt worden.<br />
Zunächst schien es, als würden die randalierenden Soldaten die beiden<br />
in dem hinteren Teil des Platzes nicht behelligen. Zu sehr waren die Strol-<br />
che damit beschäftigt, hinter den Frauen herzujagen und die Stände nie-<br />
derzuknüppeln. Krieger, Ziegenlippe und Bleifuß hatten sich in der Platz-<br />
mitte niedergelassen und ließen sich von den Untergebenen die Beute vor-<br />
führen. Mal bissen sie in einen matschigen Apfel, mal nagten sie lustlos an<br />
einem zähen Hühnerbein. Schließlich glich der Stachelmarkt einem ver-<br />
wüsteten Kriegsschauplatz. Krieger erhob sich und befahl: »Hier ist nichts<br />
mehr zu holen. Zurück zur Stachelburg!«<br />
Da zupfte der Kloakier, der Rosalinde belästigt hatte, am Ärmel des<br />
Generals. Mit einem heimtückischen Glitzern in den Augen flüsterte er<br />
etwas in das Ohr des Diktators und zeigte auf den Stand von Zippel, der<br />
sich in den Schatten des nächsten Hauses gedrückt hatte. Zippel beobach-<br />
tete, wie Geheimrat Ziegenlippe sich zu dem Kloakier beugte und mit ihm<br />
tuschelte. Hauptmann Bleifuß hatte sich erhoben und die Eskorte zusam-<br />
mengerufen. Nun konnte Zippel auch Oberst Speiteufel erkennen, der sich<br />
bis dahin im Hintergrund gehalten hatte und alles im Auge behielt. Rosalin-<br />
de flüsterte dem Schneider die Namen und Rangordnungen der Militärjunta<br />
zu. Wie schon viele vor ihm, hatte auch Zippel den General Krtzkrr Krieger<br />
zunächst übersehen. Die Luft wurde ihm heiß. Er bemerkte, dass das<br />
Gejohle abebbte. Eine unnatürliche Ruhe legte sich über den Platz. Die Sol-<br />
daten spürten, dass das maßlose Plündern eine ungewöhnliche Wendung<br />
nahm.<br />
Umgeben von seine Militärjunta marschierte Krtzkrr Krieger zum Stand<br />
Zippels. »He!« schrie er, »was muss ich da hören? Ein fremder Händler<br />
behindert die Arbeit meiner Geheimpolizei?«<br />
'Ein Spitzel also ist der Kloakier', dachte Zippel, 'wieviel mag er schon<br />
wissen?'<br />
»Nichts von alledem!« rief der Schneider mit seiner neuen voluminösen
Stimme, »ein Missverständnis, mehr nicht. Ich bin der Nagel- und Kratz-<br />
bürstenverkäufer Rippel aus Korinth.« Voller Verachtung spuckte Zippel<br />
einen Nagel in das Gesicht des Kloakiers, der ihm auf den Leib gerückt<br />
war.<br />
»Was soll das«, giftete der Kloakier, denn in Stachelland war das Anspu-<br />
cken bekanntlich eine freundschaftliche und höfliche Geste. »Der Mann ist<br />
ein Spion! Durchsucht ihn!«<br />
Zippel, der sich langsam selbst nicht mehr kannte, zog kurzerhand sei-<br />
ne Ersatznadel, stach dem Kloakier in den Schenkel und gab ihm noch<br />
einen Fußtritt, dass dieser jaulend durch den Unrat schlitterte.<br />
»Mir scheint!« deklamierte er wie ein abgetakelter Schauspieler in einer<br />
Schmierenkomödie, »hier hat niemand Interesse an erstklassigen Nägeln,<br />
unzerbrechlichen und hartborstigen Kratzbürsten und spitzen Nadeln zum<br />
Piesacken und Ritzen. Muss mich wohl in der Adresse getäuscht haben.<br />
Hier sehe ich nur harmlose Memmen, die sich an der Mutterbrust auswei-<br />
nen möchten. Da, wo ich herkomme, geht man auf glühenden Kohlen, isst<br />
Feuerquallen zum Frühstück und steckt sich Nadeln in den Hals, damit es<br />
schön kratzt. Hier aber?«<br />
Verächtlich blickte Zippel auf Oberst Speiteufel herunter und gab ihm<br />
einen mitleidigen Klaps auf die Glatze.<br />
Die Militärjunta war sprachlos. So hatte noch nie einer mit ihnen zu<br />
reden gewagt. Aber auch Rosalinde war erschrocken von Zippel zurückge-<br />
wichen. Eben noch hatte sie die schützende Wärme seiner sehnigen<br />
Gestalt gespürt, hatte sich in den weichen Stoff seiner Schneiderweste<br />
geschmiegt, und nun diese hartherzigen martialischen Sprüche.<br />
Geheimrat Ziegenlippe fasste sich als erster. Das misstrauische Glim-<br />
men in seinen Augen war keineswegs erloschen.<br />
»Rippel?« argwöhnte er, »kommt mir verdächtig vor. Klingt beinahe wie<br />
Zippel. Nämlich wie der Schneider Zippel aus Wabbelanien, von dem Bru-<br />
tus Ranzig erzählt hat.«<br />
en?«<br />
Rosalinde erbleichte. Krtzkrr Krieger quollen die Augen aus den Höhlen.<br />
»Zippel?« brüllte er mit Schaum vor dem Mund, »Zippel aus Wabbelani-<br />
»Gemach, gemach«, donnerte Zippel dazwischen, »in Korinth hätte ich<br />
dir dafür den Hals umgedreht. Aber seht mich einmal genauer an. Sehe ich<br />
aus wie ein Wabbelanier? Wabbelt etwas an mir? Bibbere ich? Würde ein<br />
Wabbelanier rostige Nägel kauen?« Und zum Beweis spuckte er eine<br />
Ladung Nagelenden an den Hut des Geheimrats.<br />
Wichtigtuerisch mischte sich Hauptmann Bleifuß in den Streit: »Er hat
echt. Noch nie habe ich einen solch klapperigen Wabbelanier in die Finger<br />
bekommen. Das macht ja auch keinen Sinn und keinen Spass, wenn die<br />
Wabbelanier genauso sind wie wir.«<br />
Der General, der seinen vom Jähzorn zitternden Arm mit der anderen<br />
Hand festhalten musste, schien Zippel mit seinen stechenden Pupillen auf-<br />
zuspießen. Zippel begann zu frösteln. Lange würde er diesem eiskalten<br />
Blick nicht standhalten können.<br />
Ziegenlippe beugte sich zum Diktator. »Wir stellen ihn auf die Probe«,<br />
zischelte er, »ich werde ohne Vorwarnung 'Es wabbelt' rufen. An seiner<br />
Reaktion werden wir erkennen, ob er ein Spion oder ein echter Korinther<br />
ist.«<br />
Krieger nickte zustimmend und spuckte Schaum und grüne Galle auf<br />
das Pflaster.<br />
Inzwischen hatte sich Zippel umgedreht, um Rosalinde zu beruhigen,<br />
die im Widerstreit ihrer Gefühle hilflos an der Wand lehnte. Plötzlich hörte<br />
Zippel einen lauten Ruf: »Es wabbelt!«<br />
Was in dieser Sekunde im Schneider vor sich ging, lässt sich kaum<br />
erklären. Wie an den Bändern einer Marionette wackelten seine Glieder,<br />
sein Mund öffnete sich, und eine lächerliche dünne Fistelstimme piepste:<br />
»S'wibbelt.« Es war das einzige und letzte Mal, dass Zippel in seine alte<br />
Gewohnheit fiel.<br />
Ratlos und verblüfft umringte die Militärjunta den angeblichen Korinther.<br />
Keiner traute seinen Ohren. Wo war diese Vogelstimme hergekommen?<br />
Was war das für ein merkwürdiges Wort gewesen? Es hatte nach Sibbel<br />
oder Schwibbel oder Ribbel geklungen.<br />
Zippel machte dem Spuk selbst ein Ende. Der Galgenhumor, der ihn nun<br />
schon so oft in brenzligen Situationen gerettet hatte, brannte wieder ein-<br />
mal mit ihm durch. Beherzt fasste er in seine Jackentasche hinter dem zer-<br />
beulten Orden und brachte den Ausweis zum Vorschein.<br />
»Wer es immer noch nicht glauben will«, bullerte er mit dröhnender<br />
Stimme die Meute an, »hier ist der endgültige und nicht zu widerlegende<br />
Beweis. Mein korinthischer Ausweis.«<br />
Krieger reichte den Ausweis, ohne einen Blick darauf zu werfen, an<br />
Geheimrat Ziegenlippe weiter. Schriftkram diesem war ihm höchst zuwider.<br />
Wozu sollte er sich mit Büchern, Akten oder Notizen aufhalten, wenn sich<br />
sowieso alles mit Gewalt, Mord und Plünderei regeln ließ?<br />
»Unverständlich! Völlig unverständlich!« kreischte der Geheimrat,<br />
»möglicherweise ein Dokument in einer Geheimschrift zum Zwecke der<br />
Spionage und Sabotage.«
»Wir Korinther«, belehrte ihn Zippel hochnäsig, »schreiben und lesen<br />
selbstverständlich von unten nach oben und von rechts nach links. Und<br />
zwar alles vor einem Spiegel. Außerdem, damit es nicht zu langweilig wird,<br />
nehmen wir die linke Hand. Wenn wir fertig sind, zerschneiden wir den<br />
Bogen und kleben die Schnipsel in einer falschen Reihenfolge zusammen.<br />
Wer also den Ausweis lesen will, muss den Schreibvorgang von hinten wie-<br />
derholen.«<br />
Mit dieser Erklärung nahm Zippel den Ausweis wieder an sich und zer-<br />
riss ihn in kleine Stücke. Dann klebte er die Schnipsel mit Spucke wieder<br />
aneinander, aber in einer anderen Reihenfolge. Schließlich lieh er sich von<br />
Rosalinde einen kleinen Handspiegel aus und hielt ihn vor das malträtierte<br />
Schriftstück. Aus dem Spiegel las er vor: »Dieser Ausweis berechtigt dem<br />
Inhaber Rippel zum Handel mit Nadeln, Nägeln und Kratzbürsten. Rippel<br />
ist ein echter Korinther und Ehrenbürger der Hauptstadt Krampfestos.«<br />
Fassungslos glotzte Ziegenlippe in den Spiegel. »Nichts«, kreischte er,<br />
»nichts ist zu erkennen. Kein Wort, kein Satz.«<br />
»Ach ja«, erläuterte Zippel herablassend, »ich hatte vergessen zu<br />
sagen, dass der Ausweis in korinthischen Hieroglyphen geschrieben ist und<br />
von Stachelländern nicht entziffert werden kann.«<br />
Ziegenlippe klappte den Mund auf. Das war zuviel für ihn. Einen letzten,<br />
verzweifelten Einwand versuchte er noch zu krächzen, aber Krieger hatte<br />
das ganze Gefasel über. »Schluss jetzt«, herrschte er Ziegenlippe an, »der<br />
Mann ist in Ordnung. Hat Mut bewiesen. Ein rechter Haudegen nach mei-<br />
nem Geschmack. Dieser Schneider Zippel soll doch ein ganz erbärmlicher<br />
Feigling sein. Rippel ist aus einem anderen Holz geschnitten. Er kommt mit<br />
in die Stachelburg und feiert mit uns. Mit diesen Korinthern muss man sich<br />
gut stellen. Sie können einem noch von Nutzen sein.«<br />
»Stech dich, krtzkrr!« grölte die durstige Meute, die nach Fuselschnaps<br />
gierte. Hauptmann Bleifuß und seine Eskorte nahm Zippel in die Mitte. Joh-<br />
lend rückten die Söldner wieder in die Stachelburg ein. Wie eine Dampf-<br />
walze schob Hauptmann Bleifuß den Schneider durch die verwüsteten Gas-<br />
sen. Zippel konnte gerade noch einen letzten Blick auf den Marktplatz wer-<br />
fen, bevor die Stachelburg ihn verschlang: verlassen hockte Rosalinde in<br />
dem Trümmerfeld und blickte ihm hoffnungslos nach. Tränen verschleier-<br />
ten ihre sonst so klaren blauen Augen. 'Hoffentlich findet sie den Ausweis',<br />
dachte Zippel. Er hatte ihn wie achtlos auf den Boden fallen gelassen,<br />
bevor Bleifuß ihn wegtrieb.
Der Wabbelstein<br />
Knarrend schlossen sich die Tore der Stachelburg hinter Zippels<br />
Rücken. Zippel hatte hinter den hohen Mauern einen Burgplatz erwartet,<br />
sah sich aber eines Besseren belehrt. Statt eines großzügig ausgestatte-<br />
ten Vorhofes mit Brunnen und Sitzbänken befanden sie sich in einer Art<br />
Gruft, aus der niedrige enge Gänge führten. Das dämmrige Licht fiel<br />
spärlich aus herausgebrochenen Löchern an der Decke und vermochte<br />
die Einrichtung nicht zu erhellen. Zippel konnte lediglich erkennen, dass<br />
einer der röhrenförmigen Gänge einen größeren Durchmesser hatte als<br />
die anderen und, den Fuß- und Schmutzspuren nach zu urteilen, weit<br />
öfter benutzt wurde. Auf diesen Gang strebten die Soldaten schnur-<br />
stracks zu. Kaum hatten sie ein paar Schritte getan, da verschluckte die<br />
Röhre den letzten Lichtschimmer, und wie in den modrigen Gängen eines<br />
Maulwurfes tasteten sie sich vorwärts. So sehr Zippel sich auch mühte,<br />
alle Windungen, Kurven, Steigungen und Ecken zu merken und in seiner<br />
Erinnerung festzuschreiben: nach kurzer Zeit vermengten sich die Ein-<br />
drücke zu einem unentwirrbaren Knäuel. Schon bald hatte Zippel das<br />
Gefühl, im Kreise zu gehen, denn jede neue Kurve kam ihm bekannt vor.<br />
Mehrmals stolperte er über unregelmäßig herumliegende Felsbrocken<br />
oder Balken, die als Treppenabsätze dienten. Rüde wurde er dann von<br />
Hauptmann Bleifuß weitergeschubst.<br />
Der Maulwurfsgang mündete in den verkommenen Saal der Stachel-<br />
burg, in dem die Feier begonnen hatte. In dem flackernden Schein der<br />
rußenden und blakenden Talgkerzen entdeckte Zippel, dass Krtzkrr Krie-<br />
ger und Geheimrat Ziegenlippe verschwunden waren!<br />
'In dem finsteren Gang muss es eine Geheimtür geben,' dachte Zip-<br />
pel. Er kombinierte weiter: Wenn nur Krieger und Ziegenlippe von der<br />
Tür wussten, dann führte sie vermutlich zu den privaten und geheimen<br />
Räumen des Generals.<br />
'Dort dürfte auch das Versteck des Wabbelsteins zu suchen sein',<br />
schloss Zippel, und sein Herz klopfte vor Erregung über diese Entde-<br />
ckung.<br />
88
Außer Zippel hatte niemand das Verschwinden des Generals und sei-<br />
nes Beraters bemerkt. Wie hungrige Wölfe stürzten sich die Söldner auf<br />
den Kübel mit dem Fuselschnaps. Selbst Oberst Speiteufel gab seine<br />
Zurückhaltung auf, und er fing an, sich in einem solchen Ausmaße zu<br />
besaufen, dass die übrigen um ihren Schnapsanteil zu fürchten began-<br />
nen.<br />
Wie Zippel aus den Augenwinkeln bemerkte, besaß der Saal weitere<br />
Ausgänge, die offensichtlich zu den Stacheltürmen führten. Weiter kam<br />
er mit seinen Beobachtungen nicht, denn Hauptmann Bleifuß stampfte<br />
mit seinem bleigefüllten Holzbein auf den Boden, dass der Kübel bedroh-<br />
lich zu schwanken anfing und einige Funzeln erloschen.<br />
»He!« brüllte er, »was ist das für eine Gastfreundschaft. Rippel hat<br />
noch keinen einzigen Tropfen abbekommen.« Ohne eine Reaktion abzu-<br />
warten riss Bleifuß dem nächstbesten Söldner den Becher aus der Hand<br />
und gab ihm mit seinem Holzbein einen solchen Tritt in den Hintern,<br />
dass dieser wie von einem Dampfhammer getroffen an die Wand<br />
klatschte und bewusstlos zusammenbrach.<br />
Bleifuß reichte Zippel den Becher. Mit Widerwillen nahm der Schnei-<br />
der das verbogene Gefäß und stieß mit Bleifuß an: »Stech dich!<br />
Krtzkrr!«<br />
Vor den Augen der begeisterten Soldaten stülpte er sich den Inhalt in<br />
einem Zuge hinunter.<br />
»Recht so!« knurrte es plötzlich anerkennend in sein Ohr. Zippel<br />
drehte sich um. Krtzkrr Krieger und Ziegenlippe hatten sich unbemerkt<br />
wieder zu ihnen gesellt und sich von hinten an ihn herangeschlichen.<br />
Offenbar hatten sie ihn heimlich beobachtet. Zippel erschrak. 'Sie trauen<br />
mir immer noch nicht ganz,' dachte er.<br />
»Stech dich!« prostete Zippel dem General zu und ließ sich nichts<br />
anmerken. »Was wird denn hier überhaupt gefeiert? Hat jemand<br />
Geburtstag?«<br />
Zum ersten Mal sah Zippel den Geheimrat Ziegenlippe vergnügt auf-<br />
lachen. »Hört einmal her«, rief er, »der Korinther hält dies für eine<br />
Geburtstagsfeier mit Kaffee und Kuchen und netten<br />
Gesellschaftsspielen!«<br />
89
Die Soldaten brüllten vor Lachen, spuckten Scherben aus und wälzten<br />
sich am Boden.<br />
»Was ist daran so komisch?« fragte Zippel erstaunt.<br />
Oberst Speiteufel kam ihm zu Hilfe. »Kein Stachelländer weiß, wann<br />
er geboren worden ist«, lallte er und erbrach sich. »Niemand in Stachel-<br />
land will Kinder hochziehen. Ist viel zu anstrengend und kostet nur Ner-<br />
ven. Deshalb werden die meisten Neugeborenen gleich verschenkt, aus-<br />
gesetzt oder Durchreisenden mit Gewalt untergeschoben. Die wenigen<br />
Kinder, die es hier gibt, kennen weder ihre wahren Eltern noch ihren<br />
Geburtstag, da sie von einer Familie zur nächsten wandern, bis sie sich<br />
selbst ernähren können.«<br />
hatte.<br />
Zippel erinnerte sich an Rosalinde, die ihm dasselbe von sich erzählt<br />
»Ja zum Teufel«, fluchte der Schneider, um Eindruck zu schinden,<br />
»weshalb feiert ihr denn nun?«<br />
»Jetzt halt dich fest«, belferte Bleifuß, »sonst fällst du vor Überra-<br />
schung aus den Stiefeln. Wir feiern den Raub des Wabbelsteins. In die-<br />
sem Augenblick befindet sich der Staatsschatz von Wabbelanien hier in<br />
der Stachelburg.«<br />
»Donnerwetter!« heuchelte Zippel, »den legendären Wabbelstein?<br />
Nein, nein, das kann ich nicht glauben.«<br />
»So?« fuhr Ziegenlippe ihn missgünstig an, und auch Krieger erstarr-<br />
te vor Wut. »Für was hältst du uns denn? Für Spinner, Aufschneider oder<br />
Komödianten?«<br />
Zippel fing zu schwitzen an. Die Sache wurde ungemütlich. Aber er<br />
musste, koste es was es wolle, das Versteck des Wabbelsteins heraus-<br />
bringen.<br />
»Nun«, wiegelte er ab, »alle Welt weiß doch, dass der Wabbelstein so<br />
stark gesichert und bewacht ist, dass niemand ihn stehlen kann. Aber<br />
ich will euch einen Vorschlag machen, der euch gefallen wird. Ihr sollt<br />
den gesamten Inhalt meines Bauchladens bekommen, wenn ihr mir den<br />
Wabbelstein zeigt. Falls der Wabbelstein wirklich in eurem Besitz ist,<br />
könntet ihr also ein leichtes Geschäft machen.<br />
90<br />
Zur Bekräftigung seiner Worte schlug Zippel den Deckel der Kiste auf
und breitete einige Nägel und Kratzbürsten aus. Mit ungläubigem Stau-<br />
nen starrten die Wüstlinge auf die Schätze. Da lagen Krampen, Hufnä-<br />
gel, Stifte, Schraubnägel, Haken und Bolzen, Zapfen, Nieten und Polster-<br />
nägel in verschiedenen Größen und aus Metallen der unterschiedlichsten<br />
Härtegrade. Sogar ein Säckchen Reißnägel erblickten die Betrunkenen,<br />
ideal zum Kauen, Lutschen und Ausspucken. Zippel nahm die beste<br />
Kratzbürste aus der Kiste. Sie hatte einen langen Stil aus Eichenholz.<br />
Die Borsten bestanden aus den feinsten und spitzesten Nähnadeln, eine<br />
Spezialanfertigung von Zippel selbst.<br />
»Seht her!« rief er. »Diese Bürste ist zum Kratzen des Rückens<br />
gedacht und reißt die Haut schön in Fetzen. Aber auch so kann man sie<br />
einsetzen!« Und mit wildem Schwung schleuderte er die Nadelbürste in<br />
die gesunde Wade des Hauptmanns Bleifuß. Dieser bäumte sich von<br />
dem jähen Schmerz auf, gurgelte ein unverständliches Wort und bekam<br />
vor Hass ein krebsrotes Gesicht. Mit einer mörderisch aufwallenden Wut<br />
wollte er sich auf Zippel stürzen. Doch die Nadeln der Bürste staken<br />
noch in seinem Bein und hatten es so stark verletzt, dass Bleifuß kopf-<br />
über auf den Boden fiel. Genau das aber hatte Zippel bezweckt: den<br />
unüberwindlichen Bleifuß kampfunfähig zu machen.<br />
Man sollte meinen, Zippels letzte Stunde hätte geschlagen. Dieser,<br />
wieder einmal vom Teufelchen Übermut geritten, schien endgültig zu<br />
weit gegangen zu sein. Das hieße aber, den verschlagenen und uner-<br />
gründlichen Charakter des Generals Krieger vollkommen zu verkennen.<br />
Denn der Diktator kannte nur ein Vergnügen: den Spass am Leid ande-<br />
rer. Und dabei war es vollkommen gleichgültig, wer dieser andere war.<br />
Der Schmerz und die Wut des schreienden Bleifuß bereitete Krieger eine<br />
solch hämische Freude, dass er Zippel beifällig auf die Schulter klopfte.<br />
Nur auf der Stirn des Geheimrates bildete sich eine steile Falte. Zie-<br />
genlippe zog Krieger beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Wozu sollen wir<br />
dem Korinther den Wabbelstein zeigen? Er ist ja in unserer Gewalt. Wir<br />
knöpfen ihm einfach den Bauchladen ab und werfen ihn in einen der<br />
Stacheltürme.«<br />
Als hätte Zippel die Worte gehört, sprang er auf seine Kiste, damit<br />
alle ihn hören konnten und rief: »Das ist aber noch nicht alles! Draußen<br />
91
vor den Stadtmauern habe ich noch zwei weitere Kisten versteckt. In<br />
der einen Kiste habe ich Nägel und Wäscheleinen mitgebracht, und in<br />
der anderen Kiste liegen die herrlichsten Salzklumpen bereit zum<br />
Tausch.«<br />
Zippel hatte sich nicht verrechnet: eine süchtige Gier nach Salzklum-<br />
pen entstellte die Visagen der Halunken, und selbst die Militärjunta leck-<br />
te sich die Lippen, allen voran Krtzkrr Krieger.<br />
Ziegenlippe sah seine Fälle davonschwimmen. Die Aussicht auf Salz-<br />
klumpen machte die Desperados zu unberechenbaren Tieren. Selbst auf<br />
Oberst Speiteufel war kein Verlass: eine Verweigerung der Salzration<br />
würde einen blutigen Putschversuch zur Folge haben.<br />
»Nun gut«, kreischte Ziegenlippe überlaunig. »Der General und ich<br />
werden Rippel zum Versteck des Wabbelsteins führen.«<br />
Mit einem haltlosen Gebrüll löste sich die Spannung der Söldner. Die<br />
Aussicht auf eine Sonderration Salzklumpen sprengte das letzte Maß an<br />
Zurückhaltung, und in einem zügellosen Rausch stürzten sie sich Becher<br />
auf Becher des Fuselschnapses in den Schlund.<br />
Zippel frohlockte. Er glaubte sein Ziel erreicht zu haben. Doch Krtzkrr<br />
Krieger setzte ihm schnell einen Dämpfer auf. Ehe sich Zippel versah,<br />
hatte der Diktator ihm ein Tuch vor die Augen gebunden und stieß ihn<br />
wie ein Stück Vieh zu dem Maulwurfstunnel. Dass sie durch die Röhre<br />
gingen, durch die sie auch hereingekommen waren, konnten Zippel<br />
gerade noch erraten, dann verlor er jede Orientierung. Er begann, seine<br />
Schritte zu zählen. Nach sechzig Schritten hielten sie plötzlich an. Zippel<br />
wurde nach rechts gedreht und vorwärts gestoßen. Eine Tür schlappte<br />
hinter ihm in ein gut geöltes Schloss. Hart packte Krieger den Kragen<br />
des Schneiders: »Treppe!« warnte er brutal.<br />
Eine steile Treppe mit rohen ungleichmäßigen Stufen führte in die<br />
Tiefe. Diesmal zählte Zippel die Stufen. Die Treppe schien kein Ende zu<br />
nehmen. Je tiefer sie stiegen, desto stickiger und heißer wurde die Luft.<br />
Allmählich bekam Zippel es mit der Angst. Wollten die beiden ihm wirk-<br />
lich den Wabbelstein zeigen, oder war dies eine Falle?<br />
Bei der hundertundvierzigsten Stufe trat Zippel in ein flaches Wasser.<br />
Die Treppe war zu Ende. Zippel hielt inne und lauschte. Wassertropfen<br />
92
plätscherten. Das Geräusch der Tropfen hallte von weiten Wänden wider<br />
und verlor sich in der Ferne wie in einer unermesslich großen Kathedra-<br />
le.<br />
»Wir sind da«, knurrte Krieger und nahm Zippel die Binde von den<br />
Augen. Wie Zippel schon beim Geräusch der Tropfen vermutet hatte,<br />
befanden sie sich in einer gewölbeartigen Tropfsteinhöhle. Von den<br />
hohen Felswänden, die die Höhle wie die Kuppel eines Domes über-<br />
spannten, hingen mannshohe Salzzapfen, von denen es unaufhörlich<br />
tropfte. Der stetige Salzzufluss bildete auf dem Boden wiederum glit-<br />
zernde Kegel und Türme, von denen viele schon die Höhe der Salzzapfen<br />
erreichten und sich in der Mitte mit ihnen vereinten. Mit ihren schlanken<br />
Bäuchen hatten sie das Aussehen von überdimensionalen Eieruhren und<br />
bildeten zusammen mit den Zapfen, Kegeln und Türmen eine künstlich<br />
anmutende Landschaft. Zippel fragte sich, woher wohl der schwache<br />
Lichtschimmer kam, der die Salzkegel trübe glitzern ließ. Aber er konnte<br />
keine direkte Lichtquelle ausfindig machen. Schließlich erkannte er, dass<br />
die bizarren Salzzapfen und Eieruhren in sich leuchteten mit dem fluo-<br />
reszierenden Schein, den morsche Holzscheite in der hohlen Hand von<br />
sich geben.<br />
Ein großer Teil der Höhle stand unter Wasser. Erst jetzt spürte Zippel<br />
an seinen Knöcheln, dass das Wasser trotz der feuchten Hitze hier unten<br />
eiskalt war. Über der Höhle, aber noch unter der Erdoberfläche musste<br />
sich ein eisiges Gewässer befinden, vielleicht sogar ein Eisstollen, der<br />
von der brütenden Wärme abtaute, und dessen Tauwasser durch die<br />
Decke tropfte. Das Wasser verdunstete in Dampfschwaden und bildete<br />
an der Decke wiederum schwere Tropfen. Ein ständiger Kreislauf. Zippel<br />
watete durch die schneidendkalte Salzlake in die höhere trockene Regi-<br />
on. Während er seine blauen Knöchel massierte, sah er sich um: Krieger<br />
und Ziegenlippe hingen an den Salzzapfen und leckten mit der unaus-<br />
löschlichen Gier von Süchtigen an den Kristallen. Ihre Umwelt hatten sie<br />
vollkommen vergessen. Nur eins schien ihnen geradezu lebenswichtig:<br />
das Salz.<br />
Betroffen beobachtete Zippel die gespenstische Szene. Das also war<br />
das Geheimnis Stachellands. Irgendein Unfall der Natur hatte die kör-<br />
93
perlichen Lebensvorgänge der Stachelländer so durcheinandergebracht,<br />
dass sie ständig auf Salzgenuss angewiesen waren. Jeder andere<br />
Mensch wäre an diesen Mengen gestorben. Der Heißhunger der Stachel-<br />
länder jedoch wurde mit jedem Schluck größer und unstillbarer. Wie<br />
schon auf dem Stachelmarkt spürte Zippel einen Hauch von Mitleid, aber<br />
Mitleid war bei der Bösartigkeit der Stachelländer kaum angebracht.<br />
Nun verstand Zippel auch den Hass der Stachelländer auf die Wabbe-<br />
lanier. Deren Vorliebe für Süßigkeiten musste bei den Stachelländern<br />
geradezu Übelkeit und Brechreiz hervorrufen.<br />
Nur mit der größten Überwindung konnte sich Ziegenlippe von dem<br />
Zapfen lösen. »Hör gut zu, Korinther«, warnte er Zippel, »hier siehst du<br />
den Staatsschatz von Stachelland. Diese Tropfsteinhöhle ist einmalig auf<br />
der ganzen Welt. Alle anderen Tropfsteinhöhlen bilden Zapfen und Tür-<br />
me aus Kalk, diese aber aus reinstem Salz. Ohne die Tropfsteinhöhle mit<br />
dem unermesslichen Salzvorkommen wäre Stachelland dem Untergang<br />
geweiht, denn die Einwohner würden elendig an Salzmangel zugrunde<br />
gehen. Von hier werden die monatlichen Rationen in die Bevölkerung<br />
geschleust. Es versteht sich von selbst, dass niemand außer Krieger und<br />
mir den Zugang zur Höhle kennt.«<br />
»Warum«, fragte Zippel, »warum seid ihr dann so scharf auf meine<br />
armselige Kiste mit Salzklumpen? Hier lagert das tausendfache an<br />
Salz.«<br />
»Weil du die Soldaten heißhungrig gemacht hast!« fauchte Krieger<br />
dazwischen. »Niemand in Stachelland weiß von dem reichen Salzvor-<br />
kommen hier, niemand hat eine Vorstellung von der Größe des Salz-<br />
stockes. Wenn du ihnen davon erzähltest, würden sie dich auslachen,<br />
denn es geht über ihre Einbildungskraft. Dann würden sie dich vor Wut<br />
niederknüppeln, da du ihre Hungergefühle auf entsetzliche Weise gereizt<br />
hättest.«<br />
»Es wird Zeit«, drängte Ziegenlippe, »die Soldaten werden sonst<br />
unruhig und misstrauisch.«<br />
General Krieger ging auf eine der Säulen zu, die wie riesige Eierbe-<br />
cher aussahen. Mit beiden Händen fasste er die schlanke Mitte und zog<br />
daran. Die Säule wackelte! In einer rollenden Bewegung schob Krieger<br />
94
sie zur Seite. Eine dunkle Öffnung wurde sichtbar. Krieger kniete nieder<br />
und kroch in die Öffnung. Nach einer Weile kam er rückwärts wieder<br />
hervorgekrochen. In den Händen hielt er den Schrein des Wabbelsteins,<br />
eine über und über mit Verzierungen ausgeschlagene goldene Truhe, die<br />
etwa die Größe von Zippels Bauchladen hatte.<br />
Schon beim Anblick des kostbaren Schreins fiel Zippel in eine ehr-<br />
fürchtige Bewunderung. Der matte Glanz des Goldes verlieh der feuch-<br />
ten Höhle mit ihren leblosen Salzgebilden eine festliche Stimmung. Krie-<br />
ger stellte den Schrein auf den Boden. Vorsichtig hob er den Deckel. Ein<br />
gleißender Lichtstrahl brach aus der Truhe und tauchte die Höhle in eine<br />
glühende Helligkeit. Geblendet schlug Zippel die Hände vor die Augen.<br />
Eine plötzlich aufwallende Hitze brachte die Salzlake zum Kochen. Tau-<br />
sendfach warfen die glitzernden Kristalle der Salzsäulen das Licht an die<br />
Felswände. Schlagartig vermehrte sich die Tropfenflut. Wie ein Monsun-<br />
regen kam das Wasser herunter. Viele Tropfen verdampften schon, bevor<br />
sie den Boden erreichten. Mit sichtbarer Geschwindigkeit verdickten sich<br />
die Salzzapfen und -türme. Zippel fühlte ein Kribbeln und Kratzen an<br />
seinen Bartstoppeln, die ihm neuerdings im Gesicht sprießten. Seine<br />
Haare und Fingernägel fingen zu wachsen an, arbeiteten sich juckend<br />
aus seiner Haut! Allmählich gewöhnten sich Zippels Augen an die Hellig-<br />
keit. Der Schrein war mit purpurnem Samt ausgeschlagen. Auf ihm ruh-<br />
te ein Edelstein von lupenreiner Klarheit. Aus dem Inneren des Steins<br />
leuchtete ein gleißendes Sonnenlicht. Sechs absolut plan geschliffene<br />
Flächen strahlten das Feuer in ständig wechselnden Farben ab. Glaubte<br />
man eben noch, den kostbarsten Diamant zu erblicken, so wandelte sich<br />
der Stein übergangslos in einen grünen Smaragd, ging in einen honig-<br />
gelben Bernstein über, schlug um in das glühende Rot eines Rubins, um<br />
schlagartig in das stille Blau eines Türkis zu fallen. Für einen kurzen<br />
Moment leuchteten die sechs Flächen in verschiedenen Farben gleichzei-<br />
tig, so, als wolle der Wabbelstein alle Edelsteine der Erde in sich verei-<br />
nen, den Bergkristall mit dem Mondstein, den Amethyst mit einem Opal,<br />
den Saphir mit einem Rosenquarz und den Onyx mit Jade und Lapislazu-<br />
li. Gebannt verfolgte Zippel das Schauspiel, vergaß seine Umgebung,<br />
seinen Auftrag, fühlte sich am Ziel und Endpunkt seines Lebens und sei-<br />
95
ner Bestimmung angekommen.<br />
»Das reicht!« Die brutalen Worte Kriegers rissen Zippel aus seiner<br />
Versenkung. Mit einem linkischen Ruck warf der Diktator den Deckel des<br />
Schreins zu. Er keuchte vor Anstrengung und Erregung, denn auch ihn<br />
hatte der Wabbelstein in seinen magischen Bann gezogen. Lichtpunkte,<br />
Sterne, Streifen und Flecken flimmerten vor seinen geblendeten Augen.<br />
»Wie du gesehen hast«, keuchte er, »regt der Wabbelstein alles<br />
Leben zum übermäßigen Wachstum an. Ich brauche nur den Schrein zu<br />
öffnen, und das Salz wächst und vermehrt sich mit ungeheurer<br />
Geschwindigkeit. Aber auch alle anderen Reichtümer der Erde kann ich<br />
damit vermehren. Der Besitz des Wabbelsteins macht mich zum reichs-<br />
ten und mächtigsten Mann der Welt.«<br />
'Hat er denn nicht bemerkt', dachte Zippel, 'dass auch wir in der kur-<br />
zen Zeit gewachsen sind? Hätte er den Schrein nicht zugeschlagen, dann<br />
hätten wir uns bald als tatterige Greise wiedergefunden.'<br />
Aber eingelullt von seiner neuerworbenen Macht versteckte Krieger<br />
den Schrein mit dem Wabbelstein wieder hinter der Salzsäule. Ziegenlip-<br />
pe band dem Schneider die Augen zu. Hastig traten sie ihren Rückzug<br />
an.<br />
96
Verrat!<br />
Auf dem Rückweg aus der Tropfsteinhöhle zählte Zippel zur Sicherheit<br />
nochmals die Stufen und die Schritte. Er hatte sich auf dem Hinweg<br />
nicht verzählt: hundertundvierzig Stufen und sechzig Schritte bis zum<br />
Saal. Zippel war sich sicher, die Höhle mit den Salzzapfen und -kegeln<br />
selbst in tiefster Finsternis wieder zu finden.<br />
Als Krieger ihm die Augenbinde abnahm, bot sich den dreien ein<br />
chaotisches Bild. Das Eichenbrett, das als Tisch diente, war zusammen-<br />
gebrochen und hatte Oberst Speiteufel als auch Hauptmann Bleifuß<br />
unter sich begraben. Beide schnarchten ihren Rausch aus. Der Kübel mit<br />
dem Fuselschnaps war von dem Brett gerutscht und umgekippt. Der<br />
größte Teil des Gesöffs breitete sich in Lachen und Pfützen auf dem<br />
schmutzigen Boden aus. Die wenigen Soldaten, die noch bei Besinnung<br />
waren, lagen bäuchlings um die Pfützen herum und leckten sie mit blo-<br />
ßen Zungen auf. Die Aussicht auf Zippels angebliche Kiste Salzklumpen<br />
hatte die Soldateska so sehr über die Stränge schlagen lassen, dass sie<br />
für Tage kampf- und handlungsunfähig in den Ecken herumliegen wür-<br />
den. Wie sich bald herausstellen sollte, erblindeten viele der Strolche an<br />
dem Schnaps. Schon jetzt rieben sich ein paar Söldner die Augen, da sie<br />
ihre Kumpanen nur noch in schemenhaften Umrissen wahrnehmen<br />
konnten.<br />
Mit äußerster Besorgnis beobachtete Ziegenlippe die Auswirkungen<br />
des Festes. Zu Krieger gewandt, zischelte er: »Bleifuß kampfunfähig,<br />
Speiteufel stockbesoffen, und die übrige Armee kann nicht aus den<br />
Augen gucken: was geht hier eigentlich vor?«<br />
Er hätte es nicht auszusprechen brauchen, denn auch Krieger fühlte<br />
mit dem untrüglichen Instinkt des Raubtieres, dass die Situation eine<br />
gefährliche Wendung genommen hatte. Von den Soldaten waren höchs-<br />
tens noch drei oder vier ansprechbar. Blitzartig wurde sich Krieger<br />
bewußt, dass die Verwundung von Hauptmann Bleifuß seine Position<br />
erheblich schwächte. Bleifuß hätte es mit zwölf Feinden gleichzeitig auf-<br />
genommen. Nun aber lag er eingeklemmt unter dem Tisch und konnte<br />
97
sich mit eigener Kraft nicht befreien. Und an allem war dieser Rippel aus<br />
Korinth schuld!<br />
Mit Erschrecken beobachtete Zippel, wie Krieger vor Wut kreidebleich<br />
wurde und seinen Zinnbecher mit der bloßen Faust zu einem Klumpen<br />
zusammenpresste. Einer der gefürchteten Tobsuchtsanfälle des Diktators<br />
kündigte sich an. Schon geiferte Schaum auf seinen blau angelaufenen<br />
Lippen. Jählings schnappte er sich mit eisernem Griff Zippels Hals und<br />
hätte ihn auf der Stelle erwürgt, als ein seltsam jämmerliches Winseln<br />
den rasenden General aufhorchen ließ und ihn zur Besinnung brachte.<br />
Das Geräusch kam aus der Maulwurfsröhre, die zum Eingang der Sta-<br />
chelburg führte.<br />
Zuerst sah man nichts als die beiden Torwachen, die, ebenfalls<br />
betrunken, torkelnd aus dem Dunkel der Röhre auftauchten. Fluchend<br />
schleiften sie etwas Schweres hinter sich her. Das Winseln und Wimmern<br />
wurde lauter. Erst im trüben Schein der Funzeln erkannten Krieger und<br />
Ziegenlippe die Last der Torwachen. Es waren zwei bis zur Unkenntlich-<br />
keit entstellte Stachelländer. Die Kleider hingen in Fetzen von ihren ver-<br />
kratzten und verschrammten Körpern. Ihre Haut, die überall durchschi-<br />
en, hatte die rosarote Farbe von Babys, die zu heiß gebadet worden<br />
waren.<br />
Auch Zippel war vor Überraschung sprachlos. Vorsichtig näherte er<br />
sich den beiden Verletzten. Da schlug einer der beiden die Augen auf<br />
und erblickte Zippel. Mit einem wilden Fluch sprang er trotz seiner Ver-<br />
wundungen auf die Beine. »Der Wabbelanier!« schrie er und zeigte auf<br />
Zippel, »das ist der Schuft, der uns in die Falle gelockt hat!«<br />
Jetzt erst erkannte Zippel die beiden Soldaten. Es waren Geierblick<br />
und Reibstein, die sich wie durch ein Wunder aus der Gewalt der Zyklo-<br />
pen hatten befreien können.<br />
Beim Wort Wabbelanier war es totenstill geworden in dem Saal. Die<br />
paar Soldaten, die noch auf den Beinen stehen konnten, rückten<br />
bedrohlich näher und bildeten einen Kreis um Zippel. Unvermutet tauch-<br />
te aus einem Winkel ein stinkender Kloakier auf, einer der Spione des<br />
Geheimrats Ziegenlippe.<br />
98<br />
»Stech dich, krtzkrr«, salutierte er, »laß dir erklären, mein General.
Aus dem Tal der Zyklopen hörte ich die Schreie der Soldaten Reibstein<br />
und Geierblick. Die Kolosse hatten sie schon bis aufs Blut abgeleckt. Mit<br />
einem Trick konnte ich die beiden befreien. Ich warf einen Salzklumpen<br />
genau in die Mitte zwischen die Zyklopen. Wie ich erwartet hatte, ließen<br />
sie auf der Stelle von den Soldaten ab, um sich das Salz zu schnappen.<br />
Den Klumpen hatte ich aber so platziert, dass er in der Reichweite jedes<br />
der drei Zyklopen lag, die sich anfingen, um das Salz zu streiten. Durch<br />
dieses Ablenkungsmanöver konnte ich Reibstein und Geierblick befreien.<br />
Das Wichtigste aber kommt noch. Wie dir die beiden Soldaten bestätigen<br />
können, sind sie von einem langen, spillerigen Mann mit fistelnder Stim-<br />
me in die Fänge der Zyklopen gelockt worden. Dieser Schurke hat sich<br />
als Brutus Ranzig ausgegeben. Und wie mir scheint, hat er sich inzwi-<br />
schen bis in die Stachelburg einschleichen können.«<br />
Krieger hatte sich wieder gefangen. Eine tödliche, eiskalte Ruhe ging<br />
von ihm aus und ließ die Umgebenden frösteln. Mit metallischer Härte<br />
befahl er: »Holt Brutus Ranzig aus dem Verlies. Hebt den Tisch an und<br />
befreit Hauptmann Bleifuß.«<br />
Zippel war verloren. An eine Flucht war nicht zu denken, denn die<br />
Torwache hatte sich vor der Maulwurfsröhre aufgepflanzt. Und Brutus<br />
Ranzig würde die restlichen Zweifel beseitigen.<br />
Wie Zippel richtig vermutete hatte, erkannte ihn Ranzig sofort wieder.<br />
Giftig sprang der Dieb des Wabbelsteins auf ihn zu und riß ihm die Uni-<br />
formjacke vom Leib. Seine weiche, seidene Schneiderweste kam zum<br />
Vorschein, und es brauchte nun keines weiteren Beweises mehr. Ein ein-<br />
ziges Mal noch konnte Zippel Ranzig und die beiden Soldaten verblüffen,<br />
indem er sie mit seiner neuen tiefen Stimme anraunzte. Doch der Ver-<br />
such der Überrumpelung misslang, da nur die drei, die ihn von früher<br />
kannten, erstaunt gafften, die anderen aber von ihrer feindseligen Hal-<br />
tung um keinen Deut abrückten.<br />
»In einen der Stacheltürme mit ihm!« befahl Krieger. »Er soll schmo-<br />
ren für seine Dreistigkeit. Bei saurer Milch und Feuerquallen wird ihm<br />
der Mut vergehen.«<br />
Ziegenlippe beugte sich zu Krieger hinüber und zischelte in dessen<br />
Ohr: »Der Wabbelanier weiß zuviel. Auf keinen Fall darf er entkommen.<br />
99
Wir müssen ihn bald unschädlich machen.«<br />
»Das lass nur meine Sorge sein«, gab der General zurück. Aus seinen<br />
schrägen Augen beobachtete er, wie zwei Soldaten Zippel in ihre Mitte<br />
nahmen und ihn zu einem der Ausgänge geleiteten, die zu den Stachel-<br />
türmen führten.<br />
100
Vier endlose Tage<br />
War Zippel bis zu seiner Gefangennahme vor lauter Aufregungen und<br />
Abenteuern kaum zum Luftholen gekommen, so sah es an der wabbela-<br />
nischen Grenze ganz anders aus. Hübeldübel und Plumplum schmorten<br />
in ihrem eigenen Saft. Zur Untätigkeit verurteilt, warteten sie mit zuneh-<br />
mender Ungeduld an der Weggabelung, die zu den beiden Pässen führte.<br />
Die Ungewissheit über Zippels Schicksal zerrte an ihren Nerven. Um die<br />
Zeit zu vertreiben, erfanden sie die ausgefallensten Spiele. So fingen sie<br />
schon am ersten Tag an, sich im Weitspucken zu übertreffen. Mit ihrer<br />
aufgeladenen Energie und ihrem Tatendrang übertrieben sie den Wett-<br />
kampf dermaßen, dass sie am Abend erschöpft auf den steinigen Boden<br />
sanken, mit trockener, brennender Kehle, denn es war ihnen der Saft<br />
ausgegangen. Die erste Nacht versprach kühl und klamm zu werden. Die<br />
beiden Recken rückten eng zusammen, konnten jedoch nicht einschlafen<br />
in der Sorge um Zippel. Hübeldübel begann von seinen Reisen über die<br />
Weltmeere zu erzählen, wurde aber bald von Plumplum unterbrochen,<br />
der die fantastischen Geschichten schon auswendig kannte. Mit offenen<br />
Augen träumten sie von Bimballo und seinem Honigbier, von Melanie<br />
und ihren süßen Küssen, von König Wabbel und unweigerlich vom Wab-<br />
belstein. Dann sprangen sie fluchend auf und wollten schnurstracks<br />
durch Stachelland marschieren und alles dem Erdboden gleichmachen.<br />
Doch es half nichts, sie hatten auszuharren, selbst wenn sie vor Eifer zu<br />
platzen drohten.<br />
Gegen Mitternacht fiel wenigstens Plumplum in einen unruhigen<br />
Schlaf. Neidisch betrachtete Hübeldübel seinen Kumpanen und stieß<br />
einen tiefen Seufzer aus. Da bewegten sich Plumplums Lippen und flüs-<br />
terten: »Melanie.« Eine heiße Welle von Eifersucht schoss in Hübeldübels<br />
Birnenkopf. Er sprang auf, riss Plumplum aus dem Schlaf und puffte,<br />
knuffte und boxte ihn. Wie ein nasser Pudel schüttelte Plumplum seinen<br />
Schlaf aus den Ohren. Dann ging er seinerseits auf Hübeldübel los, und<br />
es begann der wildeste und wütendste Kampf zwischen den beiden<br />
Freunden, den sie je miteinander ausgefochten hatten. All das schlechte<br />
101
Gewissen, all ihre überschüssige Energie tobten sie sich aus dem Leib.<br />
In dieser feindlichen Finsternis verloren sie jedes Gefühl für das Maß<br />
ihrer Rauferei, und alsbald kämpften sie, als hätten sie nicht den lang-<br />
jährigen Freund vor sich, sondern den gefürchteten Krtzkrr Krieger per-<br />
sönlich. Es war dies die unrühmlichste Nacht im Leben der beiden<br />
Kampfhähne. Als endlich der Morgen graute, sah man Hübeldübel quer<br />
über den Weg zum Schwartenpass liegen, während Plumplum mit ver-<br />
bissener Miene den Pfad zum Scherbenpass bewachte. Beide stierten<br />
aus rotgeränderten und verquollenen Augen starrsinnig vor sich auf den<br />
Boden. Ihre Haut war übersät mit blauen Flecken, Rissen und Kratzern.<br />
Keines Blickes würdigten sie sich, und unversöhnlich hätten sie sich<br />
angeschwiegen bis zum jüngsten Gericht.<br />
Wenn da nicht der Uhu aufgetaucht wäre. Mit seinen majestätischen<br />
Schwingen hätte er beinahe Plumplum gestreift. Drei enge Runden dreh-<br />
te er über den verbohrten Haudegen und fächelte ihm die kühle Morgen-<br />
luft in den Nacken. Dann landete er direkt vor Plumplum auf einem Fels-<br />
stein, der im Weg lag. Verbiestert, wie der Wabbelanier war, rührte er<br />
sich mit keiner Faser seines Leibes. Gelassen schüttelte sich der Uhu<br />
einige Flöhe aus den Federn und richtete seine schläfrigen Augen auf<br />
Plumplum. Plumplum guckte zurück. Der Uhu kniepte mit einem Auge<br />
und betrachtete den zerzausten Recken nun mit unverhohlener Neugier.<br />
Was war dies für ein seltsamer Uhu? Der hatte ja gar keine Federn und<br />
auch keine spitzen Ohren. Plumplum, von dem Blick des Nachttieres wie<br />
hypnotisiert, kniepte ebenfalls mit einem Auge. Verwundert, ja missbilli-<br />
gend legte der Uhu seinen Kopf schief auf die Seite. Dieser fremd ausse-<br />
hende Uhu tat ja recht vertraulich. Plumplum legte seinen Kopf nun auch<br />
auf die Seite. In der nächsten halben Stunde passierte dann gar nichts.<br />
Sowohl der Uhu als auch Plumplum starrten sich mit schiefem Hals in die<br />
Pupillen und versanken in einen tranceähnlichen Zustand. Drüben, vom<br />
Schwartenpassweg aus, beobachtete Hübelhübel die Szene aus den<br />
Augenwinkeln und wunderte sich.<br />
Als die kalten Strahlen der Morgensonne Plumplums Nase zu kitzeln<br />
begannen, bekam er ein unwiderstehliches Verlangen nach etwas<br />
Süßem. Wenn er sich nicht täuschte, musste in seiner Hosentasche noch<br />
102
ein vertrocknetes Gummibärchen stecken. Aber der vermaledeite Blick<br />
des Uhus lahmte seinen Willen. Der Appetit wuchs zum Heißhunger.<br />
Desungeachtet starrte ihn der Uhu unverwandt an und ließ ihn nicht aus<br />
seiner hypnotischen Gewalt. Beim Gedanken an sein letztes Gummibär-<br />
chen lief Speichel über Plumplums Zunge, und er musste schlucken.<br />
Hübeldübel, der seinen Freund nur zu gut kannte, erriet sofort, was in<br />
Plumplum vorging. Und trotz aller Verbohrtheit fing er zu wabbeln an.<br />
Zunächst mühsam versteckt, dann ganz offen. Schließlich konnte er sich<br />
nicht mehr halten und lachte und wabbelte, was das Zeug hielt. Die<br />
Situation war einfach zu lächerlich: auf der einen Seite der neugierig<br />
plierende Uhu, auf der anderen Seite der vor Heißhunger schwitzende<br />
Plumplum, der seinen Blick nicht von den Augen des Tieres wenden<br />
konnte.<br />
Plumplum hörte seinen Freund lachen, ja schließlich brüllen vor Ver-<br />
gnügen. Eine heiße Wut- und Schamesröte schoss ihm ins Gesicht. Doch<br />
er wäre kein waschechter Wabbelanier gewesen, hätte das Lachen ihn<br />
nicht angesteckt. Und so sehr er sich auch dagegen wehren wollte, das<br />
Wabbeln ließ sich nicht aufhalten. Verwundert legte der Uhu ein Ohr zur<br />
Seite, als wolle er seine Missbilligung über dieses Verhalten ausdrücken,<br />
welches eines Uhus unwürdig war. Ein Uhu, der lacht und wabbelt? Das<br />
war denn doch zu starker Tobak. Beleidigt klapperte der Vogel mit dem<br />
Schnabel, hob seine Schwingen und rauschte davon.<br />
Längst lagen sich die beiden Hüter des Wabbelsteins in den Armen<br />
und lachten Tränen über ihre eigene verbohrte Dummheit. Diesen Tag<br />
verbrachten sie in einer ausgelassenen Stimmung, die sich gegen Abend<br />
jedoch wieder verdüsterte, denn von Zippel kam kein Lebenszeichen.<br />
In der zweiten Nacht passierte nichts Besonderes, außer, dass<br />
Hübeldübel einmal aufwachte und die Umrisse der Zöllnerin zu erkennen<br />
glaubte. Als er sich aufrichtete, verschwand sie lautlos wie ein Gespenst<br />
in der Dunkelheit. Allerdings war Hübeldübel sich nicht sicher, ob er das<br />
Erlebnis nur geträumt hatte.<br />
Am nächsten Tag ging Plumplum zur Festung Sextagon, um Proviant<br />
nachzuholen. Mit einem frischen Honigbrot und saftigen Melonen kam er<br />
zurück. Irgendwelche Neuigkeiten brachte er nicht mit. Kommandant<br />
103
Lanzetto und seine paar Mannen warteten sehnsüchtig auf Heimaturlaub<br />
in Wabbelburg, denn in der Feuchtigkeit des Schattentals fröstelten sie<br />
und bekamen schwermütige Anwandlungen.<br />
So vergingen zwei weitere Tage ohne Abwechslung und ohne ein<br />
Lebenszeichen von Zippel. Einmal ließ sich auch der Uhu wieder blicken.<br />
Die zunehmend bedrückte Stimmung der beiden Kameraden konnte er<br />
diesmal nicht vertreiben.<br />
Wieder senkten sich die abendlichen Bodennebel über die Weggabe-<br />
lung, und wieder rückten die beiden Freunde eng zusammen, um sich<br />
gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Merklich hatte ihre überschüssi-<br />
ge Kraft nachgelassen und war einer zweifelnden Grübelei gewichen. Da<br />
stob plötzlich Hübeldübel hoch. Seine Ohren vibrierten.<br />
»Hör mal«, flüsterte er, »kam da nicht ein Geräusch aus dem Scher-<br />
benpass?«<br />
Bei der plötzlichen Bewegung Hübeldübels war auch Plumplum aufge-<br />
fahren und lauschte zum Scherbenpass hinüber. »Endlich«, flüsterte er<br />
zurück, »vielleicht ist es Zippel.«<br />
Nichts rührte sich. »Oder die Stachelländer schleichen sich heran«,<br />
spekulierte Hübeldübel.<br />
»Dann können sie sich auf einen schönen Empfang gefasst machen«,<br />
zischte Plumplum und spannte seine Muskeln.<br />
nicht.<br />
So sehr sie auch die Ohren spitzten, das Geräusch wiederholte sich<br />
»War vielleicht nur der Uhu«, meinte nach einer Weile Hübeldübel. Er<br />
wollte sich schon wieder setzen, als Plumplum ihn am Arm ergriff: »Sieh<br />
doch nur, da kommt jemand.«<br />
Tatsächlich, aus der Abenddämmerung schälten sich die Umrisse<br />
eines menschlichen Wesens, das den Weg vom Scherbenpass herunter-<br />
schwankte. Die beiden Recken rannten zur Weggabelung und bezogen<br />
Stellung, um den Weg zu sperren. An ihnen würde niemand vorbeikom-<br />
men.<br />
»Ahoi!« rief Hübeldübel, »es geht los!« Erschreckt verhielt die Gestalt<br />
bei diesem Ruf und schaute herüber.<br />
104<br />
»Aaah!« brüllte Plumplum in gewohnter Lautstärke, »die Stachellän-
der tragen Röcke wie die Frauen. Recht kleidsam, mein Herr. Habe ganz<br />
vergessen, eine Rose für den Empfang zu pflücken.«<br />
Hübeldübel kniff die Augen zusammen. »Beim Klabautermann«, ent-<br />
fuhr es ihm, »das ist ja auch eine Frau.«<br />
Beim Näherkommen erkannten die beiden Heißsporne eine magere<br />
junge Frau in zerlumpten und geflickten Kleidern. Über dem rechten<br />
Auge zeugte geronnenes Blut von einer frischen Wunde. Die Frau zitterte<br />
am ganzen Leib, sei es aus Furcht oder aus Erschöpfung. Vor den beiden<br />
Recken blieb sie stehen: »Guten Tag«, sagte sie mit einer gewollt herb<br />
klingenden Stimme, »ihr beiden müsst Hübeldübel und Plumplum sein.«<br />
Sie blickte verlegen zu Boden.<br />
Misstrauisch musterten die beiden die Frau. Plumplum rümpfte die<br />
Nase. Ein leichter modriger und säuerlicher Geruch ging von der Frau<br />
aus. Die verschlissenen Kleider und die magere Gestalt waren auch nicht<br />
gerade nach Geschmack des Wabbelaniers. Auch Hübeldübel empfand<br />
so. Aber merkwürdig, trotz des abstoßenden Äußeres fühlten sich die<br />
beiden irgendwie zu ihr hingezogen, spürten einen nicht zu erklärenden<br />
Drang, sie beschützen zu wollen.<br />
Plumplum gab sich einen Ruck. »Eine Spionin!« sagte er rau.<br />
»Ein Trick«, ergänzte Hübeldübel, »da stimmt was nicht.« Mit einem<br />
eisernen Griff packte er den Arm der Frau. »Wer bist du? Wo willst du<br />
hin und warum kommst du ausgerechnet hierher nach Wabbelanien?<br />
Antworte schon, sonst ziehen wir andere Seiten auf.«<br />
Mit erschöpfter Stimme begann die Frau zu erzählen: »Mein Name ist<br />
Rosalinde, und ich habe auf dem Stachelmarkt den Händler Rippel aus<br />
Korinth kennengelernt. Wie ich inzwischen aber weiß, handelt es sich um<br />
den Wabbelanier Zippel, der das Versteck des gestohlenen Wabbelsteins<br />
ausspionieren sollte.«<br />
Bei diesen Worten stießen die beiden Recken erschreckte Rufe aus,<br />
und ein schlimmer Verdacht beunruhigte sie.<br />
»Weiter Rosalinde, weiter«, drängte Hübeldübel und presste ihren<br />
Arm so stark, dass sie vor Schmerz erbleichte. Sie wollte weiterreden,<br />
aber ihre Beine gaben nach, und sie wäre auf die Felssteine gefallen,<br />
hätte Hübeldübel sie nicht aufgefangen.<br />
105
»So geht es nicht!« schrie Plumplum, der sich nicht eingestehen<br />
mochte, dass er Mitleid mit ihr hatte. »Sie scheint ja ganz verhungert zu<br />
sein. Füttern wir sie erstmal, dann wird sie auch reden.«<br />
Widerstrebend ließ sich Hübeldübel auf den Vorschlag ein. Er zog das<br />
übriggebliebene halbe Honigbrot aus der Tasche und hielt das noch<br />
frisch duftende Stück vor Rosalindes Nase. Sie schlug die Augen auf und<br />
blickte verwirrt den Recken an. Hübeldübel glaubte vom Schlag getrof-<br />
fen zu sein: die schönsten, tiefsten dunkelblauen Augen schienen ihn<br />
förmlich zu verschlingen. Er schluckte. Er begann zu schwitzen. Er wur-<br />
de verlegen. Er kratzte sich am Kopf. Er spürte eine siedende Hitze in<br />
sich aufsteigen. Dann spürte er noch etwas anderes: einen schmerzhaf-<br />
ten Faustschlag in die Rippen. Es war die unverkennbare Handschrift<br />
Plumplums, der ihn wieder zur Besinnung brachte.<br />
»Aaah!« brüllte Plumplum, »sie isst unseren ganzen Vorrat auf.<br />
»Beschämt hörte Rosalinde auf zu essen. Sie hatte das Brot bis auf<br />
ein paar Krümel hinuntergeschlungen und dazu noch zwei Honigmelonen<br />
gegessen. Noch nie hatte sie eine solche schmackhafte und wunderbar<br />
süße Nahrung gekostet.<br />
»Nun reicht es aber«, ließ sich auch Hübeldübel vernehmen, »raus<br />
mit der Sprache: was geht hier vor?«<br />
Und Rosalinde begann zu erzählen. Zunächst mit stockender Stimme,<br />
dann fließender und hastiger, denn die Zeit drängte.<br />
106
Ein schwerer Entschluss<br />
Rosalindes Bericht fing mit den Ereignissen auf dem Stachelmarkt an.<br />
Nachdem Krieger und seine johlende Soldateska mit Zippel abgezogen<br />
war, hatte Rosalinde noch eine Weile dagesessen. Ihr Blick wurde auf ein<br />
Stück Papier gelenkt, das aus den Trümmern des Stachelmarktes lugte.<br />
Sie hatte es aufgehoben. Es war der falsch zusammengeklebte Ausweis<br />
Zippels, der schon wieder in seine Schnipsel zerfiel.<br />
Hier unterbrachen Hübeldübel und Plumplum die Erzählerin, denn sie<br />
verstanden fast gar nichts. Also musste Rosalinde ganz von vorn anfan-<br />
gen und ihnen genauestens berichten, wie sie Zippel kennengelernt hat-<br />
te, und was alles sich zugetragen hatte. Als sie bei dem Vorfall mit dem<br />
zudringlichen Kloakier angelangt war, wurde sie von den beiden Recken<br />
unterbrochen.<br />
»Das kann doch nicht Zippel sein«, zweifelte Plumplum.<br />
»Zippel prügelt sich mit einem Kloakier?« hakte Hübeldübel nach,<br />
»das kann man kaum glauben.«<br />
Damit nicht genug: nun mussten sie auch noch vernehmen, mit wel-<br />
cher Dreistigkeit Zippel mit Krieger und seiner Militärjunta umgesprun-<br />
gen war. Die Hüter des Wabbelsteins schwankten, ob sie das alles glau-<br />
ben sollten, oder ob sie es für eine raffiniert eingefädelte Falle halten<br />
sollten, in die sie hineingelockt werden sollten.<br />
Rosalinde ließ sich durch die aufkommenden Zweifel nicht beirren und<br />
setzte ihren Bericht fort. Achtlos hatte sie den auseinanderfallenden<br />
Ausweis Zippels eingesteckt und war mit einer unerklärlichen Furcht im<br />
Herzen nach Hause gegangen. Dort versuchte sie sich mit der täglichen<br />
Arbeit abzulenken, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem<br />
Nagelhändler, der sich anscheinend in der Gesellschaft des Krtzkrr Krie-<br />
ger wohlfühlte. Die beiden Brote, die Rosalinde schließlich aus dem Ofen<br />
zog, waren vollständig misslungen, klitschig und zusammengefallen.<br />
'Ein erstklassiges Stachelbrot', dachte sie sarkastisch, und laut spöt-<br />
telte sie: »Endlich habe ich das richtige Rezept gefunden.«<br />
107<br />
Ihr Galgenhumor verflog so schnell, wie er gekommen war. Freudlos
nahm sie ihre verbogene Hacke und kratzte in dem kleinen Garten hinter<br />
der Hütte herum. Nach einer Weile warf sie die Hacke hin und ging in<br />
ihre Hütte. Es hatte keinen Zweck. Halbherzig holte sie die Schnippel<br />
hervor. Vielleicht konnte sie ja den Ausweis wieder zusammensetzen.<br />
Geduldig puzzelte und probierte sie, bis ihr endlich das Kunstwerk<br />
gelang: alle vier Seiten waren wieder gerade, und alle Schnippel passten<br />
nahtlos aneinander. Schnell klebte sie die Teile fest, damit ihre Mühe<br />
nicht umsonst gewesen war. Dann versuchte sie, den Inhalt zu lesen.<br />
Wie groß war ihre Verwunderung, als sie feststellte, dass sie die<br />
Schrift mühelos entziffern konnte! Um wieviel größer aber war ihr<br />
Schreck und ihr ungläubiges Staunen, als sie den Inhalt las: Dies ist der<br />
Ausweis von Schneider Zippel aus Wabbelanien. Zippel ist als Spion<br />
unterwegs, um das Versteck des Wabbelsteins auszukundschaften. Der<br />
Besitzer dieses Ausweises hat freie Fahrt durch Stachelland.<br />
Zuerst glaubte Rosalinde an einen Witz, an einen Karnevalsscherz.<br />
Dieser Fetzen Papier war einfach zu lächerlich, die Ausgeburt einer Kin-<br />
derphantasie. Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die<br />
kostbaren Nähnadeln, die leuchtende Nähseide und dann erst Rippels<br />
weiche Schneiderweste, in die sie sich hineingeschmiegt hatte! Rippel<br />
war also ein Wabbelanier und hieß in Wirklichkeit Zippel. Das also war<br />
der Grund für ihre unerklärliche Furcht: sie hatte sich mit einem Erzfeind<br />
Stachellands angefreundet!<br />
Aber diese Wabbelanier schienen ja ganz anders zu sein, als hier<br />
immer mit bösem Hass erzählt wurde. Wenn alle so wären wie dieser<br />
Zippel, der, statt ihre Tür einzutreten, sich in einem hilflosen Trotz vor<br />
ihre Hütte gelegt hatte?<br />
Rosalinde errötete bei der Erinnerung an den schlafenden Schneider.<br />
Nie würde er erfahren, dass sie ihn mit einem Kuss geweckt hatte. 'Wer<br />
mag wohl Melanie sein', dachte Rosalinde und fühlte sich zurückgestos-<br />
sen, 'vielleicht seine wabbelanische Freundin oder sogar seine Frau, die<br />
sich um ihn ängstigt und auf ihn wartet.'<br />
Noch einmal nahm Rosalinde sich das Papier vor. Was für unglaublich<br />
harmlose Gemüter mussten die Leute haben, die solch ein verräterisches<br />
Blatt entworfen hatten. Rosalinde musste lachen: seine Wirkung hatte<br />
108
der Ausweis ja gezeitigt, allerdings nur durch den Witz und die Dreistig-<br />
keit des Schneiders.<br />
Mit einem Mal fuhr ein Schreck durch Rosalindes Glieder und ihre<br />
Kehle schnürte sich zusammen. Wenn Zippel ein Spion war, hatte er sich<br />
in die Höhle des Löwen begeben, und es war nur eine Frage der Zeit, bis<br />
er demaskiert wurde. Vielleicht schmachtete er schon jetzt in einem Ver-<br />
lies der Stachelburg!<br />
Die widerstreitenden Gefühle drohten Rosalindes Herz zu sprengen.<br />
Sie spürte eine große Zuneigung zu Zippel, aber es war ihr auch klar,<br />
dass sie selbst verloren war, würde sie ihm helfen. Dann würde er viel-<br />
leicht gerettet werden und in die Arme seiner Frau oder Freundin<br />
zurückkehren. Sie selbst aber müsste flüchten und bis an ihr Lebensen-<br />
de in der Fremde leben.<br />
Als der Abend anbrach, versuchte Rosalinde etwas zu essen, doch sie<br />
bekam, wie schon den ganzen Tag, keinen Bissen hinunter. Die Schatten<br />
der Nacht legten sich auf die Hütten und Gassen, doch Rosalinde zünde-<br />
te keine Kerze an, saß nur grübelnd und den Tränen nahe am Tisch.<br />
Um Mitternacht erhob sie sich. Sie hatte einen unwiderruflichen Ent-<br />
schluss gefasst. Sie würde Zippel helfen. Denn es war ihr klar geworden,<br />
dass sie ihn liebte. Mochte er zu Hause auch eine Frau haben, hier wür-<br />
de sie ihm beistehen. Es hätte für sie so oder so keinen Sinn mehr<br />
gemacht, in Stachelland weiterzuleben. Sie hatte sich hier noch nie rich-<br />
tig wohl gefühlt. In Zippels Nähe hatte sie zum ersten Mal eine Zunei-<br />
gung und eine Achtung vor ihrer Würde erfahren, die sie nicht mehr<br />
missen wollte. Jetzt hieß es zu handeln.<br />
Um sich vor der Kälte zu schützen, warf sich Rosalinde einen Umhang<br />
um und ging durch die düsteren Straßen zur Stachelburg. Das Tor war<br />
verschlossen. Einen zweiten Eingang gab es nicht. Ratlos schlich Rosalin-<br />
de um die Burg. Nirgends ein Fenster oder wenigstens ein Luke. Dro-<br />
hend ragten die schwarzen Stacheltürme in den wolkenzerfetzten Him-<br />
mel. Was nun? Sollte sie am Tor klopfen? Da vernahm sie ein leises Klir-<br />
ren auf dem steinigen Boden. Sie tastete sich zu dem Geräusch. Plötz-<br />
lich spürte sie etwas Kaltes, Metallisches, und sie griff beherzt zu. Ein<br />
dorniges eisernes Rädchen stach in ihre Hand, und sie konnte gerade<br />
109
noch einen Schmerzensschrei unterdrücken. Aber sie ließ den Gegen-<br />
stand nicht los, sondern hielt ihn sich vor die Augen. Es war einer der<br />
Sporen Zippels! Er war an eine Wäscheleine gebunden, die von einem<br />
der Stacheltürme herabhing. Vorsichtig zog Rosalinde an der Leine. Sie<br />
spürte einen Widerstand. Jemand zog am anderen Ende der Leine. Hoch<br />
oben verschwand die Leine in einem winzigen Loch. Eine Stimme hallte<br />
hohl aus dem Loch: »Wer ist da?«<br />
Rosalindes Herz machte einen Sprung: es war Zippels Stimme. »Ich<br />
bin es, Rosalinde«, rief sie mit erstickter Stimme hinauf und sah sich<br />
vorsichtig um. Jeden Moment konnte eine stachelländische Patrouille<br />
vorbeikommen.<br />
»S'wabbelt«, rief Zippel hinunter, denn er spürte, dass er vor Rosalin-<br />
de keine Geheimnisse mehr zu haben brauchte. Dann flüsterte er ihr mit<br />
kurzen Worten zu, was geschehen war. Die Soldaten hatten sich so in<br />
Sicherheit gefühlt, dass sie Zippel in den Stachelturm geworfen hatten,<br />
ohne ihm seine Wäscheleine abzunehmen. Er hatte einen seiner Sporen<br />
daran gehängt, und ihn durch das kleine Loch hinabgelassen in der Hoff-<br />
nung, etwas zu angeln, was ihm weiterhelfen könnte. Knapp berichtete<br />
Zippel, dass er das Versteck des Wabbelsteins entdeckt hatte. Er erzähl-<br />
te von seinen Freunden Plumplum und Hübeldübel, und wo sie auf ihn<br />
warteten. Da hörte Rosalinde die nahenden Schritte einer Patrouille, und<br />
sie eilte nach Hause.<br />
Plumplum und Hübeldübel, die bis dahin schweigend dem Bericht<br />
Rosalindes gelauscht hatten, blickten sich zweifelnd an. Warum sollte die<br />
junge Frau Zippel helfen wollen? Denn natürlich hatte Rosalinde ihre<br />
geheimen Gefühle zu dem Schneider nicht erwähnt.<br />
»Weiter!« knurrte Hübeldübel, obwohl er sich das Ende schon denken<br />
konnte.<br />
Zu Hause wartete eine große Überraschung auf Rosalinde. Auf ihrem<br />
Tisch lagen nicht, wie so oft, Gummibärchen und Honigwaben, sondern<br />
drei große Klumpen Salz! Erschreckt hatte Rosalinde das Salz unter<br />
ihrem Bett versteckt, denn sie wusste nicht, was sie damit anfangen<br />
sollte. Im frühen Morgengrauen war sie dann zum Scherbenpass aufge-<br />
brochen, um die beiden Wabbelanier zu holen. Unterwegs war sie von<br />
110
stachelländischen Wegelagerern überfallen worden. Daher auch ihre ver-<br />
krustete Platzwunde über dem Auge. Aber die Räuber hatten schnell von<br />
ihr abgelassen, als sie merkten, dass bei ihr nichts zu holen war.<br />
»Schön und gut«, brummte Plumplum nach einer Weile, »warum aber<br />
um alles in der Welt solltest du ausgerechnet Zippel helfen wollen?«<br />
Rosalinde hatte diese Frage schon erwartet und sich auf dem Weg<br />
hierher alle möglichen Antworten ausgedacht. Jetzt, wo es darauf<br />
ankam, fiel ihr keine der Ausreden mehr ein. Die Nacht war schon her-<br />
eingebrochen, und so konnten die beiden Recken nicht sehen, wie die<br />
junge Frau errötete, als sie leise sagte: »Ich mag ihn eben.«<br />
Hübeldübel hustete verlegen. Plumplum nestelte an seinen Jacken-<br />
knöpfen herum. Beide hatten denselben Gedanken: 'Was konnte eine<br />
Frau an dem spillerigen Zippel finden? Andererseits, wenn man sich die-<br />
se magere, zerlumpte Stachelländerin ansah!' Ohne sich abzusprechen<br />
fassten die beiden Freunde den Entschluss, der jungen Frau zunächst zu<br />
glauben. Sollten sie dennoch in eine Falle gelockt werden, würden sie<br />
sich schon durchkämpfen.<br />
Rosalinde stand auf. »Wir müssen uns beeilen«, drängte sie, »dann<br />
erreichen wir noch vor Morgengrauen die Stachelburg.«<br />
Und so marschierten sie los: zwei vor Kraft und Ungeduld strotzende<br />
Heißsporne und eine unterernährte Stachellanderin. Tollkühn hatten sich<br />
die drei vorgenommen, einen Schneider aus der Gewalt des Krtzkrr Krie-<br />
ger zu befreien und den legendären Wabbelstein nach Wabbelburg<br />
zurückzubringen. Unheilvoll verschlang die hohe Schlucht des Scherben-<br />
passes die wild Entschlossenen.<br />
111
Scherben und Schollen<br />
Dumpf hallten die Schritte der drei Wanderer an den Felswänden<br />
hoch. In spielerischer Laune ließen die dahin jagenden Wolken ab und zu<br />
den Mond durchscheinen, der die nächtliche Szene kurzzeitig erhellte<br />
und den Wanderern den weiteren Weg zeigte. Zunehmend wurde der<br />
Boden von Geröll, dann von Splittern und Scherben bedeckt. Ein kra-<br />
chendes und reißendes Geräusch gewann an Lautstärke. Streckten sich<br />
die Felsen bis dahin glatt und steil in die Höhe, so veränderten sie all-<br />
mählich ihr Aussehen: spitze und schroffe Ecken und Kanten stachen in<br />
die Lüfte, und bald mussten die Wanderer sich arg vorsehen, damit sie<br />
sich an den scharfen Rändern nicht verletzten. Je weiter sie kamen,<br />
desto vorsichtiger mussten sie ihre Schritte setzen: der Boden war über-<br />
sät mit Scherben aus Schiefergestein, die wie zerbrochene Schiefertafeln<br />
aussahen, wie sie früher in den Schulen verwendet wurden. Schon<br />
segelten krachend und splitternd die ersten Tafeln von den Felshöhen.<br />
Das Gebirge, das aus reinem Schiefer zu bestehen schien, stöhnte unter<br />
einem inneren Druck. Explosionsartig rissen und platzten Schieferstücke<br />
aus den Plattformen und Hängen. Tellergroße Brocken sprengten in<br />
unregelmäßigen Abständen ab und schlugen krachend auf den schmalen<br />
Pass. War das Jonglieren auf den lose herumliegenden Tafeln schon<br />
schwierig genug, so bereiteten die herabstürzenden scharfkantigen Zie-<br />
geln den Wanderern zusätzliche Mühe, denn sie mussten schnell und<br />
geschickt ausweichen. Bei einem dieser Fluchtsprünge landete Hübeldü-<br />
bel auf einem Haufen loser Schiefertafeln, der unter dem Gewicht des<br />
Hünen nachgab. Hübeldübel verlor das Gleichgewicht, schlitterte hilflos<br />
über das Geröll und ratschte sich an dem spitzen Gestein die Jacke auf.<br />
Wütend brüllte der Gepiesackte einen seiner wüstesten Seemannsflüche<br />
in die Schlucht. Daraufhin entlud sich ein wahres Gewitter aus der Höhe.<br />
Schiefertafeln und -brocken platzten aus dem Gestein, und mit Donner-<br />
getöse brach eine Lawine aus Scherben, Splittern und metallisch glän-<br />
zendem Gestein über die schmale Schlucht. Wie ein Wolke verdunkelte<br />
die Lawine den Pass. Als all das Geröll und der Schotter schließlich auf-<br />
112
schlug, puffte eine Staubwolke nach allen Seiten und nahm jede Sicht.<br />
Nach gut einer Viertelstunde – das letzte Knacken und Reißen war<br />
verklungen – meldete sich als erster Plumplum. »Ist außer mir noch<br />
jemand am Leben?« brüllte er und grub sich mit den bloßen Händen aus<br />
einem Haufen Scherben. Aus unzähligen Kratz- und Risswunden troff<br />
Blut über sein Gesicht und seine Arme. Eine dicke Staubschicht hatte<br />
sich auf seine Haut gelegt. Zusammen mit den Blutspuren entstellten sie<br />
den Wabbelanier zu einer grässlichen Horrorgestalt.<br />
»Wenn mich nicht alles täuscht, lebe ich auch noch«, tönte es von<br />
anderen Ende des Scherbenhügels. Hübeldübel hatte sich zwar beim<br />
Ausrutschen den Fuß verstaucht, war aber bei seiner Rutschpartie aus<br />
dem Gefahrenbereich der Lawine geschlittert. Auch er war mit einer fet-<br />
ten Staubschicht überdeckt. »Ist Rosalinde bei dir?« fügte er hinzu und<br />
konnte ein leichtes Zittern seiner Stimme nicht verheimlichen.<br />
Rosalinde antwortete selbst. Behände hatte sie sich an die Felswand<br />
gedrückt, und die herabsausenden Trümmer waren an ihrem dünnen<br />
Körper vorbeigeprasselt.<br />
»So wie wir aussehen«, rief sie, »können wir gut als Kohlenverkäufer<br />
durchgehen.« Denn auch Rosalinde war schwarz vor Staub.<br />
Vorsichtig kletterte sie über den Scherbenhügel zum Ende des Pas-<br />
ses, wo Hübeldübel wartete. Auch Plumplum kam über den Berg der<br />
Trümmer gekrochen wie ein Monster aus einer Fabelwelt. Erleichtert<br />
lachte er die anderen beiden an, doch diese zuckten vor der entsetzli-<br />
chen Grimasse zurück.<br />
»Was ist los?« fauchte Plumplum, »habe ich den Aussatz?« Rosalinde<br />
reichte ihm ihren kleinen Handspiegel. »Aaah!« brüllte der Haudegen<br />
und rollte mit den Augen. Sein Bauch begann zu wabbeln. Die Spannung<br />
über die überstandene Gefahr entlud sich in einem unmäßigen Geläch-<br />
ter, hervorgerufen durch sein entsetzliches Konterfei in dem kleinen blin-<br />
den Spiegel.<br />
Wie nicht anders zu erwarten, wurde Hübeldübel von dem Gelächter<br />
seines Freundes angesteckt. Vor Vergnügen schlugen sie sich gegensei-<br />
tig auf die Schultern und tanzten täppisch im Kreise herum. Von dem<br />
mächtigen Wabbeln der Recken wurde der zurückliegende Scherbenpass<br />
113
so sehr erschüttert, dass eine zweite Schieferlawine in die Schlucht hin-<br />
untertoste.<br />
'Was für Kindsköpfe', wunderte sich Rosalinde, aber gleichzeitig spür-<br />
te sie eine warme Zuneigung zu den beiden stämmigen Haudegen, die<br />
sich vor Lachen nicht wieder einkriegen konnten.<br />
Es ging weiter. Nur spärlich beleuchtete der fahle Mondenschein den<br />
Weg. Ab und an sperrten vertrocknete Distelbüsche den Durchgang.<br />
Dann mussten sie sich ins Feld schlagen und über das unwegige Gestein<br />
einen Pfad suchen. Längst hatte der modrige und säuerliche Gestank<br />
sich in die Nasen und Kleider der beiden Recken eingenistet. »Wie bra-<br />
ckiges Wasser nach vier Wochen Fahrt«, murmelte Hübeldübel, dem<br />
schon wieder Erinnerungen aus seiner Seemannszeit hochkamen. »Und<br />
jeden Tag Dörrfisch«, fügte er hinzu. Plötzlich blieb er stehen und<br />
schnupperte in die Luft. »Beim Klabautermann«, wunderte er sich, »es<br />
riecht nach Wasser. Und zwar nach frischem, eisgekühlten, sprudelnden<br />
Qellwasser.«<br />
Wir nähern uns dem Eisschollenfluss«, erklärte Rosalinde. »Er ist<br />
weder tief noch sehr breit. Trotzdem ist es sehr gefährlich, ihn zu über-<br />
queren, denn er ist mit Eisschollen bedeckt, die einen mit sich reißen<br />
können, und die Wassertemperatur liegt viele Grade unter dem Gefrier-<br />
punkt. Dass der Fluss nicht zufriert, liegt an der großen Geschwindigkeit,<br />
mit der er sich ins Tal wälzt. Drunten im Tal verschwindet er in einer<br />
Erdspalte und tritt, jedenfalls in Stachelland, nicht wieder hervor. Es gibt<br />
Stachelländer, die in der Erdspalte unterirdische Höhlen vermuten mit<br />
unvorstellbaren Schätzen. Man munkelt von riesigen Salzvorkommen.<br />
Aber bisher ist jede Expedition dahin spurlos verschwunden. Manchmal,<br />
wenn die wöchentlichen Salzrationen ausbleiben oder gekürzt werden,<br />
treibt der Heißhunger einige Stachelländer in die Spalte. Bisher jedoch<br />
ist noch nie jemand zurückgekommen.«<br />
Zum ersten Mal hörten Plumplum und Hübeldübel von der Gier der<br />
Stachelländer nach Salz. Dass diese Gier eine lebensnotwendige Sucht<br />
war, ahnten sie in diesem Augenblick noch nicht.<br />
114<br />
»Mmh, mmh«, brummte Plumplum.<br />
»Was ist los?« fragte Hübeldübel.
»Ach, ist nur so eine Schnapsidee«, antwortete Plumplum, aber man<br />
merkte ihm an, dass diese Idee ihn noch weiter beschäftigte.<br />
Nicht nur der frische Wind veränderte die Luft, sondern auch eine<br />
feuchte Kälte, die die drei Wanderer frösteln machte. Das Krachen und<br />
Knacken von brechenden und sich stoßenden Eisschollen schwoll an.<br />
Rosalinde beschleunigte ihren Schritt, und nach einer kurzen Wegstrecke<br />
erreichten sie das Ufer des Eisschollenflusses. Die junge Führerin hatte<br />
nicht zuviel versprochen. Schwere Eisschollen bedeckten fast das ganze<br />
Wasser, türmten sich zu kurzlebigen Gebirgen, zerbrachen krachend und<br />
trieben stoßend und reibend in das Tal. Da das glitzernde Eis den schwa-<br />
chen Mondenschein reflektierte, lag ein flimmerndes diffuses Licht über<br />
dem Flussbett.<br />
»Wo ist denn die Brücke?« fragte Plumplum und sah sich vergeblich<br />
nach allen Seiten um.<br />
»Was für eine Brücke?« fragte Rosalinde zurück, »glaubt ihr etwa, ein<br />
Stachelländer würde sich die Mühe machen, eine Brücke zu bauen?«<br />
Hübeldübel kniff die Augen zusammen: »Dann brauche ich ja wohl<br />
auch nicht zu fragen, wo das Boot oder eine Fähre ist.«<br />
»Sehr richtig, Herr Kapitän«, spöttelte Rosalinde, »leider hat die<br />
Schiffsmannschaft gerade Urlaub und vergnügt sich in den Bergen beim<br />
Skilaufen und Edelweißpflücken.«<br />
Verärgert glotzte Plumplum die magere Frau an. »Macht sich hier<br />
etwa jemand über uns lustig?« brüllte er und puffte in einer plötzlichen<br />
Aufwallung die Stachelländerin an. Rosalinde trudelte von dem Stoß und<br />
wäre ins eisige Wasser gefallen, hätte Hübeldübel sie nicht geistesge-<br />
genwärtig aufgefangen. Plumplum bekam einen roten Kopf. Er schämte<br />
sich zutiefst für seine Unbeherrschtheit.<br />
»Schon gut«, beschwichtigte Rosalinde den Heißsporn, als sie sah,<br />
wie peinlich es ihm war. Denn trotz dieses eigenartigen Vorfalls war ihr<br />
Vertrauen zu den Wabbelaniern gewachsen. Die beiden konnten noch so<br />
kriegerisch tun, im entscheidenden Augenblick würden sie sie nicht im<br />
Stich lassen.<br />
»Wir müssen über die Eisschollen ans andere Ufer springen«, klärte<br />
sie die Recken auf.<br />
115
»Aha«, schnaufte Hübeldübel, »das also ist der Trick. Während du<br />
leichtfüßig über die Schollen tanzt, versinken wir beide im Wasser und<br />
ertrinken oder erfrieren. Wir sind doch viel zu schwer für die Schollen.«<br />
Rosalinde betrachtete sich die beiden schwergewichtigen Haudegen<br />
und musste zugeben, dass der Einwand nicht unberechtigt war.<br />
»Warum waten wir nicht durch das Wasser ans andere Ufer?« schlug<br />
Plumplum vor, »schließlich ist der Fluss nicht tief.«<br />
Rosalinde schüttelte den Kopf: »Wie Hübeldübel schon sagte: ihr<br />
würdet erfrieren und mit den Schollen in das Tal gerissen werden.«<br />
Fröstelnd überlegten die drei, was zu tun sei. Schließlich ergriff<br />
Hübeldübel das Wort: »Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich nehme<br />
Plumplum auf den Rücken und gehe durch den Fluss. Sollte ich es nicht<br />
bis zum anderen Ufer schaffen, kann Plumplum abspringen. Er hat dann<br />
noch genug Wärme und Energie, um den Rest zu bewältigen. Dann ist<br />
wenigstens einer von uns drüben und kann Zippel befreien. Und damit<br />
basta. Kein Wort mehr. Ahoi.«<br />
Wenn Hübeldübel einen Satz mit Ahoi beschloss, war kein Wider-<br />
spruch mehr möglich. Zähneknirschend machte Plumplum sich bereit.<br />
»Ja seid ihr denn verrückt geworden?« stammelte Rosalinde, »es hat<br />
bisher nur einen Menschen gegeben, der das geschafft hat. Und zwar<br />
der stärkste und abgehärtetste Soldat in Stachelland: Hauptmann Blei-<br />
fuß.«<br />
»Na also«, rief Hübeldübel und nahm den kugelrunden Plumplum auf<br />
die Schultern.<br />
»Leider hat es nicht so gut geklappt«, beeilte sich Rosalinde,<br />
»wochenlang hat Bleifuß danach mit Fieber im Bett gelegen, und ein<br />
Bein war so erfroren, dass es ihm amputiert werden musste.«<br />
»Aus dem Weg!« herrschte Hübeldübel sie an und stapfte in die kalte<br />
Flut. Seine Zähne klapperten zusammen. Der Kälteschock fuhr wie ein<br />
scharfes Messer in seine Beine. Die ersten Schollen stießen an seine<br />
Hüften und schnitten Löcher in seine Kleidung. Mit wütender Entschlos-<br />
senheit watete der Hüne weiter. Der Strom riss an seinem dampfenden<br />
Körper. Bald stand ihm das Wasser bis zur Brust. Plumplum zog seine<br />
Beine hoch, doch seine Stiefel berührten schon die Wasseroberfläche.<br />
116
Verzweifelt spürte er, wie die Kräfte seines Freundes nachließen, wie die<br />
Bewegungen steifer und träger wurden. Dabei hatten sie noch nicht ein-<br />
mal die Mitte des Flusses erreicht. Mit Entsetzen beobachtete Rosalinde,<br />
wie ein Berg aus zusammengeschachtelten Eisschollen auf Hübeldübel<br />
zutrieb. »Aufgepasst!« rief sie, doch der Hüne hatte den Eisberg schon<br />
bemerkt und hielt ihn in der letzten Sekunde mit seinen keulenförmigen<br />
Armen auf. Keuchend umruderte er den Eisberg. Sein Gesicht war weiß<br />
vor Kälte, blauschwarz pressten sich seine Lippen zusammen. Wie eine<br />
Dampfmaschine setzte er Schritt für Schritt, immer nur einen Gedanken<br />
im Kopf: ich muss durch, ich muss durch. »Verfluchte Idee!« brüllte<br />
Plumplum auf dem Rücken des Hünen. Er merkte, dass sein Freund sei-<br />
ne Beine nur noch mechanisch setzte, dass der sture Wille langsam<br />
einer erlahmenden Teilnahmslosigkeit wich. Die Bewegungen wurden<br />
langsamer und unkontrollierter. »Weiter!« brüllte er und hieb auf<br />
Hübeldübel wie auf einem Reittier ein. Hübeldübel stieß einen krächzen-<br />
den Laut aus und nahm seinen Trott wieder auf. Die Mitte des Flusses<br />
hatten sie hinter sich, das gegenüberliegende Ufer in greifbarer Nähe.<br />
Da blieb der Hüne stehen, verdrehte die Augen und atmete röchelnd ein<br />
letztes Mal tief auf. Er schwankte, griff hilflos mit den Händen in die Luft<br />
und verlor das Bewusstsein.<br />
117
Der Stachelwurz<br />
Bevor der erste Hahn in Stachelburg anhob, seine Weckrufe zu krä-<br />
hen, waren schon zwei Aasgeier von den spitzen Stacheltürmen aufge-<br />
flogen und kreisten nun über Rosalindes Hütte. Fette Beute schienen sie<br />
in der armseligen Behausung zu vermuten, denn nach einigen Erkun-<br />
dungsrunden landeten sie auf dem Dach der Hütte und gierten mit<br />
scharfem Blick durch das schräge Dachfenster. Das Bild, das sich ihnen<br />
bot, sah tatsächlich nach sicherer Beute aus: auf dem Bett Rosalindes<br />
lag eine hünenhafte Gestalt, vollständig bewegungslos, kalt und steif.<br />
Eine Decke aus unzähligen Flicken war über den leblosen Körper<br />
gestreift und ließ nur ein leichenblasses Gesicht hervorschauen. Neben<br />
der Bettstatt mühte sich ein kugelrunder muskulöser Mann ab, Leben in<br />
die Totengestalt zu bringen. Ruhelos rubbelte er den kalten Körper mit<br />
der Decke ab, dann wieder presste er den birnenförmigen Brustkorb, um<br />
die Atemtätigkeit einzuleiten. Schließlich verabreichte er dem Wehrlosen<br />
ein paar kräftige Ohrfeigen, um die Blutzirkulation anzuregen, eine<br />
etwas fragwürdige Methode. Plumplum, der dazu dauernd hustete und<br />
vor Heiserkeit nur krächzen konnte, wurde schließlich von Rosalinde<br />
weggeschoben, die einen Becher mit dampfendem Kräutertee an die Lip-<br />
pen des erstarrten Hübeldübel setzte. Tropfen für Tropfen flößte sie dem<br />
Recken ein, der kein Lebenszeichen von sich gab. Mit einem Tuch, das<br />
sie mit dem Kräutertee benetzt hatte, rieb sie seine Schläfen und seine<br />
Stirn.<br />
»Es gibt nur ein Medikament, das ihm noch helfen kann«, hustete<br />
Plumplum, »und zwar ein halber Liter Muntermacher.«<br />
»Was ist ein Muntermacher?« fragte Rosalinde.<br />
»Och«, wand sich der Kugelbäuchige, »nur so ein bißchen Rum aus<br />
Jamaika und viel Honig dazu.«<br />
Rosalinde überlegte. »Vielleicht geht es ja auch mit unserem Stachel-<br />
wurz. Aber ich habe keinen Honig mehr.«<br />
»Stachelwurz?« entsetzte sich. Plumplum, »willst du ihn endgültig<br />
vergiften?«<br />
118
»Aber nein«, wehrte Rosalinde ab, und sie sah besorgt auf Hübeldü-<br />
bel hinunter, der keine Reaktion auf den Tee zeigte. »Es ist ein hochpro-<br />
zentiger Kräuterschnaps aus den Stacheln und Wurzeln meiner Pflanzen.<br />
Wir müssen es ausprobieren.«<br />
Während Plumplum noch unschlüssig auf und ab stapfte, hatte Rosa-<br />
linde schon ein kleines Fläschchen mit einer glasklaren Flüssigkeit her-<br />
vorgezaubert. Vorsichtig zog sie den Korken aus dem Flaschenhals und<br />
ging an das Bett. Plumplum stellte sich ihr in den Weg.<br />
»Halt!« rief er aufgeregt, »zuerst muss ich das Zeugs prüfen. Es<br />
steht zuviel auf dem Spiel.« Noch bevor Rosalinde protestieren konnte,<br />
nahm er ihr das Fläschchen aus der Hand und setzte es an den Hals.<br />
»Um Himmels Willen«, schrie die junge Stachelländerin und fiel dem<br />
Heißsporn in den Arm. »Man darf nur daran riechen! Zum Trinken muss<br />
es verdünnt werden!«<br />
Es war schon zu spät. Plumplum hatte einen ordentlichen Schluck<br />
getan. Die halbe Flasche war leer. »Aaah!« brüllte er vergnügt, »nicht<br />
übel. Ein rechter Rachenputzer.« Dann wurde ihm schwindelig. Die<br />
Augen traten ihm aus den Kopf, seine Haare sträubten sich wie bei<br />
einem fauchenden Kater, heiße Tränen kullerten über seine Wangen, und<br />
er japste und hechelte mit pfeifenden Geräuschen nach Luft. In seinen<br />
Ohren sauste es wie bei einem hereinbrechenden Tornado. Das Kerzen-<br />
licht flimmerte vor seinen Augen, der Raum drehte sich, und schwankte.<br />
Sein keuchender Atem verpestete in krampfartigen Stößen die Luft mit<br />
einem beißenden und ätzenden Dampf, der aus seiner Lunge schlug. In<br />
Sekundenschnelle verwandelte sich sein Tage alter Stoppelbart in<br />
schneeweiße Borsten, die mit einem trockenen Knistern ausfielen und<br />
wie Schnee den Boden bedeckten. Schweißtropfen rannen ihm über den<br />
Hals und in die Schuhe. Panische Angstzustände ließen ihn bibbern und<br />
frösteln. Sein Gehirn wurde von Halluzinationen gemartert, in denen<br />
feurige Stacheltiere auf ihn herabfuhren mit flammenden Zungen und<br />
meckerndem Gelächter. Plumplum riss seinen Kragen auf. »Luft!«<br />
krächzte er erstickend. Rosalinde hatte schon die Tür und das Fenster<br />
geöffnet, doch der modrige Gestank, der hereinwaberte, verschlimmerte<br />
die Atemnot des Recken nur noch. Unangekündigt versagten seine Beine<br />
119
ihren Dienst. Plumplum rutschte auf den Boden. Dort beruhigte er sich<br />
langsam.<br />
Rosalinde hatte während des Anfalls keinen Augenblick Hübeldübel<br />
aus den Augen gelassen. Immer noch lag er wie tot auf dem Bett. Die<br />
magere Frau, für die es kein Zurück mehr gab, hielt das Fläschchen vor<br />
die Nase des Hünen. Nach einer endlosen Minute regte sich etwas.<br />
Hübeldübels Nasenflügel begannen zu zucken. Er schlug die Augen auf<br />
und schnupperte. Sein verschleierter Blick fiel auf Rosalinde, die sich tief<br />
über ihn gebeugt hatte. »Melanie?« flüsterte Hübeldübel verwirrt und<br />
richtete sich halb auf. Verwundert trat Rosalinde zurück. Schon wieder<br />
diese Melanie. Wer war sie? In Hübeldübels Blickfeld glitt das Fläschchen<br />
mit dem durchdringenden Geruch. Mit einer automatischen Bewegung<br />
griff der Hüne danach, und bevor Rosalinde richtig begriff, was passierte,<br />
hatte er den ganzen Rest des Stachelwurzes hinuntergeschluckt.<br />
»Ahoi!« hustete er, »nicht übel. Ein rechter Muntermacher.« Er warf<br />
die Decke zurück und sprang auf. »He, was hast du mit meinem Freund<br />
gemacht«, fragte er und wies auf den noch immer keuchenden<br />
Plumplum. »Überhaupt, wo bin ich eigentlich? Was ist passiert?«<br />
Aufmerksam beobachtete Rosalinde ihn. Gleich würde er von demsel-<br />
ben Anfall geschüttelt werden wie sein kugelbäuchiger Freund. Es konn-<br />
te nur noch Sekunden dauern.<br />
Doch nichts dergleichen geschah. Munter pfiff Hübeldübel einen wie-<br />
genden Shanty und stapfte voller Tatendrang durch die Stube. Plötzlich<br />
blieb er stehen. Seine Augen röteten sich. Wie unter einem Zwang<br />
musste er tief einatmen. Dann prustete er los. Ein Nieser nach dem<br />
anderen krachte aus seiner Brust und seiner Nase. Schon beim ersten<br />
»Hatschi!« pustete er die Kerze aus. Zwanzig mal donnerten seine Nie-<br />
ser wie Geschützfeuer durch die Hütte. Mit wildem Flügelschlag flüchte-<br />
ten die Geier auf dem First vor den zerstörerischen Niesausbrüchen des<br />
wabbelanischen Haudegen. Rosalinde rettete sich in ihren kleinen Garten<br />
und wartete dort das Ende des Gewitters ab. Beim zwanzigsten Prusten<br />
schien Hübeldübel der Schädel zu platzen. Er holte noch einmal tief Luft,<br />
dann fiel er kopfüber auf die Dielen. Es dauerte zehn Minuten, bis sein<br />
Geist sich entschloss, in diesem Leben doch noch einige Husarenstücke<br />
120
und Abenteuer zu erleben.<br />
Abwechselnd berichteten Rosalinde und Plumplum ihm nun, was bis<br />
dahin geschehen war. Nachdem ihm im Eisschollenfluss die Beine steif-<br />
gefroren waren, hatte er das Bewusstsein verloren und war in die eisi-<br />
gen Fluten gestürzt. Plumplum hatte noch seinen Arm ergreifen können<br />
und versuchte, ihn ans rettende Ufer zu ziehen. Da Plumplum aber gut<br />
zwei Köpfe kleiner war als der Hüne, reichte ihm das Wasser bis zur<br />
Nase. Auf Zehenspitzen tastete er sich vor, wurde von den reißenden<br />
Eisschollen umgestoßen und trieb, Hübeldübel fest an der Hand, selber<br />
hilflos mit der Flut. Schon spürte auch er, wie die beißende Kälte in seine<br />
Glieder kroch und seine Kräfte erlahmen ließ. Während Plumplum auf<br />
eine scharfe Flussbiegung zutrieb, war Rosalinde behände über die Eis-<br />
schollen gesprungen und lief am anderen Ufer geschwind mit. An der<br />
Flusswindung sah sie ihre Chance, die beiden zu retten. Plumplum, der<br />
sich kaum noch bewegen konnte, trieb direkt auf die Biegung zu. Rosa-<br />
linde konnte ihn an der Hand packen und an das Ufer ziehen. Glückli-<br />
cherweise hatte Plumplum noch genügende Kraftreserven, um sich und<br />
Hübeldübel auf das Land schleppen zu können, denn Rosalinde hätte die<br />
beiden nicht aus eigener Kraft herausziehen können.<br />
Schnell hatte Plumplum seinem erkalteten Freund die nassen Kleider<br />
ausgezogen und ihn in den Umhang Rosalindes eingewickelt. Dann hatte<br />
er ihn auf die Schultern genommen, und im Eilmarsch waren sie nach<br />
Stachelburg vorgerückt. Die Torwachen an der Stadtmauer hatten Rosa-<br />
linde geöffnet, da sie ja eine unverdächtige Stachelländerin war.<br />
Plumplum war, mit seinem bewusstlosen Freund auf dem Rücken, aus<br />
einem Gebüsch gesprungen und hatte nicht viel Federlesens mit der Tor-<br />
wache gemacht. Mit zwei Faustschlägen hatte er sie in das Reich der<br />
Träume befördert, sie blitzschnell mit ihren eigenen Gürteln gefesselt<br />
und sie in das Gebüsch vor der Stadtmauer geworfen. Zuvor hatte er<br />
ihnen noch die Schlüssel zum Tor abgenommen. Die ganze Aktion hatte<br />
nur drei kurze Atemzüge lang gedauert. Plumplum hatte es noch nicht<br />
einmal für nötig gehalten, dabei seinen Freund von der Schulter zu neh-<br />
men. Eine nicht zu bezähmende Wut reizte seinen Bauch, und er blub-<br />
berte so unheilvoll, dass Rosalinde sich zu fürchten begann. Plumplums<br />
121
Gedanken waren nur bei seinem steifen Freund auf seinem Rücken. Soll-<br />
te es ihnen nicht gelingen, ihn wieder zum Leben zu erwecken, würde er<br />
Stachelburg in eine Wüste verwandeln, aus der sogar die Ratten flüchten<br />
würden.<br />
Bei dem Vorfall am Stadttor hatte Rosalinde eine Ahnung davon<br />
bekommen, mit welch brachialer Gewalt diese wabbelanischen Kinds-<br />
köpfe sich durchschlagen konnten, und die nahenden Ereignisse sollten<br />
ihre Ahnungen mehr bestätigen, als ihr lieb war.<br />
»Wir müssen uns sputen«, mahnte sie. Schon holperten die ersten<br />
Karren an ihrer Hütte vorbei. Es war besser, unbemerkt von den Einwoh-<br />
nern in die Stachelburg zu gelangen. Sie hatten die Hütte bereits verlas-<br />
sen, als Plumplum stehenblieb. »Die Salzklumpen!« rief er. »Laßt uns die<br />
drei Salzklumpen mitnehmen.«<br />
Zwar war Rosalinde nicht ganz einverstanden, denn der Besitz von<br />
Salzklumpen bedeutete eine große Gefahr, aber sie ging noch einmal<br />
zurück und holte den Schatz unter ihrem Bett hervor. Verstohlen leckte<br />
sie ein paarmal daran. Ihr war etwas elend und bange zumute. In solch<br />
trüben Stimmungen halfen ihr merkwürdigerweise ein paar Krümel Salz.<br />
Sie konnte es sich selbst nicht erklären, und manchmal fürchtete sie, in<br />
eine ebensolche unheilvolle Abhängigkeit zu geraten wie die meisten der<br />
Stachelländer.<br />
Sie hatten Glück. Unbemerkt von den herumstreunenden Strauchdie-<br />
ben und den frühen Marktfrauen erreichten sie das Tor zur Stachelburg.<br />
Am helllichten Tage hätten die beiden Wabbelanier ein großes Aufsehen<br />
verursacht und wären vor lauter Schwierigkeiten vielleicht nicht einmal<br />
bis an den Burgwall gekommen. So aber standen die drei vor dem fest<br />
verriegelten Tor und überlegten, wie sie sich am besten Einlass verschaf-<br />
fen konnten.<br />
122
Drei Salzklumpen<br />
»Wie sollen wir bloß hineinkommen?« jammerte Rosalinde. Besorgt<br />
schaute sie sich nach allen Seiten um. Jeden Moment konnte eine<br />
Patrouille vorbeikommen. »Wenn wir doch nur einen Schlüssel für das<br />
Türschloss hätten.«<br />
»Mal sehen«, hustete Plumplum, »vielleicht passt der Schlüssel, den<br />
ich der Torwache abgenommen habe.«<br />
Er zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schloss<br />
des schweren Eichentores. Doch, der Bart des Schlüssels blieb stecken<br />
und ließ sich nicht drehen. Mit Sicherheit waren auch von innen Riegel<br />
vorgeschoben, so dass es ohnehin keinen Zweck hatte.<br />
Eine alte Idee kam Plumplum wieder in den Sinn. »Wenn mich nicht<br />
alles täuscht«, überlegte er, »haben wir den Generalschlüssel in der<br />
Tasche.« Und er erläuterte den ändern beiden seinen Plan. Daraufhin<br />
steckte sich jeder einen der drei Salzklumpen in die Tasche. Hübeldübel<br />
trat zur Seite. Plumplum hob einen Stein vom Boden und schlug ihn an<br />
die Eichenbohlen, denn einen Türklopfer oder eine Klingel gab es nicht.<br />
Nichts rührte sich. Erneut schlug der Recke den Stein an die Tür, diesmal<br />
so heftig, dass die Bohle einen Riss bekam. Ein entferntes Rascheln ant-<br />
wortete ihm. Plumplum versteckte sich ebenfalls in eine Mauernische.<br />
Dumpfe Schritte näherten sich. Jemand schob einen Riegel zur Seite,<br />
und eine kleine Luke in dem Tor öffnete sich. Übellaunig steckte ein<br />
grüngesichtiger Soldat seine spitze Nase durch, die Luke.<br />
»Was ist los?« stänkerte er und plierte aus glubschigen Augen Rosa-<br />
linde an. Mit angehaltenem Atem verfolgten die Wabbelanier den Dialog.<br />
»Stech dich, krtzkrr!« fauchte Rosalinde den Torwächter an. »ich<br />
muss sofort zu Generalissimo Krieger. Mach, auf, du Penner!«<br />
Überrascht spuckte der Soldat galligen Schleim durch die Luke. Von<br />
der Seite hörte er ein merkwürdiges Geräusch. Wenn er das Geräusch<br />
gekannt hätte, hätte er augenblicklich die Luke zugeworfen und Zeter<br />
und Mordio geschrien. Hübeldübel und Plumplum wabbelten nämlich vor<br />
Heiterkeit, als sie die dreisten Worte Rosalindes vernahmen.<br />
123
Der Soldat fand das weniger witzig. Misstrauisch beäugte er die<br />
selbstbewusste Frau. Das war doch das Marktweib mit den eklig süßen<br />
Broten. »Du hast wohl Sehnsucht nach einem salzigen Kuss?« meckerte<br />
er anzüglich.<br />
»Und du hast wohl Sehnsucht nach vier Wochen Arrest bei Honig und<br />
Wackelpudding. Beeil dich, Zuckerbübchen!«<br />
Der Soldat wurde bleich vor Wut. Zuckerbübchen war eines der<br />
schlimmsten Schimpfwörter. War die magere Frau lebensmüde, oder<br />
steckte doch mehr dahinter?<br />
»Um was geht es denn?« fragte er lauernd.<br />
»Um die Ration«, flüsterte Rosalinde ihm vertraulich zu. Sie zog ihren<br />
Salzklumpen aus der Rocktasche und hielt ihn vor die Luke. Vor Gier fie-<br />
len dem Wächter schier die Augen aus dem Kopf. Er zog sich zurück und<br />
tuschelte mit einem zweiten Soldaten, der zur Torwache gehörte. In Sta-<br />
chelland mussten die Soldaten immer zu zweit auf Wache gehen, denn<br />
sie hatten sich auch noch gegenseitig zu bespitzeln und mussten dem<br />
Geheimrat Ziegenlippe fortlaufend Dossiers über ihre Kameraden ablie-<br />
fern.<br />
Nach kurzer Beratung schoben sie die eisernen Riegel zurück, dreh-<br />
ten einen Schlüssel im Schloss und stießen die Torflügel auf. Wie hungri-<br />
ge Wölfe stürzten sie sich auf Rosalinde und warfen sie zu Boden.<br />
Plumplum und Hübeldübel waren für den ersten Augenblick wie gelähmt<br />
von der unersättlichen Gier, mit der die heruntergekommenen Strolche<br />
die Taschen der verängstigten Frau durchwühlten. Schon begannen sie<br />
die Kleider Rosalindes zu zerreißen, als eisenharte Fäuste wie Schraub-<br />
zwingen ihre Nacken umklammerten und sie hochrissen. Der Griff war<br />
von solch unbarmherziger Härte, dass sie augenblicklich das Bewusst-<br />
sein verloren. Hübeldübel und Plumplum warfen die Desperados achtlos<br />
in eine Ecke. Dann stürmten sie durch das offene Tor. Schluchzend und<br />
ihre Kleider ordnend folgte ihnen Rosalinde. Ohne zu zaudern nahmen<br />
die Wabbelanier den Weg durch die Maulwurfsröhre. Mehrmals stieß der<br />
hünenhafte Hübeldübel sich den Kopf in dem gruftigen Schlauch, doch er<br />
spürte keinen Schmerz. Keuchend gelangten sie in den verwahrlosten<br />
Spiegelsaal. Überall auf dem Boden lagen betrunkene Soldaten herum<br />
124
und schliefen ihren Rausch aus. Von Krtzkrr Krieger und der Militärjunta<br />
keine Spur. In einer Ecke entdeckten sie den Bauchladen Zippels. Die<br />
Kiste war leer. Rosalinde stieg über die schnarchenden Fuselleichen<br />
direkt zu dem Aufgang, den Zippel ihr beschrieben hatte. Die Wabbela-<br />
nier folgten. Dabei streifte Plumplum versehentlich mit seinem Kugel-<br />
bauch einen der versoffenen Soldaten. Dieser öffnete die Augen,<br />
schluckte vor Schreck und wollte zu schreien anfangen. Geistesgegen-<br />
wärtig stopfte Plumplum ihm einen Becher in den Schlund und verpasste<br />
ihm einen Hieb, von dem er sich nicht mehr erholen sollte.<br />
Eilig stiegen sie die Treppe hinauf. Von diesem Hauptstachelturm<br />
zweigten noch kleinere Nebentürme ab, die schief in den Himmel ragten.<br />
Die Plattform des Turmes war schon in Sicht, als aus einem dunklen Sei-<br />
tengang plötzlich zwei besonders zerrissene Gestalten hervorsprangen.<br />
Es waren die Soldaten Geierblick und Reibstein, die das Verlies Zippels<br />
zu bewachen hatten. Mit langen spitzen Lanzen jagten sie auf die Wab-<br />
belanier zu. Geierblick zielte mit seiner Lanze direkt in die Augen<br />
Plumplums. Der Wabbelanier konnte sich nicht rühren, denn hätte er<br />
einen Schritt zurückgesetzt, wäre er die steile Treppe hinuntergestürzt<br />
und hätte sich das Genick gebrochen. Derweil war Hübeldübel mit Reib-<br />
stein beschäftigt. Plumplum riß sich den zweiten Salzklumpen aus der<br />
Tasche und hielt ihn vor das Gesicht. Die Lanzenspitze traf auf den<br />
Klumpen, durchbohrte ihn und sprengte ihn in tausend Stücke. Der Auf-<br />
prall hatte die Richtung des Lanzenstoßes abgelenkt. Um Haaresbreite<br />
sauste die scharfe Schneide an Plumplums Gesicht vorbei, zerschnitt<br />
sein Ohr und blieb federnd in der Wand stecken. Diesen Augenblick<br />
nutzte Plumplum, um den Soldaten zu packen. Mit seiner ungestümen<br />
Kraft ratschte er in zwei Streichen die Uniform Geierblicks auseinander<br />
und riss ihm Jacke, Gürtel und alle daran hängenden Waffen vom Leib.<br />
Da kam auch schon Reibstein herübergeschossen, befördert von dem<br />
gnadenlosen Fußtritt Hübeldübels. Auch er hatte den Soldaten entwaff-<br />
net. Reibstein trudelte jaulend auf Geierblick zu, der von dem Stoß mit-<br />
gerissen wurde. Beide stürzten kopfüber die Treppe hinab und blieben<br />
besinnungslos an deren Ende liegen. Die Wabbelanier aber waren nun<br />
bis an die Zähne mit Lanzen, Schwertern und Pistolen bewaffnet.<br />
125
Atemlos hasteten sie weiter. Am höchsten Punkt des Turmes hielten<br />
sie vor einer schweren Holztür. Sie schoben die Eisenriegel beiseite.<br />
Doch die Kerkertür war zusätzlich mit einem Schloss abgesichert. Wieder<br />
passte der Schlüssel nicht. Hübeldübel schob Rosalinde beiseite, nahm<br />
Anlauf und warf seinen gewaltigen Körper gegen die Bohlen. Das Schloss<br />
brach. Holzsplitter drangen in den rechten Oberarm des Hünen. Mit<br />
schmerzverzerrten Gesicht trat er zurück. Plumplum besorgte den Rest.<br />
Die Tür sprang auf.<br />
»Zippel!« brüllten die beiden Hüter des Wabbelsteins und wollten den<br />
Schneider umarmen. Sie stutzten. Ein sehniger, muskulöser und wetter-<br />
gegerbter Kerl stand in seiner ganzen Länge vor ihnen, die Arme in die<br />
Hüften gestemmt. »S'wabbelt!« brüllte er zurück, und die voluminöse<br />
Stimme erfüllte den ganzen Stachelturm. »Willkommen in meiner Palast-<br />
suite.«<br />
»Stech dich in die Beine«, lachte Plumplum und puffte den Schneider<br />
gehörig an, um ihn wie gewohnt über seine Glasnudelbeine stolpern zu<br />
lassen. »Autsch!« brüllte er gleich hinterher, denn Zippel war um keinen<br />
Zentimeter von der Stelle gewichen, so dass Plumplum wie ein Gummi-<br />
ball zurückprallte.<br />
»Ich fürchte, wir haben jetzt keine Zeit für solche Scherze«, mahnte<br />
Zippel. Nun erst gewahrte er Rosalinde, die in der zerborstenen Türöff-<br />
nung wartete. Rasch ging er auf sie zu. Fragend blickte sie ihn aus ihren<br />
klaren blauen Augen an. Plötzlich wurde er sich der Anwesenheit seiner<br />
Freunde bewusst. Er stockte. Dabei hatte er sich in den Stunden der<br />
Gefangenschaft alles so schön ausgemalt. Er würde sie einfach in die<br />
Arme nehmen. Vielleicht würde er sie sogar küssen. In den kurzen Minu-<br />
ten seines unruhigen Schlafes hatte er von ihren Augen und ihren Lippen<br />
geträumt. Und jetzt stand er wie ein Esel und stotterte linkisch ein paar<br />
dumme Dankesworte. Hübeldübel löste die verkrampfte Situation: »Ahoi<br />
junge Dame. Wie wär es, wenn mir jemand die Splitter aus dem Arm<br />
entfernen würde?«<br />
Während Rosalinde behutsam die Splitter aus dem Arm zog, verriet<br />
Zippel seinen Kameraden in knappen Worten das Versteck des Wabbel-<br />
steins. »Sechzig Schritte durch die Maulwurfsröhre, rechts eine Geheim-<br />
126
tür, hundertvierzig Stufen abwärts in die Salzhöhle. Dann ein loser Salz-<br />
turm in Form einer riesigen Eieruhr, dahinter das Loch mit dem Wabbel-<br />
stein.«<br />
Nachdem Rosalinde notdürftig den Arm verbunden hatte, schlichen<br />
sie wieder hinab zum Spiegelsaal.<br />
Um in den Spiegelsaal zu gelangen, mussten sie über die Körper<br />
Reibsteins und Geierblicks steigen. Kaum hatten sie diese Hürde genom-<br />
men, wollten gerade den Saal durchqueren, als ihnen ein höllisches<br />
Gelächter entgegenschallte. Mitten im Unrat des Saales stand, einem<br />
Bollwerk gleich, Hauptmann Bleifuß. Alle Ausgänge waren mit Soldaten<br />
besetzt. Der Ausgang zur Maulwurfsröhre war doppelt gesichert. Hier<br />
hatten Oberst Speiteufel und Geheimrat Ziegenlippe dreißig Söldner in<br />
Stellung gebracht. Alle Fluchtwege waren abgeschnitten.<br />
»Hoho!« brüllte Hauptmann Bleifuß, dessen Bein mit schmutzigen,<br />
blutgetränkten Lumpen verbunden war, und der sich inzwischen wieder<br />
humpelnd fortbewegen konnte. »Hoho, was für eine ehrenwerte Gesell-<br />
schaft. Können wir irgendwie behilflich sein?«<br />
Ein gehässiges Grölen antwortete ihm. Fünfzig Lanzenspitzen waren<br />
auf die vier gerichtet.<br />
Unerschrocken trat Hübeldübel einen Schritt vor und rief: »Gewiss,<br />
mein Freund. Für ein Schnupftuch wäre ich schon recht dankbar.« Zum<br />
Beweis krachte ein solch mächtiger Nieser aus seiner Brust, dass fast<br />
alle Funzeln des Saales ihr blakendes Leben aushauchten. In der plötzli-<br />
chen Dunkelheit waren nurmehr die Umrisse der Männer zu erkennen.<br />
»Der Humor wird dir gleich vergehen«, giftete Bleifuß, »hast wohl<br />
Bekanntschaft mit dem Eisschollenfluss gemacht, he?«<br />
»Nun«, höhnte Hübeldübel, »es geht doch nichts über ein frisches<br />
Bad. Es soll Leute geben, die dafür ihr Bein hergeben. Können wohl<br />
ihren eigenen Gestank nicht mehr aushalten. Hatschi!«<br />
Hauptmann Bleifuß schnappte nach Luft. Das war zuviel. Wütend riß<br />
er seine Pistole aus dem Halfter und richtete sie auf Hübeldübel. In einer<br />
blitzartigen Reflexbewegung hatte auch Hübeldübel seine erbeutete Pis-<br />
tole in Anschlag gebracht. Zur gleichen Zeit drückten beide ab. Es mach-<br />
te zweimal: Klick. Kein Schuss löste sich. Fluchend warf Bleifuß seine<br />
127
Waffe in die Ecke. »Achtung!« brüllte er, »jemand hat die Munition ent-<br />
fernt. Nehmt die Schwerter und Lanzen!« Ohne einen Augenblick zu<br />
zögern warf er mit seiner kolossalen Kraft seine Lanze gegen Hübeldü-<br />
bel. Hübeldübel duckte sich und sprang auf Bleifuß zu. Die Lanze ver-<br />
fehlte ihn, schoss in die Wand des Spiegelsaals, zersplitterte die Bohlen,<br />
krachte in das dahinterliegende Mauerwerk, wo sie funkensprühend zer-<br />
brach.<br />
Auch die übrige Meute hatte sich auf die Wabbelanier gestürzt. Rosa-<br />
linde war zitternd in eine dunkle Ecke gekrochen und hatte sich hinter<br />
Zippels Bauchladen versteckt. Von hier aus beobachtete sie den unglei-<br />
chen Kampf. Plumplum hatte schon drei Soldaten niedergeschlagen und<br />
war von sechs wild schreienden Söldnern umgeben, die aber ihre Lanzen<br />
nicht gebrauchen konnten, da sie sich in der Dunkelheit selbst abgesto-<br />
chen hätten. Auch Zippel verteilte Hiebe und Stöße und hielt sich mit<br />
seinen langen, sehnigen Armen etliche Stachelländer vom Leib. Doch auf<br />
die Dauer, das merkten beide schnell, waren sie der Übermacht unterle-<br />
gen. Es musste schon ein Wunder geschehen, um sie hier wieder heil<br />
herauszubringen.<br />
Der Kampf tobte. Nur Rosalinde bemerkte in der Hitze des Gefechts,<br />
dass einer im Saal fehlte: Generalissimo Krtzkrr Krieger. Er war wie vom<br />
Erdboden verschwunden. Ein lähmendes Entsetzen überfiel die verängs-<br />
tigte Frau. Was hatte Krieger vor? Sie schaute sich um. Hübeldübel war<br />
in einen gigantischen Kampf mit Bleifuß verwickelt. Beide waren durch<br />
ihre Wunden geschwächt, Hübeldübel durch die Splitter am Arm, Bleifuß<br />
durch Zippels Schlag mit der Kratzbürste. Vergeblich versuchte Bleifuß,<br />
seinen Gegner mit seiner gefürchteten Prothese niederzustampfen.<br />
Hübeldübel war zu flink. Andererseits konnte Hübeldübel den Haupt-<br />
mann auch nicht mit seinen Keulenarmen umfassen und ihn zerquet-<br />
schen, denn sein rechter Arm war von den Splitterwunden fast gelähmt.<br />
Plötzlich hörte der Hüne seinen Namen. Es war Rosalindes Stimme. War<br />
sie in Gefahr? Er drehte sich um. »Krieger ist verschwunden«, wimmerte<br />
sie, »wir müssen sofort zum Wabbelstein.«<br />
Da traf ihn wie ein Dampfhammer das bleigefüllte Holzbein des<br />
Hauptmanns. Hübeldübel brach zusammen.<br />
128
Mit heillosem Entsetzen beobachtete Rosalinde aus ihrer Ecke, was<br />
sie mit ihrem Ruf angerichtet hatte. Hübeldübel war ausgeschaltet.<br />
Plumplum, der zwar eine ganze Reihe von Soldaten erledigt hatte, würde<br />
es nun auch noch mit dem eisenharten Bleifuß zu tun bekommen. Und<br />
Zippel war mit seinen Kräften am Ende. Mit dem Mut der Verzweiflung<br />
sprang Rosalinde auf, hielt sich Zippels Kiste schützend vor die Brust<br />
und arbeitete sich bis zu dem bewusstlosen Hünen vor. Sie griff in seine<br />
Tasche und zog den dritten Salzklumpen heraus. Schon hatte Bleifuß<br />
Plumplum in die Mangel genommen, trieb ihn gnadenlos durch den Saal.<br />
Rosalinde zerbröckelte den Klumpen in hundert kleine Stücke. Dann<br />
stand sie auf und rief so laut sie konnte: »Salz! Hundert Stücke reinstes<br />
Salz!«<br />
Mit einem Schlag verstummten die Kampfgeräusche. Nur Bleifuß und<br />
Plumplum wälzten sich am Boden und schlugen aufeinander ein. Zippel<br />
lag keuchend und blutend unter einem Haufen Stachelländer, die gerade<br />
vorhatten, ihn zu fesseln. Der Kampf war praktisch entschieden. »Salz!«<br />
rief Rosalinde noch einmal. Sie öffnete ihre Hände und zeigte die glit-<br />
zernden Kristalle. Mit weit ausholender Gebärde warf sie die hundert<br />
Stücke über die Köpfe der Soldaten in den düsteren und verwüsteten<br />
Saal.<br />
129
Der Lohn der Gier<br />
Rosalindes Ahnungen, dass Krtzkrr Krieger etwas Grausames vorhat-<br />
te, bewahrheiteten sich in einem ganz anderen Sinn, als sie es sich je<br />
vorstellen konnte. Und nie würden sie und die Wabbelanier erfahren,<br />
was sich unten in der Tropfsteinhöhle abspielte, während oben im Spie-<br />
gelsaal der ungleiche Kampf tobte. Tief im Erdinneren, hundertvierzig<br />
Stufen abwärts, war die Natur außer Rand und Band geraten. Eisige<br />
Regenfälle strömten von den Kuppeln der Höhle, verdampften noch im<br />
Fall zu Wolken und Schwaden, die wabernd durch die Gewölbe trieben.<br />
Die Salzkegel, -türme und -zapfen waren zu mächtigen Stämmen ange-<br />
wachsen, die durch die munter plätschernden Rinnsale ständig zunah-<br />
men. Wie Tempelsäulen reihten sich die Salzgebilde aneinander, und die<br />
schmalen Gänge zwischen ihnen verengten sich zusehends. Viele der<br />
Säulen waren durch den starken Salzzufluss bereits so verdickt, dass sie<br />
sich mit den Nachbarsäulen vereinigten und einen undurchdringlichen<br />
Palisadenzaun bildeten. In den Kuppeln gewitterte ein Krachen und Rei-<br />
ßen, und wer genauer hingeschaut hätte, hätte zu seinem Entsetzen<br />
bemerkt, dass die Decke bebte und knarzte, dass mit gequältem Krei-<br />
schen die Felsen auseinanderrissen und aus den gezackten Spalten Eis-<br />
brocken polterten, die wiederum Bäche von Eiswasser freigaben. Die<br />
kathedralenartige Höhle, die durch den übermäßigen Salzwuchs schon<br />
merklich enger und kleiner geworden war, wurde von einer grellen glei-<br />
ßenden Lichtquelle erhitzt. Es konnte sich nur um den Wabbelstein han-<br />
deln, der die rasende Wachstumsbeschleunigung hervorrief. Und tat-<br />
sächlich war die Öffnung des Verstecks freigelegt worden, das Loch leer.<br />
Mit weit aufgeschlagenem Deckel ruhte der Schrein auf einem felsigen<br />
Altar, und das funkelnde Licht des Wabbelsteins warf seine elektrisieren-<br />
den Strahlen durch den unterirdischen Dom. Vor dem Schrein hockte ein<br />
uralter Mann. Schlohweiße Haare fielen ihm von den Schultern, und ein<br />
verfilzter grauer Bart verdeckte seine Brust. Wie versteinert verharrte<br />
der Greis in seiner verkrümmten Stellung. Nur ein trockenes Beben sei-<br />
ner Lippen verriet, dass sein Herz noch schlug, sein Blut noch nicht<br />
130
erkaltet war. Unter einem magischen Zwang waren seine blinden toten<br />
Augen auf das verzehrende Feuer des Wabbelsteins gerichtet. Seine<br />
Umwelt schien er völlig vergessen, verloren zu haben. Unablässig tropfte<br />
Salz- und Eiswasser auf seine Haare und seine Schultern, doch mit kei-<br />
nem Zucken ließ er erkennen, dass er sie überhaupt nur wahrgenommen<br />
hatte. Eine dicke Kruste aus Salzkristallen bildete sich langsam auf sei-<br />
ner Haut und schälte ihn ein. Seine Knie waren über und über mit Salz-<br />
ablagerungen bedeckt, an denen das Wasser herabtroff. Allmählich ver-<br />
wuchsen und verschmolzen seine verkrusteten Beine mit dem glitzern-<br />
den Höhlenboden. Noch verrieten einige durchschimmernde Fetzen sei-<br />
ner Kleidung die Herkunft und den Stand des Alten. Es war die Uni-<br />
formjacke des Generals Krtzkrr Krieger, die von dem rieselnden Salz<br />
Schicht um Schicht zugedeckt wurde.<br />
Ein fremdes Geräusch mischte sich plötzlich in das Stöhnen der ent-<br />
fesselten Natur. Begleitet von dem unrhythmischen Stoßen eines<br />
Stockes näherte sich ein humpelnder Schritt. Ein unmerklicher Ruck ging<br />
durch den steifen Körper des Alten. Kurz vor dem Wabbelstein verhielt<br />
der Schritt, und eine mitleidlose knochige Hand tastete den um Jahr-<br />
zehnte gealterten General ab.<br />
»Hörst du mich, Krtzkrr Krieger?« rief die Zöllnerin, denn sie war es,<br />
die furchtlos in den Bannkreis des Wabbelsteins getreten war. Ein Zittern<br />
verriet der alten Frau, dass Krieger in seinem Panzer aus Salz noch nicht<br />
erstickt war.<br />
»So also wird sich das Schicksal erfüllen«, rief sie ihm ins Ohr, und<br />
sie lachte freudlos auf. »Endlich bist du am Ziel deiner teuflischen Gier.<br />
Wie schmeckt der Lohn deines Hasses und deiner<br />
Menschenverachtung?«<br />
Mit kalten Fingern fuhr die Zöllnerin über die salzverkrusteten Lippen<br />
des Generals. »Ich weiß schon , was du denkst«, murmelte sie tonlos,<br />
»Wimmerst du? Winselst du? Oder befiehlst du herrisch: Bring mich hier<br />
heraus! Schließlich bist du meine Frau!«<br />
Ein grausiges Stöhnen gurgelte aus der Brust des Generals. Einzelne<br />
Salzbrocken fielen von der Uniformjacke.<br />
131<br />
»Ach ja«, fuhr die Zöllnerin unerbittlich fort, »wie solltest du mich
erkannt haben. Ich war ja noch eine junge Frau, als du mich nach Wab-<br />
belanien schicktest, um den Wabbelstein zu stehlen.«<br />
Das Zittern des vergreisten Generals verstärkte sich. Mit einer<br />
unmenschlichen Anstrengung versuchte Krieger, seinen Salzpanzer zu<br />
sprengen.<br />
»Fast hätte ich deinen Wunsch erfüllt«, fuhr die Zöllnerin unbeirrt<br />
fort, »jeden deiner Wünsche hätte ich erfüllt. So sehr habe ich dich<br />
geliebt. Doch auch ich war verloren, als ich den Schrein öffnete. Um<br />
dreißig Jahre war ich gealtert, als Königin Wabbeline mich fand. Doch sie<br />
hatte großes Mitleid mit mir. Aber es war noch etwas geschehen.«<br />
Prüfend tastete die Zöllnerin das verkrustete Gesicht des Generals. Er<br />
lebte noch und hörte sie. Kalte Schweißtropfen mischten sich in das<br />
unablässig tropfende Salzwasser. Die verbogene alte Frau nahm ihren<br />
Stock.<br />
»Jetzt kannst du es ja erfahren, Krtzkrr. Damals trug ich eine Tochter<br />
aus. Mein Leib hat sie vor den Strahlen des Wabbelsteins geschützt. Es<br />
ist unsere gemeinsame Tochter. Sie wird einen guten Mann bekommen.<br />
Keinen Stachelländer. Keinen Soldaten. Keinen Wegelagerer oder<br />
Strauchdieb. Es wird ein herzensguter Schneider aus Wabbelanien sein.«<br />
Bei den letzten Worten entrann ein hasserfülltes Krächzen der Brust<br />
des Generals. Seine blinden Augäpfel quollen aus ihren Höhlen und<br />
sprengten die verkrustete Schicht. Mit einem tierischen Grunzen spuckte<br />
der Diktator Salzklumpen aus, die er in seiner Gier gefressen hatte. Ein<br />
donnerndes Grollen antwortete ihm. Aus einem tiefen Spalt, der die<br />
Kuppel aufgetrennt hatte, strömten Wassermassen, die Eisschollen mit<br />
sich rissen. Einzelne Salzzapfen und -kegel brachen unter der Last der<br />
felsigen Decke zusammen. Von der Treppe, die zur Stachelburg hinauf-<br />
führte, schallten gehetzte Schritte, Kampfgetöse und wilde Schreie.<br />
Ohne Hast hob die Zöllnerin ihren Stock und bahnte sich humpelnd und<br />
schleifend einen Weg durch die anschwellenden Salzzapfen. Bald verlor<br />
sich ihr krummer Rücken in den feuchten Treibhausschwaden aus Dampf<br />
und Wassertropfen. Seit dieser Stunde wurde die Zöllnerin nicht mehr<br />
gesehen.<br />
132
Flucht<br />
Rosalinde war die erste, die die Tropfsteinhöhle erreichte. Nachdem<br />
sie oben im Spiegelsaal die hundert Stücke Salz über die Kämpfenden<br />
geworfen hatte, waren die Söldner wie ausgehungert über die Krümel<br />
hergefallen. Hauptmann Bleifuß, der das Ablenkungsmanöver sofort<br />
durchschaut hatte, hatte einen grässlichen Fluch ausgestoßen. Diesen<br />
Moment der Unachtsamkeit hatte Plumplum genutzt, um ihn niederzu-<br />
schlagen. Inzwischen war der unverwüstliche Hübeldübel, wenn auch<br />
schwankend, wieder auf die Beine gekommen. Unter der Führung Zip-<br />
pels flüchteten sie durch die Maulwurfsröhre. Vorher hatte sich Zippel<br />
noch, einer plötzlichen Eingebung folgend, seine leere Kiste um den Hals<br />
gehängt. Nach sechzig Schritten stoppten sie. Der Schneider tastete die<br />
rechte Wand ab. Sie hatten Glück. Die Geheimtür stand nur angelehnt<br />
und öffnete sich auf den Druck von Zippels Fingern. Ein schwacher Licht-<br />
strahl fiel in die Maulwurfsröhre. Plumplum schob Rosalinde und Zippel<br />
in den Treppenschacht. Er und Hübeldübel würden den Rückzug sichern.<br />
Und sie kamen auch schon. Der eisenharte Bleifuß, der nur kurz nie-<br />
dergegangen war, hatte die salzlutschenden Söldner brutal aus dem<br />
Spiegelsaal gejagt. Ihm war längst klar geworden, dass es inzwischen<br />
um das Überleben Stachelburgs ging. Mit erbarmungsloser Rohheit warf<br />
er seine Soldaten ins Gefecht. Stufe um Stufe kämpften sie sich vor, und<br />
die Wabbelanier mussten wohl oder übel zurückweichen, sonst wären sie<br />
erschlagen worden.<br />
Rosalinde, die die letzten Stufen mehr gestolpert als gestiegen war,<br />
blieb überrascht stehen. Mit ohrenbetäubendem Krachen brachen die<br />
Salzkegel in sich zusammen. Die Kuppeldecke war an mehreren Stellen<br />
geborsten. Eiswasser schwappte herunter. Der Boden war knöcheltief<br />
mit Wasser überflutet, auf dem Eisschollen dampfend auftauten. Zippel<br />
verlor keine Sekunde und watete zu dem Altar, auf dem der Wabbelstein<br />
seine Strahlen aussandte. Ohne auch nur einen Augenblick zu verweilen,<br />
warf er den Deckel des Schreins zu. Das gleißenden Licht fiel in sich<br />
zusammen. Fahl und leblos schimmerten die Salzgebilde. Mit dem<br />
133
Deckelschlag hatte auch das rasende Wachstum aufgehört.<br />
Keuchend kamen Hübeldübel und Plumplum angerannt. Sie hatten<br />
sich einen kleinen Vorsprung verschafft. Plumplum riss Zippel die Kiste<br />
von der Schulter und legte den Schrein mit dem Wabbelstein hinein.<br />
Nachdem er sich die Kiste umgehängt hatte, brüllte er: »Nichts wie<br />
weg!«<br />
Jetzt erst bemerkte er, wie Zippel und Rosalinde beklommen auf<br />
einen Salzturm starrten, der anders, unregelmäßiger aussah als die<br />
übrigen Kegel. »Man sollte meinen...« krächzte Plumplum, aber er<br />
sprach seinen Gedanken nicht aus. Auch er und Hübeldübel fühlten die<br />
seelenlose Kälte, die das eigenartige Salzgebilde ausstrahlte. Eine<br />
schleichende, unausweichbare Bedrohung ging von dem Haufen aus.<br />
Rosalinde fühlte einen Stich in ihrer Brust, als sei ein eisiges Messer in<br />
ihr Herz gedrungen. Zippel fing zu bibbern an.<br />
»Sie kommen!« schrie Hübeldübel und puffte die anderen an. Die<br />
ersten Söldner hatten das Ende der Treppe erreicht. Salz! Überall Salz!<br />
Hauptmann Bleifuß schob sie beiseite. Wie vom Schlag getroffen stand<br />
er im eisigen Wasser, das unaufhörlich anschwoll. Lange schon hatte er<br />
etwas geahnt, hatte das heimliche Verschwinden Kriegers und Ziegenlip-<br />
pes bemerkt. Ein solch riesiges Salzvorkommen hatte er allerdings nicht<br />
vermutet.<br />
Rosalinde war beim Anblick der Soldaten verängstigt in das Loch<br />
gekrochen, in dem der Wabbelstein versteckt gewesen war. Tapfer hatte<br />
sich Zippel davor aufgebaut. Die Hüter des Wabbelsteins blickten sich,<br />
um: der hintere und tiefere Teil der Höhle war inzwischen vollständig<br />
überflutet. Der Ausgang zur Treppe war mit Söldnern besetzt, von denen<br />
immer mehr nachkamen. Siegessicher hatte Bleifuß seine schwere Bein-<br />
prothese auf die unterste Stufe gesetzt. Sie saßen in der Falle. Zwar<br />
hatten einige der Söldner beim Anblick des Salzreichtums den Verstand<br />
verloren und hingen lutschend und kauend an den Kegeln. Allein an<br />
Hauptmann Bleifuß würden sie nicht vorbeikommen.<br />
Wieder fing die Kuppeldecke an zu knarzen und zu reißen. Der Eis-<br />
wasserstrom nahm zu. Die Wabbelanier, die den höchsten Punkt der<br />
Höhle besetzt hatten, bekamen nasse Füße. Wenn sie noch lange warte-<br />
134
ten, würden sie wie die Ratten ertrinken. Ein dumpfes Grollen ließ die<br />
Tropfsteinhöhle erzittern. Oben an der Kuppeldecke hatte sich ein riesi-<br />
ger Eisberg aus zusammengefrorenen Eisschollen in der Spalte ver-<br />
klemmt und lastete mit seinem ganzen Gewicht auf der rissigen Felsen-<br />
decke. Für einen Augenblick versperrte er die Eiswasserzufuhr. Weitere<br />
Schollen prallten auf den Eisberg. Die Decke gab nach. Eisschollen, Fel-<br />
sen und tonnenschwere Wassermassen prasselten herab. Wie giganti-<br />
sche Dolche stürzten die Salzzapfen in die Tiefe und zerstoben beim Auf-<br />
prall in tausend kristalline Stücke. Zippel fühlte, wie eine magere Hand<br />
seinen Ärmel packte und ihn in das Versteck des Wabbelsteins zerrte.<br />
»Mir nach!« rief er und kroch tiefer in die Öffnung. Plumplum und<br />
Hübeldübel krochen hinterher, ohne sich der Gefahr bewusst zu werden,<br />
in dem Loch zu ersticken. Hinter ihnen schütteten die herabprasselnden<br />
Felsmassen die Öffnung zu. Das Loch schien kein Ende zu nehmen. Wei-<br />
ter und weiter krochen sie. Die verbrauchte Luft schnürte ihre Lungen<br />
ein. Das Toben und Grollen des zusammenstürzenden Infernos folgte<br />
ihnen wie ein fernes Gewitter. Allmählich weitete sich das Loch zu einem<br />
steinigen Gang, der steil in die Höhe führte. Die Temperatur sank. Eisige<br />
Tropfen glitzerten an den Felsen. Ein weit entfernter Lichtstrahl über<br />
ihren Köpfen kündete von einer Öffnung, einem rettenden Ausgang. Auf<br />
Händen und Knien kletterten sie an den glitschigen Felsen hoch.<br />
Plumplum, der als Letzter folgte, sah die Hand vor den Augen nicht,<br />
denn die anderen verdeckten den spärlichen Lichtstrahl. Plötzlich hielt er<br />
an und blinzelte. Der freigegebene Lichtschein blendete ihn. Über ihm<br />
lugte der birnenförmige Kopf Hübeldübels aus einer hellen Öffnung und<br />
lachte ihn breit an. »Ahoi«, rief er und streckte ihm seinen Arm entge-<br />
gen, »Zier dich nicht, Maulwurf. Zeit für ein erfrischendes Bad.«<br />
Sie waren gerettet. Der geheime Gang mündete direkt am Ufer des<br />
Eisschollenflusses, kurz bevor dieser in der Erdspalte verschwand. Durch<br />
das Flimmern der lauen Mittagsstunde ragten weit drunten im Tal die<br />
Spitzen der Stacheltürme in den Himmel und kratzten an den tiefhän-<br />
genden Schäfchenwolken.<br />
»Schaut nur!« rief Rosalinde, »die Stacheltürme bewegen sich.« Wie<br />
von Geisterhand bewegt, hatten die Stacheltürme zu schwanken und zu<br />
135
eben begonnen. Noch einmal ließ das ferne unterirdische Toben den<br />
Grund erzittern. Die letzten tragenden Säulen und Pfeiler der Tropfstein-<br />
höhle sackten in sich zusammen. Ächzend fuhr der steile Hauptturm in<br />
das Erdreich. Die schrägen Seitentürme brachen ab und fielen auf die<br />
marode Hüttenstadt. Feuer brach aus und breitete sich in Windeseile<br />
aus. Stachelburg versank in Schutt und Asche.<br />
136
Die Heimkehr<br />
Glücklicherweise lag der Ausgang des Geheimganges auf der richti-<br />
gen Seite des Eisschollenflusses. So brauchten sie ihn nicht noch einmal<br />
zu überqueren. Da die Mittagssonne schon ihren höchsten Punkt über-<br />
schritten hatte, beeilten sich die vier, denn sie wollten noch vor Einbruch<br />
der Nacht Wabbelburg erreichen. Die Erleichterung über die Rückerobe-<br />
rung des Wabbelsteins beflügelte ihre Schritte. In der Vorfreude auf die<br />
Heimkehr fingen die Wabbelanier an zu pfeifen und zu singen. Merklich<br />
stiller folgte ihnen Rosalinde. Ihr war bange zumute. Was würde sie in<br />
Wabbelanien erwarten? Wie würde diese Melanie reagieren bei ihrem<br />
Auftauchen?<br />
Nach einer guten Stunde hatten sie das Gebirge erklommen und den<br />
Scherbenpass erreicht, die letzte Hürde auf dem Weg in ihr geliebtes<br />
Wabbelanien. Hübeldübel und Plumplum, die die Tücken des Passes<br />
schon kannten, kamen unversehrt hindurch. Auch Rosalinde lief behände<br />
über die losen Scherbenhaufen und wich geschickt den scharfkantigen<br />
Rändern aus. Dagegen wurde Zippel von einer herabsegelnden Schiefer-<br />
tafel an der Schulter verletzt. Rasch zog Hübeldübel den taumelnden<br />
Schneider in Sicherheit. Rosalinde gab ihr letztes Tuch, um den Verletz-<br />
ten zu verbinden.<br />
Unbehaglich sah Plumplum sich um. Was war, wenn sich die Soldaten<br />
unter Hauptmann Bleifuß doch hatten retten können? Wenn sich die<br />
übrigen Stachelländer zusammenrotteten und ihnen nachstellten? Der<br />
unbewachte Scherbenpass bot keine Sicherheit vor irgendwelchen Ein-<br />
dringlingen, schon gar nicht vor den geifernden Stachelländern, die nach<br />
der Zerstörung Stachelburgs sich vor Hass geradezu verzehren mussten.<br />
»Wartet einen Augenblick«, sagte Plumplum. Er schulterte sich die<br />
Kiste mit dem Wabbelstein und stapfte zurück zum Scherbenpass.<br />
»He, was hast du vor?« rief Hübeldübel, aber er hielt seinen Freund<br />
nicht auf.<br />
»Aaah!« brüllte Plumplum wie gewohnt, »was sind schon ein paar<br />
Jahre.« »Was meint er damit?« fragte Rosalinde, und auch Zippel ver-<br />
137
stand die rätselhafte Bemerkung nicht.<br />
Hübeldübel schwieg. Zu lange waren er und Plumplum schon zusam-<br />
men, als dass er nicht gewusst hätte, was in seinem Kameraden vor-<br />
ging. »Alter Esel«, brummte er, »kielholen sollte man dich.«<br />
Die drei beobachteten, wie der kugelrunde Recke vor dem Scherben-<br />
pass haltmachte und an seiner Kiste hantierte. Plötzlich blitzte es auf,<br />
ein grelles Licht erstrahlte die Schlucht, und die hohen Felsen zu beiden<br />
Seiten fingen zu dampfen an. Geblendet wandten sich die drei von dem<br />
gleißenden Feuerschein ab. Immer stärker heizte der Strahl des Wabbel-<br />
steins die Felsen auf, bis sie weiß glühten. Ganz Stachelland wurde von<br />
der Lichtglocke überstülpt.<br />
Da explodierte der Scherbenpass. Die Gebirgskappen sprengten ab.<br />
Tonnen von Scherben und Schiefern prasselten auf den Durchgang und<br />
verschütteten ihn. Aus zwei schlundartigen Öffnungen spie der Berg Glut<br />
und Feuer. Ein breiter Lavastrom wälzte sich in das Stachelland hinein<br />
und wurde erst durch den Eisschollenfluss aufgehalten. Brodelnd kroch<br />
die heiße Masse in das Flussbett. Das Wasser fing zu kochen an. Damp-<br />
fend tauten die Eisschollen, stiegen als schwere dichte Wolken auf und<br />
warfen düstere Schatten auf das Land. Die Lava, die sich in den Fluss<br />
wälzte, erstarrte zu einem schwarz glänzenden Gestein. Lange konnten<br />
die tiefhängenden Wolken ihre nasse Fracht nicht halten, und alsbald<br />
gingen wochenlange Regenschauer auf Stachelland nieder. Die verkom-<br />
menen Bewohner, obschon einiges gewohnt, flüchteten in das benach-<br />
barte Kloakien oder ins Niemandsland. Die Ratten ertranken in ihren<br />
Löchern und machten Bisamratten und anderen Wassertieren Platz. Da<br />
der Lavastrom im Zusammenprall mit den stetig nachfließenden Eis-<br />
schollen für unaufhörliche Wolkenbildung sorgte, nahmen die Regen-<br />
schauer nicht mehr ab. Felder und Wege weichten auf, und die Hütten<br />
versanken im Schlamm. Das gefürchtete Stachelland verwandelte sich in<br />
ein unwegsames Regenland, das im Laufe der Jahre von merkwürdigen<br />
Wesen besiedelt wurde mit Schwimmflossen zwischen Fingern und<br />
Zehen, Schuppen auf der Haut und flatternden Kiemen am Hals. Sie<br />
nannten sich Aquanier. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis aus den<br />
Atlanten und Schulbüchern der Name Stachelland durch das Wort Aqua-<br />
138
nien ersetzt wurde.<br />
Torkelnd kam Plumplum von dem für immer verschlossenen Scher-<br />
benpass zurück. Ein ellenlanger Bart wehte von seinem Kinn. »Seid ihr<br />
angewachsen?« bellte er die Wartenden an und setzte sich an die Spitze<br />
des Trupps. Stumm folgten die anderen. Die Heldentat Plumplums hatte<br />
ihnen die Sprache verschlagen. Für die Sicherheit Wabbelaniens hatte er<br />
ein paar Jahre seines Lebens geopfert. Wer sonst hätte das auf sich<br />
genommen?<br />
Hatten sie zunächst geglaubt, ihnen würde ein triumphaler Empfang<br />
bereitet werden, so wurden sie bitter enttäuscht. Als sie sich der ersten<br />
wabbelanischen Ansiedlung näherten, flüchteten die Menschen schreiend<br />
in ihre Häuser und verbarrikadierten sich. In Windeseile verbreitete sich<br />
die Nachricht, dass eine Horde wüst aussehender und fluchender Mord-<br />
brenner aus Stachelland eingefallen war und sich brandschatzend auf<br />
Wabbelburg zubewegte. Je näher sie der Hauptstadt kamen, desto wil-<br />
der wurden die Gerüchte. Die Orte, durch die sie marschierten, glichen<br />
verlassenen Geisterstädten, deren Einwohner in panischer Angst in die<br />
Felder und Wälder geflüchtet waren.<br />
Die gute Laune der drei Wabbelanier verschlechterte sich, denn sie<br />
hatten Hunger und Durst. Rosalinde wunderte sich nur, denn sie konnte<br />
ja nicht ahnen, welchen verheerenden Eindruck sie auf die Einwohner<br />
machten. Am schlimmsten sah Hübeldübel aus. Humpelnd und niesend<br />
polterte der Hüne über das Pflaster. Sein verletzter Arm war notdürftig<br />
verbunden. Rosalinde hatte ihr Kopftuch hergegeben, um den Arm<br />
rechtwinklig hochzubinden. Plumplum war durch den ellenlangen Bart<br />
entstellt. Zippels Kleider hingen in Fetzen von seinen Knochen. Und<br />
Rosalinde war unschwer als echte Stachelländerin in ihrem zerlumpten<br />
Kleid auszumachen. Zudem klebte ihr langes Haar in staubgrauen Sträh-<br />
nen in ihrem Gesicht, und auch ihre Platzwunde über der Augenbraue<br />
war noch nicht ausgewaschen. Alle vier strotzten vor Schmutz und<br />
geronnenem Blut, und ein Geruch von säuerlichem Moder eilte ihnen<br />
voraus.<br />
Wie nicht anders zu erwarten, fanden sie die Fähre am Ufer des Glib-<br />
bersees verlassen vor. Sie legten selbst Hand an und ruderten über den<br />
139
See. Sogar die Bienen auf der Polleninsel hatten sich in ihre Körbe ver-<br />
zogen.<br />
Es dämmerte schon, als sie den Fluss Gelantine erreichten. Niemand<br />
behinderte sie, als sie die Hängebrücke überquerten. Ein kräftiger Fuß-<br />
marsch brachte die Zinnen der Wabbelburg in Sicht, aber auch die Nacht<br />
war hereingebrochen.<br />
Einsam hallten ihre Schritte an den Häusern wider. Keine Menschen-<br />
seele war zu sehen. Die Stadt war wie ausgestorben. Plötzlich hielt<br />
Rosalinde an und zeigte auf eine Gestalt, die auf einem Platz auf sie<br />
wartete. »Königin Wabbeline«, rief Hübeldübel erfreut, »wenigstens<br />
sie!«<br />
»S«wabbelt!« grüßte Zippel und verbeugte sich. Königin Wabbeline<br />
winkte sanft mit dem erhobenen Arm.<br />
»Warum sagt sie denn nichts?« fragte Plumplum.<br />
»Ach zum Kuckuck!« schrie Hübeldübel ärgerlich, »das ist ja die Sta-<br />
tue von Meister Kräuselohr.«<br />
Mit knurrendem Magen umringten sie das Kunstwerk. »Schade, dass<br />
man sie nicht essen kann«, meinte Zippel respektlos.<br />
»Wo wir gerade vom Essen sprechen«, hakte Plumplum nach, »wollen<br />
wir nicht auf einen Sprung zu Bimballo rein und uns etwas stärken? Hier<br />
scheint uns sowieso niemand zu erwarten.«<br />
»Keine schlechte Idee«, stimmte Zippel bei und leckte sich in Erwar-<br />
tung eines Wackelpuddings die Lippen, »wenn wir Glück haben, ist Mela-<br />
nie noch auf.«<br />
Bei der Erwähnung Melanies wichen die letzten Bedenken. Sie<br />
schwenkten in die Seitengasse ein, in der der Goldene Dotter lag. Kein<br />
Licht brannte mehr. Die Tür war verrammelt. Vor den Fenstern waren<br />
Bretter genagelt. Hübeldübel lugte durch die Schlitze in das Innere des<br />
Gasthauses. Er meinte, den verdeckten Schein einer Kerze gesehen zu<br />
haben.<br />
»He Bimballo!« brüllte Plumplum, »mach auf, du Schlafmütze.«<br />
Ungehalten trommelte er an die Tür. Der beißende Hunger machte ihn<br />
langsam wütend.<br />
140<br />
Hübeldübel ging es nicht anders. Er hob seinen Fuß und stieß ihn mit
solcher Wucht gegen die Bretter, dass das Schloss brach und die Tür<br />
aufflog. Sie stürmten hinein. Hinter der Theke stand, mit finsterem<br />
Gesicht und einem Knüppel in der Hand, der schmerbäuchige Bimballo.<br />
Er war bereit, sein Eigentum zu verteidigen.<br />
»S«wabbelt!« schrie Zippel mit seiner neuen voluminösen Stimme<br />
und lief mit ausgebreiteten Armen auf den Gastwirt zu. Bimballo hob<br />
den Knüppel, um ihn auf den verwilderten Wüstling niedersausen zu las-<br />
sen. In diesem Augenblick öffnete sich die Hintertür und Melanie kam<br />
herein, eine Kerze in der Hand. Zippel erstarrte. Seine Gedanken waren<br />
in den letzten Tagen immer nur bei Rosalinde gewesen, und er hatte<br />
schon vergessen, wie Melanie aussah. In der Sorge um ihre Freunde war<br />
sie reifer, ernsthafter und noch schöner geworden. Rosalinde, die sich<br />
verdeckt im Hintergrund hielt, wollte sich schier umbringen vor Scham<br />
über ihre eigene hässliche Magerkeit und ihre schmutzstarrendenKleider.<br />
»Zippel?« fragte Bimballo unsicher, der seinen Augen nicht trauen<br />
wollte. Dann erkannte er im Kerzenschein die anderen Gesellen. Sein<br />
Herz tat einen Sprung. »Tatsächlich und wahrhaftig Zippel!« rief er und<br />
kam hinter dem Tresen hervor. Vor Freude liefen ihm Tränen über die<br />
Wangen. Er machte einen Satz und puffte Zippel derbe in die Seite, um<br />
ihn über die Glasnudelbeine stolpern zu lassen. Doch Zippel lachte nur<br />
und puffte seinerseits den Wirt so heftig an, dass dieser das Gleichge-<br />
wicht verlor und sich auf den Hosenboden setzte.<br />
Da war auch schon Melanie herbeigeeilt und küsste und herzte den<br />
Schneider vor Erleichterung und Wiedersehensfreude. Rosalinde drückte<br />
sich in den Schatten. Sie wäre am liebsten weggelaufen.<br />
Bimballo zündete die Lampen an. Nun erst entdeckte er in dem Tür-<br />
winkel die zerlumpte Frau. Er erschrak. »Eine Stachelländerin!« warnte<br />
er und ergriff seinen Knüppel. Hübeldübel fiel ihm in den Arm. »Eine<br />
Freundin«, erklärte er, »ohne sie wären wir nicht hier.«<br />
»Sie stinkt«, platzte es aus Bimballo heraus. Rosalinde fing an zu<br />
schluchzen. Sie wollte weg.<br />
Es war Melanie, die schließlich alles ins rechte Lot brachte. Schon bei<br />
der Umarmung hatte sie Zippels Veränderung bemerkt. Sonst war er vor<br />
Aufregung fast hingefallen, wenn sie ihn nur angeschaut hatte. Heute<br />
141
aber schienen seine Gedanken woanders zu sein. Und als Melanie die<br />
junge Stachelländerin erblickte, erfasste sie mit weiblicher Intuition die<br />
Beziehungen zwischen den beiden. Sie lief zu Rosalinde, nahm sie beim<br />
Arm und zerrte die Widerstrebende aus dem Gastraum in das erste<br />
Stockwerk, wo Melanie es sich wohnlich eingerichtet hatte.<br />
Bimballo ließ vier Stiefel Honigbier volllaufen. Die drei Helden hatten<br />
viel zu erzählen. Plumplum hatte die Kiste in eine Ecke gestellt. »Habt<br />
ihr die Nägel und Nadeln wieder mitgebracht?« fragte Bimballo.<br />
»Es ist nur der Wabbelstein«, antwortete Hübeldübel, als spräche er<br />
von einem zerknüllten Blatt Papier.<br />
»Ach so, wenn's weiter nichts ist.«<br />
Die Freunde fingen zu wabbeln an. Endlich wieder ungehindert wab-<br />
beln! Vom oberen Stockwerk hörten sie ein Plätschern und Kichern.<br />
Die Turmuhr schlug schon zwölf, als die Frauen wieder herunterka-<br />
men. Melanie hielt die Tür auf, um Rosalinde durchzulassen. Entgeistert<br />
starrten die Helden auf das Wesen, das hereinspaziert kam. Fast hätten<br />
sie die junge Frau mit den goldgelben Haaren nicht wiedererkannt. Sie<br />
duftete nach Lavendel und Rosenöl. Unter dem Seifenschaum hatten<br />
sich ihre schmutzigen Strähnen in weiche Locken verwandelt, ihre<br />
staubgraue Haut war einer frischen gesunden Farbe gewichen. Rosalinde<br />
trug das schönste Kleid Melanies, das allerdings im Rücken mit Nadeln<br />
zusammengesteckt war. Ein verschmitztes Lächeln erhellte ihr Gesicht.<br />
Beim Baden hatte Melanie ihr so allerlei Lustiges erzählt, und wie sie mit<br />
den Männern umsprang. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie heraus-<br />
fanden, dass sie beide einen Hang zum Spötteln und Lästern hatten.<br />
Aber auch Ernstes kam zur Sprache, und Melanie hatte endlich eine ver-<br />
ständnisvolle Zuhörerin für ihr Probleme und Ängste gefunden. Denn sie<br />
fürchtete selbst schon, dass sie als vertrocknete Jungfrau enden würde,<br />
wenn sie sich nicht bald für einen Mann oder ein anderes Leben ent-<br />
scheiden würde.<br />
Rosalinde hatte ihre ruhigen blauen Augen auf Zippel gerichtet. Alle<br />
Zweifel waren gewichen. Wie damals auf dem Stachelmarkt wurde ihm<br />
siedend heiß. Er fasste sich ein Herz und trat an sie heran. Da flog sie<br />
auch schon an seine Brust. Zippel umschlang sie mit seinen sehnigen<br />
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Armen und zerwühlte vor Glück ihr weiches Haar.<br />
Es wurde eine lange Nacht. Erst ein Schwall saurer Milch beendete<br />
das Beisammensein. Wieder einmal waren sich Plumplum und Hübeldü-<br />
bel wegen Melanie in die Haare geraten.<br />
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