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PDF-Format - Hans Joachim Teschner

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Titel<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Joachim</strong> <strong>Teschner</strong><br />

DER RAUB<br />

DES<br />

WABBELSTEINS<br />

Gnadenlos Verlag<br />

26316 Varel<br />

www.hajoteschner.de<br />

© <strong>Hans</strong> <strong>Joachim</strong> <strong>Teschner</strong><br />

Alle Rechte vorbehalten


Zippel und Bimballo<br />

»Hoch lebe König Wabbel der Zweite!« Vor dem Balkon der Wabbelburg<br />

hatten sich die Wabbelanier eingefunden, um ihrem König zu huldigen.<br />

König Wabbel II. Füllte mit seiner imposanten Gestalt den gesamten Bal-<br />

kon aus.<br />

»Es wabbelt!« rief er der Menge zu und warf eine Handvoll Gummibär-<br />

chen über den Platz.<br />

»S'wabbelt! S'wabbelt!« schallte es hundertfach zurück.<br />

»Wabbelanier!« rief der König, »wie ihr wisst, feiert morgen Königin<br />

Wabbeline ihren Geburtstag. Aus diesem Anlass bleiben die Schulen<br />

geschlossen, und es darf nicht gearbeitet werden. Zu dem Fest in der Wab-<br />

belburg sind alle Bürger eingeladen. Es gibt Freibier und Wackelpudding.«<br />

Ein tosender Jubel brauste auf und unterbrach die Ansprache. Der König<br />

hob die Hand und rief: »Es wabbelt!«<br />

»S'wabbelt! S'wabbelt!« donnerte es vom Platz, »Hoch lebe Königin<br />

Wabbeline.«<br />

Plötzlich hörte man eine schrille hohe Stimme: »S'wibbelt, s'wibbelt!«<br />

Das war Schneider Zippels dünne Fistelstimme, die da so aufgeregt kickste<br />

und tremolierte.<br />

Bimballo, der Wirt des Gasthauses Goldener Dotter, puffte den Schnei-<br />

der Zippel mit seinem dicken Schmerbauch in die Rippen: »Es wabbelt,<br />

heißt es. Wann wirst du endlich begreifen, dass der offizielle Gruß S'wab-<br />

belt heißt.«<br />

Zippel verlor das Gleichgewicht. Er trudelte, schlingerte, und ruderte<br />

mit den Armen. Normalerweise konnte einen Wabbelanier nichts aus dem<br />

Gleichgewicht bringen. Einzig Schneider Zippel machte da eine Ausnahme.<br />

Er hatte auch nicht wie alle anderen einen kugelrunden, ballonartigen<br />

Bauch, mit dem es sich richtig schön wabbeln ließ. Wenn Zippel vor Freude<br />

wabbeln wollte, klapperte es nur dürre und trocken. Meistens verlor er<br />

dabei die Balance. Und wenn ein Nachbar ihn freundschaftlich anpuffte, fiel<br />

er sowieso gleich über seine Glasnudelbeine. Wegen seiner spillerigen<br />

Gestalt hänselten ihn die Kinder, und sie riefen ihm nach:<br />

»Schmergel, schrumpel, Schneiderbauch, passt durch jeden Garten-<br />

schlauch.«<br />

Darüber erboste sich Zippel so sehr, dass er die freche Bande mit erho-<br />

bener Nähnadel verfolgte und mit überschnappender Stimme schrie:<br />

»Stech euch, stech euch in die Beine, wie die wilden Stachelschweine.«


Aber die übermütigen Wabbelkinder lachten nur und spuckten ihre<br />

Bubblegums und Gummibärchen auf die Straße. Prompt glitschte der auf-<br />

gebrachte Schneider darauf aus und brach sich fast die Beine. Vor Scha-<br />

denfreude wabbelten die Kinder so heftig, dass sich die Fensterscheiben<br />

bogen.<br />

Aber zurück zur Wabbelburg. Wieder einmal lag Zippel auf dem Pflaster<br />

und strampelte mit seinen Glasnudelbeinen. Bimballo, der schmerbäuchige<br />

Gastwirt, half Zippel wieder auf die Füße. Inzwischen hatte sich König<br />

Wabbel II. Vom Balkon zurückgezogen, und die Menge verlief sich in den<br />

Straßen.<br />

»Komm«, brummte Bimballo gutmütig, »komm Zippel. Wir gehen zu<br />

mir in den Goldenen Dotter. Ich geb dir ein Glas Honigbier aus.«<br />

Man muss wissen, dass die Wabbelanier alle Getränke mit Honig misch-<br />

ten. Ein Glas Bier bestand aus einem halben Glas Honig, in das ein Viertel<br />

Maß Bier hineingezapft wurde.<br />

Zippels Augen leuchteten auf. Durstig leckte er sich die schmalen Lip-<br />

pen. »Angenommen Kamerad,« fistelte er mannhaft und wabbelte mit sei-<br />

nem ganzen Körper. Oh je, es klang wie ein Sack alter Knochen. Mitleidig<br />

puffte Bimballo den Schneider an und schubste ihn in Richtung Goldener<br />

Dotter. Zwar stolperte Zippel unterwegs noch dreimal über seine eigenen<br />

Glasnudelbeine, aber er war wenigstens vor den Kindern sicher. Denn vor<br />

Bimballos mächtigen Schmerbauch hatten sie einen Heidenrespekt.


Im Goldenen Dotter<br />

Zwei Stunden später saß Zippel immer noch im Goldenen Dotter. Zu<br />

Hause wartete niemand auf ihn. Welche Frau wollte schon solch einen spil-<br />

lerigen Mann haben? Er konnte ja nicht einmal richtig wabbeln. So ver-<br />

brachte Zippel viele Abende bei seinem Freund Bimballo. Die Leute frotzel-<br />

ten schon, er habe ein Auge auf Melanie geworfen, der Tochter Bimballos.<br />

In ganz Wabbelanien fand man kein schöneres Mädchen als Melanie. Mit<br />

ihrem anmutigen Wabbeln verdrehte sie die Köpfe aller Männer. Und tat-<br />

sächlich schielte Zippel sehnsüchtig hinter ihr her. Aber er dachte bei sich:<br />

»Es ist hoffnungslos. Ich und Melanie? Da wabbeln ja die Hühner.«<br />

»Noch ein Glas Honigbier,« rief er Melanie traurig zu, »und außerdem<br />

einen Spezialwackelpudding.« Melanies Spezialwackelpudding war bis weit<br />

über die Landesgrenzen berühmt. Es handelte sich um einen Vierfar-<br />

ben-Wackelpudding mit einem Sahnehäubchen darauf, so zart, dass er wie<br />

von selbst auf der Zunge zerging. Wenn Reisende durch Wabbelburg<br />

kamen, blieben sie oft eine Nacht länger, um abends bei Bimballo in den<br />

Goldenen Dotter einzukehren. Denn den Genuss des Spezialwackelpud-<br />

dings wollte sich niemand entgehen lassen. Aber natürlich war auch Mela-<br />

nies Schönheit nicht ganz unschuldig am guten Geschäft des Gasthauses.<br />

Wie Zippel warfen viele Gäste der Wirtstochter sehnsüchtige Blicke nach.<br />

Wer nun glaubt, dass es im ganzen Lande Eifersüchteleien und Ehestrei-<br />

tereien wegen Melanie hätte geben müssen, irrt sich gewaltig. Denn um<br />

Melanie warben zwei Gesellen, mit denen sich niemand ernstlich anlegen<br />

wollte. Die beiden Helden kamen sich fast täglich in die Haare wegen der<br />

schönen Wirtstochter, obschon sie unzertrennliche Freunde waren. Ganz<br />

Wabbelanien fieberte um den Ausgang dieses zähen Buhlens. Sogar Wet-<br />

ten wurden abgeschlossen, wer von den beiden Kumpanen schließlich die<br />

Gunst Melanies erringen würde. Aber zum Leidwesen Bimballos konnte und<br />

konnte sich seine Tochter nicht entscheiden, denn sie hatte beide gleich<br />

gern. Mitunter sang Bimballo in einem klagenden Ton ein seltsames Lied:<br />

»Wieder gehen zwanzig Jahre<br />

in das schöne Wabbelan.<br />

Melanie kriegt graue Haare<br />

aber keinen Ehemann.«<br />

Wer waren nun die beiden Wabbelanier, die sich wegen Melanie schier<br />

die Beine ausrissen? Um das zu erfahren, brauchte man im Goldenen Dot-<br />

ter nicht lange zu warten.


Krachend schlug die Wirtshaustür auf. »S'wabbelt!« brüllte eine mächti-<br />

ge, voluminöse Bassstimme. Ein enorm dicker, kugelbäuchiger und musku-<br />

löser Wabbelanier schob sich durch den Türrahmen.<br />

»S'wabbelt, Plumplum«, riefen einige Einheimische. Plumplum, der<br />

neue Gast, stapfte mit kurzen festen Schritten durch den Raum. Zwar war<br />

er von kleiner Gestalt, aber alles an ihm war rund und gedrungen. Selbst<br />

das stärkste Puffen konnte ihn nicht aus dem Gleichgewicht bringen.<br />

her.<br />

»S'wibbelt, Plimplim, s'wibbelt,« fistelte nun auch Zippel von der Theke<br />

»Aaah Zippel!« brüllte Plumplum donnernd, »wieder mal die Einsamkeit<br />

begießen, he?«<br />

Plumplum nahm Kurs auf den Schneider. Auf seinem Weg puffte er ein<br />

paar Bekannte an, und so nebenbei stieß er mit seinem prallen Bauch vier<br />

Stühle um.<br />

»Aaah!« schrie Plumplum ungehalten, »wozu stehen diese elenden<br />

Holzgestelle im Weg herum? Ein anständiger Mensch setzt sich doch nicht<br />

mitten in den Weg!«<br />

Und er schob mit seinen keulenförmigen Armen ein paar Tische mitsamt<br />

den davor sitzenden Gästen einfach an die Wand. Schließlich war er bei<br />

Zippel angelangt und drehte sich behäbig um. Der Raum des Gasthauses<br />

sah nun aus wie ein Bahnhofswartesaal: rechts und links an den Wänden<br />

klebten die Gäste hinter zusammengerückten Tischen und Stühlen. Eine<br />

breite Gasse in der Mitte zeugte von Plumplums ungestümen Durchmarsch<br />

durch die Stube.<br />

Mitleidig puffte Plumplum gegen Zippels Klapperbauch. Zippel trudelte,<br />

ruderte mit den Armen und wäre auf die Nase gefallen, hätte Plumplum<br />

ihn nicht mit seinen Keulenarmen aufgefangen.<br />

»Mußt mehr Pudding essen, Schneider!« brüllte Plumplum. Noch nie<br />

hatte jemand ihn leise reden hören. Und so übertönte seine Bassstimme<br />

alle anderen Gespräche.<br />

»Nimm dir ein Beispiel an mir, Zippel. Dann bekommst du einen echten<br />

wabbelanischen Bauch.« Mit seinen dicken Wurstfingern tippte er sich in<br />

seinen gewölbten Bauch.<br />

Gerade schob Melanie einen riesigen Teller herüber, auf dem ein dreistö-<br />

ckiger Wackelpudding schlingerte. Durch die grüne Waldmeisterfarbe<br />

schimmerten Rosinen, und auch die Oberfläche war über und über mit<br />

Rosinen gespickt. Dieses opulente Mahl hatte den Namen Plumpudding,<br />

denn Melanie hatte ihn eigens für Plumplums großen Hunger erfunden.<br />

Seufzend schaffte Bimballo wieder Ordnung in der Gaststube. Er stellte


die Tische und Stühle zurück in den Raum, so dass alle Gäste reichlich<br />

Platz hatten. Bei den Fremden, die noch immer vor Schreck kein Wort her-<br />

ausbrachten, entschuldigte er sich mit tiefen Bücklingen.<br />

Plumplum hatte seinen Plumpudding schon zur Hälfte aufgegessen, als<br />

erneut die Eingangstür aufgestoßen wurde und der Straßenwind durch die<br />

Stube blies.<br />

»S'wabbelt! Ahoi!« Ein baumlanger Wabbelanier stieß mit seinem Kopf<br />

gegen den Türpfosten. Der pralle Wabbelbauch verjüngte sich nach oben<br />

hin, so dass die hünenhafte Gestalt wie eine übergroße Birne aussah. Auch<br />

der Kopf ähnelte stark einer Birne.<br />

»S'wabbelt, Hübeldübel«, antworteten einige Wabbelburger. Plumplum<br />

ließ sich nicht beim Essen stören. Sollte er etwa jeden Tag zehnmal seinen<br />

Freund Hübeldübel grüßen?<br />

»Heiß die Segel! Schotten dicht!« rief Hübeldübel und knallte die Tür so<br />

heftig zu, dass sie in den Angeln schepperte.<br />

»S'wibbelt, Hübeldübel, s'wibbelt.« Zippeis krächzige Fistelstimme<br />

erreichte das Ohr des Hünen.<br />

»Ahoi Zippel, wieder mal die Einsamkeit begießen, he?« Trotz der<br />

großen Lautstärke hatte Hübeldübels Stimme einen singenden melodischen<br />

Tonfall, wie man ihn nur von irischen Seeleuten her kennt. Tatsächlich war<br />

Hübeldübel früher jahrelang als Schiffszimmermann durch die Welt<br />

geschippert.<br />

»Kurs hart Backbord. Volle Fahrt voraus!« befahl er sich nun selbst,<br />

drehte sich zur Theke und nahm tatsächlich Fahrt auf. Schon kippten die<br />

ersten Stühle links und rechts über Bord. »Beim Klabautermann«, rief er,<br />

»was stehen diese elenden Holzgestelle auf der Kommandobrücke herum.<br />

Ein anständiger Fahrensmann setzt sich doch nicht mitten auf den Steg.«<br />

Und mit seinen langen, birnenförmigen Armen schob er einfach Tische<br />

und Stühle und die darauf sitzenden Gäste an die Wand. Schnaufend<br />

erreichte er Zippel und puffte ihn so ungestüm, dass dieser auf den Boden<br />

fiel, noch bevor ihn jemand auffangen konnte.<br />

Bimballo raufte sich die Haare: Wieder einmal hatte seine gemütliche<br />

Gaststube eine starke Ähnlichkeit mit einem Bahnhofswartesaal. Rechts<br />

und links an der Wand klebten die Gäste hinter zusammengerückten<br />

Tischen und Stühlen. Eine breite Gasse in der Mitte zeugte von Hübeldü-<br />

bels Durchmarsch durch die Stube.


Der Muntermacher<br />

Und wieder mußte Bimballo Ordnung in seiner Gaststube schaffen.<br />

Missmutig brummte er in seinen Bart: »Einen Bahnhof sollte man hier bau-<br />

en. Den Wartesaal kriege ich schließlich umsonst.«<br />

»Murmelt hier jemand laut?« kam die schallende Antwort von der The-<br />

ke. Plumplum war – trotz seines lauten Organs – keineswegs schwerhörig.<br />

Derweil hatte Melanie ins Regal gegriffen und einen großen gläsernen<br />

Stiefel herausgenommen. Diesen stellte sie unter den Honigzapfhahn und<br />

ließ ihn bis zur Hälfte mit dem gelben Trank volllaufen. Alsdann füllte sie<br />

den Stiefel bis an den Rand mit hochprozentigem Rum aus Jamaika. Ein<br />

entsetzliches Getränk. Hübeldübel nannte es seinen Muntermacher. Vor-<br />

sichtig hob er den Stiefel an die Lippen und ließ den zähflüssigen Inhalt<br />

langsam in seine Kehle laufen.<br />

Mit offenen Mäulern beobachteten die Gäste den Riesenschluck. Gleich<br />

müsste er tot umfallen, dachten sie. Das konnte doch niemand lebendig<br />

überstehen.<br />

Jetzt hörte man deutlich ein Gluckern, welches aus Hübeldübels Birnen-<br />

bauch kam. Es klang, als ob eine Regentonne mit Wasser aufgefüllt würde.<br />

Zuerst ein tiefes Glubsen. Dann pladderte es in einer höheren Tonlage.<br />

Dann ging es in ein helles Plitschern über. Gleich musste der Bauch voll<br />

sein. Atemlos verfolgten die Gäste das Schauspiel. Mit aufgerissenen<br />

Augen starrte Melanie auf den Hünen.<br />

Da! Ein tiefes, ungehobeltes Rülpsen fuhr aus der Kehle des Säufers.<br />

Seine Augen kollerten und drehten sich. Der Stiefel glitt aus seiner Hand.<br />

Schwankend hob sich die birnenförmige Gestalt, drehte sich zweimal im<br />

Kreise und fiel der Länge nach auf die Dielen.<br />

»Einen Arzt!« rief ein Gast aufgeregt.<br />

»Einen Leichenbestatter!« rief ein anderer, »der ist doch mausetot.«<br />

»Einen Wackelpudding!« brüllte Plumplum dazwischen.<br />

»Einen Wackelpudding?« Empört wandten sich die Gäste um. »Einen<br />

Wackelpudding? Wozu einen Wackelpudding?«<br />

»Na ich habe Hunger, was sonst?« donnerte Plumplum und klatschte<br />

sich auf den Bauch.<br />

»Unhold! Roher Geselle! Monstrum!« Und was die aufgebrachten Gäste<br />

noch alles riefen. Empört blubberten sie Pumplum an, dass einem Angst<br />

und Bange werden konnte<br />

Wenn ein Wabbelanier ärgerlich war, blubberte er nämlich drohend,


überhaupt hatte man in Wabbelanien stets seine Gefühle zu zeigen. Wer<br />

sich freute oder heiter war, hatte gefälligst zu wabbeln. Bei Wut und Ärger<br />

musste geblubbert werden. Auch ihre Angst durften die Einwohner nicht<br />

verbergen. Dann bibberten sie und fröstelten. Und dicke große Kullerträ-<br />

nen wurden vergossen, wenn ein trauriges Ereignis die Familie heimsuchte.<br />

Ganz und gar unhöflich war es aber, wenn einer sich verstellte oder seine<br />

Gefühle vor den Mitmenschen verbarg.<br />

So wundert es nicht, dass die Gäste den hartherzigen Plumplum<br />

anblubberten. Nur mit Mühe konnte Bimballo sie in Schach halten, und<br />

derbe puffte er sie mit seinem Schmerbauch auf ihre Plätze zurück.<br />

»Gemach, gemach«, brummte er beruhigend.<br />

»Ahoi.«<br />

War das nicht Hübeldübels Stimme?<br />

»Ahoi! Heiß die Segel!« Unüberhörbar erscholl der Singsang des ehe-<br />

maligen Seefahrers. Benommen kam der Hüne wieder auf die Beine.<br />

Melanie schluckte dreimal, bevor sie wieder ein Wort herausbekam. So<br />

war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.<br />

»Oh du schlimmer Narr.« Vor Erleichterung schlang sie ihre Arme um<br />

Hübeldübels Hals und küsste ihn mitten auf den Mund.<br />

»Aaah!« brüllte Plumplum, »so also erschleicht man sich neuerdings<br />

einen Kuss.«<br />

»Erschleichen?« fragte sein Kumpan erbost, »was soll das heißen?«<br />

»Das soll heißen, dass alles nur ein mieser Trick war. Alles Schauspiel. Pfui<br />

Teufel!« »Beim Klabautermann«, wollte Hübeldübel einwenden, aber sein<br />

Freund fuhr ihm hitzig in die Parade: »Und unfair ist es. Besonders unfair.<br />

Jeder weiß, dass ich selbst nie das Gleichgewicht verlieren kann. Also kann<br />

ich auch nicht umfallen. Also kriege ich auch keinen Kuss von Melanie.«<br />

Plumplum sprang von seinem Hocker und puffte Hübeldübel so heftig in die<br />

Seite, dass dieser durch den Raum rutschte. Schnell hüpfte Plumplum hin-<br />

terher. Doch Hübeldübel umfaßte mit seinen langen Birnenarmen seinen<br />

kugelrunden Gegner und presste ihn mit aller Kraft. Plumplum streckte die<br />

Zunge raus. Sein Kugelkopf lief rot an.<br />

»Schnell Melanie«, rief Bimballo, »hol die saure Milch.« Und zu Zippel<br />

gewandt: »Hast doch sicher eine Nähnadel dabei. Gib sie schon her.«<br />

Trotz seiner Atemnot hatte Plumplum seine Keulenarme gegen Hübeldü-<br />

bels Taille gestemmt und preßte sie seinerseits wie einen Schraubstock<br />

zusammen. Hübeldübel röchelte. Sein Birnenkopf lief ebenfalls rot an.<br />

Keiner der Gäste wagte es, dazwischen zu gehen. Melanie stürzte aus<br />

der Küche, einen großen Topf saurer Milch in den Händen. Bimballo sprang


hinter der Theke hervor. In der Faust schwang er die große Ersatznähnadel<br />

von Zippel. Platsch! Da ergoss sich auch schon klumpige saure Milch auf<br />

die beiden Kampfhähne. Ein gut geführter Nadelstich piekste Plumplums<br />

dicken Hintern. Auch Hübeldübel bekam einen Streich ab.<br />

»Autsch!« jaulte Plumplum. K<br />

»Igitt!« schüttelte sich Hübeldübel.<br />

Die beiden Freunde fuhren auseinander. Angewidert prustete Hübeldü-<br />

bel die saure Milch aus der Nase. Plumplum rieb sich den schmerzenden<br />

Hintern.<br />

»Hohoho«, lachte Hübeldübel und zeigte voll Schadenfreude auf den<br />

jaulenden Kugelbauch.<br />

»Hahaha«, lachte Plumplum mit verzerrtem Gesicht zurück: »hast wohl<br />

eine Schönheitsmilch nötig, he?«<br />

Beide kamen so heftig ins Wabbeln, dass die Gläser in den Regalen zu<br />

klirren und zu tanzen anfingen. Auch Bimballo schlug sich auf seinen<br />

Schmerbauch vor Erleichterung. Nun konnten sich auch die anderen Gäste<br />

nicht mehr halten und wabbelten, was das Zeug hielt. Durch die Fenster<br />

schielten aufgescheuchte Straßenpassanten herein, um zu erfahren, was<br />

im Goldenen Dotter vor sich ging.<br />

»Ruhe bitte!« Bimballo klopfte mit einem Löffel gegen ein Glas. »Ruhe<br />

Leute. Wir wollen nicht vergessen, dass unsere gute Königin Wabbeline<br />

morgen ihren Geburtstag feiert. Sie wird sicher nichts dagegen haben,<br />

wenn wir schon heute darauf antrinken. Deshalb sind alle von mir auf ein<br />

Freibier eingeladen.«<br />

»Hoch lebe Königin Wabbeline. Hoch Bimballo!« Eine solch ausgelasse-<br />

ne Stimmung hatte der Goldene Dotter schon lange nicht erlebt.


Ein seltsamer Gast<br />

Nur einer der Anwesenden schien sich nicht so recht freuen zu können.<br />

Sein Tischnachbar, der Bauer Knollhut, der auf dem Markt süße Melonen<br />

verkaufte, dachte schon die ganze Zeit: 'Eine seltsame Figur. Irgendwie<br />

unangenehm. Richtig unheimlich.'<br />

Aber Bauer Knollhut prostete ihm dennoch freundlich zu. Der Fremde,<br />

denn ein Wabbelanier konnte er unmöglich sein, beugte sich zu Knollhut<br />

hinüber und flüsterte: »Wer sind diese beiden rohen Gesellen?«<br />

»Ach, das weißt du nicht? Du kennst Hübeldübel und Plumplum nicht?<br />

Die Hüter des legendären Wabbelsteins?«<br />

Der Fremde rückte noch näher heran. »Hüter des Wabbelsteins? Diese<br />

ungehobelten Brüder behüten den legendären Wabbelstein?« Und zu sich<br />

selbst wisperte er: »He he, das trifft sich günstig.«<br />

Bauer Knollhut rümpfte sich die Nase. Ihm schien, als habe jemand<br />

einen faulen Hering auf den Tisch gelegt.<br />

Plötzlich fuhren beide erschrocken hoch. Wie ein Felsbrocken hatte sich<br />

Plumplum vor ihnen aufgepflanzt.<br />

»Wird hier etwa laut gemurmelt!« brüllte er mit seiner gewohnten Baß-<br />

stimme. »Seit wann wird in Wabbelanien geflüstert und gewispert?«<br />

Denn eines gehörte in Wabbelburg und Umgebung zu den ganz ungehö-<br />

rigen Manieren: geheimnisvoll zu tun und hinter der vorgehaltenen Hand<br />

zu flüstern.<br />

»Aaah Bauer Knollhut!« polterte Plumplum erfreut. »Hoffentlich sind die<br />

Melonen dieses Jahr besonders süß.« Mit seinen Wurstfingern drückte der<br />

Hüter des Wabbelsteins den Bauern auf den Stuhl.<br />

»Und wie ist dein Name, Fremder? Denn ein Wabbelanier kannst du ja<br />

wohl nicht sein.«<br />

Neben Plumplum hatte sich nun auch Hübeldübel aufgebaut. Mißtrau-<br />

isch betrachteten beide den Fremden. Der hatte so gar nichts Wabbeliges<br />

an sich. Eckig stachen seine Schultern durch die Jacke, eine spitze Nase<br />

ragte aus einem Raubvogelgesicht, und ein hervorstehender Eckzahn hack-<br />

te nervös auf der Unterlippe herum. Zwar schien der Mann erschreckt,<br />

aber er bibberte nicht und zeigte auch sonst keine Gefühle. Kühl erwiderte<br />

er: »Mein Name ist Brutus Ranzig. Fischhändler aus Kloakien. Verkaufe<br />

abgehangene Seeigel und gepökelte Stichlinge.«<br />

Verblüfft glotzten die beiden Haudegen sich an.<br />

»Seeigel?«


»Stichlinge?« Angeekelt schüttelten sie sich. »Ein echter Wabbelanier<br />

mag doch keine Stichlinge. Höchstens mal einen Süßwasseraal in Honiga-<br />

spik.«<br />

»Einen komischen Geschmack haben die Leute hier,« grantelte Brutus<br />

Ranzig. Voller Schadenfreude meckerte er Hübeldübel an: »He he, keine<br />

Stichlinge mögen, aber sich die saure Milch aus dem Bart lecken, he he.«<br />

»Potztausend!« fluchte Hübeldübel und wollte sich schon den Fremden<br />

vornehmen. Aber er hielt inne und schnüffelte mit seiner birnenförmigen<br />

Nase an Ranzig herum.<br />

»Der Kerl stinkt wie eine sieben Tage alte Makrele!« Plumplum hatte<br />

seine Stirn in Falten gelegt und grübelte. »Stichling?« dachte er, »an was<br />

erinnert mich das bloß?« Mit seinem Kugelbauch puffte er den Fremden<br />

an.<br />

»Autsch«, heulte er auf, »der Kerl piekt. Ist selbst stachelig wie ein<br />

Seeigel.«<br />

»Beim Klabautermann.« Hübeldübel griff sich an den Kopf. »Stinkt wie<br />

ein toter Fisch und piekst wie ein Seeigel? Das könnte ja direkt ein Sta-<br />

chelländer sein.«<br />

Mit einem Schlag war es still in der Gaststube. Stachelland! Das feindli-<br />

che Stachelland! Schon das Wort jagte den Wabbelaniern Schauer über<br />

den Rücken, und sie bibberten wie Espenlaub. Die bösen Stachelländer<br />

waren kriegslüsterne Plünderer jenseits des Faltengebirges. Herrscher über<br />

Stachelland war der brutale Generalissimo Krtzkrr Krieger. Ständig lebten<br />

die Wabbelanier in der Furcht vor den Überfällen seiner Soldaten. Und hier<br />

in Wabbelburg, ausgerechnet im Goldenen Dotter, sollte sich ein Stachel-<br />

länder eingeschlichen haben?<br />

Aber Brutus Ranzig ließ sich nicht einschüchtern. Kaltblütig meckerte<br />

er: »Was redet ihr denn? Seht ihr nicht, dass ich Honigbier trinke und<br />

Wackelpudding esse? Kein Stachelländer würde auch nur einen Schluck<br />

herunter bekommen. Ersticken würde er daran.«<br />

Zum Beweis kippte Ranzig sich ein volles Glas Honigbier in den Hals.<br />

»Recht hat er!« brüllte Plumplum, »ein Stachelländer würde eher seine<br />

Großmutter verkaufen als ein Glas Honigbier trinken.«<br />

Bimballo, der seinen Gast nicht verprellen wollte, meldete sich besorgt:<br />

»Mir scheint, die Aufregung ist unserem Gast auf den Magen geschlagen.<br />

Er ist ja schon ganz grün im Gesicht. Lasst ihn in Ruhe.«<br />

In der Tat sah Ranzig recht mitgenommen aus. Schluckend wankte er<br />

zum Ausgang, um frische Luft zu schnappen. Draußen, vor der Gaststätte,<br />

brach er das ganze Bier wieder aus. Doch weder Bimballo noch Zippel noch


sonst einer bemerkte dies.<br />

Die Straßenlaternen leuchteten schon. Viele Gäste brachen auf, um für<br />

die morgige Geburtstagsfeier ausgeschlafen zu sein. Nur Ranzig, Zippel<br />

und die beiden Haudegen hockten noch zusammen und palaverten.<br />

Geschickt hatte Ranzig das Gespräch auf den Wabbelstein gebracht, den<br />

Staatsschatz von Wabbelanien.<br />

»Wie kommt es«, fragte er listig, »dass die Hüter des Wabbelsteins in<br />

der Kneipe Bier trinken statt den Staatsschatz zu hüten? Habt ihr keine<br />

Angst, dass er gestohlen wird?«<br />

»Aaah!« brüllte Plumplum und klatschte seine Hand mit solcher Wucht<br />

auf Ranzigs Rücken, dass dieser einen alten Zahn ausspuckte. »Hahaha,<br />

was für ein Possenreißer. Ihr Kloakier seid schon lustige Pickelheringe.<br />

Erklär du es ihm, Hübeldübel, du kannst es besser.«<br />

»Ahoi. Also höre: Die beiden Hüter des Wabbelsteins, diese mutigen<br />

und unerschrockenen Helden, diese tapferen und...«<br />

»Hör auf Hübeldübel, das nimmt ja kein Ende,« stöhnte Bimballo, »kurz<br />

gesagt: Um zum Wabbelstein zu gelangen, müssen sechs eiserne Tore<br />

geöffnet werden. Drei Schlüssel verwahrt Plumplum, die anderen drei<br />

Hübeldübel. Nur abwechselnd können sie die schweren Tore aufschließen.<br />

Einer allein kommt nicht durch. Der Wabbelstein selbst aber ist in einem<br />

Schrein aufbewahrt. Dieser Schrein hängt an einem Hanfseil und ist mit<br />

einem komplizierten Schifferknoten befestigt, den allein Hübeldübel auflö-<br />

sen kann. Sollte aber doch jemand unbefugt den Knoten lösen, würden alle<br />

Glocken in Wabbelburg zu läuten anfangen. Denn das Hanfseil ist mit allen<br />

Glockensträngen in der Stadt verbunden. Es gibt nur zwei Einwohner, die<br />

stark genug sind, das Seil zu halten, ohne dass die Glocken läuten. Na und<br />

wer kann das schon sein außer den Hütern des Wabbelsteins, die leibhaftig<br />

neben dir sitzen.«<br />

»Eine starke Rede«, applaudierte Zippel.<br />

»Hat nur einen klitzekleinen Fehler«, meckerte Ranzig hinterhältig.<br />

»So? Welchen denn, du Schlaumeier?« »Na na, nicht so feindselig, mein<br />

lieber Zippel.« Brutus Ranzig tat sehr besorgt. »Es könnte doch jemand die<br />

Schlüssel stehlen.« »Haha, köstlich.« Plumplum wabbelte vor Heiterkeit.<br />

»Dieser jemand müßte uns den Schlüsselbund vom Hals reißen. Hast du so<br />

was schon gehört Hübeldübel?« Vergnügt klopften sich die beiden Recken<br />

auf die Brust: sechs Schlüssel klingelten metallisch.<br />

»Lasst es gut sein«, ließ Melanie sich vernehmen. Sie war müde und<br />

gähnte. »Dies ist die letzte Runde vor dem Geburtstag der Königin.«<br />

»Dann lass einen Stiefel auf meine Kosten rundgehen.« Ranzig war auf-


gesprungen und warf Geldstücke auf die Theke.<br />

»Ahoi. Der Kerl lernt endlich gute Wabbelsitten.« Bimballo zapfte einen<br />

großen Stiefel Honigbier. Den ersten Schluck nahm Ranzig selbst. Keiner<br />

bemerkte, wie er mit einer flinken Bewegung ein braunes Pulver in den<br />

Stiefel streute.<br />

Als nächster nahm Zippel einen großen Schluck. Die Hüter des Wabbel-<br />

steins ließen sich auch nicht lange bitten. Bimballo schließlich schüttete<br />

den Rest hinunter. Er hob den leeren Stiefel und rief: »Hoch lebe Königin<br />

Wabbeline!«<br />

»«S'wibbelt«, lallte Zippel, »ein verdammt starkes Gesöff.« Melanie<br />

löschte die Lichter.


Die Geburtstagsfeier<br />

Wohin man auch schaute: überall festlicher Glanz, herausgeputzte Wab-<br />

belanier und aufgeregtes Treiben. Aus den Fenstern hingen Fahnen und<br />

Girlanden. Hoch oben über den Zinnen der Burg flatterte die sechseckige<br />

Nationalflagge mit dem Wabbelwappen: zwei Gummibärchen, die einen<br />

Bienenkorb bewachten. Unten in den Straßen strömten die Leute zur Burg.<br />

Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, dass auf dem Burg-<br />

hof etwas Außergewöhnliches vorbereitet wurde. Zimmerleute hatten über<br />

Nacht eine hölzerne Plattform errichtet, zu der eine kurze Treppe führte.<br />

Neben dem Podest ragte ein quadratischer Sockel auf, der irgendetwas<br />

Großes und Rundes trug. Dieses rätselhafte Gebilde wurde von einem rie-<br />

sigen weißen Tuch verhüllt, welches aus 10 Bettlaken zusammengenäht<br />

war.<br />

Staunend gafften die Wabbelburger das Ungetüm an, und sie schnatter-<br />

ten durcheinander.<br />

Im großen Festsaal der Burg hatte die Feier bereits begonnen. An einem<br />

langen Tisch in der Mitte hatten die Ehrengäste Platz genommen. Der Tisch<br />

war mit einem schneeweißen Damasttuch bedeckt. Echte Bienenwachsker-<br />

zen warfen ein warmes Licht auf die Kristallgläser und silbernen Bestecke<br />

und verbreiteten einen verführerischen Geruch.<br />

»Hoch lebe Königin Wabbeline!« riefen die Ehrengäste wohl zum fünf-<br />

zehnten oder sechzehnten Mal. Dankend nahm Wabbeline die Geschenke<br />

entgegen und wabbelte mit unnachahmlicher Würde.<br />

Gerade verbeugte sich eine Abordnung des Kurortes Bad Glibberheim,<br />

das direkt am Glibbersee lag und für seine Glibberbäder berühmt war. Auf<br />

ein Zeichen öffneten goldbetresste Lakaien die Flügeltür, und hereinge-<br />

schoben wurde ein reich verziertes Himmelbett. Der Bürgermeister von<br />

Bad Glibberheim räusperte sich und sprach: »Verehrte Königin Wabbeline.<br />

Dieses Himmelbett ist ein Geschenk der Bürger von Bad Glibberheim. Es<br />

ist ein ganz besonderes Bett. Seine Matratzen sind nicht etwa mit pieksen-<br />

den Federn oder kratzigem Stroh gefüllt. Nein, der Inhalt dieser einzigarti-<br />

gen geschmeidigen Unterlage besteht aus Glibberwasser vom Glibbersee.<br />

Wer sich auf dieses Glibberwasserbett niederlegt, vergisst alle Sorgen und<br />

sinkt wie auf Wattewolken in den schönsten Schlummerschlaf.«<br />

»Aah« und »Ooh«, riefen die Ehrengäste. Wabbelnd zollten sie dem<br />

Bürgermeister ihre Anerkennung. Neugierig trat die Königin an das Was-<br />

serbett. Zwei pummelige Möpse tollten auf dem glucksenden Glibberma-


tratzen herum. Entzückt klatschte Wabbeline in die Hände und nahm die<br />

Möpse auf den Arm.<br />

»Von wem stammt denn dieses reizende Geschenk?« wollte sie wissen,<br />

»ist das ein Geheimnis?«<br />

Niemand meldete sich. Die Ehrengäste zuckten mit den Schultern und<br />

blickten um sich. Anscheinend fühlte sich keiner angesprochen.<br />

Für einen Augenblick runzelte Wabbeline die Stirn, doch beim Anblick<br />

der drolligen Möpse fing sie wieder an zu wabbeln.<br />

Auch König Wabbel II zog seine Stirn in Falten. Ratlos beugte er sich zu<br />

seinem Nachbarn, dem Professor Eierschädel. Professor Eierschädel galt<br />

als der genialste<br />

Kopf im Land und war der engste Berater des Königs.<br />

»Eine recht ungewöhnliche Art, ein Geschenk zu überreichen«, meinte<br />

der König.<br />

»Ungewöhnlich, unbedenklich und unbeholfen«, antwortete der Profes-<br />

sor. »Außerdem unübersichtlich, unheimlich, unverständlich, ungeheuer-<br />

lich, unüberbrückbar, ungebührlich, ja sogar unabänderlich!«<br />

»Mmh«, brummte Wabbel II, »etwa auch ungezogen?« Für einen<br />

Augenblick stutzte Professor Eierschädel. »Ungezogen? Vielleicht ungele-<br />

gen, ungekürzt, unförmig oder auch unermüdlich, jedoch keineswegs<br />

ungezogen.« Zustimmend nickte der König. Schließlich wollte er nicht<br />

zugeben, dass er nichts begriffen hatte. Der Professor war so schlau, dass<br />

niemand ihn verstand.<br />

»Seht nur«, rief Königin Wabbeline, »auf den Halsbändern sind Namen<br />

eingraviert.«<br />

Professor Eierschädel steckte sich seine Brille auf die Nase und nahm<br />

den ersten Mops in Augenschein.<br />

»Aha«, dozierte er, »eine korinthische Hieroglyphe aus der Zeit Rosinel-<br />

los, der auch der Zuckerkranke genannt wurde.«<br />

»Ja, ja«, drängte Wabbeline, »was aber bedeutet die Inschrift auf wab-<br />

belanisch?«<br />

»Mmh, mmh. Wenn ich auch des Korinthischen mächtig bin, so ist dies<br />

ein besonders schwieriger Fall, da hier offensichtlich eine Geheimschrift<br />

verwendet wurde. Dennoch erlaube ich mir zu sagen, dass es sich um das<br />

Wort Blumm handeln muß.«<br />

»Blumm?« fragte Wabbel II, »was bedeutet denn Blumm?« »Komisch«,<br />

unterbrach Wabbeline etwas unsicher, »ich kann es auch auf wabbelanisch<br />

lesen. Dann heißt es einfach Hübel.« »Hübel?« fragte ihr Gemahl, »das<br />

bedeutet doch auch nichts.« »Nun zum anderen Mops,« mahnte Eierschä-


del unwirsch, denn er hielt den Einwurf der Königin für äußerst unwissen-<br />

schaftlich. »Auf dem anderen Halsband lautet die genaue Übersetzung<br />

Pübel.« »Pübel?« Der König schämte sich langsam wegen seiner offenkun-<br />

digen Dummheit, »was soll denn Pübel bedeuten?« »Komisch«, meldete<br />

sich wieder Wabbeline, »auch hier kann ich auf gut wabbelanisch lesen. Es<br />

heißt Plum.« Angewidert putzte Professor Eierschädel seine Brille. Er<br />

rümpfte die Nase und dachte: »Ungebildete Laien.« Mit hochrotem Kopf<br />

erhob sich jetzt Melanie. Auch sie gehörte zu den Ehrengästen, allerdings<br />

eher auf Wunsch des Königs.<br />

»Wenn ich etwas sagen darf«, hauchte sie eingeschüchtert, denn vor so<br />

vielen wichtigen Persönlichkeiten war ihr ganz bibberig zumute.<br />

»Nur zu, schönes Kind«, ermunterte sie der König, und er blickte sie<br />

sehnsüchtig an. Dafür bekam er erst einmal einen Puff von Wabbeline.<br />

»Also diese beiden Namen zusammen, also Hübel und Plum, also das<br />

sind doch die Abkürzungen von Hübeldübel und Plumplum.«<br />

»Ja zum heiligen Wackelpudding!« rief der König ganz unmajestätisch.<br />

»Natürlich. Die Möpse sind die Geschenke von Hübeldübel und Plumplum<br />

und hören auf die Namen Hübel und Plum.«<br />

Nun wurde vor Freude erst einmal ausgiebig gewabbelt. Das Rätsel<br />

schien gelöst. Nur Professor Eierschädel verbohrte sich weiterhin in seine<br />

korinthische Theorie, und mit schulmeisterlichem Ton nörgelte er: »Wo<br />

sind sie denn, die beiden Helden? Ich kann sie nirgendwo entdecken. Seit<br />

wann kann man Möpse auf einem Wasserbett servieren, ohne selbst anwe-<br />

send zu sein?«<br />

Alle Augen richteten sich auf Melanie. Am liebsten wäre sie unter den<br />

Tisch gekrochen. Sollte sie etwa gestehen, wie sie heute morgen die Wirts-<br />

stube vorgefunden hatte? Bimballo hatte schlafend auf dem Honigfass<br />

gesessen. Schneider Zippel hing wie eine lauwarme Makkaroni über der<br />

Theke und pfiff aus beiden Nasenlöchern. Hübeldübel und Plumplum lagen<br />

übereinander und schnarchten um die Wette. Selbst saure Milch konnte sie<br />

nicht wieder aufwecken. Einzig, dieser übelriechende Brutus Ranzig war<br />

wie vom Erdboden verschluckt.<br />

»Nun?« rief der König.<br />

»Also, ja also. Es ist so, dass die beiden auf der Suche sind.« »Was<br />

suchen sie denn ausgerechnet am Geburtstag der Königin?« »Also sie<br />

suchen ihr Geburtstagsgeschenk, nämlich die beiden Möpse. Diese hatten<br />

sich losgerissen. Und nun suchen die beiden Kumpanen in der ganzen<br />

Stadt nach ihnen.« Puh, das war ihr gerade noch rechtzeitig eingefallen.<br />

Liebevoll streichelte Wabbeline die Möpse. Plötzlich begann sie zu


lachen: »Die furchtlosen Hüter des Wabbelsteins schleichen also hinter<br />

zwei Möpsen her!«<br />

Bei rechtem Licht betrachtet war es wirklich eine komische Situation.<br />

Die Geburtstagsgäste wabbelten vor Heiterkeit.<br />

Melanie allerdings war gar nicht zum Lachen. Schnell lief sie in den<br />

Nebenraum und rollte einen bereitstehenden Servierwagen in den Saal.<br />

Auf dem Wagen schlingerte der schönste Wackelpudding, den Melanie je<br />

gebacken hatte: der Königswackelpudding. Eine einzige Kerze brannte dar-<br />

auf, denn niemand kannte das Alter der Königin. Mit großer Würde blies<br />

Wabbeline die Kerze aus. Dann wurde der Wackelpudding unter die Gäste<br />

verteilt. Dazu gab es einen 12 Jahre alten Honigwein aus Bimballos Wein-<br />

keller.<br />

Immer festlicher und ausgelassener wurde die Stimmung. Insgeheim<br />

warteten zwar alle mit Spannung auf das Geschenk des Königs, aber sie<br />

ließen sich den Genuss des Speisen und Getränke dadurch nicht verder-<br />

ben.<br />

Gerade, als der König das Wort ergreifen wollte, rummste es laut. Mit<br />

einem Knall flog die Tür auf. Ein kalter Wind fegte durch die Beine der Leu-<br />

te und pustete die Kerzen aus. Im Halbdunkel des Saals bot sich der<br />

Geburtstagsversammlung ein schreckliches Bild: Zwei zerzauste und rotäu-<br />

gige Gestalten torkelten auf das Festmahl zu. Zwischen sich hatten die<br />

wüsten Gesellen eine schlaffe, jämmerliche Figur eingeklemmt, die sie wie<br />

einen Wasserschlauch hinter sich herschleiften. In der Mitte des Saals<br />

angelangt, ließen sie den Schlauch einfach fallen und brüllten mit heiserer<br />

Stimme: »Hoch lebe Königin Wabbeline! S'wabbelt!«<br />

Entsetzt stoben die Gäste vor dem Lärm zurück. »Ein Überfall«, jam-<br />

merte Eierschädel, »die Korinther fallen ein.«<br />

»S'wibbelt,« winselte es dazwischen, »s'wibbelt.« »Zippel? Bist du es?«<br />

Es war Melanies ängstliche Stimme. Rasch zündete sie eine Kerze an.<br />

Zippel lag auf dem Parkett, die Glasnudelbeine ineinander verknotet,<br />

mit rudernden Armen.<br />

»Ahoi! Laß fallen Anker!« erklang Hübeldübels Singsang, und er sackte<br />

seinerseits auf den Boden.<br />

»Aaah! Armseliges Gewürm«, schnaubte Plumplum, »keine Standfestig-<br />

keit mehr heutzutage.«<br />

»Das geht zu weit!« König Wabbel II blubberte furchterregend. »Am<br />

Geburtstag der Königin! Eine Zumutung! Eine Bloßstellung! Der Nieder-<br />

gang der wabbelanischen Ehre! Ich verlange eine sofortige Erklärung.«<br />

Mit spitz erhobenem Zeigefinger kreischte auch Professor Eierschädel


los: »Ungezogen, unverschämt und ungedübelt, äh, meine natürlich unge-<br />

hobelt.«<br />

»Ein Skandal!« blubberten die Ehrengäste.<br />

Hübeldübel wunderte sich. »Mir ist so« bemerkte er, »als würde hier<br />

laut geblubbert.«<br />

»Scheint seit heute üblich zu sein,« lallte Plumplum. Die beiden waren<br />

noch ganz durcheinander im Kopf. Alles schwamm vor ihren Augen.<br />

»Hihihi«, fistelte Zippel, »ganz neue Sitten, ganz neu.« Doch nun<br />

bewies König Wabbel II seine staatsmännische Überlegenheit und seine<br />

große Umsicht. Er winkte den Musikern, die in einer Ecke warteten und<br />

rief: »Wir wollen uns die Feier nicht verderben lassen. Die drei scheinen<br />

betrunken zu sein. Wir anderen wollen singen und tanzen.« Daraufhin nah-<br />

men die Männer ihre Frauen bei der Hand und führten sie zu der freigelas-<br />

senen Tanzfläche. Die Kapelle spielte zum Wabbeltanz auf. Alle sangen mit,<br />

tanzten und wiegten sich im Takt, und die fröhliche Stimmung kehrte wie-<br />

der ein.


»Es wabbelt, es schnabbelt,<br />

es schlingert im Takt.<br />

Wir wiegen uns, biegen uns,<br />

neigen uns zart.<br />

Wir walzen und balzen<br />

und pendeln im Kreise.<br />

Wir schunkeln und schmunkeln<br />

und summen ganz leise.<br />

Das Lied von Wabbelanien,<br />

von Sirup und Geranien.<br />

Das Lied vom Wabbelstein,


von Pudding und Honigwein.<br />

Es wabbelt und schnabbelt in Wabbelanien, wippelt und zippelt in Wip-<br />

pelesien,<br />

püffelt und müffelt in Kloakien,<br />

stichelt und stachelt im Stachelland,<br />

am schönsten ist es im Wabbelland.<br />

Obwohl doch Melanie das begehrteste Mädchen im Lande war, saß sie<br />

allein am Tisch. Sie mochte nicht tanzen. Wenn sie an die Vorgänge im<br />

Goldenen Dotter dachte, krampfte sich ihr Herz zusammen, und sie hatte<br />

schlimme Vorahnungen.<br />

»Es ist an der Zeit«, verkündete der König nach dem Tanz, das Geheim-<br />

nis meines Geburtstagsgeschenks zu lüften. Folgt mir auf den Burghof.«<br />

Auf demPlatz wimmelte es vor Wabbelaniern. Vor dem Holzpodest<br />

erregte ein seltsamer Mann die Aufmerksamkeit der Leute. Linkisch hüpfte<br />

er von einem Bein auf das andere. Es handelte sich um Felix Kräuselohr,<br />

seines Zeichens Hofkünstler und Maler der königlichen Familie. Eine<br />

schwarze Baskenmütze hielt seine krausen Haarlocken zusammen. Seinen<br />

gewaltigen Schnurrbart hatte der Künstler nach oben gezwirbelt, so dass<br />

die Bartspitzen bis an die Ohren reichten. Zu allem Überfluss hatte er sie<br />

auch noch rot und grün gefärbt, über der ausgebeutelten Pumphose flat-<br />

terte eine Zirkusweste, an der Troddeln und silberne Kettchen baumelten.<br />

»Und nun, Meister Kräuselohr«, befahl Wabbel II, »enthülle das Werk.«<br />

Behände hüpfte der Künstler auf das Podest und ergriff eine Falte des<br />

Tuches, welches das geheimnisvolle Geburtstagsgeschenk verbarg. Lang-<br />

sam und weihevoll zog er das Tuch ab.<br />

»Aaah.« Ein Raunen ging durch die Menge. Vor den Wabbelaniern erhob<br />

sich die lebensechte Statue der Königin Wabbeline.<br />

»Es lebt«, flüsterten die Zuschauer ehrfürchtig. Und wirklich schien die<br />

Statue sich zu bewegen. Ganz deutlich war ein Wabbeln und Schwanken zu<br />

bemerken. Selbst der König brachte vor Staunen kein Wort heraus. Wie<br />

konnte er auch ahnen, dass Meister Kräuselohr in monatelangen Versu-<br />

chen ein neues Material erfunden hatte. Es war ein Gemisch aus Gelee,<br />

Melasse, Gummilösung und Bienenwachs. Aus diesem Kunststoff war die<br />

Statue geformt, und sie bebte und vibrierte beim kleinsten Luftzug.<br />

So etwas hatte Wabbelburg noch nicht gesehen. Die Einwohner moch-<br />

ten ihren Augen nicht trauen. Kein Wort, kein Laut war zu hören.<br />

»Doong!! Doong!!« Wie ein Kanonenknall platzte die große Kirchturm-


uhr in das Schweigen.<br />

»Ding!! Dong!! Dang!!« Eine weitere Glocke schlug an, dann noch eine<br />

und noch eine. Ein ohrenbetäubender Lärm setzte ein und ließ die Stadt<br />

erbeben. Alle Glocken läuteten Sturm. Lauter und lauter wurde das Getö-<br />

se. Vor Schmerz hielten sich die Leute die Ohren zu. Es wollte kein Ende<br />

nehmen.<br />

Dann, als es keiner mehr aushalten konnte, brach der Höllenlärm<br />

abrupt ab. Eine unheimliche Stille lähmte die Herzen der Wabbelanier.<br />

Endlich, nach ewigen Minuten, fasste sich einer ein Herz und flüsterte:<br />

»Der Wabbelstein.«<br />

Aber das Flüstern toste in den Ohren wie ein Wasserfall. Eine weißhaari-<br />

ge Frau klagte mit brüchiger Stimme: »Der Wabbelstein ist geraubt wor-<br />

den.«<br />

Bleich vor Schrecken rief Wabbel II: »Holt mir die Hüter des Wabbel-<br />

steins.«<br />

Sie standen schon neben ihm. Mit fester Stimme rief Hübeldübel: »Noch<br />

sind die Eisentore fest verschlossen. Seht und hört her, ihr Hasenfüße.«<br />

Die beiden Recken stiegen auf das Holzpodest und klopften sich mit den<br />

Fäusten auf die Brust. Platsch, klang es, und nochmals: Platsch. Kein<br />

metallisches Klingeln, kein Schlüsselgeklirr. Die Schlüssel waren fort.<br />

Es gab keinen Zweifel mehr: Der Wabbelstein war gestohlen worden.


Die Untersuchung<br />

Der Krisenstab tagte. König Wabbel II hatte die Geburtstagsfeier abge-<br />

brochen und den Sicherheitsrat des Landes einberufen. Zum Rapport wur-<br />

den bestellt: die Hüter des Wabbelsteins sowie Bimballo, Zippel und Mela-<br />

nie. Professor Eierschädel führte den Vorsitz. Beigeordnet waren ihm<br />

Innenminister Schleimer und Kommandant Lanzetto. Lanzetto befehligte<br />

die Festung Sextagon an der Grenze zu Stachelland.<br />

Forsch begann Professor Eierschädel mit dem Verhör.<br />

»Melanie, steh auf und berichte. Ungetrübt, ungelogen und unge-<br />

schminkt. Was geschah gestern im Goldenen Dotter? Alle Einzelheiten sind<br />

von größter Bedeutung.«<br />

Mit zitternden Knien berichtete Melanie vom Verlauf des verhängnisvol-<br />

len Abends. Immer wieder wurde sie unterbrochen von Aha- und Soso-Ru-<br />

fen. Sie verschwieg nichts. Erst mit der Schilderung des nächsten Morgens<br />

endete sie. »Und ich schwöre beim legendären Wabbelstein: nicht einmal<br />

mit saurer Milch konnte ich die Schlafenden wecken. Zumindest für<br />

Hübeldübel ist dies ganz außergewöhnlich und noch nie vorgekommen.«<br />

»Das kann ich bestätigen«, ergänzte Wabbel II.<br />

»Nun zu Plumplum«, raunzte Kommandant Lanzetto, »was geschah<br />

nach dem Glockenläuten?«<br />

Plumplum riss seinen Mund auf und brüllte wie gewohnt »Aaah!«, doch<br />

zur Strafe zuckte ein böser Stich durch sein Gehirn. Mit belegter Stimme<br />

und eingezogenem Kopf fuhr er fort: »Alle sechs Eisentore waren weit<br />

geöffnet. Vom Schrein mit dem Wabbelstein keine Spur. Stattdessen hing<br />

weit oben im Glockenturm das zerfranste Hanfseil. Der Knoten war halb<br />

offen, halb zerschnitten.«<br />

Kommandant Lanzetto unterbrach den Bericht Plumplums. »Hübeldübel!<br />

Um was für einen Knoten handelte es sich, und wie konnte es geschehen,<br />

dass er geöffnet werden konnte?«<br />

»Ahoi. Den Schrein hatte ich gleich vierfach gesichert. Eingeschnürt<br />

hatte ich ihn mit einem komplizierten Knoten, der in der Schiffersprache<br />

Doppelter Palstek heißt. Zusätzlich hatte ich den Wabbelstein gesichert<br />

durch einen Tampen mit einem Spezialknoten, dem sogenannten Boots-<br />

mannstuhl. Ein drittes Seil kniff das Ganze ein mit einem Knoten, der den<br />

Namen trägt Festes Auge. Das lange Tauwerk musste verkürzt werden<br />

durch einen raffinierten Knoten. Dieser Knoten ist als Englische Trompete<br />

bekannt. Den gesamten Vierfachknoten befestigte ich weit über Kopfeshö-


he an das Hanfseil. Außer mir hätte niemand die Knoten lösen können.<br />

Zerschnitten werden konnten sie höchstens mit einer solch scharfen Klin-<br />

ge, wie sie nur im Stachelland herstellt und benutzt wird.«<br />

Plumplum ergänzte, immer noch noch leise und vorsichtig: »Und auf<br />

dem Boden fanden wir rostige Nägel und Glasscherben, wie sie in den<br />

Straßen und Häusern von Stachelland herumliegen.«<br />

Verwundert starrte Bimballo den kugelrunden Recken an und meinte:<br />

»Noch nie habe ich ihn flüstern hören, äußerst ungewöhnlich und nicht<br />

vorgekommen.«<br />

»Das kann ich bestätigen«, ergänzte wiederum der König.<br />

»Keine Ablenkung bitte!« bellte Innenminister Schleimer, »wer führt<br />

hier eigentlich die Untersuchung?«<br />

»Herr Kollege!« kreischte Eierschädel los, »ungeziemlich, unangemes-<br />

sen und unverfroren! Wollen Sie mich etwa kritisieren?«<br />

»Seit wann siezen wir uns?« fauchte der Innenminister zurück. Man<br />

muss wissen, dass das Siezen in Wabbelanien einer Beleidigung gleichkam.<br />

»Ungekämmt und ungekocht! Seit dem Tode des Grütz von Becherlin-<br />

gen, den Sie vermutlich nicht kennen und den ich dennoch hiermit zitiere:<br />

Sie können mich mal.«<br />

»Was zum Teufel hat dieser Grützbecher mit dem Verschwinden des<br />

Wabbelsteins zu schaffen, he?«<br />

Eisig blubberte sich der Sicherheitsrat an. Wieder einmal musste König<br />

Wabbel mit staatsmännischer Umsicht die Wogen glätten.<br />

»Wir stehen kurz vor der Aufklärung«, beruhigte er, »die Fakten liegen<br />

auf dem Tisch. Welche Rückschlüsse zieht ihr? Wer also ist der Räuber, und<br />

wo ist der Wabbelstein?«<br />

Nach einer kurzen Denkminute verkündete der Vorsitzende des Rats,<br />

Professor Eierschädel, sein Urteil: »Unwiderlegbar und unwidersprochen!«<br />

Er zeigte mit seinem Finger auf Bimballo. »Nehmt ihn fest, den Dieb des<br />

Wabbelsteins. Er ist der Täter.«<br />

»Bimballo?« rief Hübeldübel zweifelnd, »unser Bimballo?« Melanie<br />

begann zu schluchzen und vergoss große Kullertränen. Bimballo selbst<br />

stemmte störrisch seine Fäuste in die Taschen.<br />

»Aaah!« brüllte Plumplum ungeachtet seiner schmerzenden Kopfstiche,<br />

»den Beweis! Ohne Beweis keine Festnahme.«<br />

»Ungehobelt, unbeherrscht und unleidlich. So höre denn: einzig Bimbal-<br />

lo war nicht auf der Feier anwesend und konnte ungesehen zum Wabbel-<br />

stein. Gestern im Goldenen Dotter hat er ein starkes Schlafmittel in das<br />

Honigbier geschüttet. Als alle eingeschlafen waren, konnte er unbemerkt


die Schlüssel an sich nehmen. Dann hat er sich ebenfalls schlafend<br />

gestellt. Oder aber, noch schlimmer, Melanie hat ihm als Komplizin gehol-<br />

fen. So war es. Rabentochter elende! Ungeziemlich, ungezogen und unbe-<br />

scheiden.«<br />

»Ungeheuerlich«, stöhnte Wabbel II und sackte in sich zusammen, »wie<br />

konnte ich mich nur so täuschen.«<br />

Finster blubberten Hübeldübel und Plumplum vor sich hin. Das passte<br />

ihnen nicht. Das glaubten sie nicht. Nicht Bimballo, der nicht! Und schon<br />

gar nicht Melanie. An diese beiden würden sie keine Hand anlegen. Selbst<br />

wenn sie schuldig waren.<br />

»Nun, was wartet ihr noch,« bellte Innenminister Schleimer, »dies ist<br />

ein Befehl. Verhaftet sie und werft sie in das Verlies. Bei Feuerquallen und<br />

saurer Milch sollen sie büßen.«<br />

Zippel richtete sich auf. Er bibberte mit allen seinen Knochen. »Verehr-<br />

ter König Wibbel, oh, äh, Wabbel.«<br />

ten.<br />

»Was will der Schneider noch?« knurrte Kommandant Lanzetto ungehal-<br />

»S'wibbelt ergebenst.« Zippel stolperte zum Verhandlungstisch, trudel-<br />

te, ruderte mit den Armen und fiel auf die Nase. Keiner half ihm. Er setzte<br />

sich auf. »Ich bitte ergebenst zu bedenken, dass Bimballo das Schlafmittel<br />

nicht in den Stiefel geschüttet haben kann.«<br />

»Ungläubig und ungebildet. Ein Schneider will also wissenschaftliche<br />

Erkenntnisse untergraben. Korinther! Salzlecker!«.<br />

Aber Eierschädel hatte nicht mit der Verbissenheit Zippels gerechnet.<br />

»Zwei Beweise«, fistelte er, »erstens: Bimballo hat selbst vom Bier getrun-<br />

ken. Alle haben es gesehen. Also musste er selbst einschlafen und konnte<br />

die Schlüssel nicht stehlen. Zweitens: wo ist dieser übelriechende Brutus<br />

Ranzig geblieben? Der hätte als erster einschlafen müssen. Im Gegenteil«,<br />

Zippel ereiferte sich und fuchtelte mit seinen schlakserigen Armen vor der<br />

Nase des Innenministers herum, »im Gegenteil: Fischhändler Ranzig war<br />

der einzige, der das Schlafpulver in das Bier geschüttet haben kann. Und<br />

zwar erst, nachdem er schon getrunken hatte. Wir anderen bekamen kein<br />

Honigbier, sondern Baldrianbier.«<br />

»So muss es gewesen sein«, jubelte Melanie. Sie zog Zippel zu sich und<br />

gab ihm einen Kuss.<br />

»Seht einer an!« schrien Plumplum und Hübeldübel eifersüchtig, »so<br />

also erschleicht man sich neuerdings einen Kuss.«<br />

Beide pufften Zippel erbost in die Rippen, so dass dieser kopfüber in die<br />

Ecke flog. Aber völlig unbeeindruckt leuchtete ein seliges Lächeln auf sei-


nem Gesicht: Melanie hatte ihm, Zippel, einen Kuss gegeben.<br />

Noch gab Professor Eierschädel sich nicht geschlagen. »Eine korinthi-<br />

sche Finte«, rief er, »unbelegt, unverantwortlich und äußerst ungelegen.«<br />

Mit Innenminister Schleimer konnte er allerdings nicht mehr rechnen.<br />

Dieser, ein gewiefter Taktiker, der an dem Ministersessel klebte wie eine<br />

Fliege an einem Honigfliegenfänger, hatte bereits den Sinneswandel des<br />

Königs bemerkt und dessen sehnsüchtige Blicke zu Melanie ganz richtig<br />

gedeutet: für Wabbel II war Brutus Ranzig schuldig. Schleimer ließ die<br />

Gelegenheit nicht aus, sich beim König beliebt zu machen. Er klopfte mit<br />

den Knöcheln auf den Tisch und erklärte mit fester Stimme: »Ich stelle<br />

abschließend fest. Der hier unbekannte Fischhändler Brutus Ranzig hat ein<br />

Schlafmittel eingesetzt, um an die Schlüssel zu kommen. Den Trubel der<br />

Geburtstagsfeier hat er ausgenutzt, um unbemerkt die Eisentore zu öffnen.<br />

Mit einer scharfen Klinge hat er dann die 4 Knoten zerschnitten und ist mit<br />

dem Wabbelstein geflüchtet. Dieser Ranzig kann aufgrund der Beschrei-<br />

bungen und Indizien nur und ausschließlich ein Stachelländer gewesen<br />

sein. Demnach befindet sich der Wabbelstein jetzt in der Stachelburg des<br />

Generalissimo Krtzkrr Kriegers. Die Untersuchung ist hiermit abgeschlos-<br />

sen.«<br />

Betroffen hämmerte sich Wabbel II an die Schläfen. Der Wabbelstein<br />

war also im Stachelland. Was war zu tun?


Der Geheimplan<br />

Der erste Vorschlag kam von Kommandant Lanzetto. »Ganz einfach. Wir<br />

ziehen alle Truppen zusammen. Dann rücken wir in Stachelland ein und<br />

erobern die Stachelburg. In einem Handstreich setzen wir Krtzkrr Krieger<br />

fest und zwingen ihn, den Wabbelstein herauszugeben.«<br />

»Was für Truppen?« fragte Innenminister Schleimer. »Wir haben doch<br />

gar keine Truppen.«<br />

»Dann müssen wir eben eine Armee aufbauen. Die Wabbelanier werden<br />

zum Dienst an der Waffe eingezogen.«<br />

»Zum Dienst an der Waffe! Das ist ja zum Wabbeln. Wir kriegen keine<br />

10 Mann dazu, eine Kanone abzufeuern. Die Wabbelanier sind viel zu fried-<br />

liebend.«<br />

So ging es hin und her.<br />

Professor Eierschädel hatte sich derweil in den hinteren Teil des Bera-<br />

tungszimmers zurückgezogen. Er brütete etwas aus. Vor ihm auf dem<br />

Tisch lag ein hoher Stoß Papier. Mit einem Bleistift kritzelte er ein Blatt<br />

nach dem anderen voll. Kaum hatte er eins fertig, betrachtete er es miss-<br />

mutig, grunzte »Untauglich und unausführbar«, knüllte das Blatt zusam-<br />

men und warf es auf den Boden. Seine Füße versanken schon in den<br />

Papierknäueln.<br />

Plumplum meldete sich zu Wort. »Wir, nämlich Hübeldübel und ich, wir<br />

als Hüter des Wabbelsteins sind uns unseres großen Versagens bewusst.«<br />

Er vergoss dicke Kullertränen, was bekanntlich in Wabbelanien keine<br />

Schande war. »Diese Schuld kann nur von uns beiden wieder gutgemacht<br />

werden, und niemand sonst braucht sich in Gefahr zu bringen. Wir beide<br />

werden allein in Stachelland eindringen und den Wabbelstein<br />

zurückholen.«<br />

»Unerschrocken aber unbedacht«, antwortete Eierschädel. Er meinte<br />

seinen letzten Entwurf, den er gerade zusammenballte und unter den Tisch<br />

warf. Inzwischen waren seine Knie von Papiermüll bedeckt.<br />

»Ausgeschlossen!« rief auch König Wabbel. »lhr kommt noch nicht ein-<br />

mal bis zur Stachelburg. Jeder kennt euch. Ihr würdet sofort entdeckt wer-<br />

den. Zu zweit habt ihr gegen die stachelige Soldateska keine Chance.<br />

Außerdem ist euch das Land jenseits der Grenze nahezu unbekannt. Wir<br />

besitzen nur sehr lückenhafte Kenntnisse von Stachelland.«<br />

Innenminister Schleimer entrollte eine Landkarte von Wabbelanien. Die<br />

Zeichnung leuchtete in den blühensten Farben. Alle Einzelheiten waren lie-


evoll ausgemalt: die Hauptstadt Wabbelburg, der Fluss Gelantine, der<br />

nahe der Hauptstadt vorbeifloss, der Glibbersee mit dem Kurort Bad Glib-<br />

berheim, die Polleninsel, die Melonenplantagen, der Gummibaumwald, das<br />

Faltengebirge mit dem Vulkan, Straßen und Dörfer und vieles andere mehr.<br />

Schleimer hängte die Landkarte auf einen Kartenständer. Mit einem<br />

Stock wies er auf das Faltengebirge. »In diesem unwegsamen Gebiet ver-<br />

läuft die Grenze. Zwei Pässe führen ins Stachelland: der Schwartenpass<br />

und der Scherbenpass. Was aber jenseits der Pässe auf euch wartet, weiß<br />

niemand mit Sicherheit. Nicht einmal den genauen Standort der Haupt-<br />

stadt Stachelburg ist uns bekannt.«<br />

Der Innenminister entrollte eine weitere Karte. Ein zackiger, sternförmi-<br />

ger Umriss stellte die Grenzen Stachellands dar. Links am äußeren Rand<br />

war der Übergang zum Faltengebirge eingezeichnet. Die beiden Pässe ver-<br />

liefen von Wabbelanien aus ins Nichts, in eine weiße Einöde.<br />

Erneut hob Schleimer der Stock und zeigte auf einen Klecks in der Mitte<br />

von Stachelland. »Dort vermuten wir die Hauptstadt Stachelburg. Sie kann<br />

aber auch weiter rechts liegen oder sogar ganz oben an der Grenze zu<br />

Kloakien. Was aber an Gefahren auf dem Weg dorthin lauert, wissen wir<br />

nicht. Die weiße Einöde auf der Karte stellt keineswegs Wüstengebiet oder<br />

Sumpfgelände dar. Mit Sicherheit können wir nur sagen, dass unser Falten-<br />

gebirge in ein Klippengebirge übergeht. Danach kommt Niemandsland.<br />

Gerüchten zufolge gibt es dort tiefe Erdspalten, kochende Schwefelquellen,<br />

Kakteen- und Nadelwälder und eisige Flüsse.«<br />

»Unerforscht und undurchdringbar«, grunzte Eierschädel und wischte<br />

das hundertste Blatt vom Tisch.<br />

Trotzig stapfte Hübeldübel mit dem Fuß auf. »Ha, Soldateska, zum Wab-<br />

beln. Wagt es jemand, an unserem Mut zu zweifeln?«<br />

Kommandant Lanzetto mischte sich ein: »Niemand zweifelt an eurem<br />

Mut. Aber euer Mut hat auch den Diebstahl des Wabbelsteins nicht verhin-<br />

dern können. Also..«<br />

»So geht es!« unterbrach ihn Professor Eierschädel. Und mit eitlem<br />

Stolz rief er: »Hier ist die Lösung!«<br />

Raschelnd kam er aus seinem Papierberg hervor. In der Hand hielt er<br />

ein vollgeschriebenes Blatt. »Ein Geheimplan! Unlesbar und unerklärlich.«<br />

Bei den letzten Worten beschlich König Wabbel ein unangenehmes<br />

Gefühl. 'Hoffentlich verstehe ich es diesmal', dachte er kleinmütig. Sehr<br />

viel Hoffnung hatte er nicht.<br />

»Diesen Geheimplan«, erklärte Eierschädel, »habe ich in korinthischen<br />

Hieroglyphen aufgezeichnet. Niemand außer mir kann die Zeichen und


Runen entziffern. Einfach aber genial. Denn niemand kann den Plan enträt-<br />

seln und dem Gegner verraten.«<br />

»Mmh, mmh«, brummte Wabbel II. Insgeheim hoffte er, ein anderer<br />

würde vielleicht eine dumme Frage stellen.<br />

»Weiter jetzt. Der Geheimplan beruht auf einer List. Rosinello der<br />

Zuckerkranke benutzte sie vor 200 Jahren. Mit dieser List vertrieb er die<br />

Kloakier, die doch sage und schreibe die Prinzessin Rosaline entführen<br />

wollten.«<br />

»Keine Ablenkung bitte!« bellte Schleimer in den Vortrag hinein. »Zur<br />

Sache! Die Zeit drängt.«<br />

»Wollen Sie mich schon wieder kritisieren?« kreischte Eierschädel los.<br />

Nun wurde es Plumplum zu dumm. Er stapfte zum Professor und entriss<br />

ihm das Papier.<br />

»Aah!« brüllte er. »Tatsächlich! Es ist nicht zu lesen. Genial. Völlig<br />

unverständlich.«<br />

»Zeig her.« Hübeldübel beugte sich über den Plan. »Hier ist ganz deut-<br />

lich eine Figur zu erkennen. Sie steht auf dem Kopf. Sieht aus wie eine<br />

menschliche Bohnenstange, die Kopfstand übt.«<br />

»Unlösbar, unlösbar«, triumphierte Eierschädel.<br />

'Egal', dachte Wabbel II, 'was sie auch von mir halten, ich muß es fra-<br />

gen.' Laut fragte er: »Wenn es niemand lesen kann, wie soll der Plan denn<br />

ausgeführt werden? Wir kennen ihn schließlich selbst nicht.«<br />

»Soll hier die Genialität meines Geheimplans angezweifelt werden?«<br />

Der Professor tat beleidigt. »In dem Fall zitiere ich Grütz von Becherlingen.<br />

Sie können mich mal alle.«<br />

»Komisch.« Melanies Stimme zitterte noch etwas. »Ich kann es auch<br />

auf gut wabbelanisch entziffern. Hier steht: Dies ist der Ausweis von<br />

Schneider Zippel aus Wabbelanien. Zippel ist als Spion unterwegs, um das<br />

Versteck des Wabbelsteins auszukundschaften. Der Besitzer dieses Auswei-<br />

ses hat freie Fahrt durch Stachelland.«<br />

Wie vom Donner geschlagen verstummten die anderen.<br />

»Ja«, redete Melanie munter weiter, »und die Bohnenstange hier ist<br />

Zippels Passbild.«<br />

»Aber wieso macht er einen Kopfstand?« fragte ihr Vater Bimballo.<br />

»Kopfstand? Im Gegenteil. Er schlenkert wie gewohnt auf seinen Glas-<br />

nudelbeinen. Seht doch.«<br />

Sie reichte den Geheimplan den anderen zurück. Bevor diese sich<br />

äußern konnten, sprang Eierschädel auf Melanie zu und giftete : »Verrat!<br />

Korinthische Spionin! Habs doch gleich gewusst. Sie hat den Geheimplan


auf den Kopf gestellt. Man muss ihn umgedreht lesen. Dann ist er nicht zu<br />

enträtseln.«<br />

»Aha«, machten alle verblüfft.<br />

König Wabbel bekam Kopfschmerzen. Hatte er als einziger die Vermu-<br />

tung, dass der Geheimplan gar nicht so geheim war? Wenn er doch nur die<br />

Gedanken der anderen lesen könnte.<br />

Als hätte Innenminister Schleimer die Gedanken seines Königs erraten,<br />

spöttelte er bissig: »Das soll also geheim sein? Dann müsste aber noch<br />

eine Gebrauchsanweisung beiliegen, auf der steht, wo oben und unten ist.<br />

Damit keiner das Blatt richtig herum, also verkehrt herum, also wie auch<br />

immer herum hält.«<br />

»Wo ist eigentlich Zippel geblieben?« fragte Bimballo.<br />

Zippel war verschwunden.<br />

»Hab ihn gar nicht weggehen hören«, meinte Lanzetto.<br />

»Da, schaut mal.« Melanie zeigte auf die Papierknäuel. »Der Papierhau-<br />

fen bewegt sich.«<br />

Ein langes dünnes Glasnudelbein streckte sich aus den Knäueln. Zippel<br />

hatte sich verkrochen. Er bibberte, ja er fröstelte vor Angst. Nach Stachel-<br />

land wollte er nicht gehen, weder als Spion noch als Schneider noch als<br />

Fischhändler. Er war nicht mutig.<br />

»Warum ausgerechnet der bibberige Zippel?« wollte der König vom Pro-<br />

fessor wissen.<br />

»Unersetzlich und unnachahmlich. Zippel ist der einzige unter uns, der<br />

nicht wie ein Wabbelanier aussieht. Kein Stachelländer würde ihn als Spion<br />

verdächtigen. Außerdem kann Zippel mit spitzen Nadeln umgehen. Wir<br />

schicken ihn als Nagel-, Nadel- und Kratzbürstenhändler nach Stachelburg.<br />

Dort muss er sich das Vertrauen von Krtzkrr Krieger erschleichen und aus-<br />

spionieren, wo der Wabbelstein versteckt ist.«<br />

»Er wird sich vor lauter Angst verraten«, zweifelte Bimballo.<br />

»Mein Geheimplan wird ihm helfen«, widersprach Eierschädel. »Der<br />

Ausweis beweist seine korinthische Herkunft. Er muss nur richtig herum<br />

gehalten werden.«<br />

»Mein wabbelanisches Bibbern wird mich verraten.« Zippel hatte alles<br />

mitgehört. Er kroch aus dem Papierberg. »Bestimmt werde ich vor Angst<br />

sterben.« In seiner Vorstellung sah er sich schon als Gefangener des<br />

schrecklichen Generalissimo Krieger. Vor Selbstmitleid weinte er große Kul-<br />

lertränen.<br />

»Das kann man ja nicht mit ansehen«, rief Hübeldübel, »außerdem,<br />

was passiert, wenn Zippel wider Erwarten zurückkehrt? Den Wabbelstein


haben wir dann immer noch nicht.«<br />

Alle richteten sich dem Professor zu. »Wenn wir erst einmal den Plan<br />

von Stachelland und der Stachelburg haben, werden Hübeldübel und<br />

Plumplum den Wabbelstein in einer Nacht- und Nebelaktion zurückholen.<br />

Und zwar mit korinthischer List und Tücke.«<br />

Hals.<br />

Melanie hatte sich zu Zippel gesetzt. Sie schlang einen Arm um seinen<br />

»Es muss sein«, redete sie ihm zu. »Wabbelanien sieht auf dich. Es wird<br />

die größte Heldentat in der wabbelanischen Geschichte.« Und sie küsste<br />

ihm nochmals mitten auf den Mund.<br />

»Schon wieder!« brüllte Plumplum, »so also erschleicht man sich neuer-<br />

dings gleich zwei Küsse!«<br />

Wütend fielen die Hüter des Wabbelsteins über den Schneider her und<br />

rissen an seinen Glasnudelbeinen. Unnötig zu sagen, dass etliche Töpfe<br />

saurer Milch vergossen werden mussten, um die Hitzköpfe abzukühlen.<br />

Unnötig auch zu sagen, dass Zippel nun endgültig überredet war. Welcher<br />

Mann konnte schon Melanies Küssen widerstehen?


Der Abschied<br />

Zippel erschrak. Er stand vor seinem großen Spiegel. Ein furchterregen-<br />

der Bursche fuchtelte ihn drohend an.<br />

»Was habt ihr bloß mit mir gemacht«, jammerte er. »Vor meinem eige-<br />

nen Spiegelbild bekomme ich Angst.«<br />

»Umso besser«, antwortete Professor Eierschädel. »Unangenehm aber<br />

unerlässlich.«<br />

Zwar sah Zippel ohnehin nicht wie ein echter Wabbelanier aus. Aber der<br />

Professor hatte gemeint, man müsse ihn zusätzlich noch tarnen. Sozusa-<br />

gen aus Sicherheitsgründen.<br />

Zunächst hatten sie Zippel vollständig entkleidet. Melanie war inzwi-<br />

schen mit einer Liste von Gegenständen unterwegs, die sie besorgen soll-<br />

te. Statt seiner bequemen Pumphose bekam Zippel eine enge, kneifende<br />

und steinharte Lederhose übergezogen.<br />

»Lasst mir wenigstens meine Hosenträger«, klagte Zippel. Stattdessen<br />

schnürte Hübeldübel den Klapperbauch mit einem Gürtel zusammen, der<br />

aus rostigen Eisengliedern zusammengefügt war.<br />

»Hier, fang!« Plumplum warf dem Schneider eine Jacke zu. Es klapperte<br />

und klirrte blechern. Die Jacke, eine fremdländische Uniformjacke, hatte<br />

anstelle von Knöpfen Metallösen und -schlösser. Eisennieten hielten die<br />

Nähte zusammen. Sogar ein alter verbogener Orden baumelte an der lin-<br />

ken Brusttasche.<br />

»Sie kratzt«, beklagte sich Zippel. »Davon wird meine Haut wund und<br />

schorfig.«<br />

»Na gut«, brummte Bimballo, »zieh deine Schneiderweste darunter. Die<br />

Jacke wird sie verbergen. Du musst sie nur immer ordentlich zuknöpfen.«<br />

»So, und jetzt noch die Stiefel.« Kommandant Lanzetto reichte Zippel<br />

ein Paar schwarze Reiterstiefel. Hacken und Spitzen waren mit Eisen<br />

beschlagen. An den Absätzen blinkten scharfkantige Sporen. Gehorsam<br />

schlüpfte Zippel in die Folterinstrumente. Wehmütig trauerte er seinen<br />

gemütlichen Puschen nach. Sicher würden bald Blasen und Hühneraugen<br />

seine Füße piesacken.<br />

Zum Schluss setzte Innenminister Schleimer Zippel eine Mütze auf den<br />

Kopf. Schleimer hatte sie in seiner Rumpelkammer gefunden, in der er<br />

allerlei Unnützes aus vergangenen Tagen aufbewahrte. Die Mütze war ein<br />

sogenannter Dreispitz. So eine Art dreieckiger Hut.<br />

»Der Korinther ist fertig.« Wohlgefällig drehte Eierschädel den Schnei-


der hin und her.<br />

»Mmh«, brummte König Wabbel, der sich bis dahin alles schweigend<br />

angesehen hatte. »Ich finde, er sieht eher aus wie ein entflohener Soldat<br />

aus Kloakien.«<br />

bel.<br />

»Als Karnevalsprinz ist er auch nicht zu verachten«, überlegte Hübeldü-<br />

Es klopfte. Vorsichtig öffnete Lanzetto die Tür. Eine große Kiste schob<br />

sich durch den Spalt, gefolgt von Melanie.<br />

»Huch«, rief sie erschrocken und ließ die Kiste fallen. »Was ist das?«<br />

»Was ist das, was ist das«, äffte Eierschädel nach, »natürlich ein Korinther.<br />

Sieht doch jeder ohne hinzugucken.« Melanie prustete los. Sie vergaß ganz<br />

die Anwesenheit des Königs und des Ministers. »Ein Korinther ist das?<br />

Sieht eher wie eine Vogelscheuche aus. Wie eine etwas unglückliche<br />

Schneidervogelscheuche.« Sie wabbelte und konnte gar nicht aufhören.<br />

»Zur Sache!« pfiff Innenminister Schleimer die respektlose Wirtstochter<br />

an. Melanie verstummte sofort. Sie klappte den Deckel der Kiste auf. »Wie<br />

befohlen: rostige Nägel, spitze Nadeln in allen Größen und ein Sortiment<br />

Kratzbürsten. War gar nicht so leicht, so etwas in Wabbelanien aufzutrei-<br />

ben.«<br />

»Gut gemacht«, lobte Schleimer beruhigt. »An die Kiste befestigen wir<br />

einen Riemen. Auf diese Weise erhalten wir einen Bauchladen für Zippel.«<br />

»Dann geht es also los«, seufzte der Schneider.<br />

Professor Eierschädel gab letzte Anweisungen: »Der Geheimplan, bezie-<br />

hungsweise der korinthische Ausweis, gehört in die Jackentasche hinter<br />

dem Orden. Hübeldübel und Plumplum begleiten Zippel bis zur Grenze.<br />

Dort warten sie auf seine Rückkehr. Kommandant Lanzetto wird ebenfalls<br />

mitgehen, allerdings nur bis zur Festung Sextagon. Bei Gefahr können die<br />

Hüter des Wabbelsteins sich dorthin zurückziehen. Es kann losgehen.<br />

S«wabbelt!«<br />

»S'wabbelt. Ahoi!« rief Hübeldübel. »Heiß die Segel!« »Wartet!« Mela-<br />

nie zog schnell ein paar Tüten aus ihrer Tasche. »Hier habe ich noch ein<br />

paar Süßigkeiten für den Weg.« Zippel erhielt die erste Tüte und – einen<br />

Kuss! Flink sprang Melanie zu Plumplum, der gerade zu einem neidischen<br />

Gebrüll ansetzen wollte, und gab ihm ebenfalls einen Kuss. Und natürlich<br />

eine Tüte Wegzehrung.<br />

»Beim Klabautermann!« schrie Hübeldübel. Er platzte fast vor Eifer-<br />

sucht. Da hatte er auch schon einen süßen Kuss auf dem Mund und eine<br />

Tüte in der Hand.<br />

Lanzetto leckte sich schon die Lippen in der Vorfreude auf einen der


schönsten Küsse Wabbelaniens. Doch er bekam nur eine Tüte Süßigkeiten<br />

in die Hand gedrückt. So freigebig war Melanie nun auch nicht, und ihr<br />

Herz schlug beklommen für ihre drei Freunde.<br />

Zippel riss die Tür auf und stiefelte auf die Straße. Die Beschläge knall-<br />

ten auf den Steinen, die Sporen klirrten, die Gürtelkette quietschte, die<br />

Metallschlösser schepperten, die Kratzbürsten im Bauchladen polterten<br />

durcheinander. Es klang, als hätte jemand einen Karton Blechbüchsen aus<br />

dem Fenster gekippt. Hübeldübel und Plumplum fühlten sich nicht beson-<br />

ders wohl in der Begleitung eines solchen Gefährten. Etliche Meter zurück<br />

folgte Lanzetto, der so tat, als habe er nichts mit den Dreien zu tun.<br />

So stolperten sie durch die Straßen Wabbelburgs. Bei dem Lärm, den<br />

Zippel verursachte, öffneten sich viele Fenster. »Beim heiligen Wabbel-<br />

stein!« riefen die Hausfrauen entsetzt und schlugen die Fensterläden wie-<br />

der zu, »was für eine schreckliche Kreatur.« Denn sie erkannten Zippel<br />

unter seinem Dreispitz nicht.<br />

Ein letztes Mal wandte sich Zippel um. In der Tür vom Goldenen Dotter<br />

standen Bimballo und Melanie. Mit großen Kullertränen in den Augen wink-<br />

ten sie ihm nach. Schwächlich hob Zippel einen Arm. Es klirrte und kniff. Er<br />

zerdrückte eine dicke Träne auf der Wange. Dann gab er sich einen Ruck,<br />

und die vier Wabbelanier marschierten aus Stadt hinaus.


Brückenzoll<br />

Zunächst ging es durch die weiten Melonenfelder vor den Stadtmauern.<br />

Beim Anblick Zippels beugten sich die Bauern tief in ihre Arbeit. Sie fürch-<br />

teten, die fremdartige Gestalt könnte sie womöglich ansprechen, oder noch<br />

Schlimmeres könnte passieren. Zwar erkannten sie Plumplum und<br />

Hübeldübel, aber irgendwie war ihnen die seltsame Gesellschaft nicht ganz<br />

geheuer. Dass in einiger Entfernung Kommandant Lanzetto folgte, flößte<br />

den Landbewohnern auch nicht gerade Zutrauen ein.<br />

So marschierten die vier unbehelligt durch Dörfer und Felder. Allmählich<br />

gewöhnte sich Zippel an seine neue Kleidung. Ja, es stellte sich ein gewis-<br />

ser Sinneswandel ein. Zum ersten Mal in seinem Leben hatten die Leute<br />

Angst vor ihm. Und wenn es schon nicht Angst war, so sprach doch<br />

Respekt und Vorsicht aus ihrem Verhalten.<br />

Und erst die Kinder: schreiend liefen sie in die Häuser oder versteckten<br />

sich hinter den Schürzen ihrer Mütter. Bald machte sich Zippel einen Spaß<br />

daraus und rief drohend: »Stech euch, stech euch in die Beine!« Bibbernd<br />

stoben die Kinder davon, und die Straßen waren wie leergefegt.<br />

»Übertreibs nicht«, brummte Plumplum und puffte Zippel an. Doch der<br />

Schneider hielt sich gut auf den Beinen. Zwar schwankte er wie ein Mast-<br />

baum auf hoher See, fiel aber nicht auf die Nase. Dass er in der steifen<br />

Lederhose gar nicht einknicken konnte, verriet er den anderen allerdings<br />

nicht.<br />

»Eigentlich müsste der Fluß Gelantine schon zu sehen sein«, rief von<br />

hinten Lanzetto. »Nach der nächsten Biegung kommen wir an die Brücke.«<br />

Zippel blieb in der Kurve stehen. Vor ihm floss träge die Gelantine. In<br />

weichen Windungen teilte sie die Felder. Wiegende Pappeln säumten die<br />

Ufer. Eine sanft schaukelnde Hängebrücke bog sich über den Fluss. Vor der<br />

Brücke, mitten auf dem Weg, versperrte eine alte, dürre Frau den Über-<br />

gang.<br />

Seltsamerweise hielt sie die Augen geschlossen. Krummbucklig stützte<br />

sie sich auf einen knotig geschnitzten Stock. Eine riesige Nase verunzierte<br />

ihr runzliges Gesicht. Ohne die Augen zu öffnen rief sie herrisch: »Den<br />

Brückenzoll! Ohne Brückenzoll kein Übergang. Jeder hat 5 Gummibärchen<br />

zu zahlen.«<br />

»Haha«, brüllte Plumplum belustigt, »den Brückenzoll also. Was<br />

bewachst du denn, Mütterchen? Wofür sollen wir dir etwas zahlen?«<br />

Er stapfte auf die Brücke zu und wollte sich an der buckligen Gestalt


vorbeidrücken. Blitzschnell zog die Alte ihren Knüppel hoch und versetzte<br />

Plumplum unversehens einen Hieb zwischen die Schultern. Mit gebieteri-<br />

scher Stimme wiederholte sie: »Den Brückenzoll! 5 Gummibärchen!«<br />

»Sie ist ja blind«, rief Zippel und fuchtelte mit seinen langen Armen vor<br />

den Augen der Alten herum. Ohne die Augen zu öffnen schwenkte das<br />

krumme Weib ihren Stock und stach Zippel in den Bauch. »Den Brücken-<br />

zoll! 5 Gummibärchen!«<br />

Zippel fiel auf die Nase.<br />

Hübeldübel staunte die Alte an. Aus ihrem bunten Kopftuch stachen<br />

zwei spitze lange Ohren heraus, die sich unabhängig voneinander ständig<br />

in alle Richtungen drehten. Die Nasenflügel bebten wie zwei Nüstern und<br />

schnüffelten und schnieften ununterbrochen in den Wind.<br />

»Du riechst nach Honigschnaps«, schnaubte sie den Hünen an. »Ich<br />

höre die Umrisse deiner Gestalt. Du siehst aus wie eine reife Birne. Du<br />

musst Hübeldübel sein. Komm mir nicht zu nahe, Hüter des Wabbelsteins.«<br />

Drohend schwang sie ihren Prügel über den Kopf des Recken.<br />

»Hoho«, dröhnte Hübeldübel, »wenn du nicht aus dem Wege gehst,<br />

ergreifen wir dich und werfen dich in die Gelantine.«<br />

»Versucht es nur«, kreischte die Alte, und sie hüpfte so behände hin<br />

und her, dass Hübeldübel und Plumplum sie nicht zu fassen bekamen.<br />

Dabei schlug und stach sie auf die beiden ein, bis diese schimpfend<br />

zurückwichen.<br />

Kommandant Lanzetto lachte. »Seht an, seht an. Eine alte blinde Frau<br />

schlägt die mutigen Helden in die Flucht.« Er wabbelte vor Vergnügen.<br />

»Wir müssen weiter, Freunde. Gebt ihr schon den Brückenzoll.«<br />

Verschämt zogen die Hüter des Wabbelsteins ihre Tüten mit der Weg-<br />

zehrung aus der Tasche. Jeder zahlte der Alten 5 Gummibärchen. Als Zip-<br />

pel an der Reihe war, wich die Bucklige einen Schritt zurück. Ihre Ohren<br />

spitzten sich, und die Nasenflügel flatterten.<br />

»Wer ist das?« rief sie und hob den Knüppel. »Er riecht wie ein Schnei-<br />

der und rasselt wie ein Soldat. Dieser Mensch stimmt nicht. Er verstellt<br />

sich. Ein schlechter Wabbelanier, wenn es überhaupt einer ist.« Und ohne<br />

Vorwarnung warf sie Zippel den Stock zwischen die Beine.<br />

Zippel ergriff die Flucht. Keuchend rannte er über die Brücke. Der Rie-<br />

men seiner Kiste mit den Nadeln und Kratzbürsten schnitt in seine Schul-<br />

ter. Die anderen hetzten ihm nach. An dem gegenüberliegendem Ufer setz-<br />

ten sich die Freunde erst einmal hin und steckten sich ein paar von Mela-<br />

nies Süßigkeiten in den Mund. Noch außer Atem klärte Lanzetto die ande-<br />

ren auf: »Wir nennen sie einfach nur die Zöllnerin, da wir ihren richtigen


Namen nicht kennen. Über Nacht taucht sie auf, und über Nacht ver-<br />

schwindet sie auch wieder. Überall wo sie erscheint, verlangt sie einen Zoll<br />

in Form von Gummibärchen. Mal ist sie auf der Brücke, mal an einer Weg-<br />

kreuzung, mal am Stadttor. Mit ihren Ohren und ihrer Nase hört und riecht<br />

sie mehr, als wir sehen können. Abgesehen von ihrer Gier nach Gummibär-<br />

chen ist sie sonst harmlos und friedfertig.«<br />

»Im höchsten Grade unwabbelanisch«, mäkelte Zippel, der ja auch<br />

nicht gerade ein Musterbeispiel war.<br />

»Nun«, antwortete Lanzetto in einem unergründlichen Tonfall, »keiner<br />

weiß eigentlich, ob sie überhaupt aus Wabbelanien kommt. Auf einmal war<br />

sie da. Und manchmal ist sie wieder für Wochen verschwunden.«<br />

Der Kommandant stand auf. »In einer guten Stunde können wir am<br />

Glibbersee sein.« Er marschierte los und sonderte sich nun nicht mehr von<br />

den anderen ab.


In der Federnhöhle<br />

Eine gute Stunde marschierten sie ohne Unterbrechung. Zippel begann<br />

zu jammern und zu klagen. Die Lederhose kniff, der Riemen des Bauchla-<br />

dens schnürte in seine Schultern, die Stiefel drückten, die Jacke kratzte,<br />

und unter dem Dreispitz schwitzte er seine Haare nass. Doch seine Gefähr-<br />

ten pufften ihn höchstens mal und kümmerten sich nicht weiter um ihn.<br />

Endlich kam der Glibbersee in Sicht. Zippel seufzte auf. Zur linken Hand<br />

schimmerten die Dächer von Bad Glibberheim in der Nachmittagssonne.<br />

»Wir können zwischen zwei Wegen wählen«, erklärte Lanzette. »Entwe-<br />

der wir gehen durch die Stadt und umrunden den See, oder wir überque-<br />

ren den See mit dem Fährschiff.«<br />

»Und was schlägst du vor?« fragte Hübeldübel.<br />

»Nun«, antwortete Lanzetto, »wenn wir es besonders eilig haben,<br />

kommt die Fähre in Betracht, da dies der kürzeste und schnellste Weg ist.<br />

Allerdings, wenn wir durch Bad Glibberheim gehen und um den See, könn-<br />

te man hie und da ein Glas Honigbier schlürfen und vielleicht sogar ein<br />

warmes Heilbad nehmen im sprudelnden Glibberwasser.«<br />

pen.<br />

Bei dieser Vorstellung bekamen die Hüter des Wabbelsteins feuchte Lip-<br />

»Ahoi«, rief Hübeldübel, »wenn mir auch als alter Fahrensmann die<br />

Seefahrt zuPass kommt, muss ich doch zugeben, dass eine Erfrischung in<br />

Form eines Honigbieres oder eines Muntermachers erwogen werden<br />

muss.« Er kniff ein Auge zu und versuchte, eine Gaststätte ausfindig zu<br />

machen.<br />

»Wir sollten abstimmen«, meinte Plumplum. »Ich stimme für die längst<br />

überfällige Stärkung durch ein oder zwei oder drei Honigbiere.«<br />

»Oder vier oder fünf oder wieviel denn noch?« Zippel war es, der so<br />

aufmüpfig auftrat. »Habt ihr vergessen, dass der Wabbelstein geraubt wer-<br />

den konnte, weil wir ein Honigbier, vielmehr ein Baldrianbier zuviel getrun-<br />

ken hatten?«<br />

Das traf. Ohne weitere Diskussionen stolperten die vier zum Landungs-<br />

steg, an dem die Fähre angetäut war. Breitbeinig, mit verschränkten<br />

Armen, wartete der Fährschiffer auf dem Steg. Einigermaßen misstrauisch<br />

musterte er die Ankömmlinge. Der Fährmann besaß nur eine gesunde<br />

Hand. Am anderen Arm war anstelle der Hand ein Eisenhaken befestigt,<br />

der den Schiffer eher wie ein Pirat aussehen ließ denn als friedfertiger<br />

Fährmann.


»Wen führt ihr denn da mit euch, Lanzetto?« fragte er und schlug sei-<br />

nen Eisenhaken in das Holz des Geländers.<br />

»Drei Freunde aus Wabbelburg«, antwortete der Kommandant.<br />

»Plumplum und Hübeldübel werden dir bekannt sein, die Hüter des Wab-<br />

belsteins. Und mein Nachbar hier ist ein Spion in geheimer Mission. Ein<br />

echter Korinther.«<br />

»Korinther?« fragte der Fährmann argwöhnisch, »sieht eher aus wie ein<br />

heimtückischer Kloakier. Seit dem Raub des Wabbelsteins kommt mir kein<br />

verdächtiges Individuum mehr über den See.« Zur Bekräftigung riß er mit<br />

dem Eisenhaken einen Splitter aus dem Geländer.<br />

»Kloakier? Eine Beleidigung! Vor dir steht ein echter Korinther«, quäkte<br />

Zippel dazwischen und zog seinen Geheimplan aus der Tasche. »Hier ist<br />

der Ausweis.«<br />

Lanzetto zuckte zusammen. Hübeldübel und Plumplum hielten den<br />

Atem an. Jetzt würde sich zum ersten Mal zeigen, was der Ausweis wert<br />

war.<br />

Mit seiner gesunden Hand nahm der Fährmann den Schein und studier-<br />

te ihn lange, ohne eine Miene zu verziehen. Unschlüssig schüttelte er den<br />

Kopf. »Kann ich nicht entziffern. Was ist das für eine seltsame Schrift?«<br />

»Korinthisch, echt korinthisch. Das ist der Beweis!« trumpfte Zippel auf.<br />

Wieder schüttelte der Fährmann den Kopf. »Kloakisch ist es jedenfalls<br />

nicht und stachelländisch auch nicht. Was für ein merkwürdiges Doku-<br />

ment.«<br />

Die Freunde atmeten auf. Es schien zu klappen. Schnell riss Zippel den<br />

Schein wieder an sich. Es war zu befürchten, dass der misstrauische Fähr-<br />

mann ihn drehte oder wendete und dann den Geheimplan entdeckte. Aus-<br />

drücklich hatte Professor Eierschädel darauf bestanden, dass die Aktion<br />

auch in Wabbelanien geheim blieb.<br />

Die vier sprangen an Bord, der Fährmann löste die Leinen und setzte<br />

das einzige Segel. Zusätzlich ergriff er die Ruder und manövrierte den<br />

Kahn aus dem Hafen.<br />

Hübeldübel hatte sich vorn in die Bootsspitze gesetzt. Wie er so auf die<br />

leicht wogende See schaute, legte sich ein abwesender Ausdruck auf sein<br />

Gesicht, und seine Augen begannen zu schimmern. Erinnerungen aus sei-<br />

ner Seefahrerzeit stiegen in ihm auf. Wehmütig summte er ein altes See-<br />

mannslied, und vor seinen Augen zogen die Länder und Leute vorbei,<br />

denen er auf seinen Reisen begegnet war. Einmal hatte sie ein Sturm auf<br />

die Insel der Fischköpfigen verschlagen, die sich ausschließlich von Plank-<br />

ton und Seegras ernährten. Im Land der Buckligen wiederum mussten sie


sich gebückt und mit krummen Rücken fortbewegen, sonst hätte man ihr<br />

Schiff verbrannt. Und in einem Urwaldgebiet, das sie vom Fluss aus<br />

erforschten, entdeckten sie einen Stamm Eingeborener, der die schönsten<br />

und verführerischsten Mädchen hervorbrachte. Doch sobald man sie<br />

berührte, schrumpelte ihre Haut, gilbte wie trockenes Pergamentpapier,<br />

und schlohweiße quastige Haarbüschel sprossen an ihren Beinen. Ein fer-<br />

nes Dröhnen und Grollen von Unwettern hallte in Hübeldübels Ohren wider<br />

und wuchs zu einem unheimlichen Gebrumm. Der Recke kniff sich<br />

schmerzhaft in den Arm, um den Traum loszuwerden. Doch das summende<br />

Tosen nahm eher zu und lag schwer in der Luft wie eine Gewitterwolke.<br />

»Was ist das?« schrie Plumplum. Ärgerlich rieb er sich die Ohren. »Mir<br />

ist, als hätte ich eine dicke Drohne im Ohr.«<br />

Zippel bibberte. »Ich höre es auch. Das ist der Untergang. Das Ende der<br />

Welt. Die Posaunen des Jüngsten Gerichts.« Er stülpte sich seinen Dreispitz<br />

über die Ohren, um dem Dröhnen zu entkommen.<br />

»Beim Klabautermann!« rief Hübeldübel, »es klingt wie ein Schwarm<br />

von Mörderbienen, die im Anflug sind. Wir sind verloren.«<br />

Lanzetto lachte: »Ganz so unrecht hast du nicht. Das Summen kommt<br />

von der Polleninsel, die wir gerade Passieren.«<br />

Er wies mit dem Arm über die Reling. Linden- und Akazienalleen durch-<br />

zogen eine Insel mit blühenden Raps- und Heidekrautfeldern. Auf der gan-<br />

zen Insel waren Ansiedlungen mit Bienenstöcken und Bienenkörben aufge-<br />

stellt. Ein schweres Dröhnen und Summen lag über dem Eiland. Dunkle<br />

Wolken von Bienenschwärmen zogen von Feld zu Feld, von Bienenweide zu<br />

Bienenweide.<br />

»Unsere wabbelanische Honigfarm«, erläuterte Lanzetto, »aber keine<br />

Angst, wir legen nicht an.«<br />

Mit sicheren Schlägen führte der Fährmann das Schiff an der Insel vor-<br />

bei. Allmählich verebbte das Dröhnen.<br />

»Ahoi, Land in Sicht!« rief Hübeldübel erleichtert.<br />

Bald hatten sie das gegenüberliegende Ufer erreicht. Nachdem sie den<br />

Fährmann ausgezahlt hatten, sagte Lanzetto: »Von hier aus ist es noch ein<br />

kräftiger Fußmarsch durch den Gummibaumwald. Er steigt schon auf 800<br />

Meter Höhe an. Danach fällt der Weg ab ins Schattental, in dem die Fes-<br />

tung Sextagon liegt. Dort wollen wir übernachten.«<br />

Der Marsch durch den Gummibaumwald erwies sich schon bald als<br />

äußerst beschwerlich. Zwar verbreiteten die samtigen grünen Blätter eine<br />

angenehme kühle Frische, aber die Steigungen wurden zusehends steiler.<br />

Lanzetto hatte die Führung übernommen. Trotz seiner steifen Lederho-


sen strauchelte Zippel hin und wieder und musste von den beiden Recken<br />

gestützt und geschoben werden. Mit jeder Steigung wurde auch das<br />

Gejammer Zippels lauter.<br />

»Es ist nicht auszuhalten«, schimpfte Plumplum, »diese Korinther sind<br />

die armseligsten Jammerlappen weit und breit.«<br />

Da setzte sich Zippel mit einem Plumps auf den Hosenboden. »Aber<br />

sein Leben auf das Spiel setzen darf man als Korinther«, lamentierte er<br />

aufgebracht.<br />

Besorgt betrachtete Lanzetto den klapperigen Spion. »Wir müssen eine<br />

Abkürzung nehmen«, entschied er, »und den Bauchladen übernimmt von<br />

jetzt an Hübeldübel.«<br />

Er schob ein paar Äste zur Seite und schlug in einen schmalen Pfad ein.<br />

»Wir müssen in Tuchfühlung bleiben!« rief er, »jeder ergreift die Hand<br />

des Vordermanns!«<br />

Hübeldübel ergriff die Hand Lanzettos, gefolgt von Plumplum, der mit<br />

seinen muskulösen Wurstfingern Zippels Gelenk gepackt hatte.<br />

»Wir kommen durch die Federnhöhle«, warnte der Kommandant. »Hal-<br />

tet euch gut fest. Wer sich in der Höhle verirrt, kommt nie wieder heraus.«<br />

Sie mussten sich bücken und unter buschige Zweige kriechen. Dann<br />

war es auf einmal stockfinster. Weiche Daunen, kitzlige Federn strichen an<br />

ihren Gesichtern entlang. Sie hatten das Gefühl, durch ein riesiges Feder-<br />

bett zu waten. Die Luft stand stickig und schwer, der Atem stockte, ängst-<br />

lich klammerten sich die drei Wabbelburger an den Händen und folgten<br />

Lanzetto, der als einziger den Weg durch die watteartige Höhle kannte.<br />

Plumplum wollte ihm etwas zurufen, aber flausige Federn verklebten ihm<br />

Mund und Nase. Es kitzelte. Er musste niesen und prusten. Doch seine<br />

donnernde Bassstimme verpuffte klanglos in den flockigen Federnschwa-<br />

den und wirbelte Wolken von weiteren Federn und Daunen auf. An den<br />

Wänden schienen riesige Straußenfedern zu sprießen. Ab und zu fiel aus<br />

einer unergründlichen Lichtquelle, einem Loch oder einem Schacht, ein<br />

Lichtschleier auf die Federnwolken, und die verschwommenen Umrisse des<br />

Vordermannes geisterten schemenhaft durch die wabernde Federngruft.<br />

Doch augenblicklich verschlang der dumpfe trockene Flaumnebel die kurze<br />

Vision.<br />

Zippel bibberte. Angsttropfen rannen unter seinem Dreispitz auf seine<br />

Nase. Sein dünner Arm, von Plumplum erbarmungslos vorwärts gezogen,<br />

bibberte wie ein Zitteraal. Plumplum fühlte zu seinem Entsetzen, wie der<br />

Angstschweiß Zippels Gelenk naß und glitschig machte. Langsam entglitt<br />

Zippels schlaffe Hand seinem Griff. Plötzlich gab es einen Ruck. Zippels


Hand flutschte aus seinen Fingern und verschwand im trüben Federnlaby-<br />

rinth.<br />

»Halt!« brüllte Plumplum. Aber Hübeldübel vernahm nur einen dumpfen<br />

Laut. Plumplum riss an Hübeldübels Hand und stemmte seine Beine in den<br />

Boden. Hübeldübel fluchte. Doch instinktiv jagte der Gedanke von einer<br />

Gefahr durch seinen Kopf.<br />

Währenddessen zerrte Lanzetto vorne mit Macht an Hübeldübels ande-<br />

rem Arm. Die Luft wurde schon knapp. Es wurde höchste Zeit, den Aus-<br />

gang zu erreichen. Hübeldübel wurde schier auseinandergerissen. Auf der<br />

einen Seite Plumplum, auf der anderen Seite Lanzetto, die beide mit<br />

äußerster<br />

Kraftanstrengung zogen und zerrten.<br />

Ohne lange zu überlegen schlug sich Hübeldübel auf Plumplums Seite.<br />

Mit einem Ruck riss er Lanzetto von den Beinen. Alle drei stürzten in die<br />

Tiefe der Höhle zurück. Mit seinem freien Arm ruderte Plumplum in den<br />

Federn herum. Wenn er doch wenigstens etwas sehen könnte. Da, kaum<br />

hörbar, vernahm er hinter sich ein röchelndes Rasseln. Plumplum spannte<br />

seine Keulenarme und zog mit einer letzten Kraftanstrengung Hübeldübel<br />

und Lanzetto zu sich. Dann tastete er in die Richtung des Geräusches.<br />

Etwas Zappeliges berührte seine Hand. Schnell packte er zu und umklam-<br />

merte es mit eisernem Griff. Dann puffte er Hübeldübel an. Dieser schubs-<br />

te Lanzetto auf die Füße. Der Kommandant hustete und keuchte. Schwin-<br />

delig wankte er ein Stück weiter. Dann fiel er um. Stur stiefelte Hübeldübel<br />

in der gleichen Richtung weiter und zerrte den ohnmächtigen Kommandan-<br />

ten mit sich.<br />

Plötzlich blitzte ein Strahl auf. Ein grelles Licht blendete die Recken. Sie<br />

hatten den Ausgang erreicht. Über und über mit Federn bedeckt schleifte<br />

Plumplum ein dürres zuckendes Glasnudelbein ans Tageslicht. Zippel war<br />

gerettet.


Umbo von Bumbo<br />

Der Verlauf des weiteren Marsches war abermals durch mühseliges<br />

Klettern und Kraxeln gekennzeichnet. Die dünne Höhenluft machte den<br />

Vieren schwer zu schaffen. Keuchend erreichten sie schließlich den höchs-<br />

ten Punkt des Gummibaumwaldes. Vor ihren Augen breitete sich ein<br />

dunkles Tal aus, dessen düstere Finsternis jedes Leben in sich verschlang.<br />

»Das Schattental«, erklärte Lanzetto, »wir sind bald da. Inmitten des<br />

Tales liegt die Festung Sextagon. Erkennen kann man sie von den Bergen<br />

aus nicht. Die kalten Schatten bedecken die Festung wie ein ewiger Mantel<br />

der Nacht und schützen sie vor den Blicken der Stachelländer, falls diese<br />

sich so nahe heranwagen sollten.«<br />

Aufatmend setzten die vier ihren Marsch fort. Die Aussicht auf ein reich-<br />

haltiges Nachtmahl und ein kuscheliges Ruhebett schien ihren Füßen Flügel<br />

zu verleihen. In engen Windungen und Serpentinen schlängelte sich der<br />

Pfad in die Tiefe. Doch auch der Abstieg stellte sich als ebenso mühselig<br />

und anstrengend heraus wie der Aufstieg, da die Wanderer jeden Schritt<br />

überaus behutsam setzen mussten, um nicht zu straucheln und rettungslos<br />

in die zerklüfteten Schluchten zu stürzen.<br />

Immer spärlicher und verkrüppelter klammerte sich der Baumbesatz an<br />

die kargen Felsen. Bald erreichten die Baumspitzen nur noch Kopfeshöhe,<br />

so, als bekämen sie keine Luft zum Leben. Steinige Geröllhalden verdräng-<br />

ten den saftigen Blätterwald. Noch streiften letzte Strahlen der unterge-<br />

henden Sonne die Wangen der Wanderer, doch die zerklüfteten und schrof-<br />

fen Schattenbilder der umliegenden Granitbrüche tauchte die vier in eisig-<br />

feuchte Umarmungen.<br />

Nur einmal noch wich das beklemmende Schattenreich der sinkenden<br />

Abendsonne. Gerade hatten die vier Freunde einen besonders gefährlichen<br />

Überhang bewältigt, als sich vor ihnen unvermutet ein Felsdurchgang öff-<br />

nete und ein glattes, ebenes Plateau freigab. Ein diffuser Lichtkegel wärm-<br />

te den Boden der Hochebene, aus dem weiße Dunstschwaden aufstiegen.<br />

An den Berghängen, die die Ebene begrenzten, grünten exotische Pflan-<br />

zen. Zwischen schwankenden Palmen und duftenden Eukalyptusbäumen<br />

klebte an einem sanft aufsteigenden Hang ein elfenbeinfarbener Tempel,<br />

an dessen Säulen Efeu und Weinreben rankten. Von irgendwo plätscherte<br />

das sprudelnde Rieseln eines Gebirgsbaches.<br />

Die müden Wanderer glaubten zu träumen. Selbstverloren verweilten<br />

sie vor dem Panorama und genossen den satten Frieden dieses Paradieses.


Jählings wurden sie aus ihrem Traum gerissen.<br />

»Hüh und hott! Galopp, galopp!« gellte eine herrische Stimme durch die<br />

wundersame Oase. Klatschende Peitschenhiebe brachen sich an den Hän-<br />

gen wider.<br />

»Hüh und hott, du faules Vieh!« gellte es abermals. »Streck dich zum<br />

Galopp, schlappe Schindermähre!«<br />

Ein wunderliches Gespann bewegte sich in einem unendlich trägen Tem-<br />

po auf dem Weg zum Tempel. Ein kugelrundes Männchen hockte auf einer<br />

Riesenschildkröte und schwang eine siebenschwänzige Bullenpeitsche, die<br />

klatschend auf den Panzer niedersauste. Auf dem verschwitzten roten Kopf<br />

trug der Reiter eine beulenförmige schwarze Melone. Vor Anstrengung<br />

ächzte und fluchte er, strampelte mit den kurzen Beinen, puffte und boxte<br />

mit den Fäusten auf den Panzer, riss unbeherrscht an einer Leine, die um<br />

den Kopf des Tieres geschlungen war und brachte sich fast um vor Hast<br />

und Dringlichkeit.<br />

»Hüh und hott, galopp, galopp!« hetzte er das Panzertier, und sieben<br />

knallende Striemen zerschnitten die Luft.<br />

Gemächlich schob die Schildkröte ihren Kopf aus dem Panzer. Sie schien<br />

zu überlegen. Dann hob sie, schläfrig, mit kaum wahrnehmbarer Bewe-<br />

gung einen Fuß, ließ ihn ungelenk in der Luft stehen, um ihn endlich<br />

schwerfällig einen Zentimeter weiter auf den Boden plumpsen zu lassen.<br />

Davon schien das Tier so erschöpft zu sein, dass es in einen totenähnlichen<br />

Schlaf zu fallen schien.<br />

Der Reiter riss sich die Melone vom Kopf und wedelte seinem schweiß-<br />

überströmten Gesicht kühle Luft zu.<br />

Neugierig stapfte Hübeldübel auf das Gespann zu und pflanzte sich in<br />

seiner ganzen hünenhaften Länge vor der Schildkröte auf.<br />

»Aus dem Weg!« schrie das Männchen aufgeregt und stülpte sich die<br />

Melone auf den Schädel. »Siehst du nicht, dass ich es eilig habe? Fort mit<br />

dir!« Mit diesen Worten klatschte er ungehalten die Bullenpeitsche über<br />

den Rücken des Panzertiers.<br />

»Hoho Meister«, dröhnte der Hüne, »Pass mal auf, dass dir der Fahrt-<br />

wind nicht den Topf von der Glatze weht.«<br />

»Was sind das für despektierliche Worte?« schrie der Melonenträger,<br />

»wenn ich nicht so in Eile wäre, würde ich es dir schon besorgen.«<br />

»Fürwahr!« brüllte Plumplum, »wir können kaum Schritt halten. Wie ist<br />

denn der werte Name unseres Blitzkuriers?«<br />

Ohne in seinem Bemühen einzuhalten, rackerte sich das Männchen wei-<br />

ter auf der Schildkröte ab.


»Gestatten«, rief er stolz und ließ die Peitsche sausen, »Graf Umbo von<br />

Bumbo.« Und warnend fügte er hinzu: »Vorsicht da, sonst reite ich euch in<br />

Grund und Boden. Hüh und hott!«<br />

»S'wibbelt, Herr Graf«, fistelte Zippel und zog grüßend seinen Dreispitz.<br />

»Habt ihr noch Platz auf eurem Schnelltransporter?«<br />

»Spottet nur!« krakelte Umbo von Bumbo und ritt wie der Teufel auf der<br />

Schildkröte herum. »Wäre ich erst zu Hause, würde ich euch mit meinem<br />

Vierspänner schon Beine machen.«<br />

Kopfschüttelnd standen die vier um das Gefährt herum.<br />

»Warum steigst du nicht ab und läufst das letzte Stück?« schlug Lanzet-<br />

to vor. »Der Tempel ist ja schon in Sicht.«<br />

»Merke dir«, belehrte ihn der Reiter, »ein von Bumbo geht nie zu Fuß.<br />

Hast du je einen gräflichen Bumbo auf seinen eigenen Beinen gesehen?<br />

Ha!«<br />

Erschöpft legte der Graf eine Verschnaufpause ein.<br />

Das schien nun die Schildkröte wieder zum Leben zu erwecken. Vorsich-<br />

tig lugte sie unter ihrem Panzer hervor. Was hatte die ungewohnte Ruhe<br />

auf ihrem Rücken zu bedeuten? Hatte sie etwa einen Schritt in die falsche<br />

Richtung getan?<br />

Derweil musterte Umbo von Bumbo mit zusammengekniffenen Augen<br />

den fremdartigen Aufzug Zippels. Just in dem Augenblick, als er den<br />

Schneider darauf ansprechen wollte, gab es einen Ruck, und der gräfliche<br />

Reiter rutschte über den Panzer auf den Kopf der Schildkröte.<br />

»Was war das?« schluckte der Graf und glotzte in die undurchdringli-<br />

chen Augen seines Reittieres. Schläfrig schlossen sich dessen wimpernlo-<br />

sen Lider und verabschiedeten sich auf diese Weise von seinem Herrn.<br />

cken.<br />

»Hat wohl den Rückwärtsgang eingelegt«, konstatierte Lanzette tro-<br />

»Wie, Rückwärtsgang?« belferte der Graf wie von Sinnen. »Heisst das,<br />

die vermaledeite Kröte ist einen Schritt zurückgegangen?«<br />

»Das ist ja wohl nicht zu übersehen«, heulte Zippel mit quiekender Fis-<br />

telstimme. »Helft mir doch, schnell!«<br />

Das Panzertier hatte sich auf seinen Fuß gesetzt! Er war festgeklemmt.<br />

Hübeldübel und Plumplum sprangen hinter das Tier und hieften den<br />

zentnerschweren Panzer um einige Zentimeter in die Höhe. Zippel kam<br />

frei.<br />

»Fort mit euch!« wütete der krebsrote Bumbo. »Einen ganzen Tagesritt<br />

habe ich euretwegen verloren. Aus dem Weg! Hüh und hott! Galopp,<br />

galopp!«


Mit eingezogenen Köpfen flüchteten die Freunde aus dem Gefahrenbe-<br />

reich der Bullenpeitsche. Wüste Flüche schmetterten durch das Plateau.<br />

Wie Pistolenschüsse klatschten und knallten die Peitschenhiebe durch die<br />

Schluchten. Noch als die vier erschöpft die Festung Sextagon erreichten,<br />

hallten die Felswände vom Getöse des wild dahergaloppierenden Umbo von<br />

Bumbo wider.


An der Grenze<br />

Nach einem traumlosen, bleischweren Schlaf in der Festung Sextagon<br />

waren Zippel, Plumplum und Hübeldübel schon vor dem Morgengrauen<br />

aufgebrochen. Die übrigen Bewohner der Festung – es waren ohnehin nur<br />

einige wenige Wabbelanier – sollten von der Mission der drei erst gar<br />

nichts erfahren. War der Aufstieg durch den Gummibaumwald schon<br />

beschwerlich genug gewesen, so geriet der Marsch zur Grenze alsbald zur<br />

Tortur. Mitunter verlief sich der Pfad an den steinigen Hängen in verkruste-<br />

te Geröllfelder, dann wieder mussten Felsklippen übersprungen oder rei-<br />

ßende Wildwasser durchwatet werden. Noch bevor die ersten Sonnenstrah-<br />

len über die Gebirgskämme fingerten, erreichten die drei eine Gabelung,<br />

die den Weg zu den Pässen teilte. Ein verwittertes schiefes Holzschild stak<br />

am Wegesrand. Die rauen Stürme und Hagelschauer vergangener Jahre<br />

hatte die Schrift auf dem Wegweiser ausgewaschen und unleserlich<br />

gemacht. Wenn man Lanzetto glauben wollte, musste die linke Abbiegung<br />

zum Schwartenpass führen, während der rechte Weg durch den Scherben-<br />

pass lief.<br />

Die drei Wanderer hockten sich neben das trostlose Holzschild, das<br />

ihnen wie ein geborstenes Grabkreuz vorkam. Um ihre gedrückte Stim-<br />

mung zu heben, verschlangen sie die letzten Reste von Melanies Süßigkei-<br />

ten. Welchen der beiden Pässe sollten sie begehen? Während Hübeldübel<br />

und Plumplum die Vor- und Nachteile der beiden Möglichkeiten abwogen,<br />

aber zu keinem Entschluß kamen, versank Zippel in ein dumpfes Schwei-<br />

gen. Je mehr er über seine Mission nachdachte, desto wahnwitziger kam<br />

sie ihm vor.<br />

Der erste Sonnenstrahl fand seinen Weg über die Gebirgsränder und<br />

weckte den Schneider aus seinen Gedanken. Entschlossen sprang er auf<br />

die Beine und fistelte: »Ich nehme den linken Weg, der zum Schwarten-<br />

pass führt. Es ist sowieso egal, für welchen Weg ich mich entscheide.«<br />

»Wie du meinst«, meinte Hübeldübel, »dann lasst uns aufbrechen. Bis<br />

zum Pass wollen wir dich noch begleiten. Danach musst du allein weiter-<br />

kommen.«<br />

Kameradschaftlich puffte Plumplum den Schneider an, und sie traten<br />

ihren letzten gemeinsamen Marsch an.<br />

Außer ihrem Keuchen und gelegentlichen Fluchen war kein Laut zu<br />

hören. Hinter der Wegkreuzung schien die Welt tot und leer zu sein. Kein<br />

Vogel zwitscherte, keine Eidechse huschte über die Steine, keine noch so


kleine Maus äugte neugierig aus ihrem Loch. Selbst der Wind schien die<br />

Einöde vergessen zu haben, und ein modriger Geruch von Fäulnis und Ver-<br />

wesung breitete sich aus.<br />

Schweigend waren die drei Freunde etwa eine gute Stunde durch die<br />

erstarrte Landschaft gestiegen, als die Felswände zu beiden Seiten steiler<br />

und abweisender in die Höhe wuchsen. Der Pfad verjüngte sich zu einem<br />

Schlauch. Jeder Versuch, die glatten und feuchten Felswände zu erklim-<br />

men, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zwei-, dreimal schon<br />

hatte Plumplum Mühe, seinen mächtigen Kugelbauch durch die Passage zu<br />

zwängen. Beim vierten Mal schlug er erbost mit der Faust gegen den Fels<br />

und spie einen derben Fluch in die Schlucht. Ein schauriges Echo brach<br />

sich an den Wänden. Hundertfach hallte der Fluch auf die Köpfe der drei<br />

zurück.<br />

»Ahoi, Pass in Sicht!« rief Hübeldübel, der vorausgegangen war, und<br />

blieb stehen. Zippel zwängte sich an ihm vorbei. Vor ihm lag der Schwar-<br />

tenpass. Die steilen Wände unterschieden sich kaum von den bisherigen<br />

Felsen. Allerdings streckten sich spröde Borsten dem Wanderer entgegen.<br />

Sie schienen wie die struppigen Haare eines Gebirgsriesen aus den Wän-<br />

den zu sprießen. Unablässig rieselte eine schmierige Flüssigkeit von der<br />

Höhe herab und versickerte in ölig-schleimigen Lachen zwischen den<br />

Gesteinsbrocken. Ein schaler, ranziger Geruch verpestete die Schlucht, ein<br />

Geruch, der Zippel in der nächsten Zeit nicht mehr verlassen sollte, und<br />

der ihn bis an sein Lebensende in seinen Alpträumen verfolgen sollte.<br />

Dahinein mischten sich Schwaden von säuerlich-ätzenden Nebeln.<br />

Hübeldübel war dem Erbrechen nahe.<br />

»Sieht wirklich aus wie zwei aufgestellte Speckschwarten«, würgte er<br />

und hielt sich die Nase zu.<br />

Da er den Abschied nicht länger hinauszögern wollte, riss er sich den<br />

Bauchladen von den Schultern, hängte ihn Zippel um und rief: »Ahoi Zip-<br />

pel. Nur Mut. Plumplum und ich müssen hier zurückbleiben. Wir warten auf<br />

dich an der Wegkreuzung beim alten Holzschild. S«wabbelt!«<br />

»S«wabbelt!« brüllte auch Plumplum so laut er konnte, um Zippel mit<br />

ein bisschen vorgetäuschter Schneidigkeit aufzurichten.<br />

»S'wibbelt«, kam es verloren von des Schneiders Lippen. Stolpernd und<br />

strauchelnd verschwand er in den struppigen Borsten und der triefenden,<br />

stinkenden Schmiere des Schwartenpasses.


Feindberührung<br />

»Halt! Wer da?«<br />

Drohend platzte der Ruf in die Grabesruhe. Zippel hielt inne und drückte<br />

sich eng hinter einen Felsvorsprung. Sein Gesicht war zerkratzt. Jacke und<br />

Hose waren von der ranzigen Flüssigkeit verschmiert, und sein Dreispitz<br />

ließ die Ecken hängen. Der Gestank des Schwartenpasses hatte die Kleider<br />

des Schneiders getränkt und umhüllte ihn wie eine unsichtbare zweite<br />

Haut. Mehrmals war Zippel in den rauen Borsten hängengeblieben. Nach<br />

etwa zweihundert Metern hatten die schwartigen Wände plötzlich angefan-<br />

gen zu pulsieren. Sie atmeten, wölbten sich zu vollgefressenen Bäuchen<br />

auf und quetschten den Spion in ihre Mitte, bis der letzte Atem aus seinem<br />

Brustkorb gepresst war. Einen Augenblick verharrten die Schwarten in die-<br />

sem Zustand, und lauwarmes Fett tropfte auf die Schultern des Einge-<br />

klemmten. Einen Moment glaubte Zippel einen dumpfen Herzschlag zu<br />

spüren, der auf seinen Klapperbauch paukte. Hatten die ekligen Wände<br />

vor, ihn aufzusaugen, ihn zu fressen oder zu erdrücken? Doch sie ließen ab<br />

von ihm, zogen sich zusammen und falteten sich. Ein unerträglicher<br />

Gestank wurde durch den so entstehenden Hohlraum aus dem oberen<br />

Spalt hereingesaugt. So, als hätten die schmierigen Borstenwände eine<br />

überdrüssige Abscheu vor dem Wabbelanier, krampften sie sich noch ein-<br />

mal zusammen und spuckten ihn mit einer schwabbernden Kontraktion aus<br />

dem Pass.<br />

Minutenlang hatte Zippel auf dem Boden gelegen, bevor er wieder zur<br />

Besinnung kam. Er sammelte seinen Bauchladen auf und schaute sich um.<br />

Dies also war Stachelland. Scharfkantige Klippen säumten den Weg.<br />

Unvermindert stand der modrig-säuerliche Geruch in der Luft. Kein Laut<br />

irgendeines Lebewesens oder einer Vegetation war zu vernehmen.<br />

'Aha, es stimmt also', dachte Zippel und hob einen rostigen Nagel vom<br />

Boden auf. Überall, wo Stachelländer auftauchten, hinterließen sie diese<br />

rätselhaften Nägel und Glasscherben. Demnach waren hier also Stachellän-<br />

der vorbeigekommen.<br />

Zippel schulterte seinen Bauchladen und klomm den kaum markierten<br />

Pfad hoch. Auf dem höchsten Grat angekommen, überschaute er mit<br />

einem langen Blick das Klippengebirge. Durch schroffe Felsschründe führte<br />

der Weg ins Tal. Von den Überhängen troff milchig-trübes Salzwasser und<br />

bildete glitzernde Zapfen aus Salz und kristallinem Gestein.<br />

»Halt! Stehenbleiben!«


Der Befehl war nicht misszuverstehen. Aus den Augenwinkeln konnte<br />

Zippel eine Bewegung hinter einem Felsvorsprung ausmachen.<br />

»Lasst mich durch!« rief Zippel, »ich bin unterwegs zur Stachelburg.«<br />

»Wie heißt die Losung?« Diesmal schien die Stimme aus einer Spalte zu<br />

kommen, vielleicht war es aber auch ein weiterer Stachelländer.<br />

'Losung?' dachte Zippel bitter. An die Existenz einer Losung hatte keiner<br />

gedacht, nicht einmal der geniale Professor Eierschädel. Sollte seine Reise<br />

schon hier enden, bloß weil er eine dumme Losung nicht kannte?<br />

'Egal was ich auch mache', dachte Zippel verzweifelt, 'es ist in jedem<br />

Fall falsch.'<br />

Und mit diesen letzten Gedanken im Kopf stürmte er hinter dem Fels-<br />

brocken hervor, fuchtelte mit seinen Spagetti-Armen und schrie mit über-<br />

schlagender Stimme: »Stech euch, stech euch in die Beine, wie die wilden<br />

Stachelschweine!«<br />

Dabei verhaspelte er sich mit seinen Beinen, trudelte und fiel auf die<br />

Nase. Rostige Nägel, Nadeln und Kratzbürsten klapperten in der Kiste, die<br />

Sporen an den Stiefeln klirrten und sein Eisengürtel schepperte wie eine<br />

Armee von Zinnsoldaten.<br />

»Verloren«, schluchzte Zippel und blinzelte ins trübe Licht. Zwei hagere<br />

schiefe Gestalten schoben sich rasselnd in sein Blickfeld und salutierten.<br />

»Stech dich! Krztkrr!« pfiffen sie durch ihre schwarzen Zahnlücken und<br />

knallten ihre Hacken zusammen. Beide waren bis über die Ohren mit Mes-<br />

sern, Stecheisen, Lanzen und Pistolen bewaffnet.<br />

»Stech euch in die Beine«, krächzte Zippel nochmals ohne zu wissen,<br />

was er da sagte.<br />

»Es ist uns eine Ehre«, erwiderten die beiden Waffenträger und spuck-<br />

ten zum Beweis rostige Nägel vor die Füße Zippels.<br />

Der Schneider verstand gar nichts mehr. Was sollte das bedeuten? »Wer<br />

seid ihr denn?« fragte er dümmlich und bereute seine Frage im gleichen<br />

Atemzug.<br />

»Krtzkrr«, schnarrte der Größere der beiden. In seinen schrägen Augen<br />

flackerte es misstrauisch auf. »Das müsstest du doch wissen. Wir sind die<br />

Soldaten Reibstein und Geierblick. Unser Spezialauftrag lautet, dich mit<br />

dem gestohlenen Wabbelstein bis zum Schwarzen See zu geleiten. Warum<br />

fragst du, Brutus? Und wo ist eigentlich der Wabbelstein?«<br />

Wie ein Vorhang fiel es Zippel von den Augen: Diese martialischen Sol-<br />

daten vermuteten in ihm Brutus Ranzig. Sie mussten wohl schon eine<br />

geschlagene Woche gewartet haben ohne Nachricht aus Stachelburg. Bru-<br />

tus Ranzig aber hatte offensichtlich die andere Route genommen und war


über den Scherbenpass geflohen.<br />

Nervös nestelte Zippel an den Metallösen seiner Jacke herum. Die wil-<br />

desten Gedanken jagten durch sein Gehirn. Auf keinen Fall durften die Sol-<br />

daten hinter seine wahre Identität kommen. Wie konnte er nur das aufkei-<br />

mende Misstrauen zerschlagen?<br />

»Rührt euch!« fistelte er und versuchte, seiner Stimme einen militäri-<br />

schen Klang zu geben. »Zwar darf ich niemanden über den Wabbelstein<br />

Auskunft geben, aber ihr dürftet schon erraten haben, was ich in dieser<br />

Kiste mit mir führe.« Dabei klopfte er geheimnisvoll auf den Bauchladen.<br />

»Helft mir auf die Beine.«<br />

»Zu Befehl, krtzkrr!« schnarrte Soldat Geierblick und ergriff Zippels<br />

Hand. »Uuaah«, fügte er mit angeekelter Miene hinzu, »du stinkst ja wie<br />

zu besten stachelländischen Feiertagen.«<br />

Zippel bekam Aufwind. Geierblick und Reibstein schienen seine Maske-<br />

rade nicht zu durchschauen. Den echten Brutus Ranzig hatten sie entweder<br />

nur flüchtig oder überhaupt nicht gesehen. Der Schneider, der schon auf<br />

der Reise durch Wabbelanien an Selbstvertrauen gewonnen hatte, wuchs<br />

über sich hinaus. Mit der größten Selbstverständlichkeit näselte er: »Ein<br />

echter Stachelländer verliert niemals seinen guten Stallgeruch. In die Stie-<br />

fel und ab nach Stachelburg.«<br />

Reibstein meckerte vor Vergnügen auf. Voller Respekt spuckte er einen<br />

rostigen Nagel in den Sand. Dann griff in seinen Beutel und holte eine<br />

Handvoll Glasscherben und rostiger Nagelenden hervor. »Hier Kumpan.<br />

Eine kleine Erfrischung. Du wirst sie benötigen. Krtzkrr.«<br />

Woher sollte Zippel auch wissen, dass die Stachelländer Nägel und<br />

Scherben wie Kaugummi kauten. Dass sie mit Vorliebe an Salzklumpen<br />

leckten und lutschten, als seien es die süßesten Lollies. Dass sie sich piek-<br />

ten und kniffen, wenn sie lustig taten. Dass es als fein galt, den Nachbarn<br />

anzurülpsen. Und besonders vornehm war es, dem Gegenüber auf das<br />

Auge zu spucken, möglichst mit einem abgelutschten Kieselstein. Wenn die<br />

Stachelländer hinter einem Mädchen her waren, bewarfen sie es mit<br />

Schmutz und beleidigten es in der allergröbsten Weise. Beim Küssen bis-<br />

sen sie sich in die Lippen und rissen sich an den Haaren. Zippel hatte noch<br />

viel Schreckliches zu lernen. Kein Wunder, dass die Wabbelanier vor den<br />

grässligen Stachelländern bibberten.<br />

Mit zusammengebissenen Lippen fügte Zippel sich in sein Schicksal und<br />

nahm die sogenannte Erfrischung entgegen. Vor den Augen der waffen-<br />

strotzenden Soldaten schob er sich einen rostigen Nagel zwischen die Zäh-<br />

ne. Sogar ein schiefes Grinsen brachte er zustande. Reibstein und Geier-


lick bleckten ihre schwarzen Zähne und rülpsten Zippel mit üblem Mund-<br />

geruch an. Der Abstieg in das unbekannte Stachelland begann.


Im Tal der Zyklopen<br />

Bis sich das erste lebende Gestrüpp am Wegesrand zeigte, verging ein<br />

alptraumartiger Marsch. An jedem Salzzapfen, der von den feuchten Wän-<br />

den hing, hielten die beiden Soldaten an. Genüsslich leckten sie daran und<br />

forderten Zippel ebenfalls dazu auf. Aus Angst, er könne sich verraten,<br />

folgte er ihrem Wunsch, und ihm war schon nach kurzer Zeit speiübel.<br />

Außerdem bekam er einen unersättlichen Durst. Seine Zunge hing ihm aus<br />

den Mundwinkeln, und er hätte den erstbesten Bergsee bis auf den letzten<br />

Tropfen austrinken können. Reibstein und Geierblick schienen dagegen mit<br />

jeder Salzportion munterer zu werden.<br />

Mit großer Überwindung gewöhnte sich Zippel zudem an, bei jedem Halt<br />

ein oder zwei Nägel oder Glasscherben auszuspucken. Einmal traf er verse-<br />

hentlich das Ohr des Soldaten Geierblick, was dieser mit einem erfreuten<br />

Krächzen quittierte, denn er hielt es für eine besondere Auszeichnung.<br />

Die ersten Pflanzen am Wegrand machten einen kranken Eindruck. Ihre<br />

gelben scharfkantigen Blätter hingen ausgedörrt halb im Staub. Stängel<br />

und Äste waren mit Stacheln übersät. Geierblick riss einen Strauch aus der<br />

Erde und klatschte ihn über den Nacken seines Vordermanns Reibstein.<br />

Dieser wieherte vor Vergnügen und trabte wie ein Geißbock über Stock<br />

und Stein. Zippel erschauderte. Zu solch eigenartigen Vergnügungen konn-<br />

te er beim besten Willen nicht überredet werden.<br />

Hie und da ragten auch schon ausgetrocknete Kakteen mit geisterhaft<br />

erhobenen Armen aus dem fruchtlosen Boden. Schwarze Kolkraben und<br />

gierige Aasgeier tauchten aus Felsnestern auf und verfolgten die drei wie<br />

eine sichere Beute.<br />

Ein tiefes Grollen ließ plötzlich den Boden erbeben. Reibstein sprang mit<br />

einem Satz herum und rammte Geierblick mit dem Kopf in den Bauch. Die-<br />

ser brach stöhnend zusammen und riss Zippel mit um. Mit einem giganti-<br />

schen Reißen und Knirschen öffnete sich direkt vor ihren Füßen die Erde zu<br />

einem schwarzen Spalt. Er war so tief, dass der Grund im Dunkel ver-<br />

schwand. Eines von Zippels Glasnudelbeinen hing kraftlos in den Höllen-<br />

schlund hinein. Stinkende, kochend heisse Schwefeldämpfe stiegen aus der<br />

Spalte und versengten Zippels Fuß. Entsetzt krallte er sich an einen krüp-<br />

peligen Baum und zog sich aus dem Loch. Geierblick und Reibstein dage-<br />

gen schnupperten an dem jauchigen Dampf, als wäre es die frischeste<br />

Waldluft.<br />

Die Erdspalte zwang sie zu einem weiten Umweg. Schließlich erreichten


sie eine Anhöhe, von der aus sie ein seltsam friedliches Tal überblicken<br />

konnten.<br />

»Krtzkrr«, knarzte Reibstein, »das Tal der Zyklopen. Wenn wir Pech<br />

haben, wachen sie auf. Von jetzt ab darf kein Laut die Stille stören. Wir<br />

müssen uns barfuß durch das Tal schleichen.«<br />

Zippel begriff nicht ganz. Gehorsam schnürte er seine Stiefel auf und<br />

band sie sich um den Hals. Drunten im Tal konnte er lediglich drei unförmi-<br />

ge Felsbrocken ausmachen.<br />

»Kommt mir reichlich übertrieben vor«, näselte er geringschätzig.<br />

»Die friedliche Stille täuscht«, flüsterte Geierblick, »schau nur: Die drei<br />

Zyklopen befinden sich im tiefsten Schlaf. Dabei verwandeln sie sich in<br />

harmlose Felsbrocken. Jeder Zyklop ist mit nur einem Facettenauge ausge-<br />

stattet, mit dem er wie ein Rieseninsekt das ganze Tal überblicken kann.<br />

Mit jeweils drei schlauchartigen Armen können sie in die entferntesten<br />

Winkel des Tals langen.«<br />

»Warum locken wir sie nicht ins Gebirge?« fragte Zippel.<br />

»Du fragst, Brutus, als wärst du zum ersten Mal in Stachelland«,<br />

bemerkte Reibstein finster, »es ist doch im ganzen Land bekannt, dass die<br />

Zyklopen in der Erde angewachsen sind. Da es ihnen im Tal so langweilig<br />

ist, greifen sie sich jedes Lebewesen in ihrer Nähe. Dann spielen sie mit<br />

den Unglücklichen, werfen sie wie Bälle in die Luft und lutschen ununter-<br />

brochen an ihnen herum, denn sie sind ganz närrisch auf stachelländischen<br />

Salz- und Fischgeruch. Wer sich nicht befreien kann, verhungert. Und bis-<br />

her ist noch niemand ihren Greifarmen entkommen.«<br />

Bei den letzten Worten durchzuckte Zippel ein abwegiger Gedanke. So<br />

eine Art Plan formte sich in seinem Gehirn. Prüfend suchte er in den<br />

Taschen seiner Jacke und seiner unbequemen Lederhose.<br />

Dem übervorsichtigen Geierblick blieb diese Bewegung nicht verborgen.<br />

Ein offenkundiges Misstrauen stand in seinem Gesicht. Verschwörerisch<br />

zog er Reibstein beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Irgendetwas stimmt<br />

nicht mit diesem Brutus Ranzig. Und in der Kiste habe ich es scheppern<br />

hören, was so gar nicht wie ein Wabbelstein klang. Wenn wir das Tal hinter<br />

uns haben, knöpfen wir uns diesen Meisterdieb vor und durchsuchen die<br />

Kiste.«<br />

Nunmehr belauerte jeder jeden. Die Soldaten ließen Zippel vorangehen,<br />

da sie ihn jederzeit im Auge behalten wollten. Wohl spürte Zippel die ver-<br />

änderte Stimmung, aber er ließ sich nichts anmerken. So erreichten sie<br />

mit gepresstem Atem den Gebirgsfuß. Das Tal der Zyklopen lag vor ihnen.<br />

Mit gebücktem Rücken schlichen sich die drei auf den ersten Felsbrocken


zu, der direkt im Wege lag. Nun konnten sie an den Umrissen deutlich die<br />

unförmige Gestalt des Zyklopen erkennen. Wie versteinert ragte er aus der<br />

Erde auf. Auf seinem Schoß ruhten drei verschlungene Arme. Das einzige<br />

Auge im klotzigen Schädel wurde durch ein lappenförmiges Lid bedeckt,<br />

welches wimpernlos bis auf die breiten Nasenflügel niederhing.<br />

Zippel erschrak, als er beim Näherschleichen das ganze Ausmaß des<br />

Zyklopen gewahr wurde. Der Koloss überragte ihn, der auch nicht gerade<br />

kurz geraten war, um seine dreifache Länge und hatte die Breite eines<br />

Scheunentors. Auf Zehenspitzen, Schritt für Schritt setzend, umrundeten<br />

sie den schlafenden Klumpen. Wohl eine halbe Stunde brauchten sie für<br />

die paar Meter.<br />

Die beiden anderen Zyklopen wuchsen wie Zwillinge nebeneinander aus<br />

der Erde. Zwischen ihnen blieb nur eine schmale Gasse frei. Den ersten<br />

Zyklopen im Rücken, robbten die drei auf den einzigen Durchgang zu. Gei-<br />

erblick, der scharf hinter Zippel herkroch, hob mit einem Mal seine Nase.<br />

Woher kam plötzlich dieser eklige süße Geruch? Er robbte näher an Zippel<br />

heran. Der Geruch wurde intensiver. Ein unglaublicher Verdacht keimte in<br />

seinem kalten Herzen, und ein wilder Hass bemächtigte sich seiner. Mit vor<br />

Wut verzerrtem Gesicht robbte er weiter.<br />

Ein dröhnendes Röcheln ließ die drei in ihrer Bewegung erstarren. Minu-<br />

tenlang rührten sie sich nicht vom Fleck. Reibstein, der gerade ein Bein<br />

erhoben hatte, wagte nicht, es wieder auf die Erde zu stellen. Zippel hielt<br />

es nicht länger aus. Er rutschte durch die Gasse und blickte dann hinter<br />

sich.<br />

gang.<br />

'Jetzt', dachte er, 'jetzt oder nie.'<br />

»S'wibbelt, Herr Zyklop!« schrie er, sprang auf und raste zum Talaus-<br />

Ein brüllendes Donnern antwortete ihm. Die drei Kolosse erbebten. Die<br />

schlauchartigen Arme schossen in die Höhe und fuhren wie giftige Schlan-<br />

gen auf Geierblick und Reibstein herab. Im Nu hatten sie die Soldaten<br />

gepackt und in die Luft geschleudert. Drei riesige Facettenaugen schillerten<br />

in tausend Brechungen und suchten das Tal ab. Noch bevor Zippel den<br />

Ausgang erreichte, hatten die Augen seine Fluchtbewegung erfasst.<br />

Unbarmherzige Zyklopenfinger schlangen sich um seine spillerige Gestalt<br />

und rissen ihn in die Höhe. Ein haifischartiges Maul öffnete sich. Schlürfend<br />

quoll eine mit grünem Schleim bedeckte Zunge über die wulstigen Lippen.<br />

Zippel wollte seine Ersatznadel zücken und sie in die Zunge stechen. Doch<br />

bevor er sie zu packen bekam, versank er in grünem Schleim und glaubte<br />

zu ertrinken.


»Ööüüööh!« röhrte der Zyklop, der Zippel ableckte. Angewidert schüt-<br />

telte er seinen mächtigen Körper, so dass der Boden zu beben und wackeln<br />

begann. Felsbrocken lösten sich von den Gebirgswänden, krachten pol-<br />

ternd die Hänge hinab und rissen Geröll, Steine und Baumstämme mit<br />

sich. Abermals erhob sich das Röhren des Zyklopen und übertönte die don-<br />

nernde Steinlawine, »Ööüüööh! Eklig süß, eklig süß, ööüüööh!«<br />

In einem Schwall von Spucke und Schleim brach der Koloss den Schnei-<br />

der aus und wischte ihn anwidert aus dem Tal. Zippel fiel in Ohnmacht.<br />

Aber auch die tiefe Besinnungslosigkeit konnte nicht seine verkrampfte<br />

Hand lösen, die ein paar zerquetschte Gummibärchen umschloss.


Zippels Traum<br />

Ein glühendes Augenpaar stürzte vom sternenlosen Himmel. Kurz vor<br />

dem steifen Körper Zippels schwenkte die Fledermaus scharf ab und ver-<br />

schwand im Zickzackflug im Dunkel der Nacht. In der Ferne heulte ein Wolf<br />

auf. Ein unregelmäßiges Klirren und Knacken zeugte vom heimlichen Trei-<br />

ben im Schutz der Dämmerung: Ratten und Echsen huschten über das<br />

Pflaster der Straße und stießen an Glasscherben und Nägel, die überall<br />

verstreut herumlagen. Ein schmutziggrauer Bodennebel bedeckte wie ein<br />

Leichentuch die unbestellten und verwahrlosten Felder. Am Straßenrand<br />

und in den Gräben verfaulte Unrat und Müll und vermischte die Nebelbrühe<br />

mit einem schwefligen Verwesungsgestank.<br />

Wie betäubt lag Zippel am Straßenrand, halb aufgerichtet an seinem<br />

Bauchladen, der seinen Rücken stützte. Mit schweren Atemzügen sog er<br />

den stachelländischen Pestgeruch in seine Lungenflügel, um tiefer und<br />

tiefer in die Bewusstlosigkeit zu sinken. Ein Traum ohne Sinn und Handlung<br />

quälte sein Gemüt in einem Wechselbad aus Angst, Hoffnung, Freude und<br />

Schrecken.<br />

Er sieht Melanie auf sich zuschweben mit ihren verführerischen Lippen.<br />

Sie öffnet den Mund. Eine mit grünem Schleim bedeckte Zunge quillt her-<br />

vor und spuckt rostige Nägel auf das Pflaster. Königin Wabbeline bückt<br />

sich danach und hebt zwei drollige Möpse vom Boden. Bei der Berührung<br />

versteinern sie zu unförmigen Felsklumpen, die das Aussehen von zwer-<br />

genhaften Zyklopen annehmen. Mit einem spitzen Schrei lässt Wabbeline<br />

die verwandelten Möpse fallen. Beim Aufschlag reisst die Erde auseinan-<br />

der. Schwefliger Qualm wabert aus der Spalte, und eine Riesenschildkröte<br />

kommt über den Rand gekrochen, angetrieben von einem wie verrückt<br />

galoppierenden Umbo von Bumbo. Kommandant Lanzetto stellt sich ihm in<br />

den Weg. Schläfrig öffnet die Schildkröte ein Lid, welches ein schillerndes<br />

Facettenauge freigibt. Ööüüöö, röhrt das Tier, und Umbo von Bumbo knallt<br />

mit einer siebenschwänzigen Bullenpeitsche auf Lanzetto ein. Die Enden<br />

der Peitsche züngeln wie die Schlangenarme der Zyklopen hin und her. Mit<br />

einem Stiefel Honigbier tritt Bimballo an den Reiter. Dieser säuft mit einem<br />

einzigen Schluck das Glas leer und verwandelt sich nacheinander in einen<br />

meckernden Brutus Ranzig, den schwankenden Hübeldübel und schließlich<br />

in Königin Wabbeline. Aber sie lebt nur zum Schein, kann sich von ihrem<br />

Sockel nicht fortbewegen und wird von dem nervös herumhüpfenden Felix<br />

Kräuselohr mit einem schwarzen Laken bedeckt. Da ertönen alle Glocken


von Wabbelburg. Zippel, Bimballo und die beiden Hüter des Wabbelsteins<br />

liegen schnarchend im Goldenen Dotter, während Brutus Ranzig auf ihren<br />

Bäuchen tanzt und zwei Schlüsselringe über seinem spitzen Schädel krei-<br />

sen lässt. Splitternd kracht die Tür auf. Ein wüst aussehender Pirat mit<br />

einem Haken an dem rechten Arm versperrt den Weg. Melanie flüchtet<br />

durch die Hintertür und fällt in eine stickige Höhle voller Federn und Dau-<br />

nen. Zippel kann sie an der Hand packen. Sie küsst ihn, und die Federn<br />

verwandeln sich in einen Berg voll zerknüllter Papierblätter. Professor Eier-<br />

schädel wartet vor dem Papiermüll und ruft: Die Losung oder ihr seid ver-<br />

urteilt! Zippel ruft: Stech euch in die Beine! Und die Soldaten Reibstein<br />

und Geierblick nehmen den Professor in ihre Mitte und füttern ihn mit<br />

Nägeln, Glasscherben und Salzklumpen. Ein Bienenschwarm fälll über die<br />

Soldaten her und frisst ihre Haare und Zehnägel. Borstige Steilwände<br />

schieben sich von beiden Seiten zusammen, und ranziges Fett trieft von<br />

der Höhe. Mit einem ordinären Rülpsen spucken die Schwarten die Solda-<br />

ten in das Tal der Zyklopen, wo Zippel sie schon erwartet. Laut schreiend<br />

hält er ein paar zerquetschte Gummibärchen unter die Nase der Zyklopen.<br />

Angewidert werfen die Kolosse den Schneider aus dem Tal. Ein schwarzes<br />

Tuch fällt auf Zippels leblosen Körper. Jemand schnauft, zerrt und schleift<br />

ihn über den Boden. Dann plätschert es, als ob Ruder in eine ölige See<br />

gestoßen werden. Es schwankt wie in einer trägen Schaukel. Dann knirscht<br />

es, mit einem Ruck hört das Schwanken auf. Wieder zerrt jemand an Zip-<br />

pels Kleidern und schleppt und schleift ihn über den Boden. Eine Kiste wird<br />

in seinen Rücken gedrückt. Das Tuch wird von seinem Kopf gezogen, doch<br />

er sieht nur schemenhafte Umrisse: es ist Nacht. Die Zöllnerin kniet an<br />

seiner Seite und versucht, seine verkrampften Finger aufzubiegen, um an<br />

die Gummibärchen heranzukommen. Den Brückenzoll, keift sie, fünf Gum-<br />

mibärchen. Die Kraft in Zippels Hand lässt nach, und die Zöllnerin entwin-<br />

det ihm gierig die Süßigkeiten. Behände hüpft sie auf die Beine und will in<br />

die Nacht entfliehen. Doch sie hält noch einmal inne und verweilt nach-<br />

denklich einen Augenblick. Mit einer überraschend warmen und mütterli-<br />

chen Stimme murmelt sie: Nicht Schneider noch Soldat, doch ein guter<br />

Wabbelanier. Sanft legt sie ihre knochige Hand auf Zippels Stirn und<br />

berührte mit den Fingerspitzen seine Augen. Ein heißer Strahl fährt in Zip-<br />

pels Glieder. Eine übernatürliche Kraft wächst in seinen Muskeln und<br />

Gelenken. Seine Glieder beginnen zu kribbeln und angenehm zu jucken.<br />

Die betäubenden Dämpfe weichen aus seinem Gehirn. Kräftig hebt und<br />

senkt sich sein Brustkorb. Mit tiefen Atemzügen reinigt sich der Körper des<br />

Schneiders von den abgestandenen Giften der letzten Stunden.


Zippel schlug die Augen auf.<br />

»Wo bin ich?« stammelte er noch etwas benommen. Verwundert starrte<br />

er auf seine rechte Hand: Die Gummibärchen waren verschwunden. Wie<br />

eine gichtige Kralle stachen seine aufgebogenen Finger in den Sand. Wäh-<br />

rend er Leben und Blut in seine Finger hineinmassierte, glaubte er einen<br />

leisen Tritt zu vernehmen, der sich eilig entfernte. Das Stoßen eines Krück-<br />

stockes schien die Schritte zu begleiten.<br />

Nun erst bemerkte Zippel die bizarre Kulisse, die sich vor dem grauen<br />

Horizont abzeichnete. Eine düstere spitzwinklige Burg erhob sich drohend<br />

über eine Stadt aus verkommenen Bruchbuden, schiefen Hütten und bau-<br />

fälligen Kasernen. Die Türme und Zinnen der Burg hatten die Form von rie-<br />

sigen Stacheln, die nicht nur steil in den Himmel ragten und die tief hän-<br />

gende Wolkendecke ritzten, sondern auch seitlich, quer und in alle Rich-<br />

tungen stachen, so, als wollten sie argwöhnisch die ganze Stadt belauern<br />

und sich gegebenenfalls auf sie stürzen. Aasgeier hockten mit eingezoge-<br />

nen glatzigen Schädeln auf den Häuserfirsten, und Schwärme von Fleder-<br />

mäusen flatterten durch die schwarzen Löcher zerborstener Fensterschei-<br />

ben. Das irre Schreien einer räudigen Katze wehte zu Zippel hinüber. Eine<br />

dünne gelbliche Rauchfahne hinter der meterdicken Stadtmauer verriet<br />

menschliches Leben in den Trümmern der Unterstadt. Glasscherben und<br />

Stacheldraht auf der Mauer ließen eindeutige Rückschlüsse auf die Gast-<br />

freundschaft der Bewohner zu. Das einzige eiserne Tor, zu dem die Straße<br />

führte, war fest verschlossen und schien nur am Tage geöffnet zu werden.<br />

»Stachelburg«, flüsterte Zippel beklommen. Er konnte den Blick nicht<br />

von der Zitadelle wenden, die sich wie ein gefräßiges Stacheltier zwischen<br />

die windschiefen Behausungen eingegraben hatte.<br />

Ein scheppernder, geborstener und unharmonischer Glockenklang kün-<br />

dete die stachelländische Uhrzeit an. Sechsmal, in unregelmäßigen Abstän-<br />

den, gellte der Missklang über das Land. Träge erhob sich ein Geier in die<br />

Lüfte, dann noch einer und noch einer. Fensterläden klapperten, und ein<br />

Hahn krähte.<br />

Zippel erhob sich und klopfte seine Kleider ab. »Es ist soweit«, murmel-<br />

te er. Entschlossen schulterte er seinen Bauchladen.


Ein wüstes Gelage<br />

»Stech dich, Krtzkrr!«<br />

Brutus Ranzig verbeugte sich, so gut es seine schiefe Gestalt zuließ.<br />

Herablassend winkte Generalissimo Krtzkrr Krieger den Dieb des Wabbel-<br />

steins zu sich und spie einen Schwall Scherben auf die schmutzigen Dielen.<br />

Sie befanden sich im Spiegelsaal der Stachelburg. An den roh behaue-<br />

nen Wänden zeugten zersplitterte Spiegel und zerfetzte Vorhänge von den<br />

ungezügelten Wutausbrüchen des Diktators. Von der Decke hingen<br />

Wäscheleinen, an denen einige verrostete Kerzenhalter notdürftig befestigt<br />

waren. Unförmige, dickbäuchige Kerzen blakten und rußten darin und<br />

schwärzten die Spinnweben und Mottennester an der Decke. Ein struppiger<br />

erbeuteter Adventskranz hatte die Anfälle des Generals überlebt und ließ<br />

seine vertrockneten Nadeln auf die strähnigen Haare der Soldaten fallen.<br />

Der Boden war übersät mit Scherben, Nägeln, Fischgräten und fauligen<br />

Essensresten. Quiekend stoben fette Ratten durch den Unrat und verbissen<br />

sich im Kampf um die madige Beute.<br />

Wohl an die fünfzig Soldaten waren eingeladen worden, um den Raub<br />

des Wabbelsteins zu feiern. Sie lümmelten auf angeknacksten Stühlen und<br />

Obstkisten herum, die als Sitzgelegenheiten im Saal verstreut herumlagen.<br />

Ein von Messer- und Beilhieben verunstaltetes Eichenbrett diente als Tisch.<br />

Wer nun eine prunkhafte Festtafel erwartet hatte, wurde schnell eines Bes-<br />

seren belehrt: lediglich ein Kübel mit dem billigsten Fuselschnaps thronte<br />

auf der Bohle. Etwas anderes schienen die Soldaten aber auch nicht erwar-<br />

tet zu , haben, denn jeder hatte einen verbeulten Blechnapf mitgebracht,<br />

mit dem er die hochprozentige Tunke schöpfen konnte.<br />

Am Fuß des Tisches hatte die Militärjunta Platz genommen. Neben<br />

Oberst Speiteufel sah man den Leibwächter des Diktators, Hauptmann<br />

Bleifuß. Dieser hatte seinen Namen von seiner Beinprothese, die er mit<br />

Blei hatte ausgießen lassen. Mit einer solch furchtbaren Waffe ausgestat-<br />

tet, konnte er Türbohlen, Lanzen und Mauern zertrümmern. Wer sich ihm<br />

in den Weg stellte, wurde rücksichtslos niedergestampft. Abgesehen von<br />

dieser Besonderheit verfügte Bleifuß über enorme Körperkräfte. Selbst sei-<br />

nen glatzköpfigen Schädel benutzte er als Rammbock. Kein Wunder also,<br />

dass Krtzkrr Krieger ihn zum Leibwächter ernannt hatte.<br />

Wer die stachelländischen Verhältnisse nicht gekannt hätte, würde die<br />

hagere Gestalt neben Bleifuß vermutlich übersehen haben. Mochte man sie<br />

beim flüchtigen Hinsehen zunächst noch für unscheinbar, ja unbedeutend


gehalten haben, so änderte sich dieser Eindruck schnell in einem schreckli-<br />

chen Ausmaß. Eine schleichende, unausweichbare Bedrohung ging von der<br />

Figur aus. Wie von einer Totenhand berührt schien die Luft und das Leben<br />

um ihn herum zu erstarren. Mit seinen nadelgroßen schwarzen Pupillen<br />

durchbohrte er seine Nachbarn, so dass diese erschaudernd wegblicken<br />

mussten, denn sie fürchteten, von dem Blick aufgespießt zu werden. Der<br />

Haaransatz dieses Stachelländers begann direkt bei den Augenbrauen, und<br />

seine schmalen, stets zusammengepressten Lippen schienen einen tiefen<br />

Hass verbergen zu wollen. Öffnete der Mann den Mund, so drangen tonlo-<br />

se, krächzende Befehle an die Ohren der Angesprochenen, die sich wie von<br />

einem seelenlosen, unbarmherzigen Roboter angegriffen fühlten. Dem<br />

magischen Zwang dieses eiskalten Wesens konnte sich keiner entziehen.<br />

Dies war General Krtzkrr Krieger!<br />

Gerade wandte er sich einem verbogenen Männchen zu, das ihm heim-<br />

lich hinter vorgehaltener Hand etwas zuflüsterte. Von dem Männchen ging<br />

etwas Schmutziges, Hinterhältiges aus, und selbst die abgebrühtesten Sta-<br />

chelländer gingen ihm aus dem Weg. Geheimrat Ziegenlippe, und nur um<br />

diesen handelte es sich, galt als graue Eminenz in Stachelland, als ein-<br />

flussreichster und engster Berater des Diktators. Ohne die bösartigen Intri-<br />

gen und arglistigen Pläne seines Vertrauten hätte Krieger seine uneinge-<br />

schränkte Macht in Stachelland nicht ausüben können.<br />

»Merkwürdig«, wisperte Ziegenlippe, »warum hat Brutus Ranzig den<br />

Scherbenpass benutzt und nicht wie befohlen den Schwartenpass?«<br />

»Er wird seine Gründe gehabt haben«, raunzte Krieger, »immerhin hat<br />

er seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt, und der Wabbelstein ist in unse-<br />

ren Händen.«<br />

»Gründe hin, Gründe her. Dies ist ein offener Fall von Befehlsverweige-<br />

rung!«<br />

Damit setzte Geheimrat Ziegenlippe den ersten Stachel des Misstrauens<br />

in den General.<br />

Krieger richtete seine stechenden Augen auf Ranzig. Wie eine durch-<br />

dringende Nadel spürte dieser den Blick in seinem Nacken, und er fing zu<br />

schwitzen an.<br />

»Außerdem«, fuhr Ziegenlippe fort, »außerdem werden mir merkwürdi-<br />

ge Dinge vom Tal der Zyklopen zugetragen.«<br />

»Rede schon!« herrschte Krieger den Geheimrat an. Gleichzeitig proste-<br />

te er den Soldaten zu, die grölend über den Kübel Fuselschnaps herfielen.<br />

Ziegenlippe meckerte hämisch auf: »Man hat Geschrei aus dem Tal der<br />

Zyklopen gehört. Einer meiner Spitzel war zufällig in der Nähe. Er ist sich


sicher, dass es die Stimmen von Reibstein und Geierblick waren. Jemand<br />

muss sie den Zyklopen ausgeliefert haben.«<br />

Krieger erbleichte. Seine Zähne gruben sich in die Lippen, bis sie blute-<br />

ten. Das Gegröle der Soldaten verstummte so plötzlich wie es aufgekom-<br />

men war: so kündigte sich einer der gefürchteten Wutausbrüche Kriegers<br />

an.<br />

»Weiter! Weiter!« geiferte der Diktator und packte den Geheimrat am<br />

Kragen.<br />

»Das ist in der Tat noch nicht alles«, beeilte sich Ziegenlippe zu berich-<br />

ten, »die Zöllnerin soll im Land sein. Man hat ihre Fußspuren und den<br />

Abdruck ihres Krückstockes gefunden.«<br />

»Gift und Galle!« Krieger tobte. Schaum bildete sich vor seinen Lippen.<br />

Er sprang auf und warf seinen Becher dem erstbesten Soldaten an den<br />

Kopf. Mit einem erstickten Aufschrei riss er sich die Uniformjacke auf, dass<br />

die Knöpfe absprangen und die Taschen in Fetzen flogen.<br />

»Verrat!« brüllte er und geiferte und sabberte schleimigen Speichel auf<br />

seine Hose. Dann stürzte er sich auf Ranzig und packte dessen Haare. Wie<br />

von Sinnen zerrte er ihn durch den Saal und trat ihn mit den Füßen.<br />

Schließlich warf er ihn vor die klumpige Beinprothese seines Leibwächters.<br />

Hauptmann Bleifuß schnappte den Gebeutelten an der Kehle.<br />

»Wirf ihn in einen der oberen Stacheltürme und gib ihm Honigbier zu<br />

trinken!« kreischte Krieger, »bis er ein vollständiges Geständnis ablegt.<br />

Fort mit ihm!«<br />

Bleifuß schleifte den wimmernden Ranzig durch den Saal. Mit Fußtritten<br />

und Schimpfwörtern verabschiedeten sich die Soldaten von ihrem Kolle-<br />

gen, denn eine echte Kameradschaft war unter den heruntergekommenen<br />

Söldnern und Desperados unbekannt. Im Gegenteil, der Vorfall schien ihre<br />

Festtagsstimmung noch zu heben.<br />

»Trotz alledem«, rief Krieger, der wie aus einer Trance zu erwachen<br />

schien, »der Wabbelstein ist unser, und niemand wird ihn wieder aus dem<br />

Labyrinth der Stacheltürme zurückholen können.«<br />

Der General schöpfte einen neuen Becher voll Fuselschnaps. »Es ist Zeit<br />

zum Essenfassen. Holt die Eimer herein. Zur Feier des Tages werden gepö-<br />

kelte Stichlinge serviert. Dazu gibt es Feuerquallen, Fliegenpilze in saurer<br />

Milch, abgehangene Seeigel und zerstoßene Katzenkrallen.«<br />

»Stech dich krtzkrr!« heulten die Soldaten auf und stürzten sich auf die<br />

Eimer mit den entsetzlichen Speisen. Es versprach, eines der wüstesten<br />

Feste zu werden, die die Stachelburg erlebt hatte.<br />

Und so geschah es. Schon bald zeigte der Fuselschnaps seine verhee-


ende Wirkung. Oberst Speiteufel feierte mit Geheimrat Ziegenlippe zum<br />

wiederholten Mal Verbrüderung. Mit rührseligen Tränen in den Augen<br />

spuckten sie sich volle Breitseiten von Nägeln und Scherben ins Gesicht<br />

und rupften sich die Haare aus. Hauptmann Bleifuß, der sich des Verräters<br />

entledigt hatte, gurgelte und erbrach sich quer über den Tisch. Die Solda-<br />

ten grölten, gossen sich Schnaps über die Köpfe und schlugen mit<br />

Blechlöffeln auf die Töpfe ein.<br />

»Musik!« befahl General Krieger.<br />

Da in Stachelburg keine Musik ausgeübt wurde, und es somit auch kei-<br />

ne Musiker gab, nahmen die Söldner das Geschäft selbst in die Hand. Ein<br />

ohrenbetäubendes, schrilles Katzenkonzert war die Folge. Mehrere Solda-<br />

ten kratzten mit ihren Fingern auf Schiefertafeln, dass die Ratten quiekend<br />

in ihre Löcher flüchteten. Zwei andere holten verstimmte Fideln aus der<br />

Ecke und sägten mit zerfaserten Bögen darauf herum, als wollten sie die<br />

Instrumente zu Kleinholz machen. Alles, was auch nur irgendwie einen<br />

scheppernden Klang verursachte, wurde mit Fäusten, Messern, Löffeln und<br />

Schwertern bearbeitet. Dazu grölten die Betrunkenen unmelodisch durch-<br />

einander, wobei es einzig auf die Lautstärke und nicht auf einen schönen<br />

Klang ankam.<br />

Bis zum Exzess steigerte sich das Gelage. Als im Morgengrauen die ers-<br />

ten Geier auf der Suche nach Aas aufstiegen, lagen die Gänge der Stachel-<br />

burg voll von betrunkenen Söldnern und Desperados. Es konnte noch Tage<br />

dauern, bis der letzte Tropfen Fusel ausgetrunken war, bis das letzte<br />

Fischskelett auf die Dielen gespuckt wurde.<br />

Gegen Mittag des zweiten Tages jedoch machte Ziegenlippe einen Vor-<br />

schlag, der von allen begeistert aufgenommenen wurde.<br />

»Wir brauchen zwischendurch eine Abwechslung«, lallte er, »Lasst uns<br />

doch mal auf den Marktplatz gehen und uns bei den Marktfrauen umsehen.<br />

Da gibt es sicher allerlei zu kneifen und zu kratzen.«<br />

Mit einem tierischen Gebrüll wälzte sich die haltlose Soldateska auf das<br />

verriegelte Tor. Krtzkrr Krieger meckerte böse auf.<br />

»Schade«, rief er, »dass wir keinen fetten Wabbelanier zum Pieken und<br />

Quälen dabei haben. Das würde dem Fest die richtige Würze geben.«<br />

Er schloss das Tor auf. Wie glühende Nadeln stachen die gleißenden<br />

Strahlen der Vormittagssonne in die blutunterlaufenen Augen der Bande.<br />

Geblendet wichen die Wüstlinge zurück. Allmählich gewöhnten sie sich an<br />

das Tageslicht. Schmutzige Stoppelbärte sprossen in ihren aufgedunsenen<br />

Gesichtern. Mit zerzausten Haaren und stinkenden Uniformen wälzte sich<br />

die rohe Meute durch die Gassen Stachelburgs und bewegte sich unheilvoll


auf den Marktplatz zu.


Der Stachelmarkt<br />

Viele der verwahrlosten Häuser und Hütten, an denen Zippel vorbeimar-<br />

schierte, schienen unbewohnt zu sein. Bei näherem Hinsehen konnte er<br />

jedoch heimliche Bewegungen hinter den Pferdedecken und Bettlaken aus-<br />

machen, die hier als Gardinen dienten. So trostlos hatte sich Zippel die<br />

Hauptstadt Stachelburg nicht vorgestellt. Wie mochte es erst in den Dör-<br />

fern und Ansiedlungen auf dem Land aussehen. Die Türen hingen schief in<br />

ihren Angeln und waren vielfach durch Kohlen- und Kartoffelsäcke ersetzt<br />

worden. Kaum ein Fenster besaß ein intaktes Fensterglas. Als Ersatz waren<br />

notdürftig Bretter und Dachpappen davorgenagelt worden. Zippel fröstelte<br />

bei dem Gedanken an die Wintermonate. Ob die Einwohner in ihren Häu-<br />

sern Lagerfeuer unterhielten, um sich halbwegs vor der Kälte zu schützen?<br />

Diese und viele andere Fragen konnte Zippel sich nicht beantworten.<br />

Nirgendwo sah er Handwerksbetriebe oder Kaufläden. Kein Schneider, kein<br />

Frisör, kein Bäcker öffnete sein Geschäft, was keineswegs der frühen Mor-<br />

genstunde zuzuschreiben war. Stattdessen trieben sich wenig vertrauener-<br />

weckende Gestalten herum. In ihren zerlumpten Uniformen drückten sie<br />

sich in die dunklen Ecken der Gassen, so, als triebe sie ein schlechtes<br />

Gewissen weg von der entlarvenden Helligkeit der Straße.<br />

'Wenn mich nicht alles täuscht', dachte Zippel, 'besteht die ganze Stadt<br />

aus Wegelagerern, die von Raub und Diebstahl leben.'<br />

Trotz der feindseligen Atmosphäre, die von den windschiefen Häusern<br />

und Gestalten ausging, fürchtete sich Zippel nicht. Die Leichtigkeit, mit der<br />

er die Torwache überrumpelt hatte, machte ihn zuversichtlich. Noch hatte<br />

er das Bild seines Streiches vor Augen:<br />

Da wartet er vor dem Stadttor. Seinen ganzen Mut nimmt er zusam-<br />

men. Vorsichtshalber steckt er sich eine Handvoll Nägel und Scherben in<br />

den Mund, mit der er die Wächter landesüblich und standesgemäß begrü-<br />

ßen will. Nichtsahnend und verschlafen riegeln diese kurz nach sechs Uhr<br />

das Tor auf. Zippel holt tief Atem und rotzt die ganze Ladung Nägel in die<br />

Gesichter der Wächter. Die Verblüffung über soviel Freundlichkeit ver-<br />

schlägt ihnen die Sprache. »Stech euch, krtzkrr!« schreit nun Zippel und<br />

scharrt mit den Füßen wie der Leibhaftige, wenn ihm eine Laus über die<br />

Leber juckt. Übermütig schlägt er mit dem Bein aus und treibt seinen Spo-<br />

ren in das Holz des Tores. Nun ergreift wirklich der Teufel von ihm Besitz.<br />

Mit seiner großen Ersatznadel sticht er den beiden Wächtern kurzerhand in<br />

die Arme. »Gestatten, Rippel aus Korinth!« erklärt er, »Nagel-, Nadel- und


Kratzbürstenhändler auf der Durchreise.« Seinen Namen hat Zippel ein<br />

wenig geändert, denn man kann nie wissen! Die beiden Wächter rappeln<br />

sich wieder auf. »Den Ausweis!« verlangen sie, und der Schock steht<br />

immer noch auf ihren Gesichtern geschrieben. Zippel zückt seinen Ausweis<br />

und hält ihn frech vor die Nase des ersten Wächters. Der bleibt stumm.<br />

Studiert und studiert. Bis er achselzuckend fragt: »Was für einen Sinn hat<br />

ein Ausweis, wenn man ihn nicht lesen kann, krztkrr?« Noch immer reitet<br />

dieses kecke Teufelchen den Schneider, und er dreht den Ausweis um und<br />

fragt: »Und nun? Bist du jetzt zufrieden?«<br />

Wie vom Donner gerührt glotzt der Wächter auf den Zettel. Gleich fallen<br />

ihm die Augen aus dem Kopf. »Pest und Cholera«, stottert er«,das sind ja<br />

wabbelanische Buchstaben!« »Eben, eben«, kontert Zippel, »das ist ja der<br />

Trick. Darauf wärst du Pfiffikus wohl nie gekommen. Die korinthischen Hie-<br />

roglyphen sind halt so oder anders zu lesen. Je nachdem, je nach Bedarf.<br />

Mal wabbelanisch, mal korinthisch, mal kloakisch., dann wieder stachellän-<br />

disch. In jedem Fall aber sibyllinisch und erst recht<br />

korinthifistisch. Zu guter Letzt stellt sich das Papier als spionistisch im<br />

Sinne korinthisch-verbrämter Sophistik in der Auslegung kyrillischer Malefi-<br />

zenz dar.« Nach dieser tiefsinnigen und rätselhaften Rede lupft Zippel sei-<br />

nen Dreispitz zum Gruß: »Und damit wünsche ich noch einen guten Tag.«<br />

Ohne zu fragen nimmt Zippel den Ausweis wieder an sich, schultert seinen<br />

Bauchladen und marschiert einfach los, eine lustige Weise auf den Lippen.<br />

Das einzige, was ihn in seinem Rücken noch verfolgt, ist ein dümmliches<br />

Grunzen. Und das ist alles. Basta.<br />

Seit diesem Erlebnis verfielen die Wächter in ein krankhaftes, verbohr-<br />

tes Grübeln und Deuteln und nahmen ihre Aufgaben nachlässig und in<br />

geistiger Abwesenheit wahr. Zippel aber kicherte beim Gedanken an diesen<br />

Streich vergnügt in sich hinein. Das war wirklich ein tolldreistes Stück<br />

gewesen. Was würden Plumplum und Hübeldübel wohl für Augen machen,<br />

wenn er davon berichtete!<br />

Je mehr er sich der Stadtmitte näherte, desto stärker wurde das Leben<br />

in den Straßen. Auch die anderen Menschen nahmen die gleiche Richtung<br />

wie der Schneider. Hauptsächlich Frauen strebten zur Stadtmitte, und sie<br />

schleppten wie Zippel Kisten mit sich, hatten Säcke geschultert oder scho-<br />

ben zweirädrige Karren vor sich her, die mit seltsamen Dingen beladen<br />

waren. Faule Fische, verdorbene Äpfel und die verwesten Kadaver von Kat-<br />

zen, Kötern und Ratten wurden hier fortgetragen, und sie verstärkten noch<br />

den Gestank, der sowieso ständig die Luft schwängerte.<br />

'Liegt die Müllkippe etwa mitten in der Stadt'? Dachte Zippel, bis ihm


ein furchtbarer Verdacht kam. Er trat an einen der quietschenden Wagen<br />

heran und blickte genauer hin. In einem matschigen Kohlkopf stak ein<br />

Preisschild, und auf einem verschimmelten Haufen Pflaumen lag ein Stück<br />

Pappe. Sonderangebot! 1A Qualität! Las Zippel. Kein Zweifel, dies waren<br />

Marktfrauen auf dem Weg zu ihren Verkaufsständen.<br />

»Puh«, schnaufte Zippel, »von solch einer Frau möchte ich nicht durch-<br />

gefüttert werden!« Als Junggeselle schaute er sich das weibliche<br />

Geschlecht immer etwas genauer an, in einer vagen Hoffnung, aber diese<br />

hier? Verfilzte Haarsträhnen fielen ungekämmt in ihre stumpfsinnigen<br />

Gesichter. Ein fauliger Geruch brach aus ihren schwarzen Mundhöhlen, die<br />

Nasen schnodderten von ewigen Erkältungen, und unter den langen zer-<br />

splitterten Fingernägeln mooste Dreck von Wochen. Ungepflegte, zerschlis-<br />

sene Kleider hingen in Fetzen von den dürren, schrundigen Körpern.<br />

Das wichtigste Bekleidungsutensiel in Stachelburg schien die Wäschelei-<br />

ne zu sein. Damit banden sich die Einwohner ihre Kleider zusammen. Die<br />

Wäscheleine diente sowohl als Hosenträger wie auch als Schnürsenkel.<br />

Löcher wurden damit gestopft, sofern sich überhaupt jemand die Mühe<br />

machte, ein Loch oder ein klaffendes Eck auszubessern. Als Kinnriemen für<br />

die Helme musste die Wäscheleine ebenso herhalten wie als Klingelleine,<br />

Peitsche zum Vertreiben der Ratten oder einfach nur als Krawatte oder<br />

Hutschnur, sollte mal einer an einem Anfall von Eitelkeit oder Schönheits-<br />

sinn erkranken. Herrschte Mangel an den beliebten Salzklumpen, wurde<br />

ersatzweise auf den Enden einer Leine gekaut. Ja, Zippel glaubte gesehen<br />

zu haben, wie eine der Frauen ein Wäscheleinenstück genüsslich hinunter-<br />

schluckte und danach zufrieden rülpste.<br />

Zippel selbst fiel kaum auf. Was war auch schon Besonderes an so einer<br />

spillerigen Klappergestalt? Von den vielen Abenteuern waren Zippels Klei-<br />

der zerrissen, und sein zerbeulter Dreispitz ließ die zerfransten Ecken hän-<br />

gen. Und das Scheppern und Klirren seiner Sporen und seines Eisengürtels<br />

klang wie Musik in den Ohren der Stachelländer.<br />

Zusehends füllten sich die Gassen mit Marktfrauen und herumlungern-<br />

den verdächtigen Individuen. Alle hatten offensichtlich das gleiche Ziel. Als<br />

das Gedränge so zunahm, dass einer den anderen schob und stieß, öffnete<br />

sich die Straße und mündete in einen großen Platz. Schmutziger noch als<br />

die Gassen, übersät mit Abfällen und Resten und durchsetzt von üblen<br />

Gerüchen aller Art war der Platz erfüllt vom Kreischen und Feilschen der<br />

Händler und Käufer. Mit Brettern, Kisten, Wellblechstücken und sonstigem<br />

Sammelsurium waren Verkaufsstände aufgerichtet worden, mehr proviso-<br />

risch, vorgesehen nur einmalig für ein paar Stunden. Danach trat man mit


Füßen die wackelige Konstruktion ein und ließ alles so liegen, wie es<br />

zusammengebrochen war. Am nächsten Tag suchte man sich gierig die am<br />

besten erhaltenen Stücke heraus und knotete sie mit einer Wäscheleine zu<br />

einem Tresen zusammen, der ebenfalls nur den Vormittag überlebte. Einen<br />

soliden Verkaufsstand herzurichten und für Dauer aufzustellen, machte bei<br />

der stachelländischen Wesensart keinen Sinn: schon nach wenigen Minuten<br />

würden sich die neidischen Nachbarn wie Aasgeier über den Stand herma-<br />

chen, um die fette Beute in ihre unersättlichen Krallen zu bekommen.<br />

Zippel sah nun manches klarer.<br />

'Kein Wunder', dachte er, 'dass alles verkommen und vernachlässigt ist.<br />

Redliche Arbeit ist hier wohl ein Schimpfwort. Da bleibt nur das Rauben<br />

und Stehlen. Und wer einmal ein gutes Stück ergattert hat, einen Pelz viel-<br />

leicht oder ein paar glänzende Stiefel oder auch eine solide Haustür, der<br />

muss von da an ständig um sein Eigentum fürchten. Da lässt man lieber<br />

gleich alles verkommen. Ist halt bequemer so. Deshalb auch die vergam-<br />

melte Ware, die löchrigen Socken, die Schimmelpilzkulturen. Mit einem gut<br />

ausgerüsteten Sortiment erstklassiger Produkte würde man sich in Lebens-<br />

gefahr begeben.'<br />

Mühselig schob sich Zippel durch die Menge auf der Suche nach einem<br />

freien Platz, wo er sich aufstellen konnte. Zwar erblickte er hie und da eine<br />

Lücke, doch die keifende Nachbarschaft ließ seinen Schritt beschleunigen.<br />

Schon lagen sich die ersten Käufer in den Haaren und prügelten sich um<br />

ein vermeintliches Schnäppchen.<br />

Zum anderen Ende des Platzes nahm die Dichte und das gewinnsüchti-<br />

ge Feilschen merklich ab. Allerdings kamen hier auch nicht so viele Leute<br />

her. Vielleicht, weil sie in ihrer unmäßigen Gier gleich am Anfang alles mit-<br />

nehmen wollten, was einen Vorteil versprach. Wie von ungefähr betrat Zip-<br />

pel eine Lücke zwischen zwei Ständen. Das eigenartige Gefühl beschlich<br />

ihn, als habe irgendeine geheime Macht ihn hierher gelockt. Jedenfalls<br />

fühlte er sich mit einem Mal etwas wohler, und er stellte seinen Bauchladen<br />

auf zwei leere Obstkisten, die noch frei herumlagen. Nun schaute er sich<br />

um, seine Nachbarn in Augenschein zu nehmen. Links von ihm hockte ein<br />

unglaublich hässliches Männlein auf einem Schweinekoben und pries Där-<br />

me, Schweineaugen, Innereien und ungeschabte Schwarten an. Alles war<br />

mit Kot besudelt. Missgünstig lutschte der gnomenhafte Händler an einer<br />

abgekauten Stummelpfeife. Abwechselnd steckte er seinen Finger zum<br />

Stopfen in den Pfeifenkopf und dann in seine eklige Ware, um zu prüfen,<br />

ob etwa Ratten oder Würmer ihn um seinen Gewinn prellen wollten. Ange-<br />

widert wandte sich Zippel ab.


Zu seiner Rechten gewahrte er einen Stand, der ebenso wie die anderen<br />

provisorisch mit einer Wäscheleine am Einsturz gehindert wurde. Dennoch<br />

unterschied sich dieser Tresen mit den ausgestellten Waren von den übri-<br />

gen. Nicht, dass es sich um besonders auffällige Produkte handelte. Nein,<br />

es waren Kleinigkeiten, die Zippels Neugierde weckte: die Knoten schienen<br />

sorgfältiger gebunden zu sein, die Waren lagen geordnet auf einer Ver-<br />

kaufsfläche, die anscheinend vorher gesäubert worden war. Ein Schild mit<br />

liebevoll gemalten Buchstaben verwies auf die Art des Ladens: Spezialitä-<br />

ten und Hausgemachtes!<br />

Von der Marktfrau dieses sogenannten Spezialitätenladens sah Zippel<br />

nur den Rücken, denn sie schien auch noch den Boden hinter dem Tresen<br />

zu fegen. Also betrachtete sich Zippel die Auslage. Recht trostlos sah es<br />

darauf aus. Neben einigen Karotten und Gurken, die allerdings eine frische<br />

Farbe aufwiesen, langweilte sich ein Kürbis, so armselig, so klein wie ein<br />

wabbelanischer Apfel. Doch dann erblickte der Schneider etwas, was er<br />

seit seinem Grenzübergang nicht mehr gesehen hatte, und wovon er schon<br />

zu träumen anfing: ein Honigbrot und daneben einen Wackelpudding!<br />

Träumte er vielleicht? Ungläubig schnupperte er in die verpestete Luft.<br />

Das war keine Fata Morgana. Ein kaum wahrnehmbarer süßlicher Geruch<br />

streifte an seiner Nase vorbei.<br />

'Natürlich,' dachte Zippel, 'der Geruch hat mich hierher gelockt!' Und er<br />

schnüffelte und schnoberte, bis seine Nase fast im Wackelpudding versank.<br />

Da richtete sich die Marktfrau auf.<br />

»Ja, bitte?« fragte sie mit einer Stimme, die wohl herb klingen sollte,<br />

aber eine samtene Weichheit nicht übertünchen konnte.<br />

Zippel blickte in zwei große dunkelblaue Augen, die ihn wie zwei klare<br />

Bergseen zu verschlingen schienen. Dem Schneider wurde es siedend heiß.<br />

Das Puls klopfte dröhnend in seiner Schläfe. Schluckend fasste er sich an<br />

den Hals. Was war mit ihm? Keinen Moment konnte er seine Augen von<br />

den ihren lösen. Ihm wurde schwindelig.<br />

»S'wibbelt«, flüsterte er heiser, wusste aber gar nicht, was er da sagte.<br />

Erschreckt weiteten sich die Pupillen der Frau. Sie wich einen Schritt<br />

zurück.<br />

»Melanie?« fragte Zippel blöde. Doch nein, das war unmöglich.<br />

Die Frau lachte kurz auf und sagte spröde: »Ich heiße Rosalinde. Wer<br />

bist du, und was willst du von mir?«<br />

»Zippel, der Schneider«, krächzte Zippel. Wieder war ihm nicht<br />

bewusst, was ihm da entfuhr, und wieder wich die Frau einen Schritt<br />

zurück.


»Zippel?« fragte sie.<br />

Da platzte der Knoten. Zippel fuhr zusammen. »Nein, nein!« rief er<br />

eilig, »Rippel aus Korinth. Nadel-, Nagel- und Kratzbürstenhändler.«<br />

Rosalinde maß ihn mit einem langen klugen Blick. Trotz ihrer stachellän-<br />

dischen Magerkeit strahlte sie eine weibliche Wärme aus, die ihr hier ver-<br />

mutlich mehr Feinde als Freunde machte.<br />

»Wenn ich nur etwas Geld hätte«, sagte Zippel und betrachtete hungrig<br />

den Wackelpudding.<br />

»Geld?« fragte Rosalinde, »Geld gibt es hier nicht. Wir leben von<br />

Tauschgeschäften. Aber mit Nägeln oder Kratzbürsten kann ich nichts<br />

anfangen.«<br />

Doch dem scharfen Schneiderblick war nicht entgangen, dass die vielen<br />

Flicken auf der Schürze der Marktfrau sauber und akkurat gesetzt waren,<br />

dass aber die Nadelstiche viel zu große Löcher hinterlassen hatten und den<br />

Effekt der Flickerei fast wieder aufhoben. Er ging zu seinem Bauchladen,<br />

öffnete die Kiste und entnahm ihr drei der feinsten Nadeln.<br />

»Nun?« fragte er. Zu den Nadeln legte er noch eine Rolle Zwirn auf den<br />

Tisch. Die Wangen Rosalindes röteten sich wie beim Auspacken eines<br />

Weihnachtsgeschenkes. Und so kam der Tausch zustande. Obwohl der<br />

Wackelpudding im Vergleich zu Melanies Kunstwerken ein kümmerlicher<br />

fester Klumpen war, schmeckte er Zippel wie die Krönung aller Wackelpud-<br />

dinge. Gesättigt und mit einem süßen Gefühl im Herzen begann er, seine<br />

Waren anzupreisen. Zwischendurch schielte er heimlich zu seiner Nachba-<br />

rin, und seine Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz.


Schlechte Aussichten<br />

Leider verlief das Geschäft nicht so, wie Zippel es sich erwartet hatte.<br />

Ziel war es ja, den Kontakt zu Krtzkrr Krieger herzustellen. Dazu wollte er<br />

mit besonders günstigen Angeboten einige Soldaten anlocken. Diese hät-<br />

ten ihn dann schon irgendwie zur Stachelburg gebracht oder ihm verraten,<br />

wie er an den General herankommen könnte. Doch es war wie verhext:<br />

keiner der Soldaten aus Kriegers Armee ließ sich erblicken. Zwar lungerten<br />

immer mal wieder verwahrloste Gestalten vor Zippels Stand herum und<br />

glotzten begehrlich in seinen Bauchladen. Die Uniformen dieser Galgenvö-<br />

gel aber schienen ebenso wie Zippels Uniformjacke aus einer Rumpelkam-<br />

mer oder einem Raubüberfall zu stammen und verwies ihre Träger auf<br />

einen niederen Stand. Die echte stachelländische Uniformierung hatte Zip-<br />

pel noch von dem Zusammentreffen mit Reibstein und Geierblick in guter<br />

Erinnerung. Hier auf dem Stachelmarkt also schien der falsche Ort für eine<br />

Begegnung mit der Soldateska zu sein.<br />

Nach zwei Stunden hatte Zippel erst ein einziges Geschäft getätigt:<br />

gegen ein paar Nägel hatte er eine solide Wäscheleine bekommen, die er<br />

sich wie ein Lasso um die Schultern warf. Immerhin gab es in Stachelland<br />

ein paar Güter, die einen so hohen Stellenwert hatten, dass man sie wie<br />

Geld verwenden konnte. Dies waren in erster Linie Nägel – möglichst<br />

angerostete -, von denen Zippel noch jede Menge besaß. Hoch im Kurs<br />

standen auch Wäscheleinen. Geradezu wie mit Gold aufgewogen aber wur-<br />

den Salzklumpen. Wer einen Salzklumpen sein eigen nannte, konnte sich<br />

alles eintauschen, jeden Wunsch erfüllen und im Überfluss baden. Wenn er<br />

nur nicht den Fehler beging, mit seinem Reichtum zu prahlen und auf den<br />

Putz zu hauen. Genauso gut hätte er sein eigenes Todesurteil aufsetzen<br />

können. Im Gegenteil, zurückhaltend und unauffällig musste er vorgehen.<br />

Einige wenige Krümel musste er aus seinem Beutel kratzen und wehleidig<br />

lamentieren, dass dies seine letzte Habe sei; man möge ihm großzügig<br />

dafür Nägel und saure Milch eintauschen. Selbst dieser Trick funktionierte<br />

mitunter nicht, und Zippel sah mit Entsetzen, wie solch ein Salzkrümelver-<br />

käufer von dem gierigen Mob fast in Stücke gerissen wurde. Mit verzerrten<br />

Mäulern rissen sie ihm die Kleider vom Leib, trennten Nähte und Taschen<br />

auf in der Vermutung eines geheimen Salzversteckes, und leckten zu guter<br />

Letzt seinen salzigen Angstschweiß, wie rettungslos süchtig, wie in einem<br />

Rauschzustand. Zippel wurde über dieses Erlebnis sehr nachdenklich. Er<br />

ertappte sich, wie ein Hauch von Mitleid seine Seele berührte, den er


jedoch gleich wieder abschüttelte.<br />

Auch das Geschäft seiner Nachbarin stand unter keinem guten Stern.<br />

Die wenigen Stachelländer, die in diesen hinteren Teil des Platzes vordran-<br />

gen, sogen scharf die Luft ein, rümpften die Nase und verließen schnur-<br />

stracks ihren Stand. »Eklig süß!« spien manche angewidert aus.<br />

»Deine Backkünste scheinen hier nicht zu verfangen«, sagte Zippel und<br />

versank ihn ihren traurigen blauen Augen.<br />

»Ja ich weiß«, erwiderte sie, »aber ich bringe es einfach nicht fertig,<br />

das Brot so sauer und salzig zu backen, wie es hier gewünscht wird. Es<br />

sind immer nur ein paar durchreisende Ausländer, die mir etwas abkau-<br />

fen.«<br />

»Wie kommt es«, fragte Zippel, und er bemühte sich um einen harmlo-<br />

sen Tonfall, »dass ich hier keine Soldaten des Generals sehe? Mit ihnen<br />

könnte ich sicher bessere Geschäfte machen.«<br />

Rosalinde sah ihn scharf an. Zippel errötete. Schließlich sagte sie:<br />

»Wenn du Geschäfte mit den Soldaten machen willst, ist es besser, du<br />

gehst aus meiner Nähe. Ich jedenfalls habe keinen Bedarf nach Krtzkrr<br />

Krieger und seiner Armee. Im übrigen kannst du unter Umständen noch<br />

eine Woche warten, bis sie aus der Stachelburg herauskommen. Man sagt,<br />

sie feiern ein Fest, den Sieg einer Schlacht oder so etwas Ähnliches. Bei<br />

solchen Gelegenheiten betrinken sie sich, bis der letzte Becher geleert ist,<br />

bis der letzte Tropfen aufgeleckt ist. Und das kann sieben oder acht Tage<br />

dauern.«<br />

»Heiliger Wabbelstein«, fluchte Zippel. Acht Tage konnte er nicht war-<br />

ten. Bis dahin hatte man ihn vermutlich entlarvt und ausgeliefert.<br />

Erst jetzt bemerkte er den ängstlichen Ausdruck Rosalindes. Hatte er<br />

was Falsches gesagt? Fing er etwa schon an, mit sich selbst zu reden?<br />

»Na dann«, sagte Zippel so leichthin, »es wird Zeit, die Zelte abzubre-<br />

chen.«<br />

Die Mittagsstunde war schon weit überschritten, und die meisten Händ-<br />

ler hatten ihre Sachen eingeladen und waren auf dem Heimweg. Zippel<br />

und Rosalinde packten ebenfalls zusammen und bahnten sich einen Weg<br />

durch das Chaos und die zurückgebliebenen Trümmer.<br />

»Mir scheint, du hast den gleichen Weg wie ich«, sagte Rosalinde, nach-<br />

dem sie schon zwei Straßen gemeinsam gelaufen waren. Zippel hielt an.<br />

Das war ihm gar nicht aufgefallen. Es war ihm wie die größte Selbstver-<br />

ständlichkeit vorgekommen. Wo sollte er sonst auch hin? Die Stachelburg,<br />

deren spitzen Türme in allen Richtungen über der Stadt hingen, war verrie-<br />

gelt und verrammelt.


»Gibt es hier kein Gasthaus, wo ich übernachten kann?« fragte Zippel<br />

scheinheilig und sah sich suchend um.<br />

»Es gibt nur eine Herberge in Stachelburg«, antwortete Rosalinde. »Sie<br />

heißt 'Zur Daumenschraube' und ist die berüchtigste Spelunke im ganzen<br />

Land. Man munkelt, dass viele Reisende von dort aus spurlos verschwun-<br />

den sind. Wer sehr vorsichtig und mutig ist, mag dort ein Unterkommen<br />

finden, ohne Schaden davonzutragen. Du findest sie, wenn du die erste<br />

Straße rechts einbiegst. Es ist eine Sackgasse, an deren Ende die Absteige<br />

liegt.«<br />

»So muss es wohl sein«, seufzte Zippel und trank noch einen letzten<br />

langen Blick aus Rosalindes Augen.<br />

Auch auf ihrem Gesicht schien sich ein Schatten von Traurigkeit zu<br />

legen. Ein etwas alberner Gedanke fuhr durch Zippels Hirn: »Könntest du<br />

nicht meine kostbare Nadelsammlung mitnehmen und sicher aufbewahren?<br />

Morgen auf dem Markt kannst du sie mir zurückgeben.«<br />

Der Vorwand, mit dem er sie wiederzusehen hoffte, war wirklich weit<br />

hergeholt. Aber Zippel erntete weder Spott noch Ablehnung auf seinen<br />

Vorschlag. Rosalinde nahm seine Nadeln, gab ihm noch ihre Adresse für<br />

alle Fälle und begab sich auf den Heimweg. Zippel schlug in die bezeichne-<br />

te Straße ein, die sich bald zu einer schmuddeligen Gasse verjüngte, in die<br />

kaum Licht einfiel, und deren Ende von einer verlotterten Kaschemme<br />

zugebaut war.


Skunk<br />

Das Wort Spelunke war noch zu fein für die Bruchbude, die Zippel<br />

betrat. Nachdem er den staubigen Sack am Eingang zurückgeschlagen hat-<br />

te, schlug ihm ein so dicker, rauchgeschwängerter Dunst entgegen, dass er<br />

glaubte, ersticken zu müssen. Minutenlang kämpfte er gegen den Brech-<br />

reiz an, der ihn schlucken und würgen machte. Die gleiche Zeit brauchten<br />

seine Augen, um sich an das Halbdunkel des Lochs anzupassen. Allmählich<br />

schälten sich die Konturen der Einrichtung und der Gäste aus dem damp-<br />

fenden Brei. Es gab lediglich einen rechteckigen Raum, an dessen Wände<br />

roh zusammengefügte Bretter als Sitzgelegenheiten dienten. Wackelige<br />

Kisten und Kästen verdienten den Namen Tisch nicht, wurden aber in<br />

Ermangelung jeglichen Mobiliars dafür missbraucht. Sogar eine Art Tresen<br />

bereicherte die luxuriöse Ausstattung dieses Palasthotels. Das Angebot an<br />

Getränken war schnell abgezählt und bereitete dem Gast keine Qual der<br />

Wahl: ein einziger Kübel stand auf dem Tresen. Der Inhalt, eine schwap-<br />

pende Brühe von undefinierbarer Farbe, schien eine Mischung aus saurer<br />

Milch, Salzlake und selbstgebranntem Schnaps zu sein, der eine unwider-<br />

stehliche Anziehungskraft auf Fliegen und Geschmeiß ausübte. Jedenfalls<br />

war der Stiel des Schöpflöffels, der in der Brühe schwamm, von einer Trau-<br />

be grünlich-schillernder Fliegen belagert.<br />

Aus den Ecken gierten hungrige Augenpaare und maßen Zippel vom<br />

Kopf bis zur Zehenspitze. Erwartungsvoll blieben sie an seinem Bauchladen<br />

kleben. Zippel beachtete sie nicht weiter und schritt zur Theke, wie wir den<br />

Tresen mit dem einsamen Kübel einmal nennen wollen. Hinter der Theke<br />

lauerte schon der Wirt, ein aufgedunsener, fetter Kahlkopf, dessen specki-<br />

ge Hose mit einer Wäscheleine am Abrutschen gehindert wurde. Dies war<br />

auch schon das einzige Kleidungsstück, denn selbst die ausgebeutelte<br />

Hose schien dem Träger lästig warm und unbequem zu sein, denn er<br />

schwitzte immerfort Bäche von übelriechendem Schweiß aus, der weiß-<br />

graue Spuren und Ränder hinterließ, so dass der nackte Oberkörper des<br />

Kolosses mit Streifen von eingetrockneten Schweißbächen tätowiert war.<br />

Da der Schweiß des Wirtes die einzige Flüssigkeit war, die sein Körper ken-<br />

nenlernte, hatte der schmutzige Brustkorb mit den krustigen Streifen<br />

große Ähnlichkeit mit dem Fell eines Stinktieres. Und so wurde der Besitzer<br />

der Absteige auch gerufen: Skunk, wie das Stinktier.<br />

Skunk also erwartete den Schneider und grüßte mit keiner asthmatisch<br />

röchelnden Stimme: »Stech dich, krtzkrr.«


»Stech dich«, erwiderte Zippel, »Rippel aus Korinth. Bin auf der Durch-<br />

reise und brauche eine Unterkunft für ein, zwei oder drei Nächte.«<br />

Skunk matschte eine Fliege zusammen und grunzte: »Da bist du genau<br />

richtig bei mir, Rippel. Was aber kannst du mir anbieten. Umsonst gibt es<br />

hier nichts.«<br />

Der räuberische Blick des Wirtes verhieß nichts Gutes. Zippel dachte an<br />

die Warnung Rosalindes, und er beschloss, besonders auf der Hut zu sein.<br />

Es war wohl besser, wenn er seinen Bauchladen erst gar nicht öffnete und<br />

den Blicken der Spitzbuben preisgab. Er rollte seine neuerworbene<br />

Wäscheleine auf und sagte: »Nun, wie wär's mit einer soliden Wäscheleine<br />

für die erste Nacht?«<br />

»Wäscheleine?« rief Skunk in den Raum, »he Leute, sieht meine Her-<br />

berge, der weithin bekannte und beliebte Gasthof 'Zur Daumenschraube',<br />

etwa aus, als brauchte sie eine Wäscheleine? Ist hier irgendwas baufällig?«<br />

Die drohenden Geräusche, die aus dem Dunst kamen, klangen wie das<br />

tiefe Grollen in einem Bullenstall.<br />

»Eine Beleidigung!« krächzte ein hohlwangiger Gast, »lass dir das nicht<br />

bieten, Skunk. Schon gar nicht von einem Fremden.«<br />

'Na, das fängt ja gut an', dachte Zippel und überlegte, wie er die Leute<br />

beruhigen könnte. Schnell überblickte er die Situation: sieben oder acht<br />

Stachelländer lungerten auf der Bank herum. Alle hatten abgebissene Pfei-<br />

fen zwischen den Zähnen und nuckelten wie süchtig daran herum. Hier lag<br />

die Ursache für den atemberaubenden Qualm, der den Raum ausräucherte.<br />

Dieses Bild kam Zippel bekannt vor. Richtig, Hübeldübel hatte von sol-<br />

chen Spelunken berichtet. War Zippel etwa in eine Opiumhöhle geraten?<br />

Was rauchten diese ausgemergelten Figuren mit den stumpfsinnigen<br />

Gesichtern?<br />

»He!« rief Zippel, »ich dachte, hier könnte ich etwas Gutes zum Rau-<br />

chen bekommen, etwas ganz Spezielles. Dafür habe ich noch einige Nägel<br />

in der Kiste mitgebracht.«<br />

»Ach so«, röchelte Skunk mit pfeifendem Atem, »warum hast du das<br />

nicht gleich gesagt. Zeig einmal her.«<br />

Es blieb Zippel nichts anderes übrig, als die Kiste zu öffnen. Neugierig<br />

torkelten die anderen Gestalten heran, um sich den Inhalt anzusehen. Wie<br />

Zippel erschreckt feststellte, flackerte ein diebisches Verlangen über die<br />

stumpfsinnigen Gesichter. Die vielen Nägel und die starken Kratzbürsten<br />

schienen hier einen unermesslichen Reichtum darzustellen. Zu spät wurde<br />

Zippel klar, dass er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. 'Beim<br />

Wabbelstein,' dachte er, 'hätte ich Rosalinde nicht die Nadelsammlung


gegeben, wäre ich schon ein toter Mann.'<br />

Mit offenem Maul glotzte Skunk in die Kiste. Speichel troff auf sein Kinn<br />

und seine Brust und vermischte sich mit den Schweißrinnsalen. Noch starr-<br />

ten die Galgenvögel wie gelähmt in den glänzenden Schatz, noch brachten<br />

sie keinen vernünftigen Gedanken zustande. Zippel wusste, es konnte nur<br />

eine Frage von Augenblicken sein, bis sie sich auf ihn stürzen würden.<br />

Blitzschnell zog er seine Ersatznadel und warf den Deckel der Kiste kra-<br />

chend zu. Dann machte er auf der Stelle kehrt, um die letzte Chance für<br />

eine Flucht zu ergreifen. Doch er hatte nicht mit dem räuberischen Instinkt<br />

des Wirtes gerechnet. Brüllend warf sich der Koloss ihm in den Weg und<br />

versperrte den Ausgang. Die übrigen Strauchdiebe erwachten langsam aus<br />

ihrer Teilnahmslosigkeit und schwankten auf Zippel zu. Zippel stach mit<br />

wilden Hieben auf die Süchtigen ein. Doch selbst die tiefsten Stiche zeigten<br />

keine Wirkung: das Rauschgift hatte die Süchtigen unempfindlich gegen<br />

Schmerzen gemacht.<br />

Eine Erinnerung fuhr durch Zippels Kopf: wie war doch die Zöllnerin hin-<br />

und hergesprungen, ohne dass die Hüter des Wabbelsteins sie packen<br />

konnten. Prügel mussten sie sogar einstecken.<br />

'So muss es gehen', dachte er und sprang auf den Tresen. Die Meute<br />

folgte ihm, immer noch stumpfsinnig, immer noch feindselig. Dann sprang<br />

Zippel in die Ecken, auf die Bank und wieder hinter den Tresen. Skunk hat-<br />

te seinen massigen Körper vor den Eingang gepflanzt und rührte sich nicht<br />

fort.<br />

'Wie kriege ich ihn nur weg?' dachte Zippel verzweifelt, während er in<br />

die hinterste Ecke flüchtete. Der Bauchladen behinderte ihn und ließ seine<br />

Kräfte erlahmen. Aber noch waren die Bewegungen der Süchtigen kraftlos<br />

vom Rauschgiftgenuss. Mit letzter Kraft rannte Zippel noch einmal zur The-<br />

ke und warf seinen Verfolgern den Kübel in den Weg. Da brüllte Skunk auf<br />

und wälzte sich in den Raum. Zippel fasste mit beiden Händen seine<br />

Ersatznadel und rammte sie in den feisten Bauch des Wirtes. Die Nadel<br />

versank in dem Fett wie in ein warmes Stück Butter. Nichts Passierte.<br />

Skunk hob seine vor Speck wabbernden Arme und wollte zu einem alles<br />

entscheidenden Schlag ausholen. Zippel zog die Nadel zurück. Sein letztes<br />

Stündlein hatte geschlagen. Vor Angst begann Zippel zu bibbern, zu<br />

schlottern und zu klappern, wie er noch nie gebibbert hatte.<br />

Da geschah etwas schier Unglaubliches. Eine dröhnende Stimme ließ die<br />

Kaschemme erbeben. Wie ein Gewitter donnerte sie auf die Köpfe der<br />

Halunken nieder: »Es wabbelt!!«<br />

Entsetzt starrte Skunk den Schneider an. Und wieder erhob sich die


Stimme: »Hoch lebe Wabbel II!« Ein ungläubiges Erstaunen ließ die Süch-<br />

tigen erstarren. Wie in einem Wachsfigurenkabinett hielten sie in der<br />

Bewegung inne. Warum stierten die Galgenvögel ihn so an? Zippel wandte<br />

sich um, um zu sehen, ob vielleicht jemand hinter ihm stand. Niemand<br />

sonst war da. Verkrampft vor Wut stand ihm die Meute gegenüber. Die<br />

Spannung wuchs. Wie schon am Schwartenpass hielt Zippel es schließlich<br />

nicht mehr aus und er hob an, mit seiner Fistelstimme zu schreien.<br />

»Stech euch, stech in die Beine!« donnerte die Stimme, »wie die wilden<br />

Stachelschweine!«<br />

Nun erstarrte Zippel vor Verblüffung: war das wirklich seine Stimme?<br />

Hatte vielleicht die grenzenlose Angst seine Stimme brechen lassen? Wie<br />

zur Probe rief er nochmals: »S'wabbelt!« Ohne Zweifel, die dröhnende<br />

Stimme kam aus seinem Brustkorb.<br />

Waren die Stachelländer beim ersten Klang noch wie hypnotisiert, so<br />

erholten sie sich jetzt von ihrem Schock.<br />

'Nichts wie weg,' dachte Zippel und raste zum Ausgang. Ein tierisches<br />

Gebrüll erhob in seinem Rücken und verfolgte ihn. Zippel sprang im Zick-<br />

zack durch die Straßen, bis er eine leerstehende Hütte fand, in der er sich<br />

versteckte und die Nacht abwartete.


Eine unruhige Nacht<br />

Erschreckt fuhr Rosalinde aus ihrem unruhigen Schlaf. War da nicht ein<br />

Geräusch an der Tür? Kerzengerade saß sie auf ihrem Bett und versuchte,<br />

das Dunkel der Hütte mit den Augen zu durchbohren. Nach einer Weile<br />

beruhigte sie sich wieder.<br />

'Ich muss geträumt haben', dachte sie und zog sich die Decke über den<br />

Kopf. An ein Einschlafen war kaum zu denken. Gegen ihren Willen wander-<br />

ten ihre Gedanken immer wieder zu dem wüst aussehenden Fremden mit<br />

der lächerlich dünnen Stimme. Die gegensätzlichsten Gefühle stritten sich<br />

in Rosalindes Brust. Einerseits schauderte sie vor dem schmutzigen und<br />

zerfetztem Aussehen des Nagelverkäufers, andererseits fühlte sie sich auf<br />

unerklärliche Weise zu ihm hingezogen. Dann wiederum ängstigte sie ein<br />

bohrender Verdacht, den sie schnell wegschob, der jedoch hartnäckig wie-<br />

der auftauchte und sich als untergründiges Misstrauen bei ihr einnistete.<br />

Besorgt dachte sie an das Paket mit den kostbaren Nadeln. Zu Hause<br />

angekommen, hatte sie es nicht lassen können, einen Blick in die Nadel-<br />

sammlung zu werfen. Wie groß war ihr Erstaunen gewesen, als sie neben<br />

Steck-, Näh-, Stopf- und Stricknadeln sogar einige Häkelhaken und Rund-<br />

stricknadeln entdeckte. Alle aus edelstem Metall, ohne eine Spur von Rost<br />

und penibel nach Art und Größe geordnet. Von Neugier und Überraschung<br />

übermannt hatte Rosalinde auch noch unter die glitzernden Nadeln gefasst<br />

und dort etliche Rollen Garn vorgefunden, die dort versteckt waren. Neben<br />

Näh-, Stopf- und Strickgarn in verschiedenen Farben und Stärken hatte sie<br />

sogar eine Rolle mit kostbarem Seidenfaden gefunden in einer ihr unbe-<br />

kannten leuchtenden Farbe.<br />

Zippel hatte, entgegen aller Vorsichtsregeln, es nicht über sich<br />

gebracht, ohne seine geliebten Garne loszuziehen. Und so hatte er noch in<br />

Wabbelburg heimlich den Zwirn und die Seide unter die Nadeln gesteckt.<br />

Niemand außer ihm sollte davon erfahren. Nun hatte er in Rosalinde eine<br />

Mitwisserin.<br />

Vor Angst zog sich ihr Herz zusammen: diese Nadel- und Garnsammm-<br />

lung stellte in Stachelland einen so unermesslichen Schatz dar, dass der<br />

Besitzer in akuter Lebensgefahr steckte. Vergleichbar war er höchstens mit<br />

dem Besitz einer Kiste Salzklumpen. Vergeblich hatte Rosalinde ein Ver-<br />

steck in ihrer ärmlichen Hütte gesucht. Schließlich hatte sie einige Bohlen<br />

unter ihrem Bett gelöst und das Paket in den Hohlraum darunter gescho-<br />

ben. Sie machte sich keine Illusionen: vor den plündernden Strauchdieben


und den marodierenden Soldaten des Krtzkrr Krieger war das Versteck<br />

nicht sicher.<br />

Abermals schreckte Rosalinde aus dem Halbschlaf. Sie hatte nicht<br />

geträumt: drängende Schläge pochten an die mit Brettern verriegelte Tür.<br />

Wie ein dumpfer, drohender Befehl verlangten sie Einlass. Beim zweiten<br />

Mal wurde das Klopfen lauter, dringlicher.<br />

»Mach auf, Rosalinde!« Dumpf und tief klang die Stimme aus der Nacht.<br />

Rosalinde zitterte. Diese Stimme war ihr unbekannt. Sie klang gepresst,<br />

so, als ob der Besitzer die Nachbarn nicht wecken wollte.<br />

»Hab keine Angst, Rosalinde. Ich bin's, Rippel vom Markt.« Nein, das<br />

war nicht Rippel! Allzu deutlich hatte Rosalinde die lächerliche dünne Fis-<br />

telstimme des Nagelverkäufers im Ohr. Aber woher wusste der Geselle da<br />

draußen von Rippel und von ihrer Bekanntschaft? Rosalinde erschrak: dann<br />

musste er auch von dem Nadelschatz wissen! »Verschwinde«, rief sie unter<br />

der hochgezogenen Bettdecke, »bei mir gibt es nichts zu holen. Ob du dich<br />

als Rippel verstellst oder nicht: ich habe nichts.« Ein unterdrückter Fluch<br />

antwortete ihr. »So ist das also!« Die tiefe Stimme klang maßlos ent-<br />

täuscht. »Meine Nadelsammlung ist schon verscherbelt. Das hätte ich mir<br />

ja denken können. Ihr Stachelländer seid doch alle gleich.« Der Räuber<br />

wusste also von den Nadeln.<br />

»So leicht gebe ich mein Eigentum nicht auf«, rief die dumpfe Stimme<br />

vor der Tür, aber sie war mit einem verwundeten und mutlosen Klang<br />

belegt, der Rosalinde ins Herz stach. »Dann lege ich mich eben vor die<br />

Tür.«<br />

Rosalinde war völlig verwirrt und ratlos. Wer war der Mann vor der Tür?<br />

Rippel war es nicht, ihn hätte sie sofort an der Stimme erkannt. Für einen<br />

Stachelländer benahm er sich dagegen äußerst ungewöhnlich. Ein stachel-<br />

ländischer Plünderer hätte schon nach den ersten Worten die Tür einge-<br />

schlagen, Rosalinde aus der Hütte gejagt und noch die armseligsten Krü-<br />

mel aufgestöbert und an sich gerafft. Dieser hier legte sich vor die Tür!<br />

Und wenn sie nicht alles täuschte, fing er sogar zu schnarchen an.<br />

Auf Zehenspitzen schlich sich Rosalinde durch das Zimmer. Die Bretter,<br />

mit denen sie den Türeingang verriegelt hatte, ließen einen Spalt frei,<br />

durch den sie in die Nacht spähen konnte. Ein von Wolken verhangener<br />

Mond warf sein trübes Licht auf die Gasse. Von dem Eindringling, der so<br />

schnell aufgegeben hatte, waren nur seine Beine zu sehen, die über Kreuz<br />

auf dem Kopfsteinpflaster lagen. Der milchige Lichtschein spiegelte sich am<br />

Fuß des Schlafenden und fiel in Rosalindes angestrengt aufgerissenen<br />

Augen. Ein Sporen! War Rippel überfallen und seiner Kleider beraubt wor-


den?<br />

Behutsam zog Rosalinde ein Brett nach dem anderen aus der Fassung.<br />

Nachdem sie das letzte Brett entfernt hatte, erkannte sie das ganze Aus-<br />

maß ihres Irrtums: Rippel lag der Länge nach auf dem kalten Pflaster,<br />

schnaufend und schnarchend vor Erschöpfung. Der fahle Mond hatte sein<br />

Gesicht, das von den Abenteuern eine gesunde rote Farbe angenommen<br />

hatte, in eine kranke gelbe Maske verwandelt.<br />

Lange kniete Rosalinde vor dem Schneider und betrachtete ihn. Schließ-<br />

lich seufzte sie und gab sich einen Stoß, um ihn zu wecken.<br />

Zippel war, trotz der maßlosen Enttäuschung über den Betrug Rosalin-<br />

des, in einen bleiernen Schlaf gefallen. Als er die Augen aufschlug, glaubte<br />

er zu träumen. Vor ihm saß Melanie. Mit ihrem süßesten Kuss hatte sie ihn<br />

geweckt. Im Hintergrund erhob sich die bizarre Silhouette der Stachelburg<br />

mit ihren drohend ausgespreitzten Stacheltürmen. Er rieb sich die Augen.<br />

Melanie verwandelte sich in ein zerlumptes, mageres Mädchen. »Rosalin-<br />

de?« stammelte Zippel und fasste sich an die Kehle. An seine neue Stimme<br />

hatte er sich selbst noch nicht gewöhnt. Er glaubte sich noch immer im<br />

Schlaf und berührte ihre Wange. Sie wehrte sich nicht. Zippel richtete sich<br />

auf.<br />

»Komm schon herein«, forderte Rosalinde ihn auf. Sie gingen in den<br />

einzigen Wohnraum der Hütte und klemmten die Bretter wieder vor die<br />

Türöffnung. Rosalinde entfachte ein Feuer in dem kleinen Kanonenofen und<br />

setzte einen Kräutertee auf.<br />

Während Zippel den heißen Tee in kleinen Schlucken genoss, erzählte er<br />

von seinem Erlebnis mit Skunk in der Daumenschraube. Schweigend hörte<br />

sich Rosalinde an, wie die Furcht Rippels Stimme hatte brechen lassen und<br />

in eine tiefe Männerstimme verwandelt hatte. Dass er zu aller Überra-<br />

schung 'S'wabbelt!' gerufen hatte, verschwieg der Schneider wohlweislich.<br />

Die Hütte, in der er nach seiner Flucht untergekrochen war, war ihm<br />

schließlich nicht sicher genug erschienen. Jeden Moment hätte der Besitzer<br />

zurückkommen können. Deshalb hatte er es vorgezogen, zu Rosalinde zu<br />

gehen.<br />

Zippel sah sich etwas enttäuscht in dem Raum um. »Hier kann ich ja<br />

auch schlecht übernachten«, sagte er.<br />

Rosalinde öffnete eine kleine Tür an der hinteren Seite. »Du kannst hier<br />

in der Speisekammer schlafen«, sagte sie, »sie ist ohnehin fast leer.«<br />

So gut es eben ging, richtete sich Zippel in der Speisekammer ein. Bei<br />

seiner Länge musste er sich wie ein Flitzebogen krümmen, was ihm aber<br />

kaum etwas ausmachte, denn er war es von Kindheit an gewöhnt, in zu


kurzen Betten zu schlafen. In dem wohligen Gefühl, bei Rosalinde in<br />

Sicherheit zu sein, schlief er bis zum Morgengrauen, ohne ein einziges Mal<br />

aufzuwachen. Erst als Rosalinde ihn mit einer Hühnerfeder an der Nase kit-<br />

zelte, erwachte er und fühlte sich gestärkt und zu neuen Abenteuern<br />

bereit.<br />

Rosalinde hatte schon den Frühstückstisch gedeckt, der, wie sollte es<br />

anders sein, aus einer leeren Holzkiste bestand. Ein süßer Geruch weckte<br />

die letzten Lebensgeister des Schneiders, und er stürzte sich hungrig an<br />

den Tisch. Vor ihm lagen, neben der dampfenden Tasse Tee, fünf zerdrück-<br />

te Gummibärchen!<br />

»Beim heiligen W...« rief Zippel, und er konnte gerade noch das verrä-<br />

terische Wort Wabbelstein verschlucken. »Wo kommen denn die Gummi-<br />

bärchen her?«<br />

»Och«, antwortete Rosalinde, »so genau weiß ich das auch nicht. Ab<br />

und zu, in unregelmäßigen Abständen, legt irgendjemand mir des Nachts<br />

Süßigkeiten auf den Tisch. Meistens sind es Gummibärchen und Honigwa-<br />

ben. Ohne diese Honigwaben könnte ich schließlich mein Honigbrot nicht<br />

backen. Wie der geheimnisvolle Besucher hereinkommt, weiß ich auch<br />

nicht . Das geht schon seit meiner Kindheit so.«<br />

Zippel erfuhr nun, dass Rosalinde als Waisenkind bei verschiedenen<br />

Familien aufgewachsen war. Lange hatte es keine Familie mit ihr ausgehal-<br />

ten, da sie mit ihrer Vorliebe für Süßigkeiten ständig für Ärger und<br />

Abscheu sorgte. Schon als kleines Mädchen hatte sie unter ihrem Kopfkis-<br />

sen die heimlichen Lutscher und Honigbonbons gefunden, und sie machte<br />

sich schon lange keine Gedanken mehr darüber.<br />

Zippel aber betrachtete mit zunehmender Besorgnis die Gummibärchen.<br />

Der Verdacht, der ihm beim ersten Augenschein gekommen war, verdichte-<br />

te sich zur Gewissheit: dies waren seine zerdrückten Gummibärchen, die<br />

ihm aus den aufgebogenen Fingern gestohlen worden waren. Wie kamen<br />

sie hier in Rosalindes Hütte? Gab es etwa einen Komplizen? Aber warum<br />

gab er sich nicht zu erkennen? War es dieselbe Person, die ihn in seiner<br />

Bewusstlosigkeit bis vor die Stachelburg geschleppt hatte? Sein wirrer lan-<br />

ger Traum fiel ihm wieder ein: zum Schluss glaubte er die Zöllnerin<br />

erkannt zu haben. Aber er war sich nicht sicher, ob es noch Traum oder<br />

schon Wirklichkeit war.<br />

Fragend sah Rosalinde ihn an, aber Zippel grübelte nur mit zusammen-<br />

gezogenen Augenbrauen und aß schweigend sein Brot. Nachdem sie die<br />

Nadeln aus dem Versteck hervorgeholt hatten, begaben sie sich beide auf<br />

den Weg zum Markt, Rosalinde mit einer bangen Ahnung im Herzen, Zippel


mit dem eisernen Willen, in die Stachelburg einzudringen. Beide konnten<br />

nicht wissen, wie schnell ihre Gedanken an diesem Tag Wirklichkeit wur-<br />

den.


Das Zusammentreffen<br />

Nichts deutete an diesem Tag auf ungewöhnliche Ereignisse hin. Wie<br />

immer hatten sich die Händler und Marktfrauen um die Bretter und Kisten<br />

gestritten, die sie für ihre provisorischen Stände benötigten. Das habgieri-<br />

ge Kreischen und Keifen erfüllte den Stachelmarkt, und wie am Vortag ver-<br />

zogen sich Rosalinde und Zippel zum hinteren Ende des Platzes. Es dauerte<br />

auch nicht lange, bis sich das widerwärtige Männchen einfand, der seinen<br />

Schweinekoben hinter sich herschleppte und Kaldaunen, Pansen und<br />

Schweineklauen vor sich ausbreitete.<br />

Der Vormittag verrann. Kein stachelländischer Soldat steckte seine Nase<br />

in das Treiben. Zippel blickte immer häufiger auf die Uhr und zupfte nervös<br />

an seinen Ärmeln. Er schlug den Deckel seines Bauchladens auf und mus-<br />

terte zum hundertsten Male seinen Besitz. Als er wieder aufschaute, blickte<br />

er direkt in die verschlagenen Augen eines Kloakiers, der einen abscheuli-<br />

chen Geruch ausdünstete.<br />

»Ist wohl geheim?« hechelte der Kloakier und versuchte lüstern, in die<br />

Kiste zu schielen. Zippel warf den Deckel zu und spuckte den Fremden an.<br />

Meckernd wandte der sich um und nahm Rosalinde in Augenschein.<br />

»Sieh da, sieh da«, grinste er anzüglich, »eine stachelländische Honig-<br />

kuchenbäckerin. Mal sehen, ob sie auch so süß schmeckt wie ihre Waren.«<br />

Dabei kniff er sie in den Arm und reckte seinen ungewaschenen Hals vor,<br />

um ihr mit seinen sabbernden Lippen und seinen schwarzen verfaulten<br />

Zähnen einen Kuss aufzudrücken. Zippel spürte eine unerklärliche Wut in<br />

sich aufsteigen. Er sprang den Kloakier an, puffte ihn und stach ihn mit<br />

seiner Ersatznadel in den Schenkel. Vor Schmerz jaulte dieser wie ein<br />

getretener Hund auf und flüchtete fluchend in den Trubel des Stachelmark-<br />

tes.<br />

Rosalinde fand keine Zeit mehr, Zippel zu danken. Ein Höllenlärm brach<br />

über den Stachelmarkt herein. Kreischend hasteten entsetzte Marktfrauen<br />

an ihnen vorüber, ihre gesamte Habe zurücklassend. Auf der anderen Sei-<br />

te, am Eingang des Platzes wütete Krtzkrr Krieger und seine betrunkene<br />

Soldateska. Grölend und spuckend walzten sie die Stände nieder und fielen<br />

über die ausgebreiteten Waren her. Wer von den Marktfrauen nicht mehr<br />

rechtzeitig hatte flüchten können, wurde von den Soldaten gepackt, an<br />

den Haaren gerissen, gepiesackt, getreten und mit fletschenden Zähnen<br />

geküsst, bis die Lippen bluteten. Besonders tollwütig gebärdete sich<br />

Geheimrat Ziegenlippe, der sich im Schutz von Hauptmann Bleifuß und sei-


ner Eskorte sicher fühlte und hemmungslos seine Macht ausspielte. Mit<br />

schnalzenden Lauten sprang er auf den Rücken einer fetten Marktfrau und<br />

ritt diese erbarmungslos durch die zusammenbrechenden Stände, bis sie<br />

vor Erschöpfung auf die Knie sackte.<br />

»Es ist schlimmer, als ich dachte«, flüsterte Zippel. Ohne sich dessen<br />

bewusst zu sein, hatte er seinen Arm um Rosalinde gelegt und sie beschüt-<br />

zend an sich gedrückt. Rosalinde schmiegte ihren mageren Körper fest an<br />

den seinen. Erst als Zippel die Wärme des Mädchens spürte, erkannte er<br />

ihre bedrohliche Situation. Für eine Flucht war es freilich zu spät. Alle Aus-<br />

gänge des Platzes waren inzwischen von den Soldaten besetzt worden.<br />

Zunächst schien es, als würden die randalierenden Soldaten die beiden<br />

in dem hinteren Teil des Platzes nicht behelligen. Zu sehr waren die Strol-<br />

che damit beschäftigt, hinter den Frauen herzujagen und die Stände nie-<br />

derzuknüppeln. Krieger, Ziegenlippe und Bleifuß hatten sich in der Platz-<br />

mitte niedergelassen und ließen sich von den Untergebenen die Beute vor-<br />

führen. Mal bissen sie in einen matschigen Apfel, mal nagten sie lustlos an<br />

einem zähen Hühnerbein. Schließlich glich der Stachelmarkt einem ver-<br />

wüsteten Kriegsschauplatz. Krieger erhob sich und befahl: »Hier ist nichts<br />

mehr zu holen. Zurück zur Stachelburg!«<br />

Da zupfte der Kloakier, der Rosalinde belästigt hatte, am Ärmel des<br />

Generals. Mit einem heimtückischen Glitzern in den Augen flüsterte er<br />

etwas in das Ohr des Diktators und zeigte auf den Stand von Zippel, der<br />

sich in den Schatten des nächsten Hauses gedrückt hatte. Zippel beobach-<br />

tete, wie Geheimrat Ziegenlippe sich zu dem Kloakier beugte und mit ihm<br />

tuschelte. Hauptmann Bleifuß hatte sich erhoben und die Eskorte zusam-<br />

mengerufen. Nun konnte Zippel auch Oberst Speiteufel erkennen, der sich<br />

bis dahin im Hintergrund gehalten hatte und alles im Auge behielt. Rosalin-<br />

de flüsterte dem Schneider die Namen und Rangordnungen der Militärjunta<br />

zu. Wie schon viele vor ihm, hatte auch Zippel den General Krtzkrr Krieger<br />

zunächst übersehen. Die Luft wurde ihm heiß. Er bemerkte, dass das<br />

Gejohle abebbte. Eine unnatürliche Ruhe legte sich über den Platz. Die Sol-<br />

daten spürten, dass das maßlose Plündern eine ungewöhnliche Wendung<br />

nahm.<br />

Umgeben von seine Militärjunta marschierte Krtzkrr Krieger zum Stand<br />

Zippels. »He!« schrie er, »was muss ich da hören? Ein fremder Händler<br />

behindert die Arbeit meiner Geheimpolizei?«<br />

'Ein Spitzel also ist der Kloakier', dachte Zippel, 'wieviel mag er schon<br />

wissen?'<br />

»Nichts von alledem!« rief der Schneider mit seiner neuen voluminösen


Stimme, »ein Missverständnis, mehr nicht. Ich bin der Nagel- und Kratz-<br />

bürstenverkäufer Rippel aus Korinth.« Voller Verachtung spuckte Zippel<br />

einen Nagel in das Gesicht des Kloakiers, der ihm auf den Leib gerückt<br />

war.<br />

»Was soll das«, giftete der Kloakier, denn in Stachelland war das Anspu-<br />

cken bekanntlich eine freundschaftliche und höfliche Geste. »Der Mann ist<br />

ein Spion! Durchsucht ihn!«<br />

Zippel, der sich langsam selbst nicht mehr kannte, zog kurzerhand sei-<br />

ne Ersatznadel, stach dem Kloakier in den Schenkel und gab ihm noch<br />

einen Fußtritt, dass dieser jaulend durch den Unrat schlitterte.<br />

»Mir scheint!« deklamierte er wie ein abgetakelter Schauspieler in einer<br />

Schmierenkomödie, »hier hat niemand Interesse an erstklassigen Nägeln,<br />

unzerbrechlichen und hartborstigen Kratzbürsten und spitzen Nadeln zum<br />

Piesacken und Ritzen. Muss mich wohl in der Adresse getäuscht haben.<br />

Hier sehe ich nur harmlose Memmen, die sich an der Mutterbrust auswei-<br />

nen möchten. Da, wo ich herkomme, geht man auf glühenden Kohlen, isst<br />

Feuerquallen zum Frühstück und steckt sich Nadeln in den Hals, damit es<br />

schön kratzt. Hier aber?«<br />

Verächtlich blickte Zippel auf Oberst Speiteufel herunter und gab ihm<br />

einen mitleidigen Klaps auf die Glatze.<br />

Die Militärjunta war sprachlos. So hatte noch nie einer mit ihnen zu<br />

reden gewagt. Aber auch Rosalinde war erschrocken von Zippel zurückge-<br />

wichen. Eben noch hatte sie die schützende Wärme seiner sehnigen<br />

Gestalt gespürt, hatte sich in den weichen Stoff seiner Schneiderweste<br />

geschmiegt, und nun diese hartherzigen martialischen Sprüche.<br />

Geheimrat Ziegenlippe fasste sich als erster. Das misstrauische Glim-<br />

men in seinen Augen war keineswegs erloschen.<br />

»Rippel?« argwöhnte er, »kommt mir verdächtig vor. Klingt beinahe wie<br />

Zippel. Nämlich wie der Schneider Zippel aus Wabbelanien, von dem Bru-<br />

tus Ranzig erzählt hat.«<br />

en?«<br />

Rosalinde erbleichte. Krtzkrr Krieger quollen die Augen aus den Höhlen.<br />

»Zippel?« brüllte er mit Schaum vor dem Mund, »Zippel aus Wabbelani-<br />

»Gemach, gemach«, donnerte Zippel dazwischen, »in Korinth hätte ich<br />

dir dafür den Hals umgedreht. Aber seht mich einmal genauer an. Sehe ich<br />

aus wie ein Wabbelanier? Wabbelt etwas an mir? Bibbere ich? Würde ein<br />

Wabbelanier rostige Nägel kauen?« Und zum Beweis spuckte er eine<br />

Ladung Nagelenden an den Hut des Geheimrats.<br />

Wichtigtuerisch mischte sich Hauptmann Bleifuß in den Streit: »Er hat


echt. Noch nie habe ich einen solch klapperigen Wabbelanier in die Finger<br />

bekommen. Das macht ja auch keinen Sinn und keinen Spass, wenn die<br />

Wabbelanier genauso sind wie wir.«<br />

Der General, der seinen vom Jähzorn zitternden Arm mit der anderen<br />

Hand festhalten musste, schien Zippel mit seinen stechenden Pupillen auf-<br />

zuspießen. Zippel begann zu frösteln. Lange würde er diesem eiskalten<br />

Blick nicht standhalten können.<br />

Ziegenlippe beugte sich zum Diktator. »Wir stellen ihn auf die Probe«,<br />

zischelte er, »ich werde ohne Vorwarnung 'Es wabbelt' rufen. An seiner<br />

Reaktion werden wir erkennen, ob er ein Spion oder ein echter Korinther<br />

ist.«<br />

Krieger nickte zustimmend und spuckte Schaum und grüne Galle auf<br />

das Pflaster.<br />

Inzwischen hatte sich Zippel umgedreht, um Rosalinde zu beruhigen,<br />

die im Widerstreit ihrer Gefühle hilflos an der Wand lehnte. Plötzlich hörte<br />

Zippel einen lauten Ruf: »Es wabbelt!«<br />

Was in dieser Sekunde im Schneider vor sich ging, lässt sich kaum<br />

erklären. Wie an den Bändern einer Marionette wackelten seine Glieder,<br />

sein Mund öffnete sich, und eine lächerliche dünne Fistelstimme piepste:<br />

»S'wibbelt.« Es war das einzige und letzte Mal, dass Zippel in seine alte<br />

Gewohnheit fiel.<br />

Ratlos und verblüfft umringte die Militärjunta den angeblichen Korinther.<br />

Keiner traute seinen Ohren. Wo war diese Vogelstimme hergekommen?<br />

Was war das für ein merkwürdiges Wort gewesen? Es hatte nach Sibbel<br />

oder Schwibbel oder Ribbel geklungen.<br />

Zippel machte dem Spuk selbst ein Ende. Der Galgenhumor, der ihn nun<br />

schon so oft in brenzligen Situationen gerettet hatte, brannte wieder ein-<br />

mal mit ihm durch. Beherzt fasste er in seine Jackentasche hinter dem zer-<br />

beulten Orden und brachte den Ausweis zum Vorschein.<br />

»Wer es immer noch nicht glauben will«, bullerte er mit dröhnender<br />

Stimme die Meute an, »hier ist der endgültige und nicht zu widerlegende<br />

Beweis. Mein korinthischer Ausweis.«<br />

Krieger reichte den Ausweis, ohne einen Blick darauf zu werfen, an<br />

Geheimrat Ziegenlippe weiter. Schriftkram diesem war ihm höchst zuwider.<br />

Wozu sollte er sich mit Büchern, Akten oder Notizen aufhalten, wenn sich<br />

sowieso alles mit Gewalt, Mord und Plünderei regeln ließ?<br />

»Unverständlich! Völlig unverständlich!« kreischte der Geheimrat,<br />

»möglicherweise ein Dokument in einer Geheimschrift zum Zwecke der<br />

Spionage und Sabotage.«


»Wir Korinther«, belehrte ihn Zippel hochnäsig, »schreiben und lesen<br />

selbstverständlich von unten nach oben und von rechts nach links. Und<br />

zwar alles vor einem Spiegel. Außerdem, damit es nicht zu langweilig wird,<br />

nehmen wir die linke Hand. Wenn wir fertig sind, zerschneiden wir den<br />

Bogen und kleben die Schnipsel in einer falschen Reihenfolge zusammen.<br />

Wer also den Ausweis lesen will, muss den Schreibvorgang von hinten wie-<br />

derholen.«<br />

Mit dieser Erklärung nahm Zippel den Ausweis wieder an sich und zer-<br />

riss ihn in kleine Stücke. Dann klebte er die Schnipsel mit Spucke wieder<br />

aneinander, aber in einer anderen Reihenfolge. Schließlich lieh er sich von<br />

Rosalinde einen kleinen Handspiegel aus und hielt ihn vor das malträtierte<br />

Schriftstück. Aus dem Spiegel las er vor: »Dieser Ausweis berechtigt dem<br />

Inhaber Rippel zum Handel mit Nadeln, Nägeln und Kratzbürsten. Rippel<br />

ist ein echter Korinther und Ehrenbürger der Hauptstadt Krampfestos.«<br />

Fassungslos glotzte Ziegenlippe in den Spiegel. »Nichts«, kreischte er,<br />

»nichts ist zu erkennen. Kein Wort, kein Satz.«<br />

»Ach ja«, erläuterte Zippel herablassend, »ich hatte vergessen zu<br />

sagen, dass der Ausweis in korinthischen Hieroglyphen geschrieben ist und<br />

von Stachelländern nicht entziffert werden kann.«<br />

Ziegenlippe klappte den Mund auf. Das war zuviel für ihn. Einen letzten,<br />

verzweifelten Einwand versuchte er noch zu krächzen, aber Krieger hatte<br />

das ganze Gefasel über. »Schluss jetzt«, herrschte er Ziegenlippe an, »der<br />

Mann ist in Ordnung. Hat Mut bewiesen. Ein rechter Haudegen nach mei-<br />

nem Geschmack. Dieser Schneider Zippel soll doch ein ganz erbärmlicher<br />

Feigling sein. Rippel ist aus einem anderen Holz geschnitten. Er kommt mit<br />

in die Stachelburg und feiert mit uns. Mit diesen Korinthern muss man sich<br />

gut stellen. Sie können einem noch von Nutzen sein.«<br />

»Stech dich, krtzkrr!« grölte die durstige Meute, die nach Fuselschnaps<br />

gierte. Hauptmann Bleifuß und seine Eskorte nahm Zippel in die Mitte. Joh-<br />

lend rückten die Söldner wieder in die Stachelburg ein. Wie eine Dampf-<br />

walze schob Hauptmann Bleifuß den Schneider durch die verwüsteten Gas-<br />

sen. Zippel konnte gerade noch einen letzten Blick auf den Marktplatz wer-<br />

fen, bevor die Stachelburg ihn verschlang: verlassen hockte Rosalinde in<br />

dem Trümmerfeld und blickte ihm hoffnungslos nach. Tränen verschleier-<br />

ten ihre sonst so klaren blauen Augen. 'Hoffentlich findet sie den Ausweis',<br />

dachte Zippel. Er hatte ihn wie achtlos auf den Boden fallen gelassen,<br />

bevor Bleifuß ihn wegtrieb.


Der Wabbelstein<br />

Knarrend schlossen sich die Tore der Stachelburg hinter Zippels<br />

Rücken. Zippel hatte hinter den hohen Mauern einen Burgplatz erwartet,<br />

sah sich aber eines Besseren belehrt. Statt eines großzügig ausgestatte-<br />

ten Vorhofes mit Brunnen und Sitzbänken befanden sie sich in einer Art<br />

Gruft, aus der niedrige enge Gänge führten. Das dämmrige Licht fiel<br />

spärlich aus herausgebrochenen Löchern an der Decke und vermochte<br />

die Einrichtung nicht zu erhellen. Zippel konnte lediglich erkennen, dass<br />

einer der röhrenförmigen Gänge einen größeren Durchmesser hatte als<br />

die anderen und, den Fuß- und Schmutzspuren nach zu urteilen, weit<br />

öfter benutzt wurde. Auf diesen Gang strebten die Soldaten schnur-<br />

stracks zu. Kaum hatten sie ein paar Schritte getan, da verschluckte die<br />

Röhre den letzten Lichtschimmer, und wie in den modrigen Gängen eines<br />

Maulwurfes tasteten sie sich vorwärts. So sehr Zippel sich auch mühte,<br />

alle Windungen, Kurven, Steigungen und Ecken zu merken und in seiner<br />

Erinnerung festzuschreiben: nach kurzer Zeit vermengten sich die Ein-<br />

drücke zu einem unentwirrbaren Knäuel. Schon bald hatte Zippel das<br />

Gefühl, im Kreise zu gehen, denn jede neue Kurve kam ihm bekannt vor.<br />

Mehrmals stolperte er über unregelmäßig herumliegende Felsbrocken<br />

oder Balken, die als Treppenabsätze dienten. Rüde wurde er dann von<br />

Hauptmann Bleifuß weitergeschubst.<br />

Der Maulwurfsgang mündete in den verkommenen Saal der Stachel-<br />

burg, in dem die Feier begonnen hatte. In dem flackernden Schein der<br />

rußenden und blakenden Talgkerzen entdeckte Zippel, dass Krtzkrr Krie-<br />

ger und Geheimrat Ziegenlippe verschwunden waren!<br />

'In dem finsteren Gang muss es eine Geheimtür geben,' dachte Zip-<br />

pel. Er kombinierte weiter: Wenn nur Krieger und Ziegenlippe von der<br />

Tür wussten, dann führte sie vermutlich zu den privaten und geheimen<br />

Räumen des Generals.<br />

'Dort dürfte auch das Versteck des Wabbelsteins zu suchen sein',<br />

schloss Zippel, und sein Herz klopfte vor Erregung über diese Entde-<br />

ckung.<br />

88


Außer Zippel hatte niemand das Verschwinden des Generals und sei-<br />

nes Beraters bemerkt. Wie hungrige Wölfe stürzten sich die Söldner auf<br />

den Kübel mit dem Fuselschnaps. Selbst Oberst Speiteufel gab seine<br />

Zurückhaltung auf, und er fing an, sich in einem solchen Ausmaße zu<br />

besaufen, dass die übrigen um ihren Schnapsanteil zu fürchten began-<br />

nen.<br />

Wie Zippel aus den Augenwinkeln bemerkte, besaß der Saal weitere<br />

Ausgänge, die offensichtlich zu den Stacheltürmen führten. Weiter kam<br />

er mit seinen Beobachtungen nicht, denn Hauptmann Bleifuß stampfte<br />

mit seinem bleigefüllten Holzbein auf den Boden, dass der Kübel bedroh-<br />

lich zu schwanken anfing und einige Funzeln erloschen.<br />

»He!« brüllte er, »was ist das für eine Gastfreundschaft. Rippel hat<br />

noch keinen einzigen Tropfen abbekommen.« Ohne eine Reaktion abzu-<br />

warten riss Bleifuß dem nächstbesten Söldner den Becher aus der Hand<br />

und gab ihm mit seinem Holzbein einen solchen Tritt in den Hintern,<br />

dass dieser wie von einem Dampfhammer getroffen an die Wand<br />

klatschte und bewusstlos zusammenbrach.<br />

Bleifuß reichte Zippel den Becher. Mit Widerwillen nahm der Schnei-<br />

der das verbogene Gefäß und stieß mit Bleifuß an: »Stech dich!<br />

Krtzkrr!«<br />

Vor den Augen der begeisterten Soldaten stülpte er sich den Inhalt in<br />

einem Zuge hinunter.<br />

»Recht so!« knurrte es plötzlich anerkennend in sein Ohr. Zippel<br />

drehte sich um. Krtzkrr Krieger und Ziegenlippe hatten sich unbemerkt<br />

wieder zu ihnen gesellt und sich von hinten an ihn herangeschlichen.<br />

Offenbar hatten sie ihn heimlich beobachtet. Zippel erschrak. 'Sie trauen<br />

mir immer noch nicht ganz,' dachte er.<br />

»Stech dich!« prostete Zippel dem General zu und ließ sich nichts<br />

anmerken. »Was wird denn hier überhaupt gefeiert? Hat jemand<br />

Geburtstag?«<br />

Zum ersten Mal sah Zippel den Geheimrat Ziegenlippe vergnügt auf-<br />

lachen. »Hört einmal her«, rief er, »der Korinther hält dies für eine<br />

Geburtstagsfeier mit Kaffee und Kuchen und netten<br />

Gesellschaftsspielen!«<br />

89


Die Soldaten brüllten vor Lachen, spuckten Scherben aus und wälzten<br />

sich am Boden.<br />

»Was ist daran so komisch?« fragte Zippel erstaunt.<br />

Oberst Speiteufel kam ihm zu Hilfe. »Kein Stachelländer weiß, wann<br />

er geboren worden ist«, lallte er und erbrach sich. »Niemand in Stachel-<br />

land will Kinder hochziehen. Ist viel zu anstrengend und kostet nur Ner-<br />

ven. Deshalb werden die meisten Neugeborenen gleich verschenkt, aus-<br />

gesetzt oder Durchreisenden mit Gewalt untergeschoben. Die wenigen<br />

Kinder, die es hier gibt, kennen weder ihre wahren Eltern noch ihren<br />

Geburtstag, da sie von einer Familie zur nächsten wandern, bis sie sich<br />

selbst ernähren können.«<br />

hatte.<br />

Zippel erinnerte sich an Rosalinde, die ihm dasselbe von sich erzählt<br />

»Ja zum Teufel«, fluchte der Schneider, um Eindruck zu schinden,<br />

»weshalb feiert ihr denn nun?«<br />

»Jetzt halt dich fest«, belferte Bleifuß, »sonst fällst du vor Überra-<br />

schung aus den Stiefeln. Wir feiern den Raub des Wabbelsteins. In die-<br />

sem Augenblick befindet sich der Staatsschatz von Wabbelanien hier in<br />

der Stachelburg.«<br />

»Donnerwetter!« heuchelte Zippel, »den legendären Wabbelstein?<br />

Nein, nein, das kann ich nicht glauben.«<br />

»So?« fuhr Ziegenlippe ihn missgünstig an, und auch Krieger erstarr-<br />

te vor Wut. »Für was hältst du uns denn? Für Spinner, Aufschneider oder<br />

Komödianten?«<br />

Zippel fing zu schwitzen an. Die Sache wurde ungemütlich. Aber er<br />

musste, koste es was es wolle, das Versteck des Wabbelsteins heraus-<br />

bringen.<br />

»Nun«, wiegelte er ab, »alle Welt weiß doch, dass der Wabbelstein so<br />

stark gesichert und bewacht ist, dass niemand ihn stehlen kann. Aber<br />

ich will euch einen Vorschlag machen, der euch gefallen wird. Ihr sollt<br />

den gesamten Inhalt meines Bauchladens bekommen, wenn ihr mir den<br />

Wabbelstein zeigt. Falls der Wabbelstein wirklich in eurem Besitz ist,<br />

könntet ihr also ein leichtes Geschäft machen.<br />

90<br />

Zur Bekräftigung seiner Worte schlug Zippel den Deckel der Kiste auf


und breitete einige Nägel und Kratzbürsten aus. Mit ungläubigem Stau-<br />

nen starrten die Wüstlinge auf die Schätze. Da lagen Krampen, Hufnä-<br />

gel, Stifte, Schraubnägel, Haken und Bolzen, Zapfen, Nieten und Polster-<br />

nägel in verschiedenen Größen und aus Metallen der unterschiedlichsten<br />

Härtegrade. Sogar ein Säckchen Reißnägel erblickten die Betrunkenen,<br />

ideal zum Kauen, Lutschen und Ausspucken. Zippel nahm die beste<br />

Kratzbürste aus der Kiste. Sie hatte einen langen Stil aus Eichenholz.<br />

Die Borsten bestanden aus den feinsten und spitzesten Nähnadeln, eine<br />

Spezialanfertigung von Zippel selbst.<br />

»Seht her!« rief er. »Diese Bürste ist zum Kratzen des Rückens<br />

gedacht und reißt die Haut schön in Fetzen. Aber auch so kann man sie<br />

einsetzen!« Und mit wildem Schwung schleuderte er die Nadelbürste in<br />

die gesunde Wade des Hauptmanns Bleifuß. Dieser bäumte sich von<br />

dem jähen Schmerz auf, gurgelte ein unverständliches Wort und bekam<br />

vor Hass ein krebsrotes Gesicht. Mit einer mörderisch aufwallenden Wut<br />

wollte er sich auf Zippel stürzen. Doch die Nadeln der Bürste staken<br />

noch in seinem Bein und hatten es so stark verletzt, dass Bleifuß kopf-<br />

über auf den Boden fiel. Genau das aber hatte Zippel bezweckt: den<br />

unüberwindlichen Bleifuß kampfunfähig zu machen.<br />

Man sollte meinen, Zippels letzte Stunde hätte geschlagen. Dieser,<br />

wieder einmal vom Teufelchen Übermut geritten, schien endgültig zu<br />

weit gegangen zu sein. Das hieße aber, den verschlagenen und uner-<br />

gründlichen Charakter des Generals Krieger vollkommen zu verkennen.<br />

Denn der Diktator kannte nur ein Vergnügen: den Spass am Leid ande-<br />

rer. Und dabei war es vollkommen gleichgültig, wer dieser andere war.<br />

Der Schmerz und die Wut des schreienden Bleifuß bereitete Krieger eine<br />

solch hämische Freude, dass er Zippel beifällig auf die Schulter klopfte.<br />

Nur auf der Stirn des Geheimrates bildete sich eine steile Falte. Zie-<br />

genlippe zog Krieger beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: »Wozu sollen wir<br />

dem Korinther den Wabbelstein zeigen? Er ist ja in unserer Gewalt. Wir<br />

knöpfen ihm einfach den Bauchladen ab und werfen ihn in einen der<br />

Stacheltürme.«<br />

Als hätte Zippel die Worte gehört, sprang er auf seine Kiste, damit<br />

alle ihn hören konnten und rief: »Das ist aber noch nicht alles! Draußen<br />

91


vor den Stadtmauern habe ich noch zwei weitere Kisten versteckt. In<br />

der einen Kiste habe ich Nägel und Wäscheleinen mitgebracht, und in<br />

der anderen Kiste liegen die herrlichsten Salzklumpen bereit zum<br />

Tausch.«<br />

Zippel hatte sich nicht verrechnet: eine süchtige Gier nach Salzklum-<br />

pen entstellte die Visagen der Halunken, und selbst die Militärjunta leck-<br />

te sich die Lippen, allen voran Krtzkrr Krieger.<br />

Ziegenlippe sah seine Fälle davonschwimmen. Die Aussicht auf Salz-<br />

klumpen machte die Desperados zu unberechenbaren Tieren. Selbst auf<br />

Oberst Speiteufel war kein Verlass: eine Verweigerung der Salzration<br />

würde einen blutigen Putschversuch zur Folge haben.<br />

»Nun gut«, kreischte Ziegenlippe überlaunig. »Der General und ich<br />

werden Rippel zum Versteck des Wabbelsteins führen.«<br />

Mit einem haltlosen Gebrüll löste sich die Spannung der Söldner. Die<br />

Aussicht auf eine Sonderration Salzklumpen sprengte das letzte Maß an<br />

Zurückhaltung, und in einem zügellosen Rausch stürzten sie sich Becher<br />

auf Becher des Fuselschnapses in den Schlund.<br />

Zippel frohlockte. Er glaubte sein Ziel erreicht zu haben. Doch Krtzkrr<br />

Krieger setzte ihm schnell einen Dämpfer auf. Ehe sich Zippel versah,<br />

hatte der Diktator ihm ein Tuch vor die Augen gebunden und stieß ihn<br />

wie ein Stück Vieh zu dem Maulwurfstunnel. Dass sie durch die Röhre<br />

gingen, durch die sie auch hereingekommen waren, konnten Zippel<br />

gerade noch erraten, dann verlor er jede Orientierung. Er begann, seine<br />

Schritte zu zählen. Nach sechzig Schritten hielten sie plötzlich an. Zippel<br />

wurde nach rechts gedreht und vorwärts gestoßen. Eine Tür schlappte<br />

hinter ihm in ein gut geöltes Schloss. Hart packte Krieger den Kragen<br />

des Schneiders: »Treppe!« warnte er brutal.<br />

Eine steile Treppe mit rohen ungleichmäßigen Stufen führte in die<br />

Tiefe. Diesmal zählte Zippel die Stufen. Die Treppe schien kein Ende zu<br />

nehmen. Je tiefer sie stiegen, desto stickiger und heißer wurde die Luft.<br />

Allmählich bekam Zippel es mit der Angst. Wollten die beiden ihm wirk-<br />

lich den Wabbelstein zeigen, oder war dies eine Falle?<br />

Bei der hundertundvierzigsten Stufe trat Zippel in ein flaches Wasser.<br />

Die Treppe war zu Ende. Zippel hielt inne und lauschte. Wassertropfen<br />

92


plätscherten. Das Geräusch der Tropfen hallte von weiten Wänden wider<br />

und verlor sich in der Ferne wie in einer unermesslich großen Kathedra-<br />

le.<br />

»Wir sind da«, knurrte Krieger und nahm Zippel die Binde von den<br />

Augen. Wie Zippel schon beim Geräusch der Tropfen vermutet hatte,<br />

befanden sie sich in einer gewölbeartigen Tropfsteinhöhle. Von den<br />

hohen Felswänden, die die Höhle wie die Kuppel eines Domes über-<br />

spannten, hingen mannshohe Salzzapfen, von denen es unaufhörlich<br />

tropfte. Der stetige Salzzufluss bildete auf dem Boden wiederum glit-<br />

zernde Kegel und Türme, von denen viele schon die Höhe der Salzzapfen<br />

erreichten und sich in der Mitte mit ihnen vereinten. Mit ihren schlanken<br />

Bäuchen hatten sie das Aussehen von überdimensionalen Eieruhren und<br />

bildeten zusammen mit den Zapfen, Kegeln und Türmen eine künstlich<br />

anmutende Landschaft. Zippel fragte sich, woher wohl der schwache<br />

Lichtschimmer kam, der die Salzkegel trübe glitzern ließ. Aber er konnte<br />

keine direkte Lichtquelle ausfindig machen. Schließlich erkannte er, dass<br />

die bizarren Salzzapfen und Eieruhren in sich leuchteten mit dem fluo-<br />

reszierenden Schein, den morsche Holzscheite in der hohlen Hand von<br />

sich geben.<br />

Ein großer Teil der Höhle stand unter Wasser. Erst jetzt spürte Zippel<br />

an seinen Knöcheln, dass das Wasser trotz der feuchten Hitze hier unten<br />

eiskalt war. Über der Höhle, aber noch unter der Erdoberfläche musste<br />

sich ein eisiges Gewässer befinden, vielleicht sogar ein Eisstollen, der<br />

von der brütenden Wärme abtaute, und dessen Tauwasser durch die<br />

Decke tropfte. Das Wasser verdunstete in Dampfschwaden und bildete<br />

an der Decke wiederum schwere Tropfen. Ein ständiger Kreislauf. Zippel<br />

watete durch die schneidendkalte Salzlake in die höhere trockene Regi-<br />

on. Während er seine blauen Knöchel massierte, sah er sich um: Krieger<br />

und Ziegenlippe hingen an den Salzzapfen und leckten mit der unaus-<br />

löschlichen Gier von Süchtigen an den Kristallen. Ihre Umwelt hatten sie<br />

vollkommen vergessen. Nur eins schien ihnen geradezu lebenswichtig:<br />

das Salz.<br />

Betroffen beobachtete Zippel die gespenstische Szene. Das also war<br />

das Geheimnis Stachellands. Irgendein Unfall der Natur hatte die kör-<br />

93


perlichen Lebensvorgänge der Stachelländer so durcheinandergebracht,<br />

dass sie ständig auf Salzgenuss angewiesen waren. Jeder andere<br />

Mensch wäre an diesen Mengen gestorben. Der Heißhunger der Stachel-<br />

länder jedoch wurde mit jedem Schluck größer und unstillbarer. Wie<br />

schon auf dem Stachelmarkt spürte Zippel einen Hauch von Mitleid, aber<br />

Mitleid war bei der Bösartigkeit der Stachelländer kaum angebracht.<br />

Nun verstand Zippel auch den Hass der Stachelländer auf die Wabbe-<br />

lanier. Deren Vorliebe für Süßigkeiten musste bei den Stachelländern<br />

geradezu Übelkeit und Brechreiz hervorrufen.<br />

Nur mit der größten Überwindung konnte sich Ziegenlippe von dem<br />

Zapfen lösen. »Hör gut zu, Korinther«, warnte er Zippel, »hier siehst du<br />

den Staatsschatz von Stachelland. Diese Tropfsteinhöhle ist einmalig auf<br />

der ganzen Welt. Alle anderen Tropfsteinhöhlen bilden Zapfen und Tür-<br />

me aus Kalk, diese aber aus reinstem Salz. Ohne die Tropfsteinhöhle mit<br />

dem unermesslichen Salzvorkommen wäre Stachelland dem Untergang<br />

geweiht, denn die Einwohner würden elendig an Salzmangel zugrunde<br />

gehen. Von hier werden die monatlichen Rationen in die Bevölkerung<br />

geschleust. Es versteht sich von selbst, dass niemand außer Krieger und<br />

mir den Zugang zur Höhle kennt.«<br />

»Warum«, fragte Zippel, »warum seid ihr dann so scharf auf meine<br />

armselige Kiste mit Salzklumpen? Hier lagert das tausendfache an<br />

Salz.«<br />

»Weil du die Soldaten heißhungrig gemacht hast!« fauchte Krieger<br />

dazwischen. »Niemand in Stachelland weiß von dem reichen Salzvor-<br />

kommen hier, niemand hat eine Vorstellung von der Größe des Salz-<br />

stockes. Wenn du ihnen davon erzähltest, würden sie dich auslachen,<br />

denn es geht über ihre Einbildungskraft. Dann würden sie dich vor Wut<br />

niederknüppeln, da du ihre Hungergefühle auf entsetzliche Weise gereizt<br />

hättest.«<br />

»Es wird Zeit«, drängte Ziegenlippe, »die Soldaten werden sonst<br />

unruhig und misstrauisch.«<br />

General Krieger ging auf eine der Säulen zu, die wie riesige Eierbe-<br />

cher aussahen. Mit beiden Händen fasste er die schlanke Mitte und zog<br />

daran. Die Säule wackelte! In einer rollenden Bewegung schob Krieger<br />

94


sie zur Seite. Eine dunkle Öffnung wurde sichtbar. Krieger kniete nieder<br />

und kroch in die Öffnung. Nach einer Weile kam er rückwärts wieder<br />

hervorgekrochen. In den Händen hielt er den Schrein des Wabbelsteins,<br />

eine über und über mit Verzierungen ausgeschlagene goldene Truhe, die<br />

etwa die Größe von Zippels Bauchladen hatte.<br />

Schon beim Anblick des kostbaren Schreins fiel Zippel in eine ehr-<br />

fürchtige Bewunderung. Der matte Glanz des Goldes verlieh der feuch-<br />

ten Höhle mit ihren leblosen Salzgebilden eine festliche Stimmung. Krie-<br />

ger stellte den Schrein auf den Boden. Vorsichtig hob er den Deckel. Ein<br />

gleißender Lichtstrahl brach aus der Truhe und tauchte die Höhle in eine<br />

glühende Helligkeit. Geblendet schlug Zippel die Hände vor die Augen.<br />

Eine plötzlich aufwallende Hitze brachte die Salzlake zum Kochen. Tau-<br />

sendfach warfen die glitzernden Kristalle der Salzsäulen das Licht an die<br />

Felswände. Schlagartig vermehrte sich die Tropfenflut. Wie ein Monsun-<br />

regen kam das Wasser herunter. Viele Tropfen verdampften schon, bevor<br />

sie den Boden erreichten. Mit sichtbarer Geschwindigkeit verdickten sich<br />

die Salzzapfen und -türme. Zippel fühlte ein Kribbeln und Kratzen an<br />

seinen Bartstoppeln, die ihm neuerdings im Gesicht sprießten. Seine<br />

Haare und Fingernägel fingen zu wachsen an, arbeiteten sich juckend<br />

aus seiner Haut! Allmählich gewöhnten sich Zippels Augen an die Hellig-<br />

keit. Der Schrein war mit purpurnem Samt ausgeschlagen. Auf ihm ruh-<br />

te ein Edelstein von lupenreiner Klarheit. Aus dem Inneren des Steins<br />

leuchtete ein gleißendes Sonnenlicht. Sechs absolut plan geschliffene<br />

Flächen strahlten das Feuer in ständig wechselnden Farben ab. Glaubte<br />

man eben noch, den kostbarsten Diamant zu erblicken, so wandelte sich<br />

der Stein übergangslos in einen grünen Smaragd, ging in einen honig-<br />

gelben Bernstein über, schlug um in das glühende Rot eines Rubins, um<br />

schlagartig in das stille Blau eines Türkis zu fallen. Für einen kurzen<br />

Moment leuchteten die sechs Flächen in verschiedenen Farben gleichzei-<br />

tig, so, als wolle der Wabbelstein alle Edelsteine der Erde in sich verei-<br />

nen, den Bergkristall mit dem Mondstein, den Amethyst mit einem Opal,<br />

den Saphir mit einem Rosenquarz und den Onyx mit Jade und Lapislazu-<br />

li. Gebannt verfolgte Zippel das Schauspiel, vergaß seine Umgebung,<br />

seinen Auftrag, fühlte sich am Ziel und Endpunkt seines Lebens und sei-<br />

95


ner Bestimmung angekommen.<br />

»Das reicht!« Die brutalen Worte Kriegers rissen Zippel aus seiner<br />

Versenkung. Mit einem linkischen Ruck warf der Diktator den Deckel des<br />

Schreins zu. Er keuchte vor Anstrengung und Erregung, denn auch ihn<br />

hatte der Wabbelstein in seinen magischen Bann gezogen. Lichtpunkte,<br />

Sterne, Streifen und Flecken flimmerten vor seinen geblendeten Augen.<br />

»Wie du gesehen hast«, keuchte er, »regt der Wabbelstein alles<br />

Leben zum übermäßigen Wachstum an. Ich brauche nur den Schrein zu<br />

öffnen, und das Salz wächst und vermehrt sich mit ungeheurer<br />

Geschwindigkeit. Aber auch alle anderen Reichtümer der Erde kann ich<br />

damit vermehren. Der Besitz des Wabbelsteins macht mich zum reichs-<br />

ten und mächtigsten Mann der Welt.«<br />

'Hat er denn nicht bemerkt', dachte Zippel, 'dass auch wir in der kur-<br />

zen Zeit gewachsen sind? Hätte er den Schrein nicht zugeschlagen, dann<br />

hätten wir uns bald als tatterige Greise wiedergefunden.'<br />

Aber eingelullt von seiner neuerworbenen Macht versteckte Krieger<br />

den Schrein mit dem Wabbelstein wieder hinter der Salzsäule. Ziegenlip-<br />

pe band dem Schneider die Augen zu. Hastig traten sie ihren Rückzug<br />

an.<br />

96


Verrat!<br />

Auf dem Rückweg aus der Tropfsteinhöhle zählte Zippel zur Sicherheit<br />

nochmals die Stufen und die Schritte. Er hatte sich auf dem Hinweg<br />

nicht verzählt: hundertundvierzig Stufen und sechzig Schritte bis zum<br />

Saal. Zippel war sich sicher, die Höhle mit den Salzzapfen und -kegeln<br />

selbst in tiefster Finsternis wieder zu finden.<br />

Als Krieger ihm die Augenbinde abnahm, bot sich den dreien ein<br />

chaotisches Bild. Das Eichenbrett, das als Tisch diente, war zusammen-<br />

gebrochen und hatte Oberst Speiteufel als auch Hauptmann Bleifuß<br />

unter sich begraben. Beide schnarchten ihren Rausch aus. Der Kübel mit<br />

dem Fuselschnaps war von dem Brett gerutscht und umgekippt. Der<br />

größte Teil des Gesöffs breitete sich in Lachen und Pfützen auf dem<br />

schmutzigen Boden aus. Die wenigen Soldaten, die noch bei Besinnung<br />

waren, lagen bäuchlings um die Pfützen herum und leckten sie mit blo-<br />

ßen Zungen auf. Die Aussicht auf Zippels angebliche Kiste Salzklumpen<br />

hatte die Soldateska so sehr über die Stränge schlagen lassen, dass sie<br />

für Tage kampf- und handlungsunfähig in den Ecken herumliegen wür-<br />

den. Wie sich bald herausstellen sollte, erblindeten viele der Strolche an<br />

dem Schnaps. Schon jetzt rieben sich ein paar Söldner die Augen, da sie<br />

ihre Kumpanen nur noch in schemenhaften Umrissen wahrnehmen<br />

konnten.<br />

Mit äußerster Besorgnis beobachtete Ziegenlippe die Auswirkungen<br />

des Festes. Zu Krieger gewandt, zischelte er: »Bleifuß kampfunfähig,<br />

Speiteufel stockbesoffen, und die übrige Armee kann nicht aus den<br />

Augen gucken: was geht hier eigentlich vor?«<br />

Er hätte es nicht auszusprechen brauchen, denn auch Krieger fühlte<br />

mit dem untrüglichen Instinkt des Raubtieres, dass die Situation eine<br />

gefährliche Wendung genommen hatte. Von den Soldaten waren höchs-<br />

tens noch drei oder vier ansprechbar. Blitzartig wurde sich Krieger<br />

bewußt, dass die Verwundung von Hauptmann Bleifuß seine Position<br />

erheblich schwächte. Bleifuß hätte es mit zwölf Feinden gleichzeitig auf-<br />

genommen. Nun aber lag er eingeklemmt unter dem Tisch und konnte<br />

97


sich mit eigener Kraft nicht befreien. Und an allem war dieser Rippel aus<br />

Korinth schuld!<br />

Mit Erschrecken beobachtete Zippel, wie Krieger vor Wut kreidebleich<br />

wurde und seinen Zinnbecher mit der bloßen Faust zu einem Klumpen<br />

zusammenpresste. Einer der gefürchteten Tobsuchtsanfälle des Diktators<br />

kündigte sich an. Schon geiferte Schaum auf seinen blau angelaufenen<br />

Lippen. Jählings schnappte er sich mit eisernem Griff Zippels Hals und<br />

hätte ihn auf der Stelle erwürgt, als ein seltsam jämmerliches Winseln<br />

den rasenden General aufhorchen ließ und ihn zur Besinnung brachte.<br />

Das Geräusch kam aus der Maulwurfsröhre, die zum Eingang der Sta-<br />

chelburg führte.<br />

Zuerst sah man nichts als die beiden Torwachen, die, ebenfalls<br />

betrunken, torkelnd aus dem Dunkel der Röhre auftauchten. Fluchend<br />

schleiften sie etwas Schweres hinter sich her. Das Winseln und Wimmern<br />

wurde lauter. Erst im trüben Schein der Funzeln erkannten Krieger und<br />

Ziegenlippe die Last der Torwachen. Es waren zwei bis zur Unkenntlich-<br />

keit entstellte Stachelländer. Die Kleider hingen in Fetzen von ihren ver-<br />

kratzten und verschrammten Körpern. Ihre Haut, die überall durchschi-<br />

en, hatte die rosarote Farbe von Babys, die zu heiß gebadet worden<br />

waren.<br />

Auch Zippel war vor Überraschung sprachlos. Vorsichtig näherte er<br />

sich den beiden Verletzten. Da schlug einer der beiden die Augen auf<br />

und erblickte Zippel. Mit einem wilden Fluch sprang er trotz seiner Ver-<br />

wundungen auf die Beine. »Der Wabbelanier!« schrie er und zeigte auf<br />

Zippel, »das ist der Schuft, der uns in die Falle gelockt hat!«<br />

Jetzt erst erkannte Zippel die beiden Soldaten. Es waren Geierblick<br />

und Reibstein, die sich wie durch ein Wunder aus der Gewalt der Zyklo-<br />

pen hatten befreien können.<br />

Beim Wort Wabbelanier war es totenstill geworden in dem Saal. Die<br />

paar Soldaten, die noch auf den Beinen stehen konnten, rückten<br />

bedrohlich näher und bildeten einen Kreis um Zippel. Unvermutet tauch-<br />

te aus einem Winkel ein stinkender Kloakier auf, einer der Spione des<br />

Geheimrats Ziegenlippe.<br />

98<br />

»Stech dich, krtzkrr«, salutierte er, »laß dir erklären, mein General.


Aus dem Tal der Zyklopen hörte ich die Schreie der Soldaten Reibstein<br />

und Geierblick. Die Kolosse hatten sie schon bis aufs Blut abgeleckt. Mit<br />

einem Trick konnte ich die beiden befreien. Ich warf einen Salzklumpen<br />

genau in die Mitte zwischen die Zyklopen. Wie ich erwartet hatte, ließen<br />

sie auf der Stelle von den Soldaten ab, um sich das Salz zu schnappen.<br />

Den Klumpen hatte ich aber so platziert, dass er in der Reichweite jedes<br />

der drei Zyklopen lag, die sich anfingen, um das Salz zu streiten. Durch<br />

dieses Ablenkungsmanöver konnte ich Reibstein und Geierblick befreien.<br />

Das Wichtigste aber kommt noch. Wie dir die beiden Soldaten bestätigen<br />

können, sind sie von einem langen, spillerigen Mann mit fistelnder Stim-<br />

me in die Fänge der Zyklopen gelockt worden. Dieser Schurke hat sich<br />

als Brutus Ranzig ausgegeben. Und wie mir scheint, hat er sich inzwi-<br />

schen bis in die Stachelburg einschleichen können.«<br />

Krieger hatte sich wieder gefangen. Eine tödliche, eiskalte Ruhe ging<br />

von ihm aus und ließ die Umgebenden frösteln. Mit metallischer Härte<br />

befahl er: »Holt Brutus Ranzig aus dem Verlies. Hebt den Tisch an und<br />

befreit Hauptmann Bleifuß.«<br />

Zippel war verloren. An eine Flucht war nicht zu denken, denn die<br />

Torwache hatte sich vor der Maulwurfsröhre aufgepflanzt. Und Brutus<br />

Ranzig würde die restlichen Zweifel beseitigen.<br />

Wie Zippel richtig vermutete hatte, erkannte ihn Ranzig sofort wieder.<br />

Giftig sprang der Dieb des Wabbelsteins auf ihn zu und riß ihm die Uni-<br />

formjacke vom Leib. Seine weiche, seidene Schneiderweste kam zum<br />

Vorschein, und es brauchte nun keines weiteren Beweises mehr. Ein ein-<br />

ziges Mal noch konnte Zippel Ranzig und die beiden Soldaten verblüffen,<br />

indem er sie mit seiner neuen tiefen Stimme anraunzte. Doch der Ver-<br />

such der Überrumpelung misslang, da nur die drei, die ihn von früher<br />

kannten, erstaunt gafften, die anderen aber von ihrer feindseligen Hal-<br />

tung um keinen Deut abrückten.<br />

»In einen der Stacheltürme mit ihm!« befahl Krieger. »Er soll schmo-<br />

ren für seine Dreistigkeit. Bei saurer Milch und Feuerquallen wird ihm<br />

der Mut vergehen.«<br />

Ziegenlippe beugte sich zu Krieger hinüber und zischelte in dessen<br />

Ohr: »Der Wabbelanier weiß zuviel. Auf keinen Fall darf er entkommen.<br />

99


Wir müssen ihn bald unschädlich machen.«<br />

»Das lass nur meine Sorge sein«, gab der General zurück. Aus seinen<br />

schrägen Augen beobachtete er, wie zwei Soldaten Zippel in ihre Mitte<br />

nahmen und ihn zu einem der Ausgänge geleiteten, die zu den Stachel-<br />

türmen führten.<br />

100


Vier endlose Tage<br />

War Zippel bis zu seiner Gefangennahme vor lauter Aufregungen und<br />

Abenteuern kaum zum Luftholen gekommen, so sah es an der wabbela-<br />

nischen Grenze ganz anders aus. Hübeldübel und Plumplum schmorten<br />

in ihrem eigenen Saft. Zur Untätigkeit verurteilt, warteten sie mit zuneh-<br />

mender Ungeduld an der Weggabelung, die zu den beiden Pässen führte.<br />

Die Ungewissheit über Zippels Schicksal zerrte an ihren Nerven. Um die<br />

Zeit zu vertreiben, erfanden sie die ausgefallensten Spiele. So fingen sie<br />

schon am ersten Tag an, sich im Weitspucken zu übertreffen. Mit ihrer<br />

aufgeladenen Energie und ihrem Tatendrang übertrieben sie den Wett-<br />

kampf dermaßen, dass sie am Abend erschöpft auf den steinigen Boden<br />

sanken, mit trockener, brennender Kehle, denn es war ihnen der Saft<br />

ausgegangen. Die erste Nacht versprach kühl und klamm zu werden. Die<br />

beiden Recken rückten eng zusammen, konnten jedoch nicht einschlafen<br />

in der Sorge um Zippel. Hübeldübel begann von seinen Reisen über die<br />

Weltmeere zu erzählen, wurde aber bald von Plumplum unterbrochen,<br />

der die fantastischen Geschichten schon auswendig kannte. Mit offenen<br />

Augen träumten sie von Bimballo und seinem Honigbier, von Melanie<br />

und ihren süßen Küssen, von König Wabbel und unweigerlich vom Wab-<br />

belstein. Dann sprangen sie fluchend auf und wollten schnurstracks<br />

durch Stachelland marschieren und alles dem Erdboden gleichmachen.<br />

Doch es half nichts, sie hatten auszuharren, selbst wenn sie vor Eifer zu<br />

platzen drohten.<br />

Gegen Mitternacht fiel wenigstens Plumplum in einen unruhigen<br />

Schlaf. Neidisch betrachtete Hübeldübel seinen Kumpanen und stieß<br />

einen tiefen Seufzer aus. Da bewegten sich Plumplums Lippen und flüs-<br />

terten: »Melanie.« Eine heiße Welle von Eifersucht schoss in Hübeldübels<br />

Birnenkopf. Er sprang auf, riss Plumplum aus dem Schlaf und puffte,<br />

knuffte und boxte ihn. Wie ein nasser Pudel schüttelte Plumplum seinen<br />

Schlaf aus den Ohren. Dann ging er seinerseits auf Hübeldübel los, und<br />

es begann der wildeste und wütendste Kampf zwischen den beiden<br />

Freunden, den sie je miteinander ausgefochten hatten. All das schlechte<br />

101


Gewissen, all ihre überschüssige Energie tobten sie sich aus dem Leib.<br />

In dieser feindlichen Finsternis verloren sie jedes Gefühl für das Maß<br />

ihrer Rauferei, und alsbald kämpften sie, als hätten sie nicht den lang-<br />

jährigen Freund vor sich, sondern den gefürchteten Krtzkrr Krieger per-<br />

sönlich. Es war dies die unrühmlichste Nacht im Leben der beiden<br />

Kampfhähne. Als endlich der Morgen graute, sah man Hübeldübel quer<br />

über den Weg zum Schwartenpass liegen, während Plumplum mit ver-<br />

bissener Miene den Pfad zum Scherbenpass bewachte. Beide stierten<br />

aus rotgeränderten und verquollenen Augen starrsinnig vor sich auf den<br />

Boden. Ihre Haut war übersät mit blauen Flecken, Rissen und Kratzern.<br />

Keines Blickes würdigten sie sich, und unversöhnlich hätten sie sich<br />

angeschwiegen bis zum jüngsten Gericht.<br />

Wenn da nicht der Uhu aufgetaucht wäre. Mit seinen majestätischen<br />

Schwingen hätte er beinahe Plumplum gestreift. Drei enge Runden dreh-<br />

te er über den verbohrten Haudegen und fächelte ihm die kühle Morgen-<br />

luft in den Nacken. Dann landete er direkt vor Plumplum auf einem Fels-<br />

stein, der im Weg lag. Verbiestert, wie der Wabbelanier war, rührte er<br />

sich mit keiner Faser seines Leibes. Gelassen schüttelte sich der Uhu<br />

einige Flöhe aus den Federn und richtete seine schläfrigen Augen auf<br />

Plumplum. Plumplum guckte zurück. Der Uhu kniepte mit einem Auge<br />

und betrachtete den zerzausten Recken nun mit unverhohlener Neugier.<br />

Was war dies für ein seltsamer Uhu? Der hatte ja gar keine Federn und<br />

auch keine spitzen Ohren. Plumplum, von dem Blick des Nachttieres wie<br />

hypnotisiert, kniepte ebenfalls mit einem Auge. Verwundert, ja missbilli-<br />

gend legte der Uhu seinen Kopf schief auf die Seite. Dieser fremd ausse-<br />

hende Uhu tat ja recht vertraulich. Plumplum legte seinen Kopf nun auch<br />

auf die Seite. In der nächsten halben Stunde passierte dann gar nichts.<br />

Sowohl der Uhu als auch Plumplum starrten sich mit schiefem Hals in die<br />

Pupillen und versanken in einen tranceähnlichen Zustand. Drüben, vom<br />

Schwartenpassweg aus, beobachtete Hübelhübel die Szene aus den<br />

Augenwinkeln und wunderte sich.<br />

Als die kalten Strahlen der Morgensonne Plumplums Nase zu kitzeln<br />

begannen, bekam er ein unwiderstehliches Verlangen nach etwas<br />

Süßem. Wenn er sich nicht täuschte, musste in seiner Hosentasche noch<br />

102


ein vertrocknetes Gummibärchen stecken. Aber der vermaledeite Blick<br />

des Uhus lahmte seinen Willen. Der Appetit wuchs zum Heißhunger.<br />

Desungeachtet starrte ihn der Uhu unverwandt an und ließ ihn nicht aus<br />

seiner hypnotischen Gewalt. Beim Gedanken an sein letztes Gummibär-<br />

chen lief Speichel über Plumplums Zunge, und er musste schlucken.<br />

Hübeldübel, der seinen Freund nur zu gut kannte, erriet sofort, was in<br />

Plumplum vorging. Und trotz aller Verbohrtheit fing er zu wabbeln an.<br />

Zunächst mühsam versteckt, dann ganz offen. Schließlich konnte er sich<br />

nicht mehr halten und lachte und wabbelte, was das Zeug hielt. Die<br />

Situation war einfach zu lächerlich: auf der einen Seite der neugierig<br />

plierende Uhu, auf der anderen Seite der vor Heißhunger schwitzende<br />

Plumplum, der seinen Blick nicht von den Augen des Tieres wenden<br />

konnte.<br />

Plumplum hörte seinen Freund lachen, ja schließlich brüllen vor Ver-<br />

gnügen. Eine heiße Wut- und Schamesröte schoss ihm ins Gesicht. Doch<br />

er wäre kein waschechter Wabbelanier gewesen, hätte das Lachen ihn<br />

nicht angesteckt. Und so sehr er sich auch dagegen wehren wollte, das<br />

Wabbeln ließ sich nicht aufhalten. Verwundert legte der Uhu ein Ohr zur<br />

Seite, als wolle er seine Missbilligung über dieses Verhalten ausdrücken,<br />

welches eines Uhus unwürdig war. Ein Uhu, der lacht und wabbelt? Das<br />

war denn doch zu starker Tobak. Beleidigt klapperte der Vogel mit dem<br />

Schnabel, hob seine Schwingen und rauschte davon.<br />

Längst lagen sich die beiden Hüter des Wabbelsteins in den Armen<br />

und lachten Tränen über ihre eigene verbohrte Dummheit. Diesen Tag<br />

verbrachten sie in einer ausgelassenen Stimmung, die sich gegen Abend<br />

jedoch wieder verdüsterte, denn von Zippel kam kein Lebenszeichen.<br />

In der zweiten Nacht passierte nichts Besonderes, außer, dass<br />

Hübeldübel einmal aufwachte und die Umrisse der Zöllnerin zu erkennen<br />

glaubte. Als er sich aufrichtete, verschwand sie lautlos wie ein Gespenst<br />

in der Dunkelheit. Allerdings war Hübeldübel sich nicht sicher, ob er das<br />

Erlebnis nur geträumt hatte.<br />

Am nächsten Tag ging Plumplum zur Festung Sextagon, um Proviant<br />

nachzuholen. Mit einem frischen Honigbrot und saftigen Melonen kam er<br />

zurück. Irgendwelche Neuigkeiten brachte er nicht mit. Kommandant<br />

103


Lanzetto und seine paar Mannen warteten sehnsüchtig auf Heimaturlaub<br />

in Wabbelburg, denn in der Feuchtigkeit des Schattentals fröstelten sie<br />

und bekamen schwermütige Anwandlungen.<br />

So vergingen zwei weitere Tage ohne Abwechslung und ohne ein<br />

Lebenszeichen von Zippel. Einmal ließ sich auch der Uhu wieder blicken.<br />

Die zunehmend bedrückte Stimmung der beiden Kameraden konnte er<br />

diesmal nicht vertreiben.<br />

Wieder senkten sich die abendlichen Bodennebel über die Weggabe-<br />

lung, und wieder rückten die beiden Freunde eng zusammen, um sich<br />

gegen die Kälte der Nacht zu schützen. Merklich hatte ihre überschüssi-<br />

ge Kraft nachgelassen und war einer zweifelnden Grübelei gewichen. Da<br />

stob plötzlich Hübeldübel hoch. Seine Ohren vibrierten.<br />

»Hör mal«, flüsterte er, »kam da nicht ein Geräusch aus dem Scher-<br />

benpass?«<br />

Bei der plötzlichen Bewegung Hübeldübels war auch Plumplum aufge-<br />

fahren und lauschte zum Scherbenpass hinüber. »Endlich«, flüsterte er<br />

zurück, »vielleicht ist es Zippel.«<br />

Nichts rührte sich. »Oder die Stachelländer schleichen sich heran«,<br />

spekulierte Hübeldübel.<br />

»Dann können sie sich auf einen schönen Empfang gefasst machen«,<br />

zischte Plumplum und spannte seine Muskeln.<br />

nicht.<br />

So sehr sie auch die Ohren spitzten, das Geräusch wiederholte sich<br />

»War vielleicht nur der Uhu«, meinte nach einer Weile Hübeldübel. Er<br />

wollte sich schon wieder setzen, als Plumplum ihn am Arm ergriff: »Sieh<br />

doch nur, da kommt jemand.«<br />

Tatsächlich, aus der Abenddämmerung schälten sich die Umrisse<br />

eines menschlichen Wesens, das den Weg vom Scherbenpass herunter-<br />

schwankte. Die beiden Recken rannten zur Weggabelung und bezogen<br />

Stellung, um den Weg zu sperren. An ihnen würde niemand vorbeikom-<br />

men.<br />

»Ahoi!« rief Hübeldübel, »es geht los!« Erschreckt verhielt die Gestalt<br />

bei diesem Ruf und schaute herüber.<br />

104<br />

»Aaah!« brüllte Plumplum in gewohnter Lautstärke, »die Stachellän-


der tragen Röcke wie die Frauen. Recht kleidsam, mein Herr. Habe ganz<br />

vergessen, eine Rose für den Empfang zu pflücken.«<br />

Hübeldübel kniff die Augen zusammen. »Beim Klabautermann«, ent-<br />

fuhr es ihm, »das ist ja auch eine Frau.«<br />

Beim Näherkommen erkannten die beiden Heißsporne eine magere<br />

junge Frau in zerlumpten und geflickten Kleidern. Über dem rechten<br />

Auge zeugte geronnenes Blut von einer frischen Wunde. Die Frau zitterte<br />

am ganzen Leib, sei es aus Furcht oder aus Erschöpfung. Vor den beiden<br />

Recken blieb sie stehen: »Guten Tag«, sagte sie mit einer gewollt herb<br />

klingenden Stimme, »ihr beiden müsst Hübeldübel und Plumplum sein.«<br />

Sie blickte verlegen zu Boden.<br />

Misstrauisch musterten die beiden die Frau. Plumplum rümpfte die<br />

Nase. Ein leichter modriger und säuerlicher Geruch ging von der Frau<br />

aus. Die verschlissenen Kleider und die magere Gestalt waren auch nicht<br />

gerade nach Geschmack des Wabbelaniers. Auch Hübeldübel empfand<br />

so. Aber merkwürdig, trotz des abstoßenden Äußeres fühlten sich die<br />

beiden irgendwie zu ihr hingezogen, spürten einen nicht zu erklärenden<br />

Drang, sie beschützen zu wollen.<br />

Plumplum gab sich einen Ruck. »Eine Spionin!« sagte er rau.<br />

»Ein Trick«, ergänzte Hübeldübel, »da stimmt was nicht.« Mit einem<br />

eisernen Griff packte er den Arm der Frau. »Wer bist du? Wo willst du<br />

hin und warum kommst du ausgerechnet hierher nach Wabbelanien?<br />

Antworte schon, sonst ziehen wir andere Seiten auf.«<br />

Mit erschöpfter Stimme begann die Frau zu erzählen: »Mein Name ist<br />

Rosalinde, und ich habe auf dem Stachelmarkt den Händler Rippel aus<br />

Korinth kennengelernt. Wie ich inzwischen aber weiß, handelt es sich um<br />

den Wabbelanier Zippel, der das Versteck des gestohlenen Wabbelsteins<br />

ausspionieren sollte.«<br />

Bei diesen Worten stießen die beiden Recken erschreckte Rufe aus,<br />

und ein schlimmer Verdacht beunruhigte sie.<br />

»Weiter Rosalinde, weiter«, drängte Hübeldübel und presste ihren<br />

Arm so stark, dass sie vor Schmerz erbleichte. Sie wollte weiterreden,<br />

aber ihre Beine gaben nach, und sie wäre auf die Felssteine gefallen,<br />

hätte Hübeldübel sie nicht aufgefangen.<br />

105


»So geht es nicht!« schrie Plumplum, der sich nicht eingestehen<br />

mochte, dass er Mitleid mit ihr hatte. »Sie scheint ja ganz verhungert zu<br />

sein. Füttern wir sie erstmal, dann wird sie auch reden.«<br />

Widerstrebend ließ sich Hübeldübel auf den Vorschlag ein. Er zog das<br />

übriggebliebene halbe Honigbrot aus der Tasche und hielt das noch<br />

frisch duftende Stück vor Rosalindes Nase. Sie schlug die Augen auf und<br />

blickte verwirrt den Recken an. Hübeldübel glaubte vom Schlag getrof-<br />

fen zu sein: die schönsten, tiefsten dunkelblauen Augen schienen ihn<br />

förmlich zu verschlingen. Er schluckte. Er begann zu schwitzen. Er wur-<br />

de verlegen. Er kratzte sich am Kopf. Er spürte eine siedende Hitze in<br />

sich aufsteigen. Dann spürte er noch etwas anderes: einen schmerzhaf-<br />

ten Faustschlag in die Rippen. Es war die unverkennbare Handschrift<br />

Plumplums, der ihn wieder zur Besinnung brachte.<br />

»Aaah!« brüllte Plumplum, »sie isst unseren ganzen Vorrat auf.<br />

»Beschämt hörte Rosalinde auf zu essen. Sie hatte das Brot bis auf<br />

ein paar Krümel hinuntergeschlungen und dazu noch zwei Honigmelonen<br />

gegessen. Noch nie hatte sie eine solche schmackhafte und wunderbar<br />

süße Nahrung gekostet.<br />

»Nun reicht es aber«, ließ sich auch Hübeldübel vernehmen, »raus<br />

mit der Sprache: was geht hier vor?«<br />

Und Rosalinde begann zu erzählen. Zunächst mit stockender Stimme,<br />

dann fließender und hastiger, denn die Zeit drängte.<br />

106


Ein schwerer Entschluss<br />

Rosalindes Bericht fing mit den Ereignissen auf dem Stachelmarkt an.<br />

Nachdem Krieger und seine johlende Soldateska mit Zippel abgezogen<br />

war, hatte Rosalinde noch eine Weile dagesessen. Ihr Blick wurde auf ein<br />

Stück Papier gelenkt, das aus den Trümmern des Stachelmarktes lugte.<br />

Sie hatte es aufgehoben. Es war der falsch zusammengeklebte Ausweis<br />

Zippels, der schon wieder in seine Schnipsel zerfiel.<br />

Hier unterbrachen Hübeldübel und Plumplum die Erzählerin, denn sie<br />

verstanden fast gar nichts. Also musste Rosalinde ganz von vorn anfan-<br />

gen und ihnen genauestens berichten, wie sie Zippel kennengelernt hat-<br />

te, und was alles sich zugetragen hatte. Als sie bei dem Vorfall mit dem<br />

zudringlichen Kloakier angelangt war, wurde sie von den beiden Recken<br />

unterbrochen.<br />

»Das kann doch nicht Zippel sein«, zweifelte Plumplum.<br />

»Zippel prügelt sich mit einem Kloakier?« hakte Hübeldübel nach,<br />

»das kann man kaum glauben.«<br />

Damit nicht genug: nun mussten sie auch noch vernehmen, mit wel-<br />

cher Dreistigkeit Zippel mit Krieger und seiner Militärjunta umgesprun-<br />

gen war. Die Hüter des Wabbelsteins schwankten, ob sie das alles glau-<br />

ben sollten, oder ob sie es für eine raffiniert eingefädelte Falle halten<br />

sollten, in die sie hineingelockt werden sollten.<br />

Rosalinde ließ sich durch die aufkommenden Zweifel nicht beirren und<br />

setzte ihren Bericht fort. Achtlos hatte sie den auseinanderfallenden<br />

Ausweis Zippels eingesteckt und war mit einer unerklärlichen Furcht im<br />

Herzen nach Hause gegangen. Dort versuchte sie sich mit der täglichen<br />

Arbeit abzulenken, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder zu dem<br />

Nagelhändler, der sich anscheinend in der Gesellschaft des Krtzkrr Krie-<br />

ger wohlfühlte. Die beiden Brote, die Rosalinde schließlich aus dem Ofen<br />

zog, waren vollständig misslungen, klitschig und zusammengefallen.<br />

'Ein erstklassiges Stachelbrot', dachte sie sarkastisch, und laut spöt-<br />

telte sie: »Endlich habe ich das richtige Rezept gefunden.«<br />

107<br />

Ihr Galgenhumor verflog so schnell, wie er gekommen war. Freudlos


nahm sie ihre verbogene Hacke und kratzte in dem kleinen Garten hinter<br />

der Hütte herum. Nach einer Weile warf sie die Hacke hin und ging in<br />

ihre Hütte. Es hatte keinen Zweck. Halbherzig holte sie die Schnippel<br />

hervor. Vielleicht konnte sie ja den Ausweis wieder zusammensetzen.<br />

Geduldig puzzelte und probierte sie, bis ihr endlich das Kunstwerk<br />

gelang: alle vier Seiten waren wieder gerade, und alle Schnippel passten<br />

nahtlos aneinander. Schnell klebte sie die Teile fest, damit ihre Mühe<br />

nicht umsonst gewesen war. Dann versuchte sie, den Inhalt zu lesen.<br />

Wie groß war ihre Verwunderung, als sie feststellte, dass sie die<br />

Schrift mühelos entziffern konnte! Um wieviel größer aber war ihr<br />

Schreck und ihr ungläubiges Staunen, als sie den Inhalt las: Dies ist der<br />

Ausweis von Schneider Zippel aus Wabbelanien. Zippel ist als Spion<br />

unterwegs, um das Versteck des Wabbelsteins auszukundschaften. Der<br />

Besitzer dieses Ausweises hat freie Fahrt durch Stachelland.<br />

Zuerst glaubte Rosalinde an einen Witz, an einen Karnevalsscherz.<br />

Dieser Fetzen Papier war einfach zu lächerlich, die Ausgeburt einer Kin-<br />

derphantasie. Doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die<br />

kostbaren Nähnadeln, die leuchtende Nähseide und dann erst Rippels<br />

weiche Schneiderweste, in die sie sich hineingeschmiegt hatte! Rippel<br />

war also ein Wabbelanier und hieß in Wirklichkeit Zippel. Das also war<br />

der Grund für ihre unerklärliche Furcht: sie hatte sich mit einem Erzfeind<br />

Stachellands angefreundet!<br />

Aber diese Wabbelanier schienen ja ganz anders zu sein, als hier<br />

immer mit bösem Hass erzählt wurde. Wenn alle so wären wie dieser<br />

Zippel, der, statt ihre Tür einzutreten, sich in einem hilflosen Trotz vor<br />

ihre Hütte gelegt hatte?<br />

Rosalinde errötete bei der Erinnerung an den schlafenden Schneider.<br />

Nie würde er erfahren, dass sie ihn mit einem Kuss geweckt hatte. 'Wer<br />

mag wohl Melanie sein', dachte Rosalinde und fühlte sich zurückgestos-<br />

sen, 'vielleicht seine wabbelanische Freundin oder sogar seine Frau, die<br />

sich um ihn ängstigt und auf ihn wartet.'<br />

Noch einmal nahm Rosalinde sich das Papier vor. Was für unglaublich<br />

harmlose Gemüter mussten die Leute haben, die solch ein verräterisches<br />

Blatt entworfen hatten. Rosalinde musste lachen: seine Wirkung hatte<br />

108


der Ausweis ja gezeitigt, allerdings nur durch den Witz und die Dreistig-<br />

keit des Schneiders.<br />

Mit einem Mal fuhr ein Schreck durch Rosalindes Glieder und ihre<br />

Kehle schnürte sich zusammen. Wenn Zippel ein Spion war, hatte er sich<br />

in die Höhle des Löwen begeben, und es war nur eine Frage der Zeit, bis<br />

er demaskiert wurde. Vielleicht schmachtete er schon jetzt in einem Ver-<br />

lies der Stachelburg!<br />

Die widerstreitenden Gefühle drohten Rosalindes Herz zu sprengen.<br />

Sie spürte eine große Zuneigung zu Zippel, aber es war ihr auch klar,<br />

dass sie selbst verloren war, würde sie ihm helfen. Dann würde er viel-<br />

leicht gerettet werden und in die Arme seiner Frau oder Freundin<br />

zurückkehren. Sie selbst aber müsste flüchten und bis an ihr Lebensen-<br />

de in der Fremde leben.<br />

Als der Abend anbrach, versuchte Rosalinde etwas zu essen, doch sie<br />

bekam, wie schon den ganzen Tag, keinen Bissen hinunter. Die Schatten<br />

der Nacht legten sich auf die Hütten und Gassen, doch Rosalinde zünde-<br />

te keine Kerze an, saß nur grübelnd und den Tränen nahe am Tisch.<br />

Um Mitternacht erhob sie sich. Sie hatte einen unwiderruflichen Ent-<br />

schluss gefasst. Sie würde Zippel helfen. Denn es war ihr klar geworden,<br />

dass sie ihn liebte. Mochte er zu Hause auch eine Frau haben, hier wür-<br />

de sie ihm beistehen. Es hätte für sie so oder so keinen Sinn mehr<br />

gemacht, in Stachelland weiterzuleben. Sie hatte sich hier noch nie rich-<br />

tig wohl gefühlt. In Zippels Nähe hatte sie zum ersten Mal eine Zunei-<br />

gung und eine Achtung vor ihrer Würde erfahren, die sie nicht mehr<br />

missen wollte. Jetzt hieß es zu handeln.<br />

Um sich vor der Kälte zu schützen, warf sich Rosalinde einen Umhang<br />

um und ging durch die düsteren Straßen zur Stachelburg. Das Tor war<br />

verschlossen. Einen zweiten Eingang gab es nicht. Ratlos schlich Rosalin-<br />

de um die Burg. Nirgends ein Fenster oder wenigstens ein Luke. Dro-<br />

hend ragten die schwarzen Stacheltürme in den wolkenzerfetzten Him-<br />

mel. Was nun? Sollte sie am Tor klopfen? Da vernahm sie ein leises Klir-<br />

ren auf dem steinigen Boden. Sie tastete sich zu dem Geräusch. Plötz-<br />

lich spürte sie etwas Kaltes, Metallisches, und sie griff beherzt zu. Ein<br />

dorniges eisernes Rädchen stach in ihre Hand, und sie konnte gerade<br />

109


noch einen Schmerzensschrei unterdrücken. Aber sie ließ den Gegen-<br />

stand nicht los, sondern hielt ihn sich vor die Augen. Es war einer der<br />

Sporen Zippels! Er war an eine Wäscheleine gebunden, die von einem<br />

der Stacheltürme herabhing. Vorsichtig zog Rosalinde an der Leine. Sie<br />

spürte einen Widerstand. Jemand zog am anderen Ende der Leine. Hoch<br />

oben verschwand die Leine in einem winzigen Loch. Eine Stimme hallte<br />

hohl aus dem Loch: »Wer ist da?«<br />

Rosalindes Herz machte einen Sprung: es war Zippels Stimme. »Ich<br />

bin es, Rosalinde«, rief sie mit erstickter Stimme hinauf und sah sich<br />

vorsichtig um. Jeden Moment konnte eine stachelländische Patrouille<br />

vorbeikommen.<br />

»S'wabbelt«, rief Zippel hinunter, denn er spürte, dass er vor Rosalin-<br />

de keine Geheimnisse mehr zu haben brauchte. Dann flüsterte er ihr mit<br />

kurzen Worten zu, was geschehen war. Die Soldaten hatten sich so in<br />

Sicherheit gefühlt, dass sie Zippel in den Stachelturm geworfen hatten,<br />

ohne ihm seine Wäscheleine abzunehmen. Er hatte einen seiner Sporen<br />

daran gehängt, und ihn durch das kleine Loch hinabgelassen in der Hoff-<br />

nung, etwas zu angeln, was ihm weiterhelfen könnte. Knapp berichtete<br />

Zippel, dass er das Versteck des Wabbelsteins entdeckt hatte. Er erzähl-<br />

te von seinen Freunden Plumplum und Hübeldübel, und wo sie auf ihn<br />

warteten. Da hörte Rosalinde die nahenden Schritte einer Patrouille, und<br />

sie eilte nach Hause.<br />

Plumplum und Hübeldübel, die bis dahin schweigend dem Bericht<br />

Rosalindes gelauscht hatten, blickten sich zweifelnd an. Warum sollte die<br />

junge Frau Zippel helfen wollen? Denn natürlich hatte Rosalinde ihre<br />

geheimen Gefühle zu dem Schneider nicht erwähnt.<br />

»Weiter!« knurrte Hübeldübel, obwohl er sich das Ende schon denken<br />

konnte.<br />

Zu Hause wartete eine große Überraschung auf Rosalinde. Auf ihrem<br />

Tisch lagen nicht, wie so oft, Gummibärchen und Honigwaben, sondern<br />

drei große Klumpen Salz! Erschreckt hatte Rosalinde das Salz unter<br />

ihrem Bett versteckt, denn sie wusste nicht, was sie damit anfangen<br />

sollte. Im frühen Morgengrauen war sie dann zum Scherbenpass aufge-<br />

brochen, um die beiden Wabbelanier zu holen. Unterwegs war sie von<br />

110


stachelländischen Wegelagerern überfallen worden. Daher auch ihre ver-<br />

krustete Platzwunde über dem Auge. Aber die Räuber hatten schnell von<br />

ihr abgelassen, als sie merkten, dass bei ihr nichts zu holen war.<br />

»Schön und gut«, brummte Plumplum nach einer Weile, »warum aber<br />

um alles in der Welt solltest du ausgerechnet Zippel helfen wollen?«<br />

Rosalinde hatte diese Frage schon erwartet und sich auf dem Weg<br />

hierher alle möglichen Antworten ausgedacht. Jetzt, wo es darauf<br />

ankam, fiel ihr keine der Ausreden mehr ein. Die Nacht war schon her-<br />

eingebrochen, und so konnten die beiden Recken nicht sehen, wie die<br />

junge Frau errötete, als sie leise sagte: »Ich mag ihn eben.«<br />

Hübeldübel hustete verlegen. Plumplum nestelte an seinen Jacken-<br />

knöpfen herum. Beide hatten denselben Gedanken: 'Was konnte eine<br />

Frau an dem spillerigen Zippel finden? Andererseits, wenn man sich die-<br />

se magere, zerlumpte Stachelländerin ansah!' Ohne sich abzusprechen<br />

fassten die beiden Freunde den Entschluss, der jungen Frau zunächst zu<br />

glauben. Sollten sie dennoch in eine Falle gelockt werden, würden sie<br />

sich schon durchkämpfen.<br />

Rosalinde stand auf. »Wir müssen uns beeilen«, drängte sie, »dann<br />

erreichen wir noch vor Morgengrauen die Stachelburg.«<br />

Und so marschierten sie los: zwei vor Kraft und Ungeduld strotzende<br />

Heißsporne und eine unterernährte Stachellanderin. Tollkühn hatten sich<br />

die drei vorgenommen, einen Schneider aus der Gewalt des Krtzkrr Krie-<br />

ger zu befreien und den legendären Wabbelstein nach Wabbelburg<br />

zurückzubringen. Unheilvoll verschlang die hohe Schlucht des Scherben-<br />

passes die wild Entschlossenen.<br />

111


Scherben und Schollen<br />

Dumpf hallten die Schritte der drei Wanderer an den Felswänden<br />

hoch. In spielerischer Laune ließen die dahin jagenden Wolken ab und zu<br />

den Mond durchscheinen, der die nächtliche Szene kurzzeitig erhellte<br />

und den Wanderern den weiteren Weg zeigte. Zunehmend wurde der<br />

Boden von Geröll, dann von Splittern und Scherben bedeckt. Ein kra-<br />

chendes und reißendes Geräusch gewann an Lautstärke. Streckten sich<br />

die Felsen bis dahin glatt und steil in die Höhe, so veränderten sie all-<br />

mählich ihr Aussehen: spitze und schroffe Ecken und Kanten stachen in<br />

die Lüfte, und bald mussten die Wanderer sich arg vorsehen, damit sie<br />

sich an den scharfen Rändern nicht verletzten. Je weiter sie kamen,<br />

desto vorsichtiger mussten sie ihre Schritte setzen: der Boden war über-<br />

sät mit Scherben aus Schiefergestein, die wie zerbrochene Schiefertafeln<br />

aussahen, wie sie früher in den Schulen verwendet wurden. Schon<br />

segelten krachend und splitternd die ersten Tafeln von den Felshöhen.<br />

Das Gebirge, das aus reinem Schiefer zu bestehen schien, stöhnte unter<br />

einem inneren Druck. Explosionsartig rissen und platzten Schieferstücke<br />

aus den Plattformen und Hängen. Tellergroße Brocken sprengten in<br />

unregelmäßigen Abständen ab und schlugen krachend auf den schmalen<br />

Pass. War das Jonglieren auf den lose herumliegenden Tafeln schon<br />

schwierig genug, so bereiteten die herabstürzenden scharfkantigen Zie-<br />

geln den Wanderern zusätzliche Mühe, denn sie mussten schnell und<br />

geschickt ausweichen. Bei einem dieser Fluchtsprünge landete Hübeldü-<br />

bel auf einem Haufen loser Schiefertafeln, der unter dem Gewicht des<br />

Hünen nachgab. Hübeldübel verlor das Gleichgewicht, schlitterte hilflos<br />

über das Geröll und ratschte sich an dem spitzen Gestein die Jacke auf.<br />

Wütend brüllte der Gepiesackte einen seiner wüstesten Seemannsflüche<br />

in die Schlucht. Daraufhin entlud sich ein wahres Gewitter aus der Höhe.<br />

Schiefertafeln und -brocken platzten aus dem Gestein, und mit Donner-<br />

getöse brach eine Lawine aus Scherben, Splittern und metallisch glän-<br />

zendem Gestein über die schmale Schlucht. Wie ein Wolke verdunkelte<br />

die Lawine den Pass. Als all das Geröll und der Schotter schließlich auf-<br />

112


schlug, puffte eine Staubwolke nach allen Seiten und nahm jede Sicht.<br />

Nach gut einer Viertelstunde – das letzte Knacken und Reißen war<br />

verklungen – meldete sich als erster Plumplum. »Ist außer mir noch<br />

jemand am Leben?« brüllte er und grub sich mit den bloßen Händen aus<br />

einem Haufen Scherben. Aus unzähligen Kratz- und Risswunden troff<br />

Blut über sein Gesicht und seine Arme. Eine dicke Staubschicht hatte<br />

sich auf seine Haut gelegt. Zusammen mit den Blutspuren entstellten sie<br />

den Wabbelanier zu einer grässlichen Horrorgestalt.<br />

»Wenn mich nicht alles täuscht, lebe ich auch noch«, tönte es von<br />

anderen Ende des Scherbenhügels. Hübeldübel hatte sich zwar beim<br />

Ausrutschen den Fuß verstaucht, war aber bei seiner Rutschpartie aus<br />

dem Gefahrenbereich der Lawine geschlittert. Auch er war mit einer fet-<br />

ten Staubschicht überdeckt. »Ist Rosalinde bei dir?« fügte er hinzu und<br />

konnte ein leichtes Zittern seiner Stimme nicht verheimlichen.<br />

Rosalinde antwortete selbst. Behände hatte sie sich an die Felswand<br />

gedrückt, und die herabsausenden Trümmer waren an ihrem dünnen<br />

Körper vorbeigeprasselt.<br />

»So wie wir aussehen«, rief sie, »können wir gut als Kohlenverkäufer<br />

durchgehen.« Denn auch Rosalinde war schwarz vor Staub.<br />

Vorsichtig kletterte sie über den Scherbenhügel zum Ende des Pas-<br />

ses, wo Hübeldübel wartete. Auch Plumplum kam über den Berg der<br />

Trümmer gekrochen wie ein Monster aus einer Fabelwelt. Erleichtert<br />

lachte er die anderen beiden an, doch diese zuckten vor der entsetzli-<br />

chen Grimasse zurück.<br />

»Was ist los?« fauchte Plumplum, »habe ich den Aussatz?« Rosalinde<br />

reichte ihm ihren kleinen Handspiegel. »Aaah!« brüllte der Haudegen<br />

und rollte mit den Augen. Sein Bauch begann zu wabbeln. Die Spannung<br />

über die überstandene Gefahr entlud sich in einem unmäßigen Geläch-<br />

ter, hervorgerufen durch sein entsetzliches Konterfei in dem kleinen blin-<br />

den Spiegel.<br />

Wie nicht anders zu erwarten, wurde Hübeldübel von dem Gelächter<br />

seines Freundes angesteckt. Vor Vergnügen schlugen sie sich gegensei-<br />

tig auf die Schultern und tanzten täppisch im Kreise herum. Von dem<br />

mächtigen Wabbeln der Recken wurde der zurückliegende Scherbenpass<br />

113


so sehr erschüttert, dass eine zweite Schieferlawine in die Schlucht hin-<br />

untertoste.<br />

'Was für Kindsköpfe', wunderte sich Rosalinde, aber gleichzeitig spür-<br />

te sie eine warme Zuneigung zu den beiden stämmigen Haudegen, die<br />

sich vor Lachen nicht wieder einkriegen konnten.<br />

Es ging weiter. Nur spärlich beleuchtete der fahle Mondenschein den<br />

Weg. Ab und an sperrten vertrocknete Distelbüsche den Durchgang.<br />

Dann mussten sie sich ins Feld schlagen und über das unwegige Gestein<br />

einen Pfad suchen. Längst hatte der modrige und säuerliche Gestank<br />

sich in die Nasen und Kleider der beiden Recken eingenistet. »Wie bra-<br />

ckiges Wasser nach vier Wochen Fahrt«, murmelte Hübeldübel, dem<br />

schon wieder Erinnerungen aus seiner Seemannszeit hochkamen. »Und<br />

jeden Tag Dörrfisch«, fügte er hinzu. Plötzlich blieb er stehen und<br />

schnupperte in die Luft. »Beim Klabautermann«, wunderte er sich, »es<br />

riecht nach Wasser. Und zwar nach frischem, eisgekühlten, sprudelnden<br />

Qellwasser.«<br />

Wir nähern uns dem Eisschollenfluss«, erklärte Rosalinde. »Er ist<br />

weder tief noch sehr breit. Trotzdem ist es sehr gefährlich, ihn zu über-<br />

queren, denn er ist mit Eisschollen bedeckt, die einen mit sich reißen<br />

können, und die Wassertemperatur liegt viele Grade unter dem Gefrier-<br />

punkt. Dass der Fluss nicht zufriert, liegt an der großen Geschwindigkeit,<br />

mit der er sich ins Tal wälzt. Drunten im Tal verschwindet er in einer<br />

Erdspalte und tritt, jedenfalls in Stachelland, nicht wieder hervor. Es gibt<br />

Stachelländer, die in der Erdspalte unterirdische Höhlen vermuten mit<br />

unvorstellbaren Schätzen. Man munkelt von riesigen Salzvorkommen.<br />

Aber bisher ist jede Expedition dahin spurlos verschwunden. Manchmal,<br />

wenn die wöchentlichen Salzrationen ausbleiben oder gekürzt werden,<br />

treibt der Heißhunger einige Stachelländer in die Spalte. Bisher jedoch<br />

ist noch nie jemand zurückgekommen.«<br />

Zum ersten Mal hörten Plumplum und Hübeldübel von der Gier der<br />

Stachelländer nach Salz. Dass diese Gier eine lebensnotwendige Sucht<br />

war, ahnten sie in diesem Augenblick noch nicht.<br />

114<br />

»Mmh, mmh«, brummte Plumplum.<br />

»Was ist los?« fragte Hübeldübel.


»Ach, ist nur so eine Schnapsidee«, antwortete Plumplum, aber man<br />

merkte ihm an, dass diese Idee ihn noch weiter beschäftigte.<br />

Nicht nur der frische Wind veränderte die Luft, sondern auch eine<br />

feuchte Kälte, die die drei Wanderer frösteln machte. Das Krachen und<br />

Knacken von brechenden und sich stoßenden Eisschollen schwoll an.<br />

Rosalinde beschleunigte ihren Schritt, und nach einer kurzen Wegstrecke<br />

erreichten sie das Ufer des Eisschollenflusses. Die junge Führerin hatte<br />

nicht zuviel versprochen. Schwere Eisschollen bedeckten fast das ganze<br />

Wasser, türmten sich zu kurzlebigen Gebirgen, zerbrachen krachend und<br />

trieben stoßend und reibend in das Tal. Da das glitzernde Eis den schwa-<br />

chen Mondenschein reflektierte, lag ein flimmerndes diffuses Licht über<br />

dem Flussbett.<br />

»Wo ist denn die Brücke?« fragte Plumplum und sah sich vergeblich<br />

nach allen Seiten um.<br />

»Was für eine Brücke?« fragte Rosalinde zurück, »glaubt ihr etwa, ein<br />

Stachelländer würde sich die Mühe machen, eine Brücke zu bauen?«<br />

Hübeldübel kniff die Augen zusammen: »Dann brauche ich ja wohl<br />

auch nicht zu fragen, wo das Boot oder eine Fähre ist.«<br />

»Sehr richtig, Herr Kapitän«, spöttelte Rosalinde, »leider hat die<br />

Schiffsmannschaft gerade Urlaub und vergnügt sich in den Bergen beim<br />

Skilaufen und Edelweißpflücken.«<br />

Verärgert glotzte Plumplum die magere Frau an. »Macht sich hier<br />

etwa jemand über uns lustig?« brüllte er und puffte in einer plötzlichen<br />

Aufwallung die Stachelländerin an. Rosalinde trudelte von dem Stoß und<br />

wäre ins eisige Wasser gefallen, hätte Hübeldübel sie nicht geistesge-<br />

genwärtig aufgefangen. Plumplum bekam einen roten Kopf. Er schämte<br />

sich zutiefst für seine Unbeherrschtheit.<br />

»Schon gut«, beschwichtigte Rosalinde den Heißsporn, als sie sah,<br />

wie peinlich es ihm war. Denn trotz dieses eigenartigen Vorfalls war ihr<br />

Vertrauen zu den Wabbelaniern gewachsen. Die beiden konnten noch so<br />

kriegerisch tun, im entscheidenden Augenblick würden sie sie nicht im<br />

Stich lassen.<br />

»Wir müssen über die Eisschollen ans andere Ufer springen«, klärte<br />

sie die Recken auf.<br />

115


»Aha«, schnaufte Hübeldübel, »das also ist der Trick. Während du<br />

leichtfüßig über die Schollen tanzt, versinken wir beide im Wasser und<br />

ertrinken oder erfrieren. Wir sind doch viel zu schwer für die Schollen.«<br />

Rosalinde betrachtete sich die beiden schwergewichtigen Haudegen<br />

und musste zugeben, dass der Einwand nicht unberechtigt war.<br />

»Warum waten wir nicht durch das Wasser ans andere Ufer?« schlug<br />

Plumplum vor, »schließlich ist der Fluss nicht tief.«<br />

Rosalinde schüttelte den Kopf: »Wie Hübeldübel schon sagte: ihr<br />

würdet erfrieren und mit den Schollen in das Tal gerissen werden.«<br />

Fröstelnd überlegten die drei, was zu tun sei. Schließlich ergriff<br />

Hübeldübel das Wort: »Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich nehme<br />

Plumplum auf den Rücken und gehe durch den Fluss. Sollte ich es nicht<br />

bis zum anderen Ufer schaffen, kann Plumplum abspringen. Er hat dann<br />

noch genug Wärme und Energie, um den Rest zu bewältigen. Dann ist<br />

wenigstens einer von uns drüben und kann Zippel befreien. Und damit<br />

basta. Kein Wort mehr. Ahoi.«<br />

Wenn Hübeldübel einen Satz mit Ahoi beschloss, war kein Wider-<br />

spruch mehr möglich. Zähneknirschend machte Plumplum sich bereit.<br />

»Ja seid ihr denn verrückt geworden?« stammelte Rosalinde, »es hat<br />

bisher nur einen Menschen gegeben, der das geschafft hat. Und zwar<br />

der stärkste und abgehärtetste Soldat in Stachelland: Hauptmann Blei-<br />

fuß.«<br />

»Na also«, rief Hübeldübel und nahm den kugelrunden Plumplum auf<br />

die Schultern.<br />

»Leider hat es nicht so gut geklappt«, beeilte sich Rosalinde,<br />

»wochenlang hat Bleifuß danach mit Fieber im Bett gelegen, und ein<br />

Bein war so erfroren, dass es ihm amputiert werden musste.«<br />

»Aus dem Weg!« herrschte Hübeldübel sie an und stapfte in die kalte<br />

Flut. Seine Zähne klapperten zusammen. Der Kälteschock fuhr wie ein<br />

scharfes Messer in seine Beine. Die ersten Schollen stießen an seine<br />

Hüften und schnitten Löcher in seine Kleidung. Mit wütender Entschlos-<br />

senheit watete der Hüne weiter. Der Strom riss an seinem dampfenden<br />

Körper. Bald stand ihm das Wasser bis zur Brust. Plumplum zog seine<br />

Beine hoch, doch seine Stiefel berührten schon die Wasseroberfläche.<br />

116


Verzweifelt spürte er, wie die Kräfte seines Freundes nachließen, wie die<br />

Bewegungen steifer und träger wurden. Dabei hatten sie noch nicht ein-<br />

mal die Mitte des Flusses erreicht. Mit Entsetzen beobachtete Rosalinde,<br />

wie ein Berg aus zusammengeschachtelten Eisschollen auf Hübeldübel<br />

zutrieb. »Aufgepasst!« rief sie, doch der Hüne hatte den Eisberg schon<br />

bemerkt und hielt ihn in der letzten Sekunde mit seinen keulenförmigen<br />

Armen auf. Keuchend umruderte er den Eisberg. Sein Gesicht war weiß<br />

vor Kälte, blauschwarz pressten sich seine Lippen zusammen. Wie eine<br />

Dampfmaschine setzte er Schritt für Schritt, immer nur einen Gedanken<br />

im Kopf: ich muss durch, ich muss durch. »Verfluchte Idee!« brüllte<br />

Plumplum auf dem Rücken des Hünen. Er merkte, dass sein Freund sei-<br />

ne Beine nur noch mechanisch setzte, dass der sture Wille langsam<br />

einer erlahmenden Teilnahmslosigkeit wich. Die Bewegungen wurden<br />

langsamer und unkontrollierter. »Weiter!« brüllte er und hieb auf<br />

Hübeldübel wie auf einem Reittier ein. Hübeldübel stieß einen krächzen-<br />

den Laut aus und nahm seinen Trott wieder auf. Die Mitte des Flusses<br />

hatten sie hinter sich, das gegenüberliegende Ufer in greifbarer Nähe.<br />

Da blieb der Hüne stehen, verdrehte die Augen und atmete röchelnd ein<br />

letztes Mal tief auf. Er schwankte, griff hilflos mit den Händen in die Luft<br />

und verlor das Bewusstsein.<br />

117


Der Stachelwurz<br />

Bevor der erste Hahn in Stachelburg anhob, seine Weckrufe zu krä-<br />

hen, waren schon zwei Aasgeier von den spitzen Stacheltürmen aufge-<br />

flogen und kreisten nun über Rosalindes Hütte. Fette Beute schienen sie<br />

in der armseligen Behausung zu vermuten, denn nach einigen Erkun-<br />

dungsrunden landeten sie auf dem Dach der Hütte und gierten mit<br />

scharfem Blick durch das schräge Dachfenster. Das Bild, das sich ihnen<br />

bot, sah tatsächlich nach sicherer Beute aus: auf dem Bett Rosalindes<br />

lag eine hünenhafte Gestalt, vollständig bewegungslos, kalt und steif.<br />

Eine Decke aus unzähligen Flicken war über den leblosen Körper<br />

gestreift und ließ nur ein leichenblasses Gesicht hervorschauen. Neben<br />

der Bettstatt mühte sich ein kugelrunder muskulöser Mann ab, Leben in<br />

die Totengestalt zu bringen. Ruhelos rubbelte er den kalten Körper mit<br />

der Decke ab, dann wieder presste er den birnenförmigen Brustkorb, um<br />

die Atemtätigkeit einzuleiten. Schließlich verabreichte er dem Wehrlosen<br />

ein paar kräftige Ohrfeigen, um die Blutzirkulation anzuregen, eine<br />

etwas fragwürdige Methode. Plumplum, der dazu dauernd hustete und<br />

vor Heiserkeit nur krächzen konnte, wurde schließlich von Rosalinde<br />

weggeschoben, die einen Becher mit dampfendem Kräutertee an die Lip-<br />

pen des erstarrten Hübeldübel setzte. Tropfen für Tropfen flößte sie dem<br />

Recken ein, der kein Lebenszeichen von sich gab. Mit einem Tuch, das<br />

sie mit dem Kräutertee benetzt hatte, rieb sie seine Schläfen und seine<br />

Stirn.<br />

»Es gibt nur ein Medikament, das ihm noch helfen kann«, hustete<br />

Plumplum, »und zwar ein halber Liter Muntermacher.«<br />

»Was ist ein Muntermacher?« fragte Rosalinde.<br />

»Och«, wand sich der Kugelbäuchige, »nur so ein bißchen Rum aus<br />

Jamaika und viel Honig dazu.«<br />

Rosalinde überlegte. »Vielleicht geht es ja auch mit unserem Stachel-<br />

wurz. Aber ich habe keinen Honig mehr.«<br />

»Stachelwurz?« entsetzte sich. Plumplum, »willst du ihn endgültig<br />

vergiften?«<br />

118


»Aber nein«, wehrte Rosalinde ab, und sie sah besorgt auf Hübeldü-<br />

bel hinunter, der keine Reaktion auf den Tee zeigte. »Es ist ein hochpro-<br />

zentiger Kräuterschnaps aus den Stacheln und Wurzeln meiner Pflanzen.<br />

Wir müssen es ausprobieren.«<br />

Während Plumplum noch unschlüssig auf und ab stapfte, hatte Rosa-<br />

linde schon ein kleines Fläschchen mit einer glasklaren Flüssigkeit her-<br />

vorgezaubert. Vorsichtig zog sie den Korken aus dem Flaschenhals und<br />

ging an das Bett. Plumplum stellte sich ihr in den Weg.<br />

»Halt!« rief er aufgeregt, »zuerst muss ich das Zeugs prüfen. Es<br />

steht zuviel auf dem Spiel.« Noch bevor Rosalinde protestieren konnte,<br />

nahm er ihr das Fläschchen aus der Hand und setzte es an den Hals.<br />

»Um Himmels Willen«, schrie die junge Stachelländerin und fiel dem<br />

Heißsporn in den Arm. »Man darf nur daran riechen! Zum Trinken muss<br />

es verdünnt werden!«<br />

Es war schon zu spät. Plumplum hatte einen ordentlichen Schluck<br />

getan. Die halbe Flasche war leer. »Aaah!« brüllte er vergnügt, »nicht<br />

übel. Ein rechter Rachenputzer.« Dann wurde ihm schwindelig. Die<br />

Augen traten ihm aus den Kopf, seine Haare sträubten sich wie bei<br />

einem fauchenden Kater, heiße Tränen kullerten über seine Wangen, und<br />

er japste und hechelte mit pfeifenden Geräuschen nach Luft. In seinen<br />

Ohren sauste es wie bei einem hereinbrechenden Tornado. Das Kerzen-<br />

licht flimmerte vor seinen Augen, der Raum drehte sich, und schwankte.<br />

Sein keuchender Atem verpestete in krampfartigen Stößen die Luft mit<br />

einem beißenden und ätzenden Dampf, der aus seiner Lunge schlug. In<br />

Sekundenschnelle verwandelte sich sein Tage alter Stoppelbart in<br />

schneeweiße Borsten, die mit einem trockenen Knistern ausfielen und<br />

wie Schnee den Boden bedeckten. Schweißtropfen rannen ihm über den<br />

Hals und in die Schuhe. Panische Angstzustände ließen ihn bibbern und<br />

frösteln. Sein Gehirn wurde von Halluzinationen gemartert, in denen<br />

feurige Stacheltiere auf ihn herabfuhren mit flammenden Zungen und<br />

meckerndem Gelächter. Plumplum riss seinen Kragen auf. »Luft!«<br />

krächzte er erstickend. Rosalinde hatte schon die Tür und das Fenster<br />

geöffnet, doch der modrige Gestank, der hereinwaberte, verschlimmerte<br />

die Atemnot des Recken nur noch. Unangekündigt versagten seine Beine<br />

119


ihren Dienst. Plumplum rutschte auf den Boden. Dort beruhigte er sich<br />

langsam.<br />

Rosalinde hatte während des Anfalls keinen Augenblick Hübeldübel<br />

aus den Augen gelassen. Immer noch lag er wie tot auf dem Bett. Die<br />

magere Frau, für die es kein Zurück mehr gab, hielt das Fläschchen vor<br />

die Nase des Hünen. Nach einer endlosen Minute regte sich etwas.<br />

Hübeldübels Nasenflügel begannen zu zucken. Er schlug die Augen auf<br />

und schnupperte. Sein verschleierter Blick fiel auf Rosalinde, die sich tief<br />

über ihn gebeugt hatte. »Melanie?« flüsterte Hübeldübel verwirrt und<br />

richtete sich halb auf. Verwundert trat Rosalinde zurück. Schon wieder<br />

diese Melanie. Wer war sie? In Hübeldübels Blickfeld glitt das Fläschchen<br />

mit dem durchdringenden Geruch. Mit einer automatischen Bewegung<br />

griff der Hüne danach, und bevor Rosalinde richtig begriff, was passierte,<br />

hatte er den ganzen Rest des Stachelwurzes hinuntergeschluckt.<br />

»Ahoi!« hustete er, »nicht übel. Ein rechter Muntermacher.« Er warf<br />

die Decke zurück und sprang auf. »He, was hast du mit meinem Freund<br />

gemacht«, fragte er und wies auf den noch immer keuchenden<br />

Plumplum. »Überhaupt, wo bin ich eigentlich? Was ist passiert?«<br />

Aufmerksam beobachtete Rosalinde ihn. Gleich würde er von demsel-<br />

ben Anfall geschüttelt werden wie sein kugelbäuchiger Freund. Es konn-<br />

te nur noch Sekunden dauern.<br />

Doch nichts dergleichen geschah. Munter pfiff Hübeldübel einen wie-<br />

genden Shanty und stapfte voller Tatendrang durch die Stube. Plötzlich<br />

blieb er stehen. Seine Augen röteten sich. Wie unter einem Zwang<br />

musste er tief einatmen. Dann prustete er los. Ein Nieser nach dem<br />

anderen krachte aus seiner Brust und seiner Nase. Schon beim ersten<br />

»Hatschi!« pustete er die Kerze aus. Zwanzig mal donnerten seine Nie-<br />

ser wie Geschützfeuer durch die Hütte. Mit wildem Flügelschlag flüchte-<br />

ten die Geier auf dem First vor den zerstörerischen Niesausbrüchen des<br />

wabbelanischen Haudegen. Rosalinde rettete sich in ihren kleinen Garten<br />

und wartete dort das Ende des Gewitters ab. Beim zwanzigsten Prusten<br />

schien Hübeldübel der Schädel zu platzen. Er holte noch einmal tief Luft,<br />

dann fiel er kopfüber auf die Dielen. Es dauerte zehn Minuten, bis sein<br />

Geist sich entschloss, in diesem Leben doch noch einige Husarenstücke<br />

120


und Abenteuer zu erleben.<br />

Abwechselnd berichteten Rosalinde und Plumplum ihm nun, was bis<br />

dahin geschehen war. Nachdem ihm im Eisschollenfluss die Beine steif-<br />

gefroren waren, hatte er das Bewusstsein verloren und war in die eisi-<br />

gen Fluten gestürzt. Plumplum hatte noch seinen Arm ergreifen können<br />

und versuchte, ihn ans rettende Ufer zu ziehen. Da Plumplum aber gut<br />

zwei Köpfe kleiner war als der Hüne, reichte ihm das Wasser bis zur<br />

Nase. Auf Zehenspitzen tastete er sich vor, wurde von den reißenden<br />

Eisschollen umgestoßen und trieb, Hübeldübel fest an der Hand, selber<br />

hilflos mit der Flut. Schon spürte auch er, wie die beißende Kälte in seine<br />

Glieder kroch und seine Kräfte erlahmen ließ. Während Plumplum auf<br />

eine scharfe Flussbiegung zutrieb, war Rosalinde behände über die Eis-<br />

schollen gesprungen und lief am anderen Ufer geschwind mit. An der<br />

Flusswindung sah sie ihre Chance, die beiden zu retten. Plumplum, der<br />

sich kaum noch bewegen konnte, trieb direkt auf die Biegung zu. Rosa-<br />

linde konnte ihn an der Hand packen und an das Ufer ziehen. Glückli-<br />

cherweise hatte Plumplum noch genügende Kraftreserven, um sich und<br />

Hübeldübel auf das Land schleppen zu können, denn Rosalinde hätte die<br />

beiden nicht aus eigener Kraft herausziehen können.<br />

Schnell hatte Plumplum seinem erkalteten Freund die nassen Kleider<br />

ausgezogen und ihn in den Umhang Rosalindes eingewickelt. Dann hatte<br />

er ihn auf die Schultern genommen, und im Eilmarsch waren sie nach<br />

Stachelburg vorgerückt. Die Torwachen an der Stadtmauer hatten Rosa-<br />

linde geöffnet, da sie ja eine unverdächtige Stachelländerin war.<br />

Plumplum war, mit seinem bewusstlosen Freund auf dem Rücken, aus<br />

einem Gebüsch gesprungen und hatte nicht viel Federlesens mit der Tor-<br />

wache gemacht. Mit zwei Faustschlägen hatte er sie in das Reich der<br />

Träume befördert, sie blitzschnell mit ihren eigenen Gürteln gefesselt<br />

und sie in das Gebüsch vor der Stadtmauer geworfen. Zuvor hatte er<br />

ihnen noch die Schlüssel zum Tor abgenommen. Die ganze Aktion hatte<br />

nur drei kurze Atemzüge lang gedauert. Plumplum hatte es noch nicht<br />

einmal für nötig gehalten, dabei seinen Freund von der Schulter zu neh-<br />

men. Eine nicht zu bezähmende Wut reizte seinen Bauch, und er blub-<br />

berte so unheilvoll, dass Rosalinde sich zu fürchten begann. Plumplums<br />

121


Gedanken waren nur bei seinem steifen Freund auf seinem Rücken. Soll-<br />

te es ihnen nicht gelingen, ihn wieder zum Leben zu erwecken, würde er<br />

Stachelburg in eine Wüste verwandeln, aus der sogar die Ratten flüchten<br />

würden.<br />

Bei dem Vorfall am Stadttor hatte Rosalinde eine Ahnung davon<br />

bekommen, mit welch brachialer Gewalt diese wabbelanischen Kinds-<br />

köpfe sich durchschlagen konnten, und die nahenden Ereignisse sollten<br />

ihre Ahnungen mehr bestätigen, als ihr lieb war.<br />

»Wir müssen uns sputen«, mahnte sie. Schon holperten die ersten<br />

Karren an ihrer Hütte vorbei. Es war besser, unbemerkt von den Einwoh-<br />

nern in die Stachelburg zu gelangen. Sie hatten die Hütte bereits verlas-<br />

sen, als Plumplum stehenblieb. »Die Salzklumpen!« rief er. »Laßt uns die<br />

drei Salzklumpen mitnehmen.«<br />

Zwar war Rosalinde nicht ganz einverstanden, denn der Besitz von<br />

Salzklumpen bedeutete eine große Gefahr, aber sie ging noch einmal<br />

zurück und holte den Schatz unter ihrem Bett hervor. Verstohlen leckte<br />

sie ein paarmal daran. Ihr war etwas elend und bange zumute. In solch<br />

trüben Stimmungen halfen ihr merkwürdigerweise ein paar Krümel Salz.<br />

Sie konnte es sich selbst nicht erklären, und manchmal fürchtete sie, in<br />

eine ebensolche unheilvolle Abhängigkeit zu geraten wie die meisten der<br />

Stachelländer.<br />

Sie hatten Glück. Unbemerkt von den herumstreunenden Strauchdie-<br />

ben und den frühen Marktfrauen erreichten sie das Tor zur Stachelburg.<br />

Am helllichten Tage hätten die beiden Wabbelanier ein großes Aufsehen<br />

verursacht und wären vor lauter Schwierigkeiten vielleicht nicht einmal<br />

bis an den Burgwall gekommen. So aber standen die drei vor dem fest<br />

verriegelten Tor und überlegten, wie sie sich am besten Einlass verschaf-<br />

fen konnten.<br />

122


Drei Salzklumpen<br />

»Wie sollen wir bloß hineinkommen?« jammerte Rosalinde. Besorgt<br />

schaute sie sich nach allen Seiten um. Jeden Moment konnte eine<br />

Patrouille vorbeikommen. »Wenn wir doch nur einen Schlüssel für das<br />

Türschloss hätten.«<br />

»Mal sehen«, hustete Plumplum, »vielleicht passt der Schlüssel, den<br />

ich der Torwache abgenommen habe.«<br />

Er zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das Schloss<br />

des schweren Eichentores. Doch, der Bart des Schlüssels blieb stecken<br />

und ließ sich nicht drehen. Mit Sicherheit waren auch von innen Riegel<br />

vorgeschoben, so dass es ohnehin keinen Zweck hatte.<br />

Eine alte Idee kam Plumplum wieder in den Sinn. »Wenn mich nicht<br />

alles täuscht«, überlegte er, »haben wir den Generalschlüssel in der<br />

Tasche.« Und er erläuterte den ändern beiden seinen Plan. Daraufhin<br />

steckte sich jeder einen der drei Salzklumpen in die Tasche. Hübeldübel<br />

trat zur Seite. Plumplum hob einen Stein vom Boden und schlug ihn an<br />

die Eichenbohlen, denn einen Türklopfer oder eine Klingel gab es nicht.<br />

Nichts rührte sich. Erneut schlug der Recke den Stein an die Tür, diesmal<br />

so heftig, dass die Bohle einen Riss bekam. Ein entferntes Rascheln ant-<br />

wortete ihm. Plumplum versteckte sich ebenfalls in eine Mauernische.<br />

Dumpfe Schritte näherten sich. Jemand schob einen Riegel zur Seite,<br />

und eine kleine Luke in dem Tor öffnete sich. Übellaunig steckte ein<br />

grüngesichtiger Soldat seine spitze Nase durch, die Luke.<br />

»Was ist los?« stänkerte er und plierte aus glubschigen Augen Rosa-<br />

linde an. Mit angehaltenem Atem verfolgten die Wabbelanier den Dialog.<br />

»Stech dich, krtzkrr!« fauchte Rosalinde den Torwächter an. »ich<br />

muss sofort zu Generalissimo Krieger. Mach, auf, du Penner!«<br />

Überrascht spuckte der Soldat galligen Schleim durch die Luke. Von<br />

der Seite hörte er ein merkwürdiges Geräusch. Wenn er das Geräusch<br />

gekannt hätte, hätte er augenblicklich die Luke zugeworfen und Zeter<br />

und Mordio geschrien. Hübeldübel und Plumplum wabbelten nämlich vor<br />

Heiterkeit, als sie die dreisten Worte Rosalindes vernahmen.<br />

123


Der Soldat fand das weniger witzig. Misstrauisch beäugte er die<br />

selbstbewusste Frau. Das war doch das Marktweib mit den eklig süßen<br />

Broten. »Du hast wohl Sehnsucht nach einem salzigen Kuss?« meckerte<br />

er anzüglich.<br />

»Und du hast wohl Sehnsucht nach vier Wochen Arrest bei Honig und<br />

Wackelpudding. Beeil dich, Zuckerbübchen!«<br />

Der Soldat wurde bleich vor Wut. Zuckerbübchen war eines der<br />

schlimmsten Schimpfwörter. War die magere Frau lebensmüde, oder<br />

steckte doch mehr dahinter?<br />

»Um was geht es denn?« fragte er lauernd.<br />

»Um die Ration«, flüsterte Rosalinde ihm vertraulich zu. Sie zog ihren<br />

Salzklumpen aus der Rocktasche und hielt ihn vor die Luke. Vor Gier fie-<br />

len dem Wächter schier die Augen aus dem Kopf. Er zog sich zurück und<br />

tuschelte mit einem zweiten Soldaten, der zur Torwache gehörte. In Sta-<br />

chelland mussten die Soldaten immer zu zweit auf Wache gehen, denn<br />

sie hatten sich auch noch gegenseitig zu bespitzeln und mussten dem<br />

Geheimrat Ziegenlippe fortlaufend Dossiers über ihre Kameraden ablie-<br />

fern.<br />

Nach kurzer Beratung schoben sie die eisernen Riegel zurück, dreh-<br />

ten einen Schlüssel im Schloss und stießen die Torflügel auf. Wie hungri-<br />

ge Wölfe stürzten sie sich auf Rosalinde und warfen sie zu Boden.<br />

Plumplum und Hübeldübel waren für den ersten Augenblick wie gelähmt<br />

von der unersättlichen Gier, mit der die heruntergekommenen Strolche<br />

die Taschen der verängstigten Frau durchwühlten. Schon begannen sie<br />

die Kleider Rosalindes zu zerreißen, als eisenharte Fäuste wie Schraub-<br />

zwingen ihre Nacken umklammerten und sie hochrissen. Der Griff war<br />

von solch unbarmherziger Härte, dass sie augenblicklich das Bewusst-<br />

sein verloren. Hübeldübel und Plumplum warfen die Desperados achtlos<br />

in eine Ecke. Dann stürmten sie durch das offene Tor. Schluchzend und<br />

ihre Kleider ordnend folgte ihnen Rosalinde. Ohne zu zaudern nahmen<br />

die Wabbelanier den Weg durch die Maulwurfsröhre. Mehrmals stieß der<br />

hünenhafte Hübeldübel sich den Kopf in dem gruftigen Schlauch, doch er<br />

spürte keinen Schmerz. Keuchend gelangten sie in den verwahrlosten<br />

Spiegelsaal. Überall auf dem Boden lagen betrunkene Soldaten herum<br />

124


und schliefen ihren Rausch aus. Von Krtzkrr Krieger und der Militärjunta<br />

keine Spur. In einer Ecke entdeckten sie den Bauchladen Zippels. Die<br />

Kiste war leer. Rosalinde stieg über die schnarchenden Fuselleichen<br />

direkt zu dem Aufgang, den Zippel ihr beschrieben hatte. Die Wabbela-<br />

nier folgten. Dabei streifte Plumplum versehentlich mit seinem Kugel-<br />

bauch einen der versoffenen Soldaten. Dieser öffnete die Augen,<br />

schluckte vor Schreck und wollte zu schreien anfangen. Geistesgegen-<br />

wärtig stopfte Plumplum ihm einen Becher in den Schlund und verpasste<br />

ihm einen Hieb, von dem er sich nicht mehr erholen sollte.<br />

Eilig stiegen sie die Treppe hinauf. Von diesem Hauptstachelturm<br />

zweigten noch kleinere Nebentürme ab, die schief in den Himmel ragten.<br />

Die Plattform des Turmes war schon in Sicht, als aus einem dunklen Sei-<br />

tengang plötzlich zwei besonders zerrissene Gestalten hervorsprangen.<br />

Es waren die Soldaten Geierblick und Reibstein, die das Verlies Zippels<br />

zu bewachen hatten. Mit langen spitzen Lanzen jagten sie auf die Wab-<br />

belanier zu. Geierblick zielte mit seiner Lanze direkt in die Augen<br />

Plumplums. Der Wabbelanier konnte sich nicht rühren, denn hätte er<br />

einen Schritt zurückgesetzt, wäre er die steile Treppe hinuntergestürzt<br />

und hätte sich das Genick gebrochen. Derweil war Hübeldübel mit Reib-<br />

stein beschäftigt. Plumplum riß sich den zweiten Salzklumpen aus der<br />

Tasche und hielt ihn vor das Gesicht. Die Lanzenspitze traf auf den<br />

Klumpen, durchbohrte ihn und sprengte ihn in tausend Stücke. Der Auf-<br />

prall hatte die Richtung des Lanzenstoßes abgelenkt. Um Haaresbreite<br />

sauste die scharfe Schneide an Plumplums Gesicht vorbei, zerschnitt<br />

sein Ohr und blieb federnd in der Wand stecken. Diesen Augenblick<br />

nutzte Plumplum, um den Soldaten zu packen. Mit seiner ungestümen<br />

Kraft ratschte er in zwei Streichen die Uniform Geierblicks auseinander<br />

und riss ihm Jacke, Gürtel und alle daran hängenden Waffen vom Leib.<br />

Da kam auch schon Reibstein herübergeschossen, befördert von dem<br />

gnadenlosen Fußtritt Hübeldübels. Auch er hatte den Soldaten entwaff-<br />

net. Reibstein trudelte jaulend auf Geierblick zu, der von dem Stoß mit-<br />

gerissen wurde. Beide stürzten kopfüber die Treppe hinab und blieben<br />

besinnungslos an deren Ende liegen. Die Wabbelanier aber waren nun<br />

bis an die Zähne mit Lanzen, Schwertern und Pistolen bewaffnet.<br />

125


Atemlos hasteten sie weiter. Am höchsten Punkt des Turmes hielten<br />

sie vor einer schweren Holztür. Sie schoben die Eisenriegel beiseite.<br />

Doch die Kerkertür war zusätzlich mit einem Schloss abgesichert. Wieder<br />

passte der Schlüssel nicht. Hübeldübel schob Rosalinde beiseite, nahm<br />

Anlauf und warf seinen gewaltigen Körper gegen die Bohlen. Das Schloss<br />

brach. Holzsplitter drangen in den rechten Oberarm des Hünen. Mit<br />

schmerzverzerrten Gesicht trat er zurück. Plumplum besorgte den Rest.<br />

Die Tür sprang auf.<br />

»Zippel!« brüllten die beiden Hüter des Wabbelsteins und wollten den<br />

Schneider umarmen. Sie stutzten. Ein sehniger, muskulöser und wetter-<br />

gegerbter Kerl stand in seiner ganzen Länge vor ihnen, die Arme in die<br />

Hüften gestemmt. »S'wabbelt!« brüllte er zurück, und die voluminöse<br />

Stimme erfüllte den ganzen Stachelturm. »Willkommen in meiner Palast-<br />

suite.«<br />

»Stech dich in die Beine«, lachte Plumplum und puffte den Schneider<br />

gehörig an, um ihn wie gewohnt über seine Glasnudelbeine stolpern zu<br />

lassen. »Autsch!« brüllte er gleich hinterher, denn Zippel war um keinen<br />

Zentimeter von der Stelle gewichen, so dass Plumplum wie ein Gummi-<br />

ball zurückprallte.<br />

»Ich fürchte, wir haben jetzt keine Zeit für solche Scherze«, mahnte<br />

Zippel. Nun erst gewahrte er Rosalinde, die in der zerborstenen Türöff-<br />

nung wartete. Rasch ging er auf sie zu. Fragend blickte sie ihn aus ihren<br />

klaren blauen Augen an. Plötzlich wurde er sich der Anwesenheit seiner<br />

Freunde bewusst. Er stockte. Dabei hatte er sich in den Stunden der<br />

Gefangenschaft alles so schön ausgemalt. Er würde sie einfach in die<br />

Arme nehmen. Vielleicht würde er sie sogar küssen. In den kurzen Minu-<br />

ten seines unruhigen Schlafes hatte er von ihren Augen und ihren Lippen<br />

geträumt. Und jetzt stand er wie ein Esel und stotterte linkisch ein paar<br />

dumme Dankesworte. Hübeldübel löste die verkrampfte Situation: »Ahoi<br />

junge Dame. Wie wär es, wenn mir jemand die Splitter aus dem Arm<br />

entfernen würde?«<br />

Während Rosalinde behutsam die Splitter aus dem Arm zog, verriet<br />

Zippel seinen Kameraden in knappen Worten das Versteck des Wabbel-<br />

steins. »Sechzig Schritte durch die Maulwurfsröhre, rechts eine Geheim-<br />

126


tür, hundertvierzig Stufen abwärts in die Salzhöhle. Dann ein loser Salz-<br />

turm in Form einer riesigen Eieruhr, dahinter das Loch mit dem Wabbel-<br />

stein.«<br />

Nachdem Rosalinde notdürftig den Arm verbunden hatte, schlichen<br />

sie wieder hinab zum Spiegelsaal.<br />

Um in den Spiegelsaal zu gelangen, mussten sie über die Körper<br />

Reibsteins und Geierblicks steigen. Kaum hatten sie diese Hürde genom-<br />

men, wollten gerade den Saal durchqueren, als ihnen ein höllisches<br />

Gelächter entgegenschallte. Mitten im Unrat des Saales stand, einem<br />

Bollwerk gleich, Hauptmann Bleifuß. Alle Ausgänge waren mit Soldaten<br />

besetzt. Der Ausgang zur Maulwurfsröhre war doppelt gesichert. Hier<br />

hatten Oberst Speiteufel und Geheimrat Ziegenlippe dreißig Söldner in<br />

Stellung gebracht. Alle Fluchtwege waren abgeschnitten.<br />

»Hoho!« brüllte Hauptmann Bleifuß, dessen Bein mit schmutzigen,<br />

blutgetränkten Lumpen verbunden war, und der sich inzwischen wieder<br />

humpelnd fortbewegen konnte. »Hoho, was für eine ehrenwerte Gesell-<br />

schaft. Können wir irgendwie behilflich sein?«<br />

Ein gehässiges Grölen antwortete ihm. Fünfzig Lanzenspitzen waren<br />

auf die vier gerichtet.<br />

Unerschrocken trat Hübeldübel einen Schritt vor und rief: »Gewiss,<br />

mein Freund. Für ein Schnupftuch wäre ich schon recht dankbar.« Zum<br />

Beweis krachte ein solch mächtiger Nieser aus seiner Brust, dass fast<br />

alle Funzeln des Saales ihr blakendes Leben aushauchten. In der plötzli-<br />

chen Dunkelheit waren nurmehr die Umrisse der Männer zu erkennen.<br />

»Der Humor wird dir gleich vergehen«, giftete Bleifuß, »hast wohl<br />

Bekanntschaft mit dem Eisschollenfluss gemacht, he?«<br />

»Nun«, höhnte Hübeldübel, »es geht doch nichts über ein frisches<br />

Bad. Es soll Leute geben, die dafür ihr Bein hergeben. Können wohl<br />

ihren eigenen Gestank nicht mehr aushalten. Hatschi!«<br />

Hauptmann Bleifuß schnappte nach Luft. Das war zuviel. Wütend riß<br />

er seine Pistole aus dem Halfter und richtete sie auf Hübeldübel. In einer<br />

blitzartigen Reflexbewegung hatte auch Hübeldübel seine erbeutete Pis-<br />

tole in Anschlag gebracht. Zur gleichen Zeit drückten beide ab. Es mach-<br />

te zweimal: Klick. Kein Schuss löste sich. Fluchend warf Bleifuß seine<br />

127


Waffe in die Ecke. »Achtung!« brüllte er, »jemand hat die Munition ent-<br />

fernt. Nehmt die Schwerter und Lanzen!« Ohne einen Augenblick zu<br />

zögern warf er mit seiner kolossalen Kraft seine Lanze gegen Hübeldü-<br />

bel. Hübeldübel duckte sich und sprang auf Bleifuß zu. Die Lanze ver-<br />

fehlte ihn, schoss in die Wand des Spiegelsaals, zersplitterte die Bohlen,<br />

krachte in das dahinterliegende Mauerwerk, wo sie funkensprühend zer-<br />

brach.<br />

Auch die übrige Meute hatte sich auf die Wabbelanier gestürzt. Rosa-<br />

linde war zitternd in eine dunkle Ecke gekrochen und hatte sich hinter<br />

Zippels Bauchladen versteckt. Von hier aus beobachtete sie den unglei-<br />

chen Kampf. Plumplum hatte schon drei Soldaten niedergeschlagen und<br />

war von sechs wild schreienden Söldnern umgeben, die aber ihre Lanzen<br />

nicht gebrauchen konnten, da sie sich in der Dunkelheit selbst abgesto-<br />

chen hätten. Auch Zippel verteilte Hiebe und Stöße und hielt sich mit<br />

seinen langen, sehnigen Armen etliche Stachelländer vom Leib. Doch auf<br />

die Dauer, das merkten beide schnell, waren sie der Übermacht unterle-<br />

gen. Es musste schon ein Wunder geschehen, um sie hier wieder heil<br />

herauszubringen.<br />

Der Kampf tobte. Nur Rosalinde bemerkte in der Hitze des Gefechts,<br />

dass einer im Saal fehlte: Generalissimo Krtzkrr Krieger. Er war wie vom<br />

Erdboden verschwunden. Ein lähmendes Entsetzen überfiel die verängs-<br />

tigte Frau. Was hatte Krieger vor? Sie schaute sich um. Hübeldübel war<br />

in einen gigantischen Kampf mit Bleifuß verwickelt. Beide waren durch<br />

ihre Wunden geschwächt, Hübeldübel durch die Splitter am Arm, Bleifuß<br />

durch Zippels Schlag mit der Kratzbürste. Vergeblich versuchte Bleifuß,<br />

seinen Gegner mit seiner gefürchteten Prothese niederzustampfen.<br />

Hübeldübel war zu flink. Andererseits konnte Hübeldübel den Haupt-<br />

mann auch nicht mit seinen Keulenarmen umfassen und ihn zerquet-<br />

schen, denn sein rechter Arm war von den Splitterwunden fast gelähmt.<br />

Plötzlich hörte der Hüne seinen Namen. Es war Rosalindes Stimme. War<br />

sie in Gefahr? Er drehte sich um. »Krieger ist verschwunden«, wimmerte<br />

sie, »wir müssen sofort zum Wabbelstein.«<br />

Da traf ihn wie ein Dampfhammer das bleigefüllte Holzbein des<br />

Hauptmanns. Hübeldübel brach zusammen.<br />

128


Mit heillosem Entsetzen beobachtete Rosalinde aus ihrer Ecke, was<br />

sie mit ihrem Ruf angerichtet hatte. Hübeldübel war ausgeschaltet.<br />

Plumplum, der zwar eine ganze Reihe von Soldaten erledigt hatte, würde<br />

es nun auch noch mit dem eisenharten Bleifuß zu tun bekommen. Und<br />

Zippel war mit seinen Kräften am Ende. Mit dem Mut der Verzweiflung<br />

sprang Rosalinde auf, hielt sich Zippels Kiste schützend vor die Brust<br />

und arbeitete sich bis zu dem bewusstlosen Hünen vor. Sie griff in seine<br />

Tasche und zog den dritten Salzklumpen heraus. Schon hatte Bleifuß<br />

Plumplum in die Mangel genommen, trieb ihn gnadenlos durch den Saal.<br />

Rosalinde zerbröckelte den Klumpen in hundert kleine Stücke. Dann<br />

stand sie auf und rief so laut sie konnte: »Salz! Hundert Stücke reinstes<br />

Salz!«<br />

Mit einem Schlag verstummten die Kampfgeräusche. Nur Bleifuß und<br />

Plumplum wälzten sich am Boden und schlugen aufeinander ein. Zippel<br />

lag keuchend und blutend unter einem Haufen Stachelländer, die gerade<br />

vorhatten, ihn zu fesseln. Der Kampf war praktisch entschieden. »Salz!«<br />

rief Rosalinde noch einmal. Sie öffnete ihre Hände und zeigte die glit-<br />

zernden Kristalle. Mit weit ausholender Gebärde warf sie die hundert<br />

Stücke über die Köpfe der Soldaten in den düsteren und verwüsteten<br />

Saal.<br />

129


Der Lohn der Gier<br />

Rosalindes Ahnungen, dass Krtzkrr Krieger etwas Grausames vorhat-<br />

te, bewahrheiteten sich in einem ganz anderen Sinn, als sie es sich je<br />

vorstellen konnte. Und nie würden sie und die Wabbelanier erfahren,<br />

was sich unten in der Tropfsteinhöhle abspielte, während oben im Spie-<br />

gelsaal der ungleiche Kampf tobte. Tief im Erdinneren, hundertvierzig<br />

Stufen abwärts, war die Natur außer Rand und Band geraten. Eisige<br />

Regenfälle strömten von den Kuppeln der Höhle, verdampften noch im<br />

Fall zu Wolken und Schwaden, die wabernd durch die Gewölbe trieben.<br />

Die Salzkegel, -türme und -zapfen waren zu mächtigen Stämmen ange-<br />

wachsen, die durch die munter plätschernden Rinnsale ständig zunah-<br />

men. Wie Tempelsäulen reihten sich die Salzgebilde aneinander, und die<br />

schmalen Gänge zwischen ihnen verengten sich zusehends. Viele der<br />

Säulen waren durch den starken Salzzufluss bereits so verdickt, dass sie<br />

sich mit den Nachbarsäulen vereinigten und einen undurchdringlichen<br />

Palisadenzaun bildeten. In den Kuppeln gewitterte ein Krachen und Rei-<br />

ßen, und wer genauer hingeschaut hätte, hätte zu seinem Entsetzen<br />

bemerkt, dass die Decke bebte und knarzte, dass mit gequältem Krei-<br />

schen die Felsen auseinanderrissen und aus den gezackten Spalten Eis-<br />

brocken polterten, die wiederum Bäche von Eiswasser freigaben. Die<br />

kathedralenartige Höhle, die durch den übermäßigen Salzwuchs schon<br />

merklich enger und kleiner geworden war, wurde von einer grellen glei-<br />

ßenden Lichtquelle erhitzt. Es konnte sich nur um den Wabbelstein han-<br />

deln, der die rasende Wachstumsbeschleunigung hervorrief. Und tat-<br />

sächlich war die Öffnung des Verstecks freigelegt worden, das Loch leer.<br />

Mit weit aufgeschlagenem Deckel ruhte der Schrein auf einem felsigen<br />

Altar, und das funkelnde Licht des Wabbelsteins warf seine elektrisieren-<br />

den Strahlen durch den unterirdischen Dom. Vor dem Schrein hockte ein<br />

uralter Mann. Schlohweiße Haare fielen ihm von den Schultern, und ein<br />

verfilzter grauer Bart verdeckte seine Brust. Wie versteinert verharrte<br />

der Greis in seiner verkrümmten Stellung. Nur ein trockenes Beben sei-<br />

ner Lippen verriet, dass sein Herz noch schlug, sein Blut noch nicht<br />

130


erkaltet war. Unter einem magischen Zwang waren seine blinden toten<br />

Augen auf das verzehrende Feuer des Wabbelsteins gerichtet. Seine<br />

Umwelt schien er völlig vergessen, verloren zu haben. Unablässig tropfte<br />

Salz- und Eiswasser auf seine Haare und seine Schultern, doch mit kei-<br />

nem Zucken ließ er erkennen, dass er sie überhaupt nur wahrgenommen<br />

hatte. Eine dicke Kruste aus Salzkristallen bildete sich langsam auf sei-<br />

ner Haut und schälte ihn ein. Seine Knie waren über und über mit Salz-<br />

ablagerungen bedeckt, an denen das Wasser herabtroff. Allmählich ver-<br />

wuchsen und verschmolzen seine verkrusteten Beine mit dem glitzern-<br />

den Höhlenboden. Noch verrieten einige durchschimmernde Fetzen sei-<br />

ner Kleidung die Herkunft und den Stand des Alten. Es war die Uni-<br />

formjacke des Generals Krtzkrr Krieger, die von dem rieselnden Salz<br />

Schicht um Schicht zugedeckt wurde.<br />

Ein fremdes Geräusch mischte sich plötzlich in das Stöhnen der ent-<br />

fesselten Natur. Begleitet von dem unrhythmischen Stoßen eines<br />

Stockes näherte sich ein humpelnder Schritt. Ein unmerklicher Ruck ging<br />

durch den steifen Körper des Alten. Kurz vor dem Wabbelstein verhielt<br />

der Schritt, und eine mitleidlose knochige Hand tastete den um Jahr-<br />

zehnte gealterten General ab.<br />

»Hörst du mich, Krtzkrr Krieger?« rief die Zöllnerin, denn sie war es,<br />

die furchtlos in den Bannkreis des Wabbelsteins getreten war. Ein Zittern<br />

verriet der alten Frau, dass Krieger in seinem Panzer aus Salz noch nicht<br />

erstickt war.<br />

»So also wird sich das Schicksal erfüllen«, rief sie ihm ins Ohr, und<br />

sie lachte freudlos auf. »Endlich bist du am Ziel deiner teuflischen Gier.<br />

Wie schmeckt der Lohn deines Hasses und deiner<br />

Menschenverachtung?«<br />

Mit kalten Fingern fuhr die Zöllnerin über die salzverkrusteten Lippen<br />

des Generals. »Ich weiß schon , was du denkst«, murmelte sie tonlos,<br />

»Wimmerst du? Winselst du? Oder befiehlst du herrisch: Bring mich hier<br />

heraus! Schließlich bist du meine Frau!«<br />

Ein grausiges Stöhnen gurgelte aus der Brust des Generals. Einzelne<br />

Salzbrocken fielen von der Uniformjacke.<br />

131<br />

»Ach ja«, fuhr die Zöllnerin unerbittlich fort, »wie solltest du mich


erkannt haben. Ich war ja noch eine junge Frau, als du mich nach Wab-<br />

belanien schicktest, um den Wabbelstein zu stehlen.«<br />

Das Zittern des vergreisten Generals verstärkte sich. Mit einer<br />

unmenschlichen Anstrengung versuchte Krieger, seinen Salzpanzer zu<br />

sprengen.<br />

»Fast hätte ich deinen Wunsch erfüllt«, fuhr die Zöllnerin unbeirrt<br />

fort, »jeden deiner Wünsche hätte ich erfüllt. So sehr habe ich dich<br />

geliebt. Doch auch ich war verloren, als ich den Schrein öffnete. Um<br />

dreißig Jahre war ich gealtert, als Königin Wabbeline mich fand. Doch sie<br />

hatte großes Mitleid mit mir. Aber es war noch etwas geschehen.«<br />

Prüfend tastete die Zöllnerin das verkrustete Gesicht des Generals. Er<br />

lebte noch und hörte sie. Kalte Schweißtropfen mischten sich in das<br />

unablässig tropfende Salzwasser. Die verbogene alte Frau nahm ihren<br />

Stock.<br />

»Jetzt kannst du es ja erfahren, Krtzkrr. Damals trug ich eine Tochter<br />

aus. Mein Leib hat sie vor den Strahlen des Wabbelsteins geschützt. Es<br />

ist unsere gemeinsame Tochter. Sie wird einen guten Mann bekommen.<br />

Keinen Stachelländer. Keinen Soldaten. Keinen Wegelagerer oder<br />

Strauchdieb. Es wird ein herzensguter Schneider aus Wabbelanien sein.«<br />

Bei den letzten Worten entrann ein hasserfülltes Krächzen der Brust<br />

des Generals. Seine blinden Augäpfel quollen aus ihren Höhlen und<br />

sprengten die verkrustete Schicht. Mit einem tierischen Grunzen spuckte<br />

der Diktator Salzklumpen aus, die er in seiner Gier gefressen hatte. Ein<br />

donnerndes Grollen antwortete ihm. Aus einem tiefen Spalt, der die<br />

Kuppel aufgetrennt hatte, strömten Wassermassen, die Eisschollen mit<br />

sich rissen. Einzelne Salzzapfen und -kegel brachen unter der Last der<br />

felsigen Decke zusammen. Von der Treppe, die zur Stachelburg hinauf-<br />

führte, schallten gehetzte Schritte, Kampfgetöse und wilde Schreie.<br />

Ohne Hast hob die Zöllnerin ihren Stock und bahnte sich humpelnd und<br />

schleifend einen Weg durch die anschwellenden Salzzapfen. Bald verlor<br />

sich ihr krummer Rücken in den feuchten Treibhausschwaden aus Dampf<br />

und Wassertropfen. Seit dieser Stunde wurde die Zöllnerin nicht mehr<br />

gesehen.<br />

132


Flucht<br />

Rosalinde war die erste, die die Tropfsteinhöhle erreichte. Nachdem<br />

sie oben im Spiegelsaal die hundert Stücke Salz über die Kämpfenden<br />

geworfen hatte, waren die Söldner wie ausgehungert über die Krümel<br />

hergefallen. Hauptmann Bleifuß, der das Ablenkungsmanöver sofort<br />

durchschaut hatte, hatte einen grässlichen Fluch ausgestoßen. Diesen<br />

Moment der Unachtsamkeit hatte Plumplum genutzt, um ihn niederzu-<br />

schlagen. Inzwischen war der unverwüstliche Hübeldübel, wenn auch<br />

schwankend, wieder auf die Beine gekommen. Unter der Führung Zip-<br />

pels flüchteten sie durch die Maulwurfsröhre. Vorher hatte sich Zippel<br />

noch, einer plötzlichen Eingebung folgend, seine leere Kiste um den Hals<br />

gehängt. Nach sechzig Schritten stoppten sie. Der Schneider tastete die<br />

rechte Wand ab. Sie hatten Glück. Die Geheimtür stand nur angelehnt<br />

und öffnete sich auf den Druck von Zippels Fingern. Ein schwacher Licht-<br />

strahl fiel in die Maulwurfsröhre. Plumplum schob Rosalinde und Zippel<br />

in den Treppenschacht. Er und Hübeldübel würden den Rückzug sichern.<br />

Und sie kamen auch schon. Der eisenharte Bleifuß, der nur kurz nie-<br />

dergegangen war, hatte die salzlutschenden Söldner brutal aus dem<br />

Spiegelsaal gejagt. Ihm war längst klar geworden, dass es inzwischen<br />

um das Überleben Stachelburgs ging. Mit erbarmungsloser Rohheit warf<br />

er seine Soldaten ins Gefecht. Stufe um Stufe kämpften sie sich vor, und<br />

die Wabbelanier mussten wohl oder übel zurückweichen, sonst wären sie<br />

erschlagen worden.<br />

Rosalinde, die die letzten Stufen mehr gestolpert als gestiegen war,<br />

blieb überrascht stehen. Mit ohrenbetäubendem Krachen brachen die<br />

Salzkegel in sich zusammen. Die Kuppeldecke war an mehreren Stellen<br />

geborsten. Eiswasser schwappte herunter. Der Boden war knöcheltief<br />

mit Wasser überflutet, auf dem Eisschollen dampfend auftauten. Zippel<br />

verlor keine Sekunde und watete zu dem Altar, auf dem der Wabbelstein<br />

seine Strahlen aussandte. Ohne auch nur einen Augenblick zu verweilen,<br />

warf er den Deckel des Schreins zu. Das gleißenden Licht fiel in sich<br />

zusammen. Fahl und leblos schimmerten die Salzgebilde. Mit dem<br />

133


Deckelschlag hatte auch das rasende Wachstum aufgehört.<br />

Keuchend kamen Hübeldübel und Plumplum angerannt. Sie hatten<br />

sich einen kleinen Vorsprung verschafft. Plumplum riss Zippel die Kiste<br />

von der Schulter und legte den Schrein mit dem Wabbelstein hinein.<br />

Nachdem er sich die Kiste umgehängt hatte, brüllte er: »Nichts wie<br />

weg!«<br />

Jetzt erst bemerkte er, wie Zippel und Rosalinde beklommen auf<br />

einen Salzturm starrten, der anders, unregelmäßiger aussah als die<br />

übrigen Kegel. »Man sollte meinen...« krächzte Plumplum, aber er<br />

sprach seinen Gedanken nicht aus. Auch er und Hübeldübel fühlten die<br />

seelenlose Kälte, die das eigenartige Salzgebilde ausstrahlte. Eine<br />

schleichende, unausweichbare Bedrohung ging von dem Haufen aus.<br />

Rosalinde fühlte einen Stich in ihrer Brust, als sei ein eisiges Messer in<br />

ihr Herz gedrungen. Zippel fing zu bibbern an.<br />

»Sie kommen!« schrie Hübeldübel und puffte die anderen an. Die<br />

ersten Söldner hatten das Ende der Treppe erreicht. Salz! Überall Salz!<br />

Hauptmann Bleifuß schob sie beiseite. Wie vom Schlag getroffen stand<br />

er im eisigen Wasser, das unaufhörlich anschwoll. Lange schon hatte er<br />

etwas geahnt, hatte das heimliche Verschwinden Kriegers und Ziegenlip-<br />

pes bemerkt. Ein solch riesiges Salzvorkommen hatte er allerdings nicht<br />

vermutet.<br />

Rosalinde war beim Anblick der Soldaten verängstigt in das Loch<br />

gekrochen, in dem der Wabbelstein versteckt gewesen war. Tapfer hatte<br />

sich Zippel davor aufgebaut. Die Hüter des Wabbelsteins blickten sich,<br />

um: der hintere und tiefere Teil der Höhle war inzwischen vollständig<br />

überflutet. Der Ausgang zur Treppe war mit Söldnern besetzt, von denen<br />

immer mehr nachkamen. Siegessicher hatte Bleifuß seine schwere Bein-<br />

prothese auf die unterste Stufe gesetzt. Sie saßen in der Falle. Zwar<br />

hatten einige der Söldner beim Anblick des Salzreichtums den Verstand<br />

verloren und hingen lutschend und kauend an den Kegeln. Allein an<br />

Hauptmann Bleifuß würden sie nicht vorbeikommen.<br />

Wieder fing die Kuppeldecke an zu knarzen und zu reißen. Der Eis-<br />

wasserstrom nahm zu. Die Wabbelanier, die den höchsten Punkt der<br />

Höhle besetzt hatten, bekamen nasse Füße. Wenn sie noch lange warte-<br />

134


ten, würden sie wie die Ratten ertrinken. Ein dumpfes Grollen ließ die<br />

Tropfsteinhöhle erzittern. Oben an der Kuppeldecke hatte sich ein riesi-<br />

ger Eisberg aus zusammengefrorenen Eisschollen in der Spalte ver-<br />

klemmt und lastete mit seinem ganzen Gewicht auf der rissigen Felsen-<br />

decke. Für einen Augenblick versperrte er die Eiswasserzufuhr. Weitere<br />

Schollen prallten auf den Eisberg. Die Decke gab nach. Eisschollen, Fel-<br />

sen und tonnenschwere Wassermassen prasselten herab. Wie giganti-<br />

sche Dolche stürzten die Salzzapfen in die Tiefe und zerstoben beim Auf-<br />

prall in tausend kristalline Stücke. Zippel fühlte, wie eine magere Hand<br />

seinen Ärmel packte und ihn in das Versteck des Wabbelsteins zerrte.<br />

»Mir nach!« rief er und kroch tiefer in die Öffnung. Plumplum und<br />

Hübeldübel krochen hinterher, ohne sich der Gefahr bewusst zu werden,<br />

in dem Loch zu ersticken. Hinter ihnen schütteten die herabprasselnden<br />

Felsmassen die Öffnung zu. Das Loch schien kein Ende zu nehmen. Wei-<br />

ter und weiter krochen sie. Die verbrauchte Luft schnürte ihre Lungen<br />

ein. Das Toben und Grollen des zusammenstürzenden Infernos folgte<br />

ihnen wie ein fernes Gewitter. Allmählich weitete sich das Loch zu einem<br />

steinigen Gang, der steil in die Höhe führte. Die Temperatur sank. Eisige<br />

Tropfen glitzerten an den Felsen. Ein weit entfernter Lichtstrahl über<br />

ihren Köpfen kündete von einer Öffnung, einem rettenden Ausgang. Auf<br />

Händen und Knien kletterten sie an den glitschigen Felsen hoch.<br />

Plumplum, der als Letzter folgte, sah die Hand vor den Augen nicht,<br />

denn die anderen verdeckten den spärlichen Lichtstrahl. Plötzlich hielt er<br />

an und blinzelte. Der freigegebene Lichtschein blendete ihn. Über ihm<br />

lugte der birnenförmige Kopf Hübeldübels aus einer hellen Öffnung und<br />

lachte ihn breit an. »Ahoi«, rief er und streckte ihm seinen Arm entge-<br />

gen, »Zier dich nicht, Maulwurf. Zeit für ein erfrischendes Bad.«<br />

Sie waren gerettet. Der geheime Gang mündete direkt am Ufer des<br />

Eisschollenflusses, kurz bevor dieser in der Erdspalte verschwand. Durch<br />

das Flimmern der lauen Mittagsstunde ragten weit drunten im Tal die<br />

Spitzen der Stacheltürme in den Himmel und kratzten an den tiefhän-<br />

genden Schäfchenwolken.<br />

»Schaut nur!« rief Rosalinde, »die Stacheltürme bewegen sich.« Wie<br />

von Geisterhand bewegt, hatten die Stacheltürme zu schwanken und zu<br />

135


eben begonnen. Noch einmal ließ das ferne unterirdische Toben den<br />

Grund erzittern. Die letzten tragenden Säulen und Pfeiler der Tropfstein-<br />

höhle sackten in sich zusammen. Ächzend fuhr der steile Hauptturm in<br />

das Erdreich. Die schrägen Seitentürme brachen ab und fielen auf die<br />

marode Hüttenstadt. Feuer brach aus und breitete sich in Windeseile<br />

aus. Stachelburg versank in Schutt und Asche.<br />

136


Die Heimkehr<br />

Glücklicherweise lag der Ausgang des Geheimganges auf der richti-<br />

gen Seite des Eisschollenflusses. So brauchten sie ihn nicht noch einmal<br />

zu überqueren. Da die Mittagssonne schon ihren höchsten Punkt über-<br />

schritten hatte, beeilten sich die vier, denn sie wollten noch vor Einbruch<br />

der Nacht Wabbelburg erreichen. Die Erleichterung über die Rückerobe-<br />

rung des Wabbelsteins beflügelte ihre Schritte. In der Vorfreude auf die<br />

Heimkehr fingen die Wabbelanier an zu pfeifen und zu singen. Merklich<br />

stiller folgte ihnen Rosalinde. Ihr war bange zumute. Was würde sie in<br />

Wabbelanien erwarten? Wie würde diese Melanie reagieren bei ihrem<br />

Auftauchen?<br />

Nach einer guten Stunde hatten sie das Gebirge erklommen und den<br />

Scherbenpass erreicht, die letzte Hürde auf dem Weg in ihr geliebtes<br />

Wabbelanien. Hübeldübel und Plumplum, die die Tücken des Passes<br />

schon kannten, kamen unversehrt hindurch. Auch Rosalinde lief behände<br />

über die losen Scherbenhaufen und wich geschickt den scharfkantigen<br />

Rändern aus. Dagegen wurde Zippel von einer herabsegelnden Schiefer-<br />

tafel an der Schulter verletzt. Rasch zog Hübeldübel den taumelnden<br />

Schneider in Sicherheit. Rosalinde gab ihr letztes Tuch, um den Verletz-<br />

ten zu verbinden.<br />

Unbehaglich sah Plumplum sich um. Was war, wenn sich die Soldaten<br />

unter Hauptmann Bleifuß doch hatten retten können? Wenn sich die<br />

übrigen Stachelländer zusammenrotteten und ihnen nachstellten? Der<br />

unbewachte Scherbenpass bot keine Sicherheit vor irgendwelchen Ein-<br />

dringlingen, schon gar nicht vor den geifernden Stachelländern, die nach<br />

der Zerstörung Stachelburgs sich vor Hass geradezu verzehren mussten.<br />

»Wartet einen Augenblick«, sagte Plumplum. Er schulterte sich die<br />

Kiste mit dem Wabbelstein und stapfte zurück zum Scherbenpass.<br />

»He, was hast du vor?« rief Hübeldübel, aber er hielt seinen Freund<br />

nicht auf.<br />

»Aaah!« brüllte Plumplum wie gewohnt, »was sind schon ein paar<br />

Jahre.« »Was meint er damit?« fragte Rosalinde, und auch Zippel ver-<br />

137


stand die rätselhafte Bemerkung nicht.<br />

Hübeldübel schwieg. Zu lange waren er und Plumplum schon zusam-<br />

men, als dass er nicht gewusst hätte, was in seinem Kameraden vor-<br />

ging. »Alter Esel«, brummte er, »kielholen sollte man dich.«<br />

Die drei beobachteten, wie der kugelrunde Recke vor dem Scherben-<br />

pass haltmachte und an seiner Kiste hantierte. Plötzlich blitzte es auf,<br />

ein grelles Licht erstrahlte die Schlucht, und die hohen Felsen zu beiden<br />

Seiten fingen zu dampfen an. Geblendet wandten sich die drei von dem<br />

gleißenden Feuerschein ab. Immer stärker heizte der Strahl des Wabbel-<br />

steins die Felsen auf, bis sie weiß glühten. Ganz Stachelland wurde von<br />

der Lichtglocke überstülpt.<br />

Da explodierte der Scherbenpass. Die Gebirgskappen sprengten ab.<br />

Tonnen von Scherben und Schiefern prasselten auf den Durchgang und<br />

verschütteten ihn. Aus zwei schlundartigen Öffnungen spie der Berg Glut<br />

und Feuer. Ein breiter Lavastrom wälzte sich in das Stachelland hinein<br />

und wurde erst durch den Eisschollenfluss aufgehalten. Brodelnd kroch<br />

die heiße Masse in das Flussbett. Das Wasser fing zu kochen an. Damp-<br />

fend tauten die Eisschollen, stiegen als schwere dichte Wolken auf und<br />

warfen düstere Schatten auf das Land. Die Lava, die sich in den Fluss<br />

wälzte, erstarrte zu einem schwarz glänzenden Gestein. Lange konnten<br />

die tiefhängenden Wolken ihre nasse Fracht nicht halten, und alsbald<br />

gingen wochenlange Regenschauer auf Stachelland nieder. Die verkom-<br />

menen Bewohner, obschon einiges gewohnt, flüchteten in das benach-<br />

barte Kloakien oder ins Niemandsland. Die Ratten ertranken in ihren<br />

Löchern und machten Bisamratten und anderen Wassertieren Platz. Da<br />

der Lavastrom im Zusammenprall mit den stetig nachfließenden Eis-<br />

schollen für unaufhörliche Wolkenbildung sorgte, nahmen die Regen-<br />

schauer nicht mehr ab. Felder und Wege weichten auf, und die Hütten<br />

versanken im Schlamm. Das gefürchtete Stachelland verwandelte sich in<br />

ein unwegsames Regenland, das im Laufe der Jahre von merkwürdigen<br />

Wesen besiedelt wurde mit Schwimmflossen zwischen Fingern und<br />

Zehen, Schuppen auf der Haut und flatternden Kiemen am Hals. Sie<br />

nannten sich Aquanier. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis aus den<br />

Atlanten und Schulbüchern der Name Stachelland durch das Wort Aqua-<br />

138


nien ersetzt wurde.<br />

Torkelnd kam Plumplum von dem für immer verschlossenen Scher-<br />

benpass zurück. Ein ellenlanger Bart wehte von seinem Kinn. »Seid ihr<br />

angewachsen?« bellte er die Wartenden an und setzte sich an die Spitze<br />

des Trupps. Stumm folgten die anderen. Die Heldentat Plumplums hatte<br />

ihnen die Sprache verschlagen. Für die Sicherheit Wabbelaniens hatte er<br />

ein paar Jahre seines Lebens geopfert. Wer sonst hätte das auf sich<br />

genommen?<br />

Hatten sie zunächst geglaubt, ihnen würde ein triumphaler Empfang<br />

bereitet werden, so wurden sie bitter enttäuscht. Als sie sich der ersten<br />

wabbelanischen Ansiedlung näherten, flüchteten die Menschen schreiend<br />

in ihre Häuser und verbarrikadierten sich. In Windeseile verbreitete sich<br />

die Nachricht, dass eine Horde wüst aussehender und fluchender Mord-<br />

brenner aus Stachelland eingefallen war und sich brandschatzend auf<br />

Wabbelburg zubewegte. Je näher sie der Hauptstadt kamen, desto wil-<br />

der wurden die Gerüchte. Die Orte, durch die sie marschierten, glichen<br />

verlassenen Geisterstädten, deren Einwohner in panischer Angst in die<br />

Felder und Wälder geflüchtet waren.<br />

Die gute Laune der drei Wabbelanier verschlechterte sich, denn sie<br />

hatten Hunger und Durst. Rosalinde wunderte sich nur, denn sie konnte<br />

ja nicht ahnen, welchen verheerenden Eindruck sie auf die Einwohner<br />

machten. Am schlimmsten sah Hübeldübel aus. Humpelnd und niesend<br />

polterte der Hüne über das Pflaster. Sein verletzter Arm war notdürftig<br />

verbunden. Rosalinde hatte ihr Kopftuch hergegeben, um den Arm<br />

rechtwinklig hochzubinden. Plumplum war durch den ellenlangen Bart<br />

entstellt. Zippels Kleider hingen in Fetzen von seinen Knochen. Und<br />

Rosalinde war unschwer als echte Stachelländerin in ihrem zerlumpten<br />

Kleid auszumachen. Zudem klebte ihr langes Haar in staubgrauen Sträh-<br />

nen in ihrem Gesicht, und auch ihre Platzwunde über der Augenbraue<br />

war noch nicht ausgewaschen. Alle vier strotzten vor Schmutz und<br />

geronnenem Blut, und ein Geruch von säuerlichem Moder eilte ihnen<br />

voraus.<br />

Wie nicht anders zu erwarten, fanden sie die Fähre am Ufer des Glib-<br />

bersees verlassen vor. Sie legten selbst Hand an und ruderten über den<br />

139


See. Sogar die Bienen auf der Polleninsel hatten sich in ihre Körbe ver-<br />

zogen.<br />

Es dämmerte schon, als sie den Fluss Gelantine erreichten. Niemand<br />

behinderte sie, als sie die Hängebrücke überquerten. Ein kräftiger Fuß-<br />

marsch brachte die Zinnen der Wabbelburg in Sicht, aber auch die Nacht<br />

war hereingebrochen.<br />

Einsam hallten ihre Schritte an den Häusern wider. Keine Menschen-<br />

seele war zu sehen. Die Stadt war wie ausgestorben. Plötzlich hielt<br />

Rosalinde an und zeigte auf eine Gestalt, die auf einem Platz auf sie<br />

wartete. »Königin Wabbeline«, rief Hübeldübel erfreut, »wenigstens<br />

sie!«<br />

»S«wabbelt!« grüßte Zippel und verbeugte sich. Königin Wabbeline<br />

winkte sanft mit dem erhobenen Arm.<br />

»Warum sagt sie denn nichts?« fragte Plumplum.<br />

»Ach zum Kuckuck!« schrie Hübeldübel ärgerlich, »das ist ja die Sta-<br />

tue von Meister Kräuselohr.«<br />

Mit knurrendem Magen umringten sie das Kunstwerk. »Schade, dass<br />

man sie nicht essen kann«, meinte Zippel respektlos.<br />

»Wo wir gerade vom Essen sprechen«, hakte Plumplum nach, »wollen<br />

wir nicht auf einen Sprung zu Bimballo rein und uns etwas stärken? Hier<br />

scheint uns sowieso niemand zu erwarten.«<br />

»Keine schlechte Idee«, stimmte Zippel bei und leckte sich in Erwar-<br />

tung eines Wackelpuddings die Lippen, »wenn wir Glück haben, ist Mela-<br />

nie noch auf.«<br />

Bei der Erwähnung Melanies wichen die letzten Bedenken. Sie<br />

schwenkten in die Seitengasse ein, in der der Goldene Dotter lag. Kein<br />

Licht brannte mehr. Die Tür war verrammelt. Vor den Fenstern waren<br />

Bretter genagelt. Hübeldübel lugte durch die Schlitze in das Innere des<br />

Gasthauses. Er meinte, den verdeckten Schein einer Kerze gesehen zu<br />

haben.<br />

»He Bimballo!« brüllte Plumplum, »mach auf, du Schlafmütze.«<br />

Ungehalten trommelte er an die Tür. Der beißende Hunger machte ihn<br />

langsam wütend.<br />

140<br />

Hübeldübel ging es nicht anders. Er hob seinen Fuß und stieß ihn mit


solcher Wucht gegen die Bretter, dass das Schloss brach und die Tür<br />

aufflog. Sie stürmten hinein. Hinter der Theke stand, mit finsterem<br />

Gesicht und einem Knüppel in der Hand, der schmerbäuchige Bimballo.<br />

Er war bereit, sein Eigentum zu verteidigen.<br />

»S«wabbelt!« schrie Zippel mit seiner neuen voluminösen Stimme<br />

und lief mit ausgebreiteten Armen auf den Gastwirt zu. Bimballo hob<br />

den Knüppel, um ihn auf den verwilderten Wüstling niedersausen zu las-<br />

sen. In diesem Augenblick öffnete sich die Hintertür und Melanie kam<br />

herein, eine Kerze in der Hand. Zippel erstarrte. Seine Gedanken waren<br />

in den letzten Tagen immer nur bei Rosalinde gewesen, und er hatte<br />

schon vergessen, wie Melanie aussah. In der Sorge um ihre Freunde war<br />

sie reifer, ernsthafter und noch schöner geworden. Rosalinde, die sich<br />

verdeckt im Hintergrund hielt, wollte sich schier umbringen vor Scham<br />

über ihre eigene hässliche Magerkeit und ihre schmutzstarrendenKleider.<br />

»Zippel?« fragte Bimballo unsicher, der seinen Augen nicht trauen<br />

wollte. Dann erkannte er im Kerzenschein die anderen Gesellen. Sein<br />

Herz tat einen Sprung. »Tatsächlich und wahrhaftig Zippel!« rief er und<br />

kam hinter dem Tresen hervor. Vor Freude liefen ihm Tränen über die<br />

Wangen. Er machte einen Satz und puffte Zippel derbe in die Seite, um<br />

ihn über die Glasnudelbeine stolpern zu lassen. Doch Zippel lachte nur<br />

und puffte seinerseits den Wirt so heftig an, dass dieser das Gleichge-<br />

wicht verlor und sich auf den Hosenboden setzte.<br />

Da war auch schon Melanie herbeigeeilt und küsste und herzte den<br />

Schneider vor Erleichterung und Wiedersehensfreude. Rosalinde drückte<br />

sich in den Schatten. Sie wäre am liebsten weggelaufen.<br />

Bimballo zündete die Lampen an. Nun erst entdeckte er in dem Tür-<br />

winkel die zerlumpte Frau. Er erschrak. »Eine Stachelländerin!« warnte<br />

er und ergriff seinen Knüppel. Hübeldübel fiel ihm in den Arm. »Eine<br />

Freundin«, erklärte er, »ohne sie wären wir nicht hier.«<br />

»Sie stinkt«, platzte es aus Bimballo heraus. Rosalinde fing an zu<br />

schluchzen. Sie wollte weg.<br />

Es war Melanie, die schließlich alles ins rechte Lot brachte. Schon bei<br />

der Umarmung hatte sie Zippels Veränderung bemerkt. Sonst war er vor<br />

Aufregung fast hingefallen, wenn sie ihn nur angeschaut hatte. Heute<br />

141


aber schienen seine Gedanken woanders zu sein. Und als Melanie die<br />

junge Stachelländerin erblickte, erfasste sie mit weiblicher Intuition die<br />

Beziehungen zwischen den beiden. Sie lief zu Rosalinde, nahm sie beim<br />

Arm und zerrte die Widerstrebende aus dem Gastraum in das erste<br />

Stockwerk, wo Melanie es sich wohnlich eingerichtet hatte.<br />

Bimballo ließ vier Stiefel Honigbier volllaufen. Die drei Helden hatten<br />

viel zu erzählen. Plumplum hatte die Kiste in eine Ecke gestellt. »Habt<br />

ihr die Nägel und Nadeln wieder mitgebracht?« fragte Bimballo.<br />

»Es ist nur der Wabbelstein«, antwortete Hübeldübel, als spräche er<br />

von einem zerknüllten Blatt Papier.<br />

»Ach so, wenn's weiter nichts ist.«<br />

Die Freunde fingen zu wabbeln an. Endlich wieder ungehindert wab-<br />

beln! Vom oberen Stockwerk hörten sie ein Plätschern und Kichern.<br />

Die Turmuhr schlug schon zwölf, als die Frauen wieder herunterka-<br />

men. Melanie hielt die Tür auf, um Rosalinde durchzulassen. Entgeistert<br />

starrten die Helden auf das Wesen, das hereinspaziert kam. Fast hätten<br />

sie die junge Frau mit den goldgelben Haaren nicht wiedererkannt. Sie<br />

duftete nach Lavendel und Rosenöl. Unter dem Seifenschaum hatten<br />

sich ihre schmutzigen Strähnen in weiche Locken verwandelt, ihre<br />

staubgraue Haut war einer frischen gesunden Farbe gewichen. Rosalinde<br />

trug das schönste Kleid Melanies, das allerdings im Rücken mit Nadeln<br />

zusammengesteckt war. Ein verschmitztes Lächeln erhellte ihr Gesicht.<br />

Beim Baden hatte Melanie ihr so allerlei Lustiges erzählt, und wie sie mit<br />

den Männern umsprang. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie heraus-<br />

fanden, dass sie beide einen Hang zum Spötteln und Lästern hatten.<br />

Aber auch Ernstes kam zur Sprache, und Melanie hatte endlich eine ver-<br />

ständnisvolle Zuhörerin für ihr Probleme und Ängste gefunden. Denn sie<br />

fürchtete selbst schon, dass sie als vertrocknete Jungfrau enden würde,<br />

wenn sie sich nicht bald für einen Mann oder ein anderes Leben ent-<br />

scheiden würde.<br />

Rosalinde hatte ihre ruhigen blauen Augen auf Zippel gerichtet. Alle<br />

Zweifel waren gewichen. Wie damals auf dem Stachelmarkt wurde ihm<br />

siedend heiß. Er fasste sich ein Herz und trat an sie heran. Da flog sie<br />

auch schon an seine Brust. Zippel umschlang sie mit seinen sehnigen<br />

142


Armen und zerwühlte vor Glück ihr weiches Haar.<br />

Es wurde eine lange Nacht. Erst ein Schwall saurer Milch beendete<br />

das Beisammensein. Wieder einmal waren sich Plumplum und Hübeldü-<br />

bel wegen Melanie in die Haare geraten.<br />

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