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Inhalt<br />

Gastkommentar<br />

Die Union darf nicht versagen …<br />

erklärt Alexandr Vondra, Vizepremier<br />

für europäische Angelegenheiten.<br />

Seite 4 – 7<br />

Tschechisches Bier?!<br />

Vom Feldzug eines der bekanntesten<br />

tschechischen Produkte nach Brüssel<br />

Seite 8 – 11<br />

Auf seinen EU-Ratsvorsitz hat sich Tschechien<br />

langfristig und verantwortungsvoll vorbereitet. Wir<br />

sind uns dessen bewußt, daß Europa als solches<br />

sich nicht allzu viel davon erhofft. Um so mehr ist<br />

vielleicht mit Überraschungen aufwarten. Mit positiven,<br />

wie ich hoffe. Nur so können wir in den<br />

Augen der Europäer an Ansehen gewinnen und<br />

darüber hinaus die Erwartungen von rund 90%<br />

der tschechischen Unternehmer erfüllen, die sich<br />

von unserem Vorsitz auf die eine oder andere Weise<br />

Gewinn für ihre Unternehmenstätigkeit versprechen,<br />

insbesondere was den Export anbetrifft.<br />

Im übrigen zeigt auch der Inhalt des diesjährigen<br />

ersten Heftes der Revue Im Herzen Europas, daß<br />

es genug gibt, worauf Tschechien stolz sein kann,<br />

auf seine Markenzeichen, die anerkannten Leistungen<br />

der Wissenschaft, die Leistungsfähigkeit<br />

der Wirtschaft, die gerade durch die Finanz- und<br />

Wirtschaftskrise heimgesucht wird.<br />

Es steht uns ein Rückgang der Wirtschaft bevor.<br />

Selbst wenn wir davon stärker betroffen werden,<br />

als uns lieb ist, besteht die Möglichkeit, Maßnahmen<br />

zu treffen, welche die Konkurrenzfähigkeit<br />

von Unternehmen in ganz Europa erhöhen. Und<br />

gerade darin besteht einer der Schwerpunkte<br />

des tschechischen Vorsitzes, ebenso wichtig der<br />

Abbau von Barrieren im Unternehmenssektor und<br />

der Erstellung neuer Strategien im Bereich Energiewirtschaft.<br />

Allüberall werden Rezepte gegen die Krise gesucht,<br />

Eingriffe seitens der Staaten scheinen notwen<br />

dig zu werden. Ist aber eine durch staats gelenkte<br />

Wirtschaft wirklich besser, als Marktwirtschaft?<br />

Sollte nicht vielleicht der freie Markt eine der<br />

Mö glichkeiten darstellen, wie der wirtschaftliche<br />

Rückgang gemindert werden könne. Schließlich<br />

kommt man kaum an dem Ausspruch Milton Friedmans<br />

vorbei: „If you put the federal government<br />

in charge of the Sahara Desert, in 5 years there<br />

would be a shortage of sand.“ (Würde man der<br />

Föderalregierung die Wüste Sahara anvertrauen,<br />

so würde innerhalb von fünf Jahren der Sand<br />

ausgehen.“) Jedenfalls bin ich ein gemäßigter<br />

Optimist und sehe vor allem die Möglichkeit,<br />

Maß nahmen einzuleiten, zu denen bislang der<br />

Mut oder die Zeit fehlte.<br />

Jaroslav Míl<br />

Präsident des Verbandes für Industrie und<br />

Verkehrswesen der Tschechischen Republik<br />

Sehr geehrte Leser und Leserinnen,<br />

das Thema dieser Nummer der Revue „Im Herzen<br />

Europas“ zeigt auf, daß der Mensch das All<br />

bewegen kann, wenn er in sich selbst feststeht.<br />

Auch die Tschechen durften und dürfen sich<br />

zu diesen „Bewegern“ zählen. Mehr als einen<br />

Aufmarsch von Eliten nationalen Selbstbewußtsein<br />

sehe ich in Namen wie Blata, Havel, Nikl,<br />

Holý, Žďárek, Vilímek oder Martinů eine Galerie<br />

von Persönlichkeiten, denen es gelungen ist,<br />

ursprüngliches Gedankengut lebendig werden<br />

zu lassen und daraus – mögen mir Künstler und<br />

Menschenfreunde verzeihen – einen Exportartikel<br />

zu machen.<br />

Die EU hat gegenwärtig mit den Auswirkungen<br />

der Finanzkrise zu kämpfen, die zwar andernorts<br />

ihren Ausgang nahm, sich aber in Folge der<br />

Globalisierung der Wirtschaft als wirtschaftliche<br />

Rezession in den Mitgliedsstaaten bemerkbar<br />

macht. Umso wichtiger ist es sich über die Mittel<br />

zu einigen und auf ihrer Einhaltung zu beharren,<br />

die den siebenundzwanzig gemeinsam sein sollten<br />

– neben den vom tschechischen Vorsitz beschworenen<br />

Regeln der freien Marktwirtschaft und<br />

fairen Wettbewerbs zählen dazu auch die Erhöhung<br />

der Konkurrenzfähigkeit der europäischen<br />

Industrie. Die Arbeit tschechischer Künstler und<br />

Innovatoren sollten wir deshalb als einen Fingerzeig<br />

betrachten, wie wichtig die Unterstützung und<br />

Vereinfachung der Regeln ist, um so den Weg<br />

zu verkürzen, durch den ein Gedanke über die<br />

Umsetzung zum Endverbraucher kommt. Ist doch<br />

gerade die Innovation einer der traditionellen<br />

Werte der europäischen Wissenschaft und Kultur.<br />

Jiří František Potužník<br />

Pressesprecher des Ministerpräsidenten für den<br />

Vorsitz Tschechiens im Rat der EU<br />

Tatra – ein Schritt gen USA?<br />

Eine traditionsreiche Autofirma<br />

expandiert<br />

Seite 12 – 13<br />

Blata Blansko – ein Unternehmen<br />

mit zähen Wurzeln<br />

Im Kampf gegen chinesische Plagiaten<br />

Seite 14 – 15<br />

Maestro of Crystal<br />

Das Leben des Glasbläsers<br />

Miroslav Havel<br />

Seite 16 – 19<br />

Photogalerie<br />

Hundert Ikonen tschechischen Designs<br />

Seite 20 – 21<br />

In Brüssel soll man spielen<br />

Interaktive Ausstellung Orbis Pictus<br />

– oder Berühren erlaubt<br />

Seite 22 – 25<br />

Wissenschaftler auf entfernten<br />

Kontinenten<br />

Jan Žďárek – Im Kampf gegen die<br />

Tse-Tse-Fliege<br />

Seite 26 – 27<br />

Droht Machu Picchu der Zerfall?<br />

Der Geologe Vít Vilímek in der heiligen<br />

Stadt der Inka<br />

Seite 28 – 29<br />

Mein Platz ist im Labor<br />

Der tschechische Wissenschaftler Antonín<br />

Holý entdeckte Dutzende neuer Wirkstoffe<br />

Seite 30 – 33<br />

Mosaik<br />

Splitter aus dem EU-Geschehen während<br />

des tschechischen EU-Ratsvorsitzes<br />

Seite 34 – 35<br />

Martinů Revisited<br />

In Tschechien gedenkt man des fünfzigsten<br />

Todestages eines der berühmtesten<br />

Komponisten.<br />

Seite 36 – 38<br />

Die Zeitschrift Im Herzen Europas erscheint sechsmal jährlich<br />

und vermittelt auf ihren Seiten ein Bild über das Leben in der<br />

Tschechischen Republik. Die Beiträge präsentieren die Ansichten<br />

ihrer Autoren und müssen nicht mit den offiziellen Standpunkten<br />

der tschechischen Regierung übereinstimmen.<br />

Abonnementbestellungen sind an die Redaktion der Zeitschrift<br />

zu richten. Herausgegeben vom Verlag Theo in Zusammenarbeit<br />

mit dem Außenministerium der Tschechischen Republik.<br />

Anschrift der Redaktion:<br />

J. Poppera 18, 530 06 Pardubice, Česká republika<br />

Chefredakteur: Pavel Šmíd<br />

Graphische Redaktion: Jiří Sáva<br />

Vorsitzende des Redaktionsbeirats: Zuzana Opletalová,<br />

Leiterin der Pressestelle des Außenministeriums der ČR<br />

und Pressesprecherin des Außenministers<br />

Redaktionsbeirat: Libuše Bautzová, Pavel Fischer, Vladimír<br />

Hulec, Robert Janás, Milan Knížák, Martin Krafl, Eva Ocisková,<br />

Tomáš Pojar, Jan Šilpoch, Petr Vágner, Petr Volf, Marek Skolil<br />

Deutsche Übersetzung: Institut für Germanistik<br />

Philosophische Fakultät der Masaryk-Universität Brno<br />

Druck: VČT Sezemice<br />

Nachdruck der in der Zeitschrift Willkommen im Herzen<br />

Europas veröffentlichten Texte erlaubt, sofern Verfasser und<br />

Quelle angegeben werden. Urheberrechtlich geschützte Ver -<br />

wendung von begleitendem Bildmaterial nur mit<br />

Zustimmung der Redaktion und des Urhebers. Die Ge -<br />

staltung und Über set zung von Werbematerialien auf dem<br />

Umschlag liegt in Eigen verantwortung der Auftraggeber.<br />

MK ČR E 6574 ISSN 1211–9296<br />

Theo Verlag – Internet:<br />

http://www.theo.cz<br />

E-Mail: pavelsmid@theo.cz<br />

3


Die Union darf<br />

nicht versagen ...<br />

erklärt Alexandr Vondra, Vizepremier für<br />

europäische Angelegenheiten.<br />

Alexandr Vondra und Hans-Gert Pöttering<br />

Die Europäer scheinen den Eindruck<br />

zu haben, daß die EU nur irgend so eine<br />

bürokratische Konstruktion ist, die von<br />

oben herab beschwerliche Anweisungen<br />

diktiert, und daß ihr wie jedem anderen<br />

Amt die Empatie fehlt ...<br />

Im Vorjahr konnte die EU 50 Kerzen<br />

auf einer imaginären Torte auspusten –<br />

eine Gelegenheit Bilanz zu ziehen. Die<br />

europäische Integration ist und bleibt<br />

ohne Frage ein ökonomischer und politischer<br />

Erfolg. Zu Beginn des Vereinigungsprozesses<br />

lag das europäische BIP bei<br />

etwa 40% des BIP der USA – heute sind<br />

es etwa 70%. Die Union ist heute einer<br />

der größte Märkte und ihre Spielregeln<br />

werden von zahlreichen Unternehmen<br />

weltweit übernommen. Seit mehr als 50<br />

Jahren hat es zwischen den Mitgliedern<br />

der EU bzw. der EG, als ihrem Vorläufer,<br />

keine bewaffneten Auseinandersetzungen<br />

gegeben – zum ersten Mal in der Geschichte<br />

Europas.<br />

Trotz all dieser Erfolge ist es der EU<br />

nicht gelungen, „die Massen zu begeistern“.<br />

Es wird ihr vorgehalten, ein Anliegen<br />

der Elite zu sein, und obwohl die<br />

das Leben ihrer Einwohner in zunehmendem<br />

Maße beeinflußt, interessiert sie den<br />

„einfachen“ Bürger immer weniger. Die<br />

Referenden in Frankreich und den Niederlanden<br />

mit ihrem negativen Ausgang<br />

offenbarten den Abgrund zwischen den<br />

Ansichten der politischen Vertreter, die<br />

der neuen Verfassung mehrheitlich zugestimmt<br />

hatten, und der Meinung der Landesbürger,<br />

die sie ebenso mehrheitlich<br />

ablehnt. Mit anderen Worten, die Union<br />

leidet an einem „Legitimationsdefizit“.<br />

Für den tschechischen Vorsitz stellt<br />

dieses Defizit einen wichtigen Impuls zur<br />

Reflexion dar, der sich auch in unserer<br />

Schwerpunktsetzung widerspiegelt.<br />

Könnten Sie dies etwas näher ausführen?<br />

Für den Ratsvorsitz der EU haben wir<br />

das Motto „Europa ohne Barrieren“ gewählt.<br />

In diesem Sinne wollen gegen die<br />

verbliebenen Behinderungen der vier<br />

Grundrechte EU – Freizügigkeit in der<br />

Bewegung von Waren, Personen, Dienstleistungen<br />

und Kapital – angehen. Der<br />

vollen Entfaltung des Potentials der EU<br />

stehen auch andere innere Hürden im<br />

Wege, etwa administrative Belastungen<br />

für Unternehmende oder die mangelnde<br />

Verflechtung der Infrastruktur in der<br />

Energiewirtschaft. Neben dem übergreifenden<br />

Motto des Vorsitzes haben wir uns<br />

außerdem drei Bereiche vorbehalten,<br />

denen wir unser vorrangiges Interesse<br />

widmen wollen – Wirtschaft, Energiewirtschaft<br />

und die EU in der Welt.<br />

Die ersten Wochen unseres Vorsitzes<br />

haben gezeigt, daß wir die richtige Wahl


getroffen haben. Neben den langfristigen<br />

Zielstellungen stimmen sie nämlich mit den<br />

vordringlichen Problemen überein, vor<br />

die sich die EU gegenwärtig gestellt sieht.<br />

Sie sagten einmal, daß in Staaten, de -<br />

ren Währung bereits der Euro ist, von<br />

der Bevölkerung ein direkter Zusammenhang<br />

zwischen der Politik der EU<br />

und der Wirtschaftslage in ihren Ländern<br />

wahrgenommen wird ...<br />

Die Europäer verspüren im Moment<br />

tatsächlich die Stagnation Europas in<br />

ihren Geldbeuteln – und sobald wir die<br />

gemeinsame Währung einführen, wird es<br />

bei den Tschechen nicht anders zugehen.<br />

Wenn eben darin versagen, was der ursprüngliche<br />

Hauptgrund der europäischen<br />

Integration war – nämlich in der<br />

Garantie der ökonomischen Prosperität,<br />

wird es uns nicht gelingen, die Bürger für<br />

die EU zu gewinnen.<br />

Schlägt sich die ökonomische Krise<br />

auch auf die Finanzen nieder, die<br />

Tschechien für seinen EU-Vorsitz zur<br />

Verfügung stehen?<br />

Die Zahlen mögen imposant aussehen,<br />

aber tatsächlich bleiben wir sehr wohl<br />

mit den Füßen auf der Erde. Die Kosten<br />

belaufen sich insgesamt auf etwa achtzig<br />

Millionen Euro, also genauso viel wie<br />

mit uns vergleichbare Länder wie die Niederlande,<br />

Finnland oder Schweden ausgegeben<br />

haben. Frankreich zum Beispiel<br />

hat ungefähr das Vierfache dessen ausgegeben,<br />

was wir eingeplant haben.<br />

Worin sehen Sie die Ursachen der sog.<br />

globalen Krise?<br />

Alexandr Vondra, José Barroso, Mirek Topolánek (v.l.)<br />

Es besteht allerdings ein gewissen<br />

Problem: Wir alle haben einen Zeitraum<br />

ungewöhnlichen Wohlstandes<br />

hinter uns. Also eine Zeit, da es galt,<br />

vorausschauend zu wirtschaften. Die<br />

tschechische Regierung z.B. war in<br />

den letzten zwei Jahren darum bemüht,<br />

das Defizit im Staatshaushalt zu ver ringern.<br />

Denn, wenn schlechtere Zeiten<br />

kommen, ist es schwieriger, diese Selbstdisziplin<br />

durchzuhalten. In der EU,<br />

deren Stabilität auf einer gewissen<br />

Selbsteinschränkung der Mitgliedsstaaten<br />

beruht, könnte sich daraus ein Problem<br />

entwickeln, mit dem schwer zu<br />

kämpfen sein wird.<br />

Ließe sich nicht etwa die Bürokratie<br />

als eine der Ursachen für die Wirtschaftskrise<br />

ansehen?<br />

Sicherlich. Die administrative Belastung<br />

kleiner und mittelgroßer Unternehmen, welche<br />

die Haupttriebkraft des Wirtschaftswachstums<br />

sind, sollte herabgesetzt werden.<br />

Politiken, die vor einem halben Jahrhundert<br />

entwickelt wurden, schon angesichts<br />

einer starken weltweiten Konkur renz<br />

und veränderten Produktions- und Konsumverhaltensweisen,<br />

sind nicht mehr<br />

von Bestand. So können wir beispielsweise<br />

der Liberalisierung der Dienst leistungen<br />

nicht Einhalt gebieten, wenn<br />

allein in den Jahren 1980 bis 2000 ihr<br />

Anteil am europäischen BIP von 13% auf<br />

70% gestiegen ist und sie gegenwärtig<br />

50% aller Arbeitskräfte beschäftigen.<br />

Mit welchen anderen Problemen hat<br />

die europäische Wirtschaft noch zu<br />

kämpfen?<br />

Allgemein gilt, daß sich die Wirtschaft<br />

in bestimmten Zyklen entwickelt – und<br />

momentan führt die Kurve eben nach<br />

unten. Dem war nicht auszuweichen,<br />

nur daß niemand erwartet hat, daß es<br />

zu einem solchen Tiefpunkt kommt. Im<br />

eigentlichen gibt es keine wirksamere<br />

Medizin, als sich vorzubereiten und das<br />

Ganze zu überstehen, es steht nicht in den<br />

Kräften der Regierung – keiner Regierung<br />

in der Welt – dem vorzubeugen. Es handelt<br />

sich um zyklische Entwicklungen in<br />

der Wirtschaft. Man kann sie abdämpfen,<br />

sich in bestimmter Weise anpassen, ein<br />

paar Schritte machen, die dazu beitra gen,<br />

die kommende Konjunktur ein zu leiten,<br />

aber ansonsten läßt sich die Wirtschaft nicht<br />

beeinflussen.<br />

<br />

Ministerrat für Allgemeine Angelegenheiten<br />

und Außenbeziehungen (v.l.: Karel Schwarzenberg<br />

Alexandr Vondra, Benita Ferrero Waldner)<br />

Feierliche Eröffnung des tschechischen EU-Ratsvorsitzes im Nationaltheater Prag. Jean-Pierre Jouyet,<br />

Mirek Topolánek, Alexandr Vondra, Karel Schwarzenberg (v.l.)<br />

5


Während sich die EG in ihren Anfängen<br />

durch ein schnelles Einholen der USA<br />

in puncto wirtschaftliche Leistungsfähigkeit<br />

auszeichnete, kam es seit Beginn der 1980er<br />

Jahre zu keinem weiteren Fortschritt mehr:<br />

Die EG hat zwar in den ersten zwanzig<br />

Jahren ihrer Integrationsarbeit den Sprung<br />

von 40% auf 70% der US-amerikanischen<br />

Wirtschaftsleistung geschafft, seit<br />

dem hat es jedoch keine Weiterentwicklung<br />

mehr gegeben. Schon zwanzig Jahre<br />

bewegen wir uns nicht mehr vom Fleck.<br />

Alarmierender ist, daß die Arbeitsproduktivität<br />

in Europa seit den 1990er Jahren<br />

kein Wachstum mehr zu verzeichnen<br />

hat. Während das alljährliche Anwachsen<br />

des Produktionsaustoßes innerhalb einer<br />

Arbeitsstunde in der EU in den Jahren<br />

1995-2005 im Durchschnitt bei 1,4%<br />

lag, waren es in den USA 2,4%. Der<br />

Fakt, daß dieser Trend bereits länger<br />

als einen Wirtschaftszyklus anhält, beweist,<br />

daß es sich um ein strukturelles<br />

Problem handelt: Es fehlt uns an tech no -<br />

logischen Innovationen und entsprechenden<br />

Arbeitsmärkten, unsere Ar beits -<br />

märkte sind nicht in einem solchen Maße<br />

wettbewerbsfähig, daß sie den Unternehmern<br />

die Steigerung der Arbeitsproduk -<br />

tivität ermöglichen.<br />

Es ist vonnöten, Neuerungen zu unterstützten<br />

und in den Bildungssektor zu<br />

investieren, so daß wir qualifizierte Arbeitskräfte<br />

haben, die dazu beitragen, daß<br />

sich die europäische Wirtschaft in der<br />

globalen Konkurrenz behauptet.<br />

Alexandr Vondra und Milena Vicenová bei der Eröffnung der Ausstellung „Entropa“ des tschechischen Künstlers<br />

David Černý in EU-Parlamentsgebäude in Brüssel<br />

Auf dem Boden der EU konkurrieren<br />

allgemeine Konzepte, wie der Krise<br />

beizukommen wäre. Man beschäftigt<br />

sich auch mit der Frage inwieweit die<br />

einzelnen Regierungen und EU-Ämter<br />

bei konkreten wirtschaftlichen Problemen<br />

eingreifen sollten ...<br />

In der EU gibt es drei Modellvorstellungen,<br />

wie mit solchen Situationen umzugehen<br />

sei. Entweder mehr Geld in die<br />

Wirtschaft zu schütten, wie es etwa für<br />

Frankreich typisch ist, die Nachfrage<br />

durch das Senken indirekter Steuern zu<br />

erhöhen und dadurch die Marktmechanismen<br />

anzukurbeln, ein Weg, den z.B.<br />

Labour-Regierung wählt, und zum dritten<br />

die Ansicht, der, sagen wir, deutschen Regierung,<br />

die meint, daß man trotz aller<br />

Maßnahmen die öffentlichen Finanzen<br />

nicht überlasten darf, daß heißt, daß man<br />

den Staatshaushalt in bestimmten Grenzen<br />

halten sollte. Darüber hinaus gibt es<br />

einen Erneuerungsplan, demzufolge die<br />

Staaten der EU 1,5% des BIP für verschiedene<br />

Fördermaßnahmen bereitstellen.<br />

Bei Ländern wie Griechenland kann<br />

dieses Defizit bis auf 10% anwachsen.<br />

Wenn dieser Trend anhält, stehen uns<br />

schwere Zeiten bevor.<br />

Ein Thema, das eng mit der Wirtschaft<br />

zusammenhängt, ist die Energiewirtschaft,<br />

der dritte Hauptpunkt unseres<br />

Vorsitzes ...<br />

Die neuliche Gaskrise entfachte eine<br />

heftige Diskussion über die Gewährleistung<br />

der energiewirtschaftlichen Sicherheit<br />

der europäischen Union. Tschechien<br />

reihte dieses Thema in seine Schwerpunktliste<br />

ein, lange bevor wie ahnten,<br />

welch schwarze Wochen uns der russischukrainische<br />

Streit bereiten würde. Unsere<br />

Aufgabe endete allerdings nicht mit dem<br />

Aufdrehen der Gashähne. Die Haupt sache<br />

erwartet uns noch: die politische Dynamik<br />

nicht zu vergeuden, die die Krise<br />

eröffnet hat, und sie zur schnelleren<br />

Annahme kurz-, mittel- und langfristiger<br />

Maßnahmen im Bereich der Energiewirtschaft<br />

auszunutzen. Dieses Ziel wollen<br />

wir unter anderem bei der Frühlingssitzung<br />

des Rates der EU verfolgen, wo wir<br />

der Energiewirtschaft besondere Aufmerksamkeit<br />

zuwenden wollen.<br />

Auf welche Weise und inwieweit kann<br />

sich Tschechien an der Integration und<br />

der künftigen unabhängigen Energiewirtschaft<br />

beteiligen?<br />

<br />

Alexandr Vondra bei der Preisverleihung des<br />

Wettbewerbs um die schönste Ansichtskarte zum<br />

tschechischen EU-Vorsitz<br />

6


Ministerrat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen, Alexandr Vondra und Javier Solana<br />

Als vorsitzführendes Land wollen wir<br />

die legislativen Schritte, die zum Zustandekommen<br />

des inneren energiewirtschaft -<br />

lichen Marktes führen sollen, zu einem<br />

glücklichen Ende bringen. Eines unserer<br />

Rezepte zur Stärkung der Unabhängigkeit<br />

der EU ist auch die Herausbildung eines<br />

grenzübergreifenden Netzes sowie eine<br />

größere Diversifizierung hinsichtlich der<br />

Energiequellen, Transportwege und Zulieferländer.<br />

Als wichtig erweist sich auch die<br />

Modernisierung und die Absicherung<br />

der kri tischen energiewirtschaftlichen<br />

Infrastruktur. Voraussetzung für die<br />

Entwicklung eines „intelligenten“ Dis tribu<br />

tions systems neuen Typs ist die Ein beziehung<br />

des Satellitennavigationssystems<br />

Galileo. Dieses ermöglicht die Echt-Zeit-<br />

Beaufsichtigung und Kontrolle des Energienetzes<br />

und demzufolge auch seine<br />

Absicherung. Tschechien, das sich um die<br />

Errichtung des Europäischen Aufsichtsamtes<br />

über das GNSS (Global Navigation<br />

Satellite System) auf seinem Hoheitsgebiet<br />

bewirbt, ist darauf vorbereitet, alle<br />

Bedingungen für das Gelingen dieses<br />

wichtigen Unternehmens zu erfüllen.<br />

Quelle: Aus den Reden von Alexandr Vondra zum<br />

Europatag an der Hochschule für Internationale und<br />

Öffentliche Beziehungen (Vysoká škola mezinárodních<br />

a veřejných vztahů) und auf der Konferenz<br />

Sicherung der energetischen Sicherheit der EU-Mit -<br />

gliedsstaaten im Rahmen des gemeinsamen Elek trizitätsmarktes<br />

(Zajištění energetické bezpečnosti<br />

členských států EU v rámci společného trhu s elek tři -<br />

nou), Diskussionsbeiträgen A. Vondras in der Fernsehsendung<br />

Otázky V. Moravce (Fragen von V. Moravec,<br />

ČT 1) sowie für verschiedene Radiosender (Český<br />

rozhlas 1, rádio Frekvence 1)<br />

Photos: www.eu2009.cz


Tschechisches<br />

Bier?!<br />

Tor der Pilsner Brauerei<br />

Ausfuhr des Biers Pilsner Urquell auf einer<br />

zeitgenössischen Photographie<br />

Historischer Bierdeckel Pilsner Urquell<br />

Juni 2008. Diplomingenieur Jan Veselý,<br />

Geschäftsführer des Tschechischen Verbandes<br />

der Bierbrauereien und Mälzereien,<br />

seufzt. Die Zeiten seien schlecht.<br />

„Schon in der Urzeit bauten die Landwirte<br />

ihre Früchte vor allem für die Lebensmittelhersteller<br />

an“, regt er sich auf,<br />

„rund 5000 Jahre hat das funktioniert. Und<br />

jetzt säen die Bauern vorrangig für die<br />

Herstellung von Biobrennstoffen, und die<br />

EU dotiert das ganze noch. Blöder grüner<br />

Euroversuch.“<br />

Ergebnis? Die Preise für Gerste sind im<br />

Vergleich zum Vorjahr um hundert Prozent<br />

gestiegen.<br />

Und der Hopfen?<br />

„Die Produktion sinkt merklich“, beschwert<br />

sich Jan Veselý, „vier Fünftel gehen<br />

in den Export. Die Hopfensorte Žatecký poloraný<br />

červeňák ist ein absoluter Renner, sie<br />

ist aber auch entsprechend teuer. Zu dem ist<br />

sie im Vergleich zu anderen Sorten nicht<br />

allzu bitter, man muß dem Bier also mehr<br />

davon zufügen. Wer kann sich das schon<br />

leisten? Soviel ich weiß, nur Budvar. Brauereien,<br />

die keine derartigen Einnahmen<br />

haben, helfen sich durch Import. Die Zahlen<br />

werden geheimgehalten. Aber der Großteil<br />

des Hopfen in jedem tschechischen Bier<br />

kommt immer noch aus Tschechien.“<br />

Vernünftiges Bier, kein Espresso<br />

Moderne Technologie? Großbrauereien<br />

in aller Welt kochen meist auf die gleiche<br />

Weise: im Infusionsverfahren, alles wird in<br />

einem einzigen Kessel erhitzt. Das ist am<br />

billigsten und am schnellsten.<br />

„Das ist so ein Expreßbier, fast ohne<br />

Geschmack“, rümpft Jan Veselý die Nase,<br />

„vom tschechischen Bier muß der ganze<br />

Mund voll sein. Es muß Reste des nicht<br />

ganz vergorenen Extraktes enthalten. Für<br />

tschechisches Bier ist schließlich der Brotgeschmack.“<br />

Der besondere Trick der tschechischen<br />

Bierbrauer ist das zwei-, beim Pilsener<br />

Prazdroj sogar dreifache Maischen im Dekoktionsverfahren.<br />

Nach dem Einmaischen<br />

wird die Maische in zwei, bzw. drei Teile<br />

geteilt, die auf unterschiedliche Temperaturen<br />

erhitzt werden. Jedes Enzym verlangt<br />

nämlich nach einer anderen idealen Temperatur,<br />

bei welcher es Zucker spaltet. Danach<br />

werden die einzelnen Teile wieder mit -<br />

einander vermischt und das Bier wird<br />

nach gegoren. Dieser Prozeß ist arbeit -<br />

sauf wendiger, langwieriger und teurer.<br />

Aber der Geschmack!<br />

Wie können die tschechischen Bierbrauer<br />

Weltgiganten konkurrieren, die sich mit<br />

dem Bier keine große Arbeit machen, sich<br />

nicht darum kümmern.<br />

„Glauben Sie, man kann nur durch die<br />

Änderung der Technologie herstellen. Durch<br />

Beschneidung des Herstellungsprozesses?“,<br />

raunzt der Geschäftsführer bei einem Schluck


alkoholfreiem Bier. Er ist zwar kein ausgebildeter<br />

Bierbrauer, sondern seines Zeichens<br />

Betriebswirt, aber Bier liebt er nun mal ...<br />

Nach Brüssel<br />

„Wissen Sie, was Stramberger Ohren<br />

(Štramberské uši) sind?“ fragt Jan Veselý.<br />

Sollte das ein neuer Bierfilter sein? Vorsicht,<br />

das ist eine Falle. Eine Art Marzipan,<br />

nein, Lebkuchen. Aber was haben diese mit<br />

dem Bier zu tun?<br />

„Ja, Lebkuchen in Trichterform. Eine regionale<br />

Spezialität“, läßt er geheimnisvoll<br />

verlauten, „aber ist Ihnen auch bekannt, das<br />

dies das erste Lebensmittel aus Tschechien<br />

ist, das von der EU als geographisch geschütztes<br />

Produkt anerkannt wurde? Vergangenes<br />

Jahr im Januar.“<br />

Die Stramberger Ohren befinden sich<br />

also in ausgewählter Gesellschaft solcher<br />

Namen wie Champagner oder Bordeaux.<br />

„Zum Beispiel die Gerste, damit hat sich<br />

die Union vertippt. Ich sage nicht gebackener<br />

Käse oder „Ertrunkene“ (utopence – in<br />

Essig mit Zwiebeln, Paprika und Peperoni<br />

eingelegte Bockwürste), das ist Quatsch,<br />

aber unsere Gerste? Zweizeilige tschechische<br />

Gerste. Die ist schließlich ein Begriff,<br />

oder?“, fragt der Ingenieur.<br />

Sicherlich ist sie ein Begriff, aber kein<br />

solcher, wie das tschechische Bier. Und<br />

nicht einmal dieses wird bisher von der<br />

EU als geographisch geschütztes Produkt<br />

anerkannt.<br />

Aber wenn etwa irgendein Brauer auf<br />

Korsika auf den Gedanken käme, ein Gesöff<br />

zu erzeugen, ihm den Namen Napoleon<br />

und die Artikelbezeichnung Tschechisches<br />

Bier zu geben, könnte man dagegen wohl<br />

nichts machen?<br />

„Nein“, vernehmen wir vom höchsten<br />

Funktionär des tschechischen Brauwesens,<br />

„der Name Tschechisches Bier wird nur in<br />

Portugal anerkannt, auf Grund eines Vertrages<br />

aus dem Jahre 1987. Bisher.“<br />

„Bringen Sie mir bitte die Karte“, ruft er<br />

seiner Assistentin zu und holt eine so genannte<br />

Spezifikation aus dem Schreibtisch.<br />

„Das sind die Dokumente, auf deren Grundlage<br />

wir im Februar in Brüssel um die Anerkennung<br />

als geographisch geschütztes<br />

Produkt Tschechisches Bier angesucht<br />

haben“, sagt er, wobei seine Hand auf einen<br />

Stoß Papiere klopft.<br />

Wo darf Tschechisches Bier<br />

gebraut werden?<br />

Blick in das ehemalige Sudhaus der Pilsner Brauerei<br />

Ich sehe eine normale Wandkarte Tschechiens,<br />

das Land ist um ein weniges durch<br />

eine schwarze Linie beschnitten. „Diese<br />

Linie grenzt das Gebiet ein, innerhalb dessen<br />

Tschechisches Bier gebraut werden<br />

darf“, hören wir von Jan Veselý, „wenn<br />

also jemand damit kommt, daß er eine<br />

Brauerei im Norden des Schluckenauer<br />

Ausläufers (Šluknovský vý -<br />

běžek) aufmachen will, so sagen<br />

wir ihm: Nun gut, Franta, dann<br />

aber wird auf deinem Etikett nicht<br />

Tschechisches Bier stehen.“<br />

Warum das?<br />

„Nun wir wollten es nicht<br />

auf die Staatsgrenze beschränkt<br />

wissen, die ändert sich oft“, erklärt<br />

der Geschäftsführer und<br />

beugt sich zu mir herüber,<br />

„Und unter uns gesagt, die<br />

Union hört eher auf die kleinen,<br />

regionalen Sachen. Ein ganzer<br />

Staat, das scheint ihnen ein allzu<br />

großes Gebiet zu sein, also haben<br />

wir ein Stück abgeschnitten, so daß<br />

der Wolf satt wird und die Geiß<br />

trotzdem ganz bleibt. Es ist die äußere<br />

Grenze des Anbaugebietes von Hopfen<br />

Bierbrauer Václav Berka tauft ein Faß Pilsner<br />

Lagerbier<br />

Historischer Bierdeckel Pilsner Urquell


und Gerste. Hinter dieser Linie steht sowieso<br />

kein tschechisches Brauhaus mehr.“<br />

Die Grenze hat auch eine detaillierte wörtliche<br />

Beschreibung, fast acht Norm seiten. Es<br />

scheint als würde der Tschechische Verein<br />

der Brauer und Mälzer nichts unterschätzen.<br />

Was ist nun eigentlich<br />

Tschechisches Bier?<br />

Antonín Holeček, erster Brauer der Tschechischen<br />

Aktienbrauerei, heute Budweiser Budvar<br />

Pilsner Brauerei – Stilleben im Brauereimuseum<br />

Die Spezifikation des Tschechischen Biers<br />

hat für die Zeitungsleute einen Fehler. Sie<br />

ist voll von technischer Fachsprache: „Nach<br />

Beendigung des Maischeprozesses und der<br />

Entfernung nicht zerkochter Malzreste,<br />

dem sogen. Abläutern beginnt die Vorbereitung<br />

der gehopften Würze, das sog.<br />

Hopfenkochen...“<br />

Was ist damit zu tun?<br />

„Zeigen Sie her. Das hier muß doch jeder<br />

verstehen“, nimmt mir der Geschäftsführer<br />

das Papier aus der Hand und liest vor: „Das<br />

einheimische Bier enthält in der überwiegenden<br />

Mehrheit Reste nicht vergorenen Extraktes.<br />

Das ist eines der typischsten Merk male<br />

des Tschechischen Biers. Außerdem zeichnet<br />

sich Tschechisches Bier im Vergleich mit<br />

ausländischem Lagerbier durch intensivere<br />

Farbe, ist bitterer, hat einen höheren pH-Faktor<br />

und enthält mehr Polyphenole. Einen dominanten<br />

Einfluß aus technologischer Sicht<br />

hat die Zusammensetzung der Schüttung,<br />

das Maß der Hopfung und ihr Abgleich mit<br />

der Auswahl des Hefestammes, dem angewandten<br />

Gärungsmodus, das alles garantiert<br />

durch Brauch und den Faktor Mensch.<br />

Die Einzigartigkeit des Herstellungsprozesses<br />

beruht auf dem jahrhundertealten<br />

Brauch des Bierbrauens auf einem begrenzten<br />

Territorium und bis heute blieb dank der<br />

Überlieferung von Generation zu Generation<br />

seine besondere unverwechselbare<br />

Form erhalten. Der Weltruf des Tschechischen<br />

Biers beruht ebenso auf den günstigen<br />

Bedingungen für den Hopfenanbau wie<br />

auf dem hohen Fachwissen der Brauleute,<br />

das sie durch Studium an verschiedenen<br />

Brauereischulen erwarben.“<br />

Die Herren Mälzer in der Pilsener Brauerei<br />

Prazdroj, die ich inzwischen besucht<br />

hatte, so berichte ich dem Geschäftsführer,<br />

rümpfen über die Spezifikation Tschechisches<br />

Bier die Nase. Die Normen sollen<br />

allzu niedrig sein, in Pilsen halte man sich<br />

streng an das deutsche Reinheitsgebot.<br />

„Na ja“, Diplomingenieur Veselý läßt<br />

sich nicht aus der Ruhe bringen, „die in Pilsen<br />

brauchen das Markenzeichen Tschechisches<br />

Bier nicht. Auch Budweiser Budvar<br />

nicht. Die werden von der EU geschützt.<br />

Mit dem Statut eines geographisch geschütztes<br />

Produktes wollen wir vor allem<br />

den kleineren, weniger bekannten helfen.“<br />

Wann wir damit anfangen?


„Jederzeit nach dem zwanzigsten Juli<br />

kann die Entscheidung fallen“, hören wir<br />

von dem Geschäftsführer des Verbandes der<br />

Bierbrauereien und Mälzereien Jan Veselý,<br />

und seine Überzeugung, daß der Entscheid<br />

positiv sein wird, ist augenscheinlich, „im<br />

Sommer tut sich in Brüssel nicht allzu viel.<br />

Es kommt darauf an, inwieweit es unseren<br />

Leuten gelingt, es voranzutreiben.“<br />

Der Erfolg<br />

Im September 2008 erteilte die EU dem<br />

tschechischen Bier das ersehnte Markenzeichen.<br />

Die tschechischen Bierbrauer stießen<br />

dabei auf keinen ernsteren Widerstand.<br />

Wäre es anders ausgefallen, hätte dies<br />

bei den tschechischen „Bierpatrioten“ – und<br />

das sind die Tschechen fast alle – zu Unmut<br />

und Mißtrauen gegenüber der EU geführt.<br />

Denn das tschechische Bier ist ausgezeichnet,<br />

und dies gilt nicht nur für die bekannten<br />

Marken Pilsener Urquell oder Budweiser<br />

Budvar. Es ist eine Säule des tschechischen<br />

Nationalstolzes.<br />

Noch eine Erklärung zum Abschluß. Touristen,<br />

vor allem die aus dem Westen, überrascht<br />

des öfteren, daß in tschechischen<br />

Bierstuben nur ein oder zwei Sorten Bier gezapft<br />

werden. Sie sind an eine große Anzahl<br />

von Zapfhähnen gewöhnt und glauben, es<br />

handele sich im Zurückgebliebenheit, vielleicht<br />

gar um ein Relikt des Kommunismus.<br />

Irrtum. Jeder tschechische Bierkenner weiß,<br />

daß Faßbier, soll es seine Spitzenqualität<br />

behalten, nicht in den Röhren stehen darf.<br />

Es muß unaufhörlich fließen. In Eliterestau -<br />

rants, beispielsweise in der Prager Bierstube<br />

U zlatého tygra (Zum goldenen Tiger) wird<br />

nur Pilsener Prazdroj ausgeschenkt und der<br />

Schankwirt bedient nur zwei Zapfhähne.<br />

So soll es nämlich auch sein.<br />

Qualitätskontrolle in der Brauerei<br />

Ausladen von Budweiser Budvar in Ägypten,<br />

zeitgenössisches Photo<br />

Ladislav Verecký<br />

Redakteur der Tageszeitung MFDnes<br />

Photos: www.pilsner-urquell.cz, www.budvar.cz,<br />

www.czechtourism.cz


Die Aktiengesellschaft TATRA, a.s. gehört mit seiner mehr als<br />

einhundertfünfzigjährigen Geschichte zu den ältesten Automobilwerken<br />

der Welt. Auf dem Photo die Montage von Kabinen.<br />

TATRA<br />

– ein Schritt gen USA?<br />

Tatra T 810<br />

Tatra T 815, 6x6<br />

Tatra T 87<br />

Tatra-Renntruck, Loprais-Team<br />

Tatra Jamal<br />

kippbarer Tatra, 6x6


Vom Tatra T603 aus dem Jahre 1956, ausgestellt<br />

im Autosalon 2007 in Los Angeles,<br />

nahmen die Besucher an, daß es sich um das<br />

neue Modell eines PKWs handle. Lastkraftwagen<br />

aus der Produktion der tschechischen<br />

Automobilwerke Tatra machten durch wiederholte<br />

Siege bei Rallye Paris-Dakar von sich<br />

reden. Dank ihres besonderen Fahrgestells gehören<br />

sie zu den widerstands- und einsatzfähigsten<br />

schweren Nutzfahrzeugen der Welt.<br />

Nach dem erfolglosen Privatisierungsversuch<br />

Anfang der 1990er Jahre bewegten sich<br />

die Tatra-Werke in Kopřivnice (Nesseldorf)<br />

jahrelang am Rande des Bankrotts. Heute<br />

haben sie die Krise überwunden, schreiben<br />

in den letzten Jahren schwarze Zahlen und<br />

vergrößern sich. Das behauptet zumindest<br />

der Hauptaktionär und gleichzeitige Geschäftsführer,<br />

der Amerikaner Ronald Adams. Dieser<br />

plant nicht nur eine Verdoppelung der ge -<br />

genwärtigen Produktion von 2,5tsd. LKWs<br />

pro Jahr innerhalb von fünf Jahren, sondern<br />

zieht auch die Wiederaufnahme der Produktion<br />

von PKW in Betracht. „Tatra ist ein<br />

phantastischer Name und eine aus gezeichnete<br />

Marke“, sagt der Mann, der zusammen<br />

mit seinen Partnern die Tatra-Werke vom<br />

amerikanischen Konzern Terex Corporation<br />

gekauft hat.<br />

„Mit einem Tatra kann man sich Fahrten im<br />

Terrain erlauben, bei denen Wagen anderer<br />

Marken mit Schäden rechnen müßten!“,<br />

schrieb die Zeitschrift Trucker im Jahre 2006<br />

zutreffend. Die Konstruktion der Fahrgestelle<br />

der Tatra-Lastkraftwagen schließt einige besondere<br />

technische Schutzvorrichtungen ein.<br />

Fahrgestelle mit einem zentralen Tragrohr<br />

sind einmalig in der Welt und entstanden bereits<br />

in den 1970er Jahren. Im Vergleich mit<br />

Wagen der klassischen Rahmenkonstruktion<br />

ist er um 5-10 mal fester in der Windung und<br />

um fünfmal fester in der Schwenkbiegung.<br />

Die australische Gesellschaft Ausdrill benutzt<br />

die Plattform des Tatra als Tragfläche für Bohrausrüstungen.<br />

Tatra-Wagen, ausgerüstet mit<br />

einem Polar-Paket (sicherer Start bei Temperaturen<br />

bis -50° C u.a.), die auch die Umweltstandards<br />

erfüllen, werden in den russischen<br />

Baikal importiert. Im Angebot sind heute<br />

Wagen, die mit Motoren der anspruchsvollen<br />

Emissionsklasse Euro 4 ausgestattet sind.<br />

Für die Tschechen ist die Marke Tatra so<br />

etwas wie Familiensilber. Überlebt hat die<br />

Firma bis zum heutigen Tage dank ihres<br />

anhaltend guten Rufes. Von 1991 an hatte das<br />

Werk mit zahlreichen Problemen zu kämpfen,<br />

es wurde fast alles dafür getan, um die Gesellschaft<br />

zu Fall zu bringen, aber sie überlebte.<br />

Dank ihres guten Namens. Und nur<br />

deswegen gingen immer neue Bestellungen<br />

aus der ganzen Welt ein – ohne Berücksichtigung<br />

dessen, welche Probleme die Firma<br />

hatte, wie die Lieferzeiten und die Schwierigkeiten<br />

mit der Qualität aussahen. Auch in<br />

diesen schweren Zeiten wurden immer wieder<br />

Tatra-Wagen bestellt.<br />

Da Markenzeichen hat zwar doch ziemlich<br />

viel von seinem Glanz verloren, trotzdem<br />

stellt sich die Firma großen Aufgaben. 2007<br />

erging an sie eine Bestellung von Kraftwagen<br />

für die tschechische Armee. „Letztendlich ist<br />

es ein tolles Auto“, lobt Adams. „Die ersten<br />

Wagen haben wir der Armee im April vorigen<br />

Jahres übergeben. Gleichzeitig haben wir<br />

für die amerikanische Armee das Modell<br />

10x10 fertig getestet. Den Generälen zufolge,<br />

die in Nevada dabei waren, sind die Ergebnisse<br />

überraschend gut. Wir haben auch einen<br />

Transportpanzer getestet, der in Zusammenarbeit<br />

mit einem israelischen Partner entwikkelt<br />

wurde. Benutzt wird das Fahrgestell des<br />

Tatra 4X4, der Transporter ist dem gepan -<br />

zerten Allschutzfahrzeug Dingo ähnlich,<br />

den die tschechische Armee von der Firma<br />

Iveco bezieht. Unser Wagen ging aus den<br />

Test aus ausgezeichnetes, widerstandsfähiges<br />

Auto hervor.“<br />

Der stärkste Markt für Zivilwagen ist und<br />

bleibt Rußland – vor allem wegen dem Ausbau<br />

der Erdöl- und Erdgasförderung. „Tatra<br />

liefert jährlich 700 Autos nach Rußland, aber<br />

ich glaube wir könnten noch um 700 Stück<br />

mehr dorthin verkaufen“, überlegt Adams<br />

laut. Die Firma unterhält ein Montagewerk in<br />

Indien. Dorthin gehen Einzelteile aus Tschechien,<br />

aus welchen jährlich 500 LKWs entstehen.<br />

Die Firma hält indessen nach einem<br />

Platz für ein neues Werk Ausschau. Im Vorjahr<br />

wurde mit Vietnam verhandelt, Adams<br />

neueste Idee geht dahin, einen Hersteller für<br />

Autoteile in Amerika zu finden. Schließlich<br />

verlegen auch andere Automobilhersteller<br />

ihre Werke nach Amerika. „Die USA hat für<br />

uns neue Kapazitäten zu bieten, wir könnten<br />

dort ganze Autos für den amerikanischen Markt<br />

herstellen. Dort gibt es qualifizierte Arbeitskräfte<br />

aus der Automobilindustrie, die nötigen<br />

Maschinen und Menschen ohne Arbeit. Rechnet<br />

man die Produktivität eines amerikanischen<br />

Arbeiters dazu und den Kurs des Dollar<br />

gegenüber der Krone, kann man in Amerika<br />

zum gleichen Preis produzieren, wie in Tschechien.<br />

Wenn wir mit unseren Einkünften auf<br />

20 Mrd. Kronen jährlich kommen wollen,<br />

brauchen wir neue Kapazitäten. Eine solche<br />

Anzahl an Wagen können wir verkaufen, denn<br />

die Nachfrage ist bereits vorhanden. Die Frage<br />

ist nur, wie wir sie herstellen“, erklärt Adams.<br />

Roman Šitner<br />

Tageszeitung Hospodářské noviny<br />

(Wirtschaftszeitung)<br />

Photos: www.tatra.cz<br />

Tatra T 57<br />

Tatra T 600<br />

Tatra T 603<br />

Tatra T 603<br />

13


BLATA<br />

BLANSKO<br />

Blata Blansko, Blick in die Produktionshalle<br />

– ein Unternehmen<br />

mit zähen Wurzeln<br />

Pavel Blata, Gründer und Inhaber der<br />

Firma Blata Blansko, war in den 1970er<br />

Jahren Motorradrennfahrer und erfolgreicher<br />

Werksfahrer in der Fabrik Považské<br />

strojárne in Považská Bystrica in<br />

der Slowakei. Nach dem Fall des Kommunismus<br />

gedachte er seines Traums,<br />

Automobile herzustellen. Es stand ihn<br />

aber nur eine Miniaturwerkstatt zur Verfügung<br />

– seine Garage. Selbst um ein<br />

größeres Motorrad zu bauen, reichte es<br />

anfangs nicht, wohl aber für ein kleines,<br />

ein Minibike. Die ersten Erfolge seiner<br />

Erzeugnisse schlugen sich augenblicklich<br />

in der weiteren Entwicklung der<br />

Firma nieder. Einige der erzeugten Maschinen<br />

verkaufte er, Geld zur Erweiterung<br />

seiner Firma borgte er sich von<br />

einem Freund. Jeder Gewinn wurde sofort<br />

in die Firma investiert, bis sich ein<br />

Geschäftsmann aus New York meldete,<br />

der Interesse an einem anderen seiner<br />

Erzeugnisse anmeldete, an einem Motorroller.<br />

Die Firma ging mit ihren Produkten<br />

auf Messen und Ausstellungen<br />

und wuchs und wuchs. „Das Jahr 2003<br />

war das produktivste, wir haben fast<br />

20 000 unserer Produkte verkauft“, sagt<br />

Firmenmanager Lukáš Vašíček. „Aber<br />

Aus der neuen Produktionsreihe – Enduro 125 BXE<br />

14


gerade um diese Zeit tauchten die ersten<br />

chinesischen Plagiate auf.“<br />

An der Jahreswende 2003/4 wurde<br />

Blata zugetragen, daß ein asiatischer<br />

Hersteller Nachbildungen seiner Minimotorräder<br />

anbiete. Auf dem Markt in<br />

den USA tauchte ein Plagiat auf, daß<br />

Mitarbeiter von Blata inspizierten und<br />

seiner schlechten Qualität wegen nicht<br />

als wettbewerbsfähig ansahen. „In sehr<br />

kurzer Zeit wurde jedoch der Markt von<br />

einer riesigen Welle an Plagiaten überschwemmt.<br />

Allein auf den europäischen<br />

Markt brachte China hunderttausend<br />

Minimotorräder monatlich, was in kürzester<br />

Zeit die gesamte Nachfrage abdeckte“,<br />

erklärt Vašíček.<br />

Der Zustrom an chinesischen Plagiaten<br />

sättigte jedoch nicht nur den Markt<br />

ab, sondern brachte der Branche als<br />

solcher Schaden. Der EU-Kommissar<br />

Kyprianu mußte sich seinerzeit mit<br />

zahl reichen Unfällen mit Todesfällen<br />

be fassen, die der minderwertigen Qualität<br />

der Motorräder zuzuschreiben waren.<br />

Er drängte die EU wirksame Maßnahmen<br />

gegen die Plagiate zu treffen.<br />

Die Firma Blata selbst begann, Plagiate<br />

aufzuspüren, und von Amts wegen<br />

liquidieren zu lassen. In Italien wurden<br />

Plagiate direkt auf einer Ausstellung von<br />

neuen Motorrädern entdeckt, andere<br />

wurden in Großbritannien, den Niederlanden,<br />

Deutschland, Portugal, Malta<br />

und der Slowakei beschlagnahmt.<br />

Blata versuchte es mit einer unkonventionellen<br />

Strategie – eine neue Produktreihe<br />

herzustellen und soviel wie<br />

möglich davon zu verkaufen, noch ehe<br />

die ersten Plagiate auftauchen. Er begann<br />

mit der Arbeit an einem vierrädrigen<br />

Minifahrzeug. Im April 2004 brachte er<br />

es auf den Markt. Aus Erfahrung wußte<br />

er, daß er ein halbes Jahr Zeit haben<br />

würde, um so viel wie möglich zu verkaufen.<br />

Der Plan sah vor, innerhalb von<br />

sechs Monaten 10 000 Stück auf den<br />

Markt zu bringen, und auf diesen Takt<br />

waren auch die Produktionsstraßen eingerichtet.<br />

Mit dem Nachbauen des Vierrades<br />

wurde allerdings schon einige Tage<br />

nachdem Modelle des Erzeugnisses den<br />

britischen Markt erreicht hatten, begonnen.<br />

Der chinesische Hersteller begann<br />

den Verkauf der Kopien bereits 14 Tage<br />

nach der offiziellen Vorstellung von<br />

Blatas Vierrad zu inserieren (noch ehe<br />

die Produktion angelaufen war), was<br />

der übliche Weg ist, um die Nachfrage<br />

zu bestimmen. Innerhalb eines einzigen<br />

Mo nates waren die Plagiate auf<br />

dem Markt.<br />

Es blieb Blata also nichts anderes<br />

übrig, als China zu besuchen. Seine<br />

Leute suchten zehn große Anwaltskanzleien<br />

auf, wo sie sich dessen versicherten,<br />

daß es auch in China möglich ist,<br />

Produkt und Hersteller urheberrechtlich<br />

schützen zu lassen. Allerdings dauert<br />

die Anerkennung des Urheberrechts in<br />

China im mindesten ein Jahr. „Wir besuchten<br />

sogar zwölf Fabriken, in denen<br />

Plagiate unserer Erzeugnisse hergestellt<br />

werden“, fügt Vašíček mit einem Lächeln<br />

hinzu. „Wir gaben uns als Interessenten<br />

aus, machten Photos und etwa<br />

5 Stunden lange Videoaufzeichnungen.<br />

Rechtswege konnten wir allerdings nicht<br />

einleiten, denn wir hatten keine entsprechenden<br />

Papiere. Inzwischen haben wir<br />

sie, aber der Markt ist derart übersättigt,<br />

daß die Rechtsschritte, vom Aufwand<br />

hergesehen, nicht den gewünschten Effekt<br />

gebracht haben.<br />

Blata entschied sich, in dieser Richtung<br />

nicht weiter vorzugehen. Seinen<br />

Katalog erweiterte er um die Straßenmotorräder<br />

Blata 125 Enduro und Blata<br />

125 Motard, die für eine andere Zielgruppe<br />

bestimmt sind und strengeren<br />

technischen Anforderungen und Kontrollen<br />

bei der Einführung auf den europäischen<br />

Markt unterliegen. Weiterhin<br />

stellt er Skooter der Reihe Blatino her,<br />

die sich besonders auszeichnen durch<br />

stilvolles Design, niedrigen Kraftstoffverbrauch<br />

und Zerlegbarkeit (man kann<br />

sie sogar in einer Schultertasche transportieren).<br />

Bei den Minibikes konzentriert<br />

man sich auf den Wettkampfsektor,<br />

wo es weniger auf das am meisten kopierte<br />

Design, als auf technische Eigenschaften<br />

ankommt. „Wir arbeiten<br />

an gestrengt daran, das frühere Wachstum<br />

wieder zu erreichen. Wir haben<br />

zähe Wurzeln und sind inzwischen auch<br />

um wertvolle Erfahrungen reicher“,<br />

schließt Vašíček ab.<br />

Jakub Šmíd<br />

Photos: www.blata.com<br />

Test der neuen Serie 125 ccm im freien Gelände<br />

Neue Minibikes der Firma Blata – Blata Ultima<br />

Pavel Blata (Mitte), Gründer der Gesellschaft<br />

Blata Blansko<br />

15


Miroslav Havel, mein Vater, starb am 5.<br />

September 2008 im irischen Waterford, im<br />

Alter von 86 Jahren. Er ging leise und in<br />

Frieden, jedoch unerwartet. Ich vermisse<br />

ihn sehr. Es ist mir deshalb ein großer Trost,<br />

daß ich seine wunderbare Lebensgeschichte<br />

niederschreiben und in Buchform herausgeben<br />

konnte. Im Lichte der heutigen traurigen<br />

Nachrichten über den Bankrott von<br />

Waterford Crystal – einer der kleinen irischen<br />

Firmen von Weltruf – ist seine Biographie<br />

um so herzergreifender.<br />

Palette der Meisterschaften<br />

Lüster für die Westminster Abtei in London von Miroslav Havel<br />

Maestro of Crystal<br />

Das Leben des Glasbläsers Miroslav Havel<br />

Miroslav Havel, Glasbläser aus der<br />

Tschechoslowakei, erneuerte im irischen<br />

Waterford die Glasherstellung und führte<br />

die Firma zu Weltruf. Er zeichnet u.a. für<br />

die weltberühmte Kristallglaskollektion Lismore,<br />

das bis zur gegenwärtigen Finanzkrise<br />

das meist verkaufte Kristallglas war.<br />

Havel selbst gehört zu anerkanntesten Glasdesignern<br />

überhaupt. Auf die persönliche<br />

Anregung von Jacqueline Kennedy Onassis<br />

entwarf er die Kristallüster für das Kennedy-Zentrum<br />

in Washington. Ganz besondere<br />

Lüster fertigte er auf Bestellung der<br />

Westminsterabtei anläßlich der 700-Jahrfeier<br />

dieses traditionellen Ortes der Krönung<br />

und Beisetzung der englischen Kö nige.<br />

Havel entwickelte und bildete sein vielsei -<br />

tiges Talent auf vielen Gebieten der Glaskunst<br />

aus. Er beherrschte nicht nur die<br />

Kunst, Glas zu entwerfen, sondern auch zu<br />

blasen, zu schneiden, zu polieren, zu Plastiken<br />

zu verarbeiten oder mit Gravuren zu<br />

versehen. Sein Studium an der anerkannten<br />

Hochschule für Kunstgewerbe in Prag unterbrach<br />

die Verschickung zur Zwangsarbeit<br />

in Kohlengruben währen der Okkupation. In<br />

den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges<br />

schloß er sich der Widerstandsbewegung an,<br />

und war an der Brechung des Widerstandes<br />

der deutschen Besatzung beteiligt. Durch<br />

eine Explosion in den Kohlegruben während<br />

der Zwangsarbeit kam er beinahe um<br />

das Gehör, auf dem rechten Ohr blieb er<br />

zeitlebens taub. Dieses Handicap war wohl<br />

der Grund dafür, daß er trotz der sechzig in<br />

Irland verbrachten Jahre seinen tschechischen<br />

Akzent beibehielt. Er war auch nicht<br />

in der Lage zu telefonieren, sein Nachlaß<br />

enthält dadurch auch eine Vielzahl langer,<br />

poetischer Briefe.<br />

Im Lande der Orangen<br />

Seine zweite Heimat fand Havel nach<br />

Verlassen der Tschechoslowakei in Irland.<br />

Die interessanteste Episode aus seinem<br />

Leben bleibt wohl aus der Sicht der Iren die<br />

Zeit, da er als verwirrter Immigrant nach<br />

Irland kam, als ein Land „voller Sonne und<br />

16


tropischer Früchte“. In der Folgezeit, den<br />

vierziger und fünfziger Jahren wird er zum<br />

Erneuerer eines ganzen Industriezweiges –<br />

der Herstellung und dem Verkauf von Kristall-<br />

und geschliffenen Glas.<br />

Auf seiner Wanderung durch das vom<br />

Krieg zerstörte Europa gelangte Havel im<br />

Juli 1947 nach Waterford. Er kam dorthin<br />

auf Einladung seines ehemaligen Arbeit -<br />

gebers Charles Bacik, mit dem er in enger<br />

Verbindung stand.<br />

In Waterford wollte Havel ursprünglich<br />

nur einige Monate zubringen. Bei Bacik,<br />

der vormals Inhaber einiger Glaswerke in<br />

Böhmen gewesen war, hatte Havel nach Beendigung<br />

seines Studiums als Assistent gearbeitet.<br />

1946, als sich in der Tschecho slo -<br />

wakei der Wahlsieg der Kommunisten<br />

ankündigte, war Bacik mit seiner ganzen<br />

Familie über die Schweiz nach Irland geflohen.<br />

Hier nahm er wieder Kontakte zu<br />

seinem ehemaligen Handelspartner, dem<br />

prominenten Dubliner Juwelier Bernard<br />

Fitzpatrick auf.<br />

Nach dem er sich in Irland niedergelassen<br />

hatte, schrieb er meinem Vater einen<br />

Brief, in dem er Irland als ein „Land mit<br />

mildem Klima, voller Bananen und Orangen“<br />

beschreibt, und lud ihn zur Zusammenarbeit<br />

in den Glaswerken „Waterford<br />

Glass“ ein. Als Havel allerdings ab Ort und<br />

Stelle kam, mußte einsehen, daß ihm die<br />

Reise nicht die ersehnten Früchte (und das<br />

im wahrsten Sinne des Wortes) gebracht hatte<br />

und die versprochenen Glaswerke überhaupt<br />

nicht existierten. Bacik und Fitzpatrick verfügten<br />

tatsächlich nur über ein unbebautes<br />

Grundstück und Glaube und Hoffnung,<br />

einen Industriezweig wiederzubeleben, den<br />

hundert Jahre zuvor das britische Steuer -<br />

system zum Ersticken gebracht hatte. Als<br />

Havel Bacik beim Treffen in einer kleinen<br />

Hütte auf dem Gelände der zukünftigen Fabrik<br />

traf, fragte er ihn wie viele Leute in der<br />

Glasfabrik arbeiten würden, antworte dieser<br />

ohne die geringste Spur von Ironie: „Nur du!“.<br />

Miroslav Havel und Charles Bacik, Tramore,<br />

Grafschaft Waterford, 1949<br />

Miroslav Havel beim Treffen mit Ronald Reagan, Südlicher Rasen im Weißen Haus<br />

Miroslav Havel (unten rechts) und sein Team, 1949<br />

Vom Bierglas zur Kunst<br />

Der Anfang war schwer. Bacik und Havel<br />

nahmen eine kleine Produktionsstraße<br />

in Betrieb. Hergestellt wurden Limonadenund<br />

Biergläser. Kunden waren Hotels und<br />

Restaurants. Schon bald meldete sich ein<br />

Investor, McGrath and Griffin, die das Kapital<br />

für die Eröffnung einer neuen Fabrik<br />

bereitstellten. Diese wies bereits die nötige<br />

Kapazität für die Produktion von Kristallglas<br />

auf. Havels Entwürfe nach antiken Mustern<br />

von uraltem Waterford-Glas machten auf<br />

dem amerikanischen Markt von sich reden.<br />

Und die Firma entwickelte sich weiter.<br />

Angesichts der gegenwärtigen Situation ist<br />

es gut sich daran zu erinnern, daß 1987, als<br />

17


mein Vater in Rente ging, Waterford Crystal<br />

die erfolgreichste irische Firma war. Meinem<br />

Vater werden nicht nur die berühmten<br />

Kollektionen Lismore, Colleen u.a. zugeschrieben,<br />

er war auch ein Künstler, der eine<br />

der schönsten gläsernen Statuen des 20.<br />

Jahrhunderts hervorgebracht hat.<br />

„Das Meerwasser bleicht die Haare“<br />

Das Unglück bestand für meinen Vater<br />

nicht nur im Verlust der Heimat, die zu besuchen<br />

ihm die Kommunisten, welche ihn<br />

zum „Verräter“ abstempelten, verwehrten.<br />

Auch der Versuch, seine geliebte Rosa, die<br />

er zu Frau nehmen wollte, nach Irland nachkommen<br />

zu lassen, schlug fehl. Im Jahre<br />

1947 hatte er auf dem Wilson-Bahnhof<br />

in Prag von ihr Abschied genommen. Er<br />

hat sie nie wiedergesehen. Später heiratete<br />

er Betty Storey, eine Irin, mit welcher er<br />

eine für tschechoslowakische Verhältnisse<br />

vielköpfige Familie – mit sechs Kindern –<br />

gründete. Er selbst war Einzelkind.<br />

Als seine Eltern ihn besuchen wollten,<br />

trafen sie auf nicht gerade auf Wohlwollen<br />

seitens der Behörden. Seine Mutter Anna<br />

konnte ihren Sohn nur zweimal kurz besuchen,<br />

Vater František sogar nur ein einziges<br />

Mal. Anna, nur gewöhnt an die stille Wasserfläche<br />

böhmischer Seen, fühlte sich besonders<br />

von den Meereswellen angezogen,<br />

die an der Waterforder Küste emporspritzen.<br />

Sie vergaß sogar die Warnung, mit der sie<br />

ihren Sohn so oft bedacht hatte, daß Meerwasser<br />

die Haare ausfallen läßt und bleicht.<br />

Der Vater hatte lange darunter gelitten, daß<br />

er von den Kommunisten als „Bourgeois“<br />

bezeichnet und zu etlichen Jahren Stra farbeit<br />

in die Uranbergwerke nach St. Joachimsthal<br />

(Jáchymov) verurteilt worden<br />

war. In Irland fand er besonderen Gefallen<br />

an Fisch mit Pommes frites und wußte die<br />

Geselligkeit, Gastfreundschaft und Freiheitsliebe<br />

nicht genug zu loben. Dabei war<br />

er sich dessen bewußt, daß er vom Besuch<br />

seines Sohnes zurückkehren mußte, weil<br />

das Regime seine Frau Anna sonst höchstwahrscheinlich<br />

in Gefängnis gesteckt hätte.<br />

Aus Držkov ins Weiße Haus<br />

Miroslav Havel stand an der Wiege eines<br />

der bekanntesten irischen Markenartikel,<br />

dessen Ruf mit dem des Biers Guiness vergleichbar<br />

ist. Den Glaswerken Waterford<br />

Crystal verhalf er zu zahlreichen Design -<br />

mustern und neuen Produktionsverfahren,<br />

die heute zum Standard in der Glasindustrie<br />

gehören. Nach Irland kam er eigentlich nur<br />

Replik der Freiheitsstatue, die Miroslav Havel<br />

und Bernard Fitzpatrick dem Präsidenten<br />

Ronald Reagan überreichten.<br />

18


auf drei Monate und blieb dann etwas länger,<br />

um seinem Kollegen Bacik beim Start<br />

einer kleinen Glasfabrik zu helfen. Um seinen<br />

Reisepaß und den Status eines tschechoslowakischen<br />

Staatsbürgers brachte ihn<br />

der kommunistische Umsturz im Februar<br />

1948. Bis zum Jahre 1962 konnte er seine<br />

Eltern weder sehen noch mit ihnen sprechen,<br />

dann endlich konnte ihn seine Mutter<br />

in Irland besuchen. Besuchen konnte er<br />

selbst für lange Zeit weder die Tschechoslowakei<br />

noch sein Heimatdorf. Erst im<br />

Jahre 1972 erhielt er, nun schon als irischer<br />

Staatsbürger, ein Visum für sein Heimatland.<br />

Seit seiner Ankunft in Waterford waren inzwischen<br />

fünfundzwanzig Jahre verflossen.<br />

Womit nun abschließen? Erwähnt werden<br />

sollte vielleicht noch Havels Treffen mit<br />

dem US-amerikanischen Präsidenten Ronald<br />

Reagan. Als die Amerikaner den<br />

hundertsten Jahrestag der Errichtung der<br />

Frei heitsstatue feierten, überreichten Havel<br />

und Fitzpatrick dem Präsidenten stolz eine<br />

Replik derselben aus Kristallglas. Mein<br />

Vater selbst hielt seinen Weg, der ihn vom<br />

Dorf Držkov bei Zlín bis auf den südlichen<br />

Rasen des Weißen Hauses führte, für „lang<br />

und ungewöhnlich“. Mit diesen Worten<br />

schließt auch mein Buch über ihn. Vielleicht<br />

geben diese Seiten Zeugnis von seinem<br />

Leben und der Glaswarengesellschaft, die<br />

aufzubauen er half und der er sein Leben<br />

verschrieben hatte.<br />

Kollektion Sheila, vorgeschlagen von Miroslav Havel (The Sheila Suite)<br />

Brian Havel<br />

Autor des Buches Maestro of Crystal<br />

Photos: Archiv Brian Havel<br />

Kollektion Hibernia von M. Havel,<br />

(The Hibernia Suite)<br />

Kollektion Curraghmore von M. Havel<br />

(The Curraghmore Suite)<br />

Briefbeschwerer, 1980 angefertigt für Johannes<br />

Paul II. im Auftrag der irischen Bischöfen<br />

Lüster, entworfen von M. Havel für das J.F. Kennedy-Centrum in Washington, D.C.<br />

19


Galerie<br />

Czech 100 Design Icons<br />

1. Libuše Niklová, aufblasbares Spielzeug<br />

Büffel, 70er Jahre<br />

2. Adolf Matura, Getränkegarnitur,<br />

1959-1960<br />

3. Pavel Janák, Dose mit Deckel, 1911<br />

4. Bořek Šípek, Sessel Filzka, 1998<br />

5. Sportschuhe Botas, Modell Classic,<br />

70er Jahre<br />

6. Josef Gočár, Kaminuhr, 1913<br />

7. Stanislav Lachman, Bügeleisen ETA 211,<br />

Ende der 60er Jahre<br />

8. Skooter ČZ 175, 1957-1960<br />

9. Škoda Felicia, 1959-1964<br />

10. Škoda Design Roomster, 2002<br />

11. Jawa 250 Pérák, 1946-1953<br />

12. Zdeněk Lhotský, Schüssel S.K.L.O, 2000<br />

13. Hans Ledwinka, Erich Übelacker,<br />

Tatra 77, 1934-1935<br />

Photos: Kunstgewerbemuseum Prag,<br />

Technisches Nationalmuseum, Botas, AG,<br />

Modernista, Technisches Museum Tatra<br />

Kopřivnice<br />

1 2 3 11<br />

4 5<br />

6<br />

7 8<br />

12<br />

9 10 13


In Brüssel soll<br />

man spielen<br />

Petr Nikl<br />

„Kreativität und Einbildungskraft sind<br />

die Motoren der Innovation“, läßt er Künstler,<br />

Musikant und Theatermacher Petr<br />

Nikl verlauten und erklärt dazu, daß Kreativität<br />

in einem jeden vorhanden ist, daß es<br />

nur darauf ankommt, soviel als möglich<br />

davon freizulegen. Er selbst tut viel dafür.<br />

Er konzentriert sich nämlich neben seinen<br />

anderen künstlerischen Aktivitäten auf<br />

spielerische, inspirative Produkte, dessen<br />

Urheber, Initiator und Koordinator er<br />

selbst ist, zu denen er aber auch andere<br />

Kollegen einlädt. Meist bildende Künstler<br />

mit Sinn für Musik oder Musiker, die fähig<br />

sind zu „sehen“, Künstler deren Erfindungs<br />

vermögen von einem Genre in ein<br />

anderes oder sogar mehrere andere übergreift.<br />

„Alle Autoren rechnen damit, daß<br />

das ihr Instrument oder Objekt mit denen<br />

der anderen zu einem gemeinsamen Ganzen<br />

verschmilzt““, bestätigt Nikl. „Dadurch<br />

gerät die Individualität in den Hintergrund.<br />

Diese Instrumente sind die kommunikativen<br />

Mittel eines gemeinsamen<br />

Spiels und die Besucher können – bildlich<br />

ebenso wie real – in sie einsteigen.“<br />

Petr Nikl (*1960) ist Maler, Musiker Photograph<br />

und Theatermacher. Typisch für seine<br />

Bilder sind dezente Farbigkeit und unkonventionelle<br />

Sujets. So stellte er zum Beispiel<br />

Masken aus, die an seltsame Tiere erinnern<br />

– und trug sie dann selbst bei seinen Musikund<br />

Theatervorstellungen. Er gibt selbst<br />

ge schriebene Märchen heraus, organisiert<br />

künst lerische und Theaterperformanzen, arbeitet<br />

mit ebenso verschiedenen Theatern wie<br />

mit Einzelnen zusammen, tritt live auf und<br />

nimmt Schallplatten mit dem Ensemble Lakomá<br />

Barka, einer Gesangsgruppe bestehend<br />

aus Kinder und ihren Mütter auf. Anfangs<br />

widmete er sich eher der Malerei, Graphik


und dem Zeichnen, im Laufe der Zeit begann<br />

er bei seinen Kunstwerken mehr und mehr<br />

auf Kombinationen verschiedener Genres zurückzugreifen.<br />

Heute schließen seine Projekte<br />

ausnahmslos außer Kunstbildnerischem und<br />

Musik, dramatische Auftritte und interaktive<br />

Elemente. Wer auf eine von Nikls Produktionen<br />

stößt, etwa auf ein Konzert auf einer CD,<br />

wird überrascht sein, wie es dieser eigentlich<br />

unauffällige, zerbrechlich anmutende Künstler<br />

versteht, in ununterbrochener Folge von<br />

Szenen und Improvisatorischem seinen Körper<br />

und seine Stimme als Instrument des<br />

Spielerischen und Quelle fast unvorstellbarer<br />

Einfälle einzusetzen.<br />

Anfassen erwünscht!<br />

Seine Expositionen geben sich als Objekte<br />

der bildenden Kunst, allerdings ließen sie<br />

sich durchaus auch als Musikinstrumente<br />

bezeichnen. Es handelt sich um interessante<br />

Konstruktionen, jede davon ein Original, eigenhändig<br />

geschaffene, durchdachte Stücke,<br />

schön anzusehen, farbig und in der Ruhepo -<br />

sition aufs Höchste ästhetisch, auch wenn<br />

sie eigentlich ganz einfach sind. Sie bringen<br />

sowohl aus sich heraus Töne hervor als auch<br />

durch Impulse von außen. Der Betrachter berührt<br />

sie, läutet daran, bringt ihre einzelnen<br />

Teile zum Klingen, dreht metallene Teller,<br />

stößt Schaumschläger in Schüsseln aus Metall,<br />

bewundert gläserne Glocken im „Brautstrauß“,<br />

bringt außer den Tönen die Farben<br />

des Regenbogens hervor, bläst in Trichter,<br />

die Töne von sich geben, bringt die Tastatur<br />

einer schwingenden Wasserorgel zum Klingen,<br />

treibt mit eigener Kraft Walzen an, bläst<br />

eine Bleibe für Töne und Farben auf.<br />

Niemand weist sie davon, nirgends hängt<br />

ein Schild „Berühren verboten“. Im Gegenteil,<br />

das Berühren wird durch die Besucher<br />

wird erwartet und begrüßt, die Künstler erfreuen<br />

sich daran, wieviele Leute sich zum<br />

Petr Nikl, Glas Täuschung – Drehsessel mit<br />

Vergrößerungsglas<br />

Spielen verlocken lassen. Der Besucher unter<br />

hält sich und seine Umgebung, kommuniziert<br />

mit musikalisch-kunstbildnerischen<br />

Objekten und auch mit anderen Besuchern,<br />

manchmal mit sichtbaren, ein andermal mit<br />

hinter einer Musikwand verborgenen. Mitunter<br />

kann er allein spielen, gelegentlich werden,<br />

etwa um das Rauschen des Meeres zu<br />

hören, mehrere Hände gebraucht, welche die<br />

Walze zuerst streicheln und drücken. All das<br />

ist leicht zu begreifen, verständlich auch ohne<br />

Anweisung, international, denn Gehirn und<br />

Herz werden eingesetzt, nicht die Sprache.<br />

„Wir bieten ein instrumentales Happening<br />

an, ein Platz für eine imaginative Begegnung,<br />

einen lebendigen Raum“, erklärt Petr Nikl<br />

und konstatiert erfreut, daß diese interaktiven<br />

Ausstellungen von denen er schon einige<br />

veranstaltet hat, regelmäßig zu einem Ort<br />

werden, an dem sich – schon ohne Zutun der<br />

Künstler – Mikrogeschichten abspielen, unerwartete<br />

Situationen, die er gern beobachtet,<br />

ja, er filmt sogar die Reaktionen der Besucher.<br />

„In einer solchen aktiven Umgebung<br />

entspannen sich die Menschen, sind nicht<br />

still, fühlen sich nicht wie in einem Tempel,<br />

wo einer den anderen stören könnte. Es ent-<br />

Orbis Pictus in Vancouver<br />

Ausstellung Orbis Pictus, Tschechisches Zentrum, Paris<br />

Luboš Fidler, Singender Schmetterling, Tasteninstrument, dessen<br />

Mechanik durch eine Anordnung von Aluminiumstäben zum Klingen<br />

gebracht wird, die eine Vibration hoher aliquoter Töne erzeugen<br />

Petr Nikl, Glas Täuschung – Drehsessel mit<br />

Vergrößerungsglas


Martin Janíček, Spielwalze – akustisch-optisches<br />

Instrument (Metallwalze, die mittels einer Kurbel<br />

gedreht wird)<br />

Luboš Fidler, Singender Schmetterling<br />

Petr Nikl, Herz (Detail), aufblasbares Objekt mit<br />

imaginärem kinetischen Labyrinth<br />

steht so ein interessantes Kraftfeld.<br />

Des Genannten wegen und auch wegen<br />

etwas mehr, das nicht zu beschreiben, nicht<br />

in Worte zu fassen ist, sondern erlebt werden<br />

muß, wurde Nikls Wanderausstellung Orbis<br />

pictus aneb Brána do světa tvořivé lidské fantazie<br />

zum Symbol des gegenwärtigen Jahres<br />

des Schöpfertums und der Innovation erklärt.<br />

Im August wird die Exposition im Brüsseler<br />

Sitz der EU eröffnet.<br />

Ihre Weltpremiere erlebte sie im Herbst<br />

2006 im Tschechischen Zentrum in Paris,<br />

2007 war sie in Prag und anderen tschechischen<br />

Städten, Erfolg war ihr auch im ita lienischen<br />

Florenz beschieden. Im Moment<br />

bezaubert sie die Besucher in Vancouver.<br />

Das Projekt, welches auch einen Bildband,<br />

der eigentlich ein bemerkenswerter Kunstatlas<br />

der Ausstellung ist, und eine DVD mit<br />

Proben aus der Exposition und Aufnahmen<br />

aus dem „Leben“ der ausgestellten spielerischen<br />

und zum Spielen anregenden Objekte<br />

umfaßt, fand sein Inspiration im Werk des<br />

weltbekannten tschechischen Humanisten<br />

Johann Amos Comenius. An jedem Ort,<br />

welchen die Ausstellung Orbis pictus aneb ...<br />

durchläuft, wird eine Grundensemble verwendet,<br />

die entsprechend den Räumlich -<br />

keiten und den Intentionen der Schöpfer, die<br />

keine Freude daran haben, immer dasselbe<br />

auszustellen, umgestaltet wird. Spielerische<br />

Expositionen, die allerdings auf einer anderen<br />

Ebene liegen – sie dienen nicht allein dem<br />

Spaß, angefangen bei der Zerstreuung führen<br />

sie weiter, zum Nachdenken darüber, wie die<br />

Welt und der Mensch mit seinen Gefühlen<br />

und Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten<br />

eigentlich funktioniert, entwirft.<br />

Petr Nikl bereits seit zehn Jahren.<br />

Den ersten Erfolg erzielte er im Jahre 2000<br />

mit der Ausstellung Hnízdo her (Nest der<br />

Spiele), die der grenzenlosen Aktivität des<br />

Publikums so entgegenkam, daß die Leute sie<br />

wortwörtlich auseinandernahmen. Nikl war<br />

damals der Hauptperson, lud jedoch weitere<br />

dreißig gleichgesinnte Künstler zur Mitarbeit<br />

ein. Die Ausstellung im Rudolfinum war ein<br />

großes Ereignis und wurde auch in anderen<br />

Orten installiert. Daraus eröffneten sich neue<br />

Gelegenheiten. So wurde Nikl damit betraut,<br />

die interaktive Exposition im Tschechischen<br />

Pavillon für die Weltausstellung EXPO 2005<br />

im japanischen Aichi zu gestalten.<br />

Schule des Spiels<br />

Orbis pictus heißt ein didaktisches Werk<br />

des Theologen, Philosophen, Pädagogen und<br />

Schriftstellers Johann Amos Comenius (1592-<br />

1670), in welchem sich der Autor in einhundertfünfzig<br />

Kapiteln der leblosen Natur zuwendet,<br />

z.B. dem Himmel, Wetter, Wasser,<br />

Steinen, der Pflanzenwelt, also Bäumen, Obst,<br />

Blüten usw., der Tierwelt, beispielsweise Vö-<br />

Petr Nikl, Petr Lorenc, Jiří Melzer, Hut,<br />

Beobachtungszelt mit Camera obscura<br />

Ausstellung Orbis Pictus in Florenz<br />

Ivan Havlíček, Löwenzahn, optisches Objekt


geln, Wasservögeln, Fluß- und Seefischen,<br />

aber auch der Religion ... Andere Kapitel sind<br />

dem Menschen und seinen Tätigkeiten gewidmet,<br />

etwa Haupt und Hände, Die menschliche<br />

Seele, Bäckerei, Fisch- und Vogelfang,<br />

Seeschlacht. Die Handlung in diesen Kapiteln<br />

wird immer in Bewegungen illustriert,<br />

man findet dort z.B. einen malenden Maler,<br />

messenden Landvermesser, backenden Bäcker.<br />

Das ganze Werk ist didaktisch aufgebaut:<br />

auf die leblose Materie folgt die Flora, dann<br />

die Fauna und zuletzt die Welt des Menschen.<br />

Nach der Beschreibung des Menschen kommen<br />

die Tätigkeiten, zuerst die, die dem<br />

Menschen Speise und Kleidung sichern, erst<br />

danach die komplizierteren, Kunst, Wissenschaft,<br />

Schulwesen aber auch Wirtschaft. In<br />

Tschechien wird Comenius als „Lehrmeister<br />

der Nation“ bezeichnet. Berühmt wurde außerdem<br />

er durch seine bis heute modernen<br />

Ansichten, wie kleine Kinder zu lehren seien,<br />

wie die Erwachsenen sie zur Lust nach<br />

Erkenntnis führen sollen. Einfacher gesagt<br />

Comenius’ Schule des Spiels.<br />

Hier finden zweifellos Nikl und seine Kollegen<br />

Anregungen, wenn sie ihre Spiel- und<br />

Lehrausstellungen vorbereiten. Angeregt zu<br />

all seinen Projekten wurde Nikl, als er den<br />

Auftrag erhielt, die englische Ausgabe eines<br />

anderen Werkes von Comenius Labyrint<br />

světa a ráj srdce (Labyrinth der Welt und<br />

Paradies des Herzens) zu übersetzen. (Die<br />

Verleger Randana und Jiří Waldov geben<br />

das Buch in verschiedenen Sprachen mit jeweils<br />

anderen Illustrationen heraus.) Er sollte<br />

dazu auch ein dreidimensionales interaktives<br />

Objekt entwerfen, welches eine freie Metapher<br />

des Buches darstelle. „Daraus entstand<br />

schließlich eine ganze interaktive Kollektion,<br />

die sich immer weiterentwickelt. Es entstand<br />

so die Exposition Orbis pictus aneb Brána<br />

Jaroslav Kořán, Viererlautsprecher, Lautobjekt<br />

do světa tvořivé lidské fantazie (Orbis pictus<br />

oder das Tor zur Welt schöpferischer Einbildungskraft“,<br />

führt Nikl an.<br />

Auf die Frage, worin Comenius denn für<br />

Künstler unserer Gegenwart modern sei, antwortet<br />

Nikl: „Comenius beflügelt uns immer<br />

wieder mit seinen von immerwährender<br />

Gültigkeit. Aber es kommt uns nicht zu, ihm<br />

irgendein Didaktik-Museum zu errichten.<br />

Wir haben freie Metaphern zu seinen Gedanken<br />

geschaffen und betonen dabei den offenen<br />

Schaffensprozeß der Erkenntnis unserer<br />

selbst und der Welt durch unsere Imagination<br />

und die eigenen Sinne. Orbis pictus verstehen<br />

wir nicht als äußere Welt abgebildet<br />

in Illustrationen sondern vor allem als innere,<br />

reflektierende Welt, die wir in unseren<br />

Sinnen widerspiegeln und in unserer Phantasie<br />

umgestalten.“<br />

Marta Švagrová<br />

Redakteurin des Tagesblattes Lidové noviny<br />

Photos: www.pampaedia.cz<br />

Petr Lorenc, Irrgarten des Lichts, konisches<br />

Kaleidoskop, optisches Instrument, gespaltene<br />

Bilder im Durchblick<br />

Ondřej Smeykal, Sonnenblume, akustisches Periskop,<br />

Petr Nik, Auge, optisches Objekt auf dem Prinzip der<br />

Camera obscura, Petr Nikl, Herz, aufblasbares Objekt<br />

Ondřej Smeykal, Klappernder Tubus, akustisches<br />

Objekt (im Vordergrund)<br />

25


Jan Žďárek an seinem Prager Arbeitsplatz<br />

(Tschechische Akademie der Wissenschaften)<br />

Larven (Mitte) und Puppen der Tse-Tse-Fliege, die gezüchtet werden, um nach der Sterilisation freigelassen zu werden<br />

Jan Žďárek:<br />

Im Kampf mit der Tse-Tse-Fliege<br />

Die Tse-Tse-Fliege und Aschenputtel,<br />

was haben sie gemeinsam? Die Fliege<br />

überträgt eine tödliche Krankheit auf Menschen<br />

und Rinder. Das Vorgehen, um dieses<br />

gefährliche Insekt auszurotten, erinnerte<br />

bisher an die Mühsal Aschenputtels beim<br />

Auseinandersortieren von Erbsen und Linsen.<br />

„Die Tse-Tse-Fliege fasziniert mich mit<br />

ihren Eigenschaften. Sie ist ein Insekt und<br />

dabei bringt sie ihre Nachkommen fast wie<br />

ein Säugetier zur Welt“, erklärt der Entomologe<br />

Prof. Jan Žďárek vom Institut für<br />

Organische Chemie und Biochemie der<br />

Tschechischen Akademie der Wissenschaften<br />

in Prag. Die Tse-Tse-Fliege legt nicht<br />

Hunderte von Eiern, nur alle zehn Tage<br />

bildet sich bei ihr ein einziges Ei, das sie<br />

nach der Befruchtung austrägt, bis es zur<br />

Larve herangereift ist. „Die Nachkommen<br />

werden im Körper der Mutter durch ein<br />

spezielles Sekret ernährt. Es ist so eine Art<br />

Insektenmilch“, erklärt Pro fessor Žďárek.<br />

Diese Faszination führte die tschechischen<br />

Wissenschaftler zur Teilnahme an<br />

einem Vorhaben der Internationalen Ato -<br />

menergie-Agentur (IAEA). Ein Team ausländischer<br />

Experten wurde mit der Aufgabe<br />

betraut, Methoden zur Verringerung bzw.<br />

vollständigen Ausrottung der Fliege festzustellen<br />

und zu erproben. Dieses ungewöhnliche<br />

zweiflügelige Insekt überträgt<br />

nämlich einen Parasiten, der beim Menschen<br />

die Schlafkrankheit und bei Tieren<br />

eine als Nagana bezeichnete Krankheit<br />

hervorruft. Es leiden darunter Gehirn, Le -<br />

ber, Nieren und weitere lebenswichtige Or-<br />

gane. Der Betroffene hört auf zu essen, wird<br />

schwach und müde, wird nicht rechtzeitig<br />

mit der Heilung begonnen, stirbt er langsam<br />

dahin. Dasselbe Schicksal erleiden<br />

auch die Rinder. An der Schlafkrankheit<br />

erkrankt sind gegenwärtig ungefähr eine<br />

halbe Million Menschen und jährlich kommen<br />

etwa vierzigtausend Patienten dazu.<br />

Die Tse-Tse-Fliege ist auch der Grund<br />

dafür, daß in Äquatorialafrika auf einem<br />

Gebiet von der Größe Europas keine Rinder<br />

gehalten werden können. Wenn es gelingt,<br />

die Fliege zu vertilgen könnten die<br />

Afrikaner viermal so viele Rinder halten,<br />

wie bisher. Ein Grund für den von Hungers -<br />

nöten geplagten Kontinent, dem Insekt den<br />

Krieg anzusagen. Leider zeigen chemische<br />

Insektenvertilgungsmittel bei der Tse-Tse-<br />

Fliege nicht die geringste Wirkung.<br />

Die Wissenschaftler setzten deshalb „die<br />

Fünfte Kolonne“ auf das Insekt an. Gezüchtet<br />

wurden Millionen von Männchen,<br />

welche mittels Gamma-Strahlung aus Kobaltbomben<br />

sterilisiert und dann ausgesetzt<br />

werden. Durch die Paarung mit dem<br />

unfruchtbaren Männchen verliert die Fliege<br />

das Interesse an weiteren „Freiern“, ohne<br />

zu ahnen, das der Nachkomme ausbleiben<br />

wird. Die ganze Sache sieht einfach aus,<br />

bringt jedoch eine Reihe praktischer Probleme<br />

mit sich. So mußten die Wissenschaftler<br />

die Frage klären, wie die Fliege<br />

in der „Gefangenschaft“ zu ernähren sei.<br />

Anfangs wurden Kaninchen dazu verwendet.<br />

Später entwickelten die Experten eine<br />

rücksichtsvollere und praktischere Methode.<br />

Die Fliegen saugen das auf die<br />

Temperatur eines Tierkörpers erwärmte<br />

Blut durch eine Silikonmembrane. Diese<br />

Nachahmung einer Rinderhaut hat sich<br />

außerordentlich bewährt.<br />

Ein zweites Problem war die Trennung<br />

der ausgeschlüpften Insekten in Männchen<br />

und Weibchen. Weibchen und Männchen<br />

unterscheiden sich einzig und allein durch<br />

die Paarungsorgane. Bis vor kurzem wurden<br />

26


Wissenschaftler<br />

auf entfernten Kontinenten<br />

die Fliegen gleich nach dem Schlüpfen unterkühlt,<br />

damit sie nicht wegfliegen können<br />

und die Angestellten mußten in die Kühlbox<br />

greifen und die Tiere mit einem Pinsel<br />

nach Geschlechtern trennen. Das Aschenputtel<br />

sortierte vielleicht Tausende von Lin -<br />

sen und Erbsen auseinander, gegenüber<br />

den afrikanischen Aschenputteln, die Millionen<br />

von Fliegen sortieren mußten, hatte<br />

sie jedoch eine recht einfache Aufgabe.<br />

Befreit wurden die afrikanischen As -<br />

chenputtel von dem tschechischen Entomologen<br />

Jan Žďárek. Er erarbeitete eine<br />

Methode, die die Trennung der Fliegen<br />

erheblich vereinfacht. Als Insektenkenner<br />

wußte er, daß sich die weiblichen Larven<br />

schneller entwickeln, als die männlichen<br />

und deshalb früher ausschlüpfen. Er konn -<br />

te deshalb feststellen, daß in den ersten<br />

zwei Tagen nur Weibchen ausschlüpfen,<br />

am dritten und vierten Tag nur Männchen.<br />

Das Ausschlüpfen selbst läßt sich noch<br />

genauer zeitlich festlegen und abstimmen<br />

durch die Lufttemperatur im Brutkasten.<br />

Die Wissenschaftler erprobten ihre flächendeckende<br />

Methode auf der Insel Sansibar.<br />

Der Feldzug endete nach 16 Monaten mit<br />

einem vollständigen Sieg des Menschen.<br />

Allerdings hatte der Gegner aus dem Tierreich<br />

auf der 60 km vom Festland entfernten<br />

Insel keine Chance, seine Verluste durch<br />

neue Kräfte zu wettzumachen.<br />

Auf dem Kontinent ist es verständlicherweise<br />

komplizierter. Deshalb suchte das<br />

Wissenschaftlerteam in Äthiopien und<br />

einigen anderen afrikanischen Staaten Gegenden<br />

aus, die an Inseln erinnern – Täler,<br />

die durch Berge eingegrenzt sind, die die<br />

Fliege nicht zu überwinden vermag oder<br />

isolierte „Urwaldinseln“ entlang der Flüsse,<br />

wo das Insekt sich mit Vorliebe aufhält.<br />

Die Tse-Tse-Fliege in Afrika völlig<br />

auszurotten, wird wohl kaum gelingen.<br />

Das glaubt nicht einmal Prof. Žďárek, sie<br />

von den Plätzen zu verdrängen, wo die ursprüngliche<br />

Natur es erlaubt, Viehzucht zu<br />

betreiben, erscheint ihn durchaus möglich.<br />

Die „Munition“ wird schon vor bereitet.<br />

Nun, nachdem das Wissenschaftlerteam<br />

die Technologie erarbeitet, erprobt und<br />

den Afrikanern übergeben hat, sollte<br />

die erste „Fabrik“ in Addis Abeba jeden<br />

Mo nat bis zu einer Million Männchen<br />

zur Sterilisation heranziehen. Von diesen<br />

„Pro duktionshallen“ sollen mit der Zeit in<br />

Äthiopien noch einige andere entstehen.<br />

Photos: Simon Chang, Archiv Jan Žďárek<br />

Tse-Tse-Fliege<br />

Einfaches, aber reizendes afrikanisches Dorf<br />

In manchen Teilen Äthiopiens kennt man die<br />

Schubkarre noch nicht.<br />

<br />

Tse-Tse-Fliege auf einem eingeschläferten<br />

Nashorn vor dem Transport in einen anderen<br />

Nationalpark. Zuvor wird überprüft, ob das Tier<br />

nicht durch Schlafkrankheit infiziert ist.


Vít Vilímek:<br />

Droht Machu Picchu<br />

der Zerfall?


Es war wohl ein ausgezeichneter Gedan -<br />

ke, die heilige Stadt Machu Picchu auf einem<br />

Hochplateau inmitten von Bergen zu erbauen.<br />

Der Platz umgeben von Felsengipfeln<br />

strömt eine mystische Atmosphäre aus, war<br />

weit entfernt von der Zivilisation, damit die<br />

Priester hier Ruhe zur Meditation fanden<br />

und, was wohl der Hauptgrund war – auf die<br />

Erbauer warteten Berge von Felsbrocken. Er<br />

erinnerte an einen nach einer Explosion verlassenen<br />

Steinbruch. Es genügte die Steine<br />

zum Bau der Tempel, Paläste und vielen<br />

Häuser einfach zu behauen, und es blieb<br />

sogar noch Baumaterial für Terrassen an<br />

den Steilhängen rund um die Stadt. Eines<br />

konnten die Inka-Baumeister allerdings<br />

nicht wissen. Der uralte „Sprengmeister“ war<br />

höchst wahrscheinlich ein Erdbeben.<br />

Die Berggipfel zerfielen vor vielen Millionen<br />

Jahren. Ein Teil der Felsen fiel in das<br />

Flußtal des Urubamba, der Rest blieb auf<br />

dem Plateau. Die Folgen dieser Naturkatastrophe<br />

sind auch heute noch zu erkennen.<br />

Darüber hinaus stellten die Wissenschaftler<br />

fest, daß der Kultort der Inka sich auf dem<br />

Schnittpunkt dreier Bruchlinien befindet.<br />

Das Gestein ist in Bewegung und die verschwundenen<br />

Flächen bilden sog. tekto -<br />

nische Spiegel. Allein in der Zeit vom<br />

De zember 1995 bis zum Januar 1996 stürzten<br />

viermal mehrere tausend Kubikmeter<br />

Gestein ein. Zweimal beschädigte der Bergsturz<br />

die Zufahrtsstraße und die Bergmassen<br />

stürzten unweit der Ruinenstadt ab.<br />

Mit eingehenden Untersuchungen der<br />

Lokalität wurde begonnen, nachdem zwei<br />

Schweizer Professoren aus Lausanne erklärt<br />

hatten, daß sich von den Bergen unter Machu<br />

Picchu bis zu sechs Mio. Kubikmeter Gestein<br />

ablösen und herunterstürzen könnten.<br />

Die ersten, die kamen um die Bewegung<br />

der Gebirge zu messen, waren 1999 japanische<br />

Geologen. Ihre Forschungsergebnisse,<br />

wurden aus dem Kontext gerissen, von den<br />

Medien publiziert und im Jahre 2000 überschwemmte<br />

die alarmierende Botschaft<br />

die Nachrichten, Machu Picchu stürzt jeden<br />

Augenblick in den Canyon oder verschwindet<br />

in die Tiefe, weil die Kluft unter dem<br />

Plateau sich immer mehr ausweitet. Andere<br />

Forschungsteams brachen zur Inka-Stadt<br />

auf – zuerst aus Tschechien, später auch aus<br />

Italien, der Slowakei und Kanada.<br />

„Entlang der Gesteinsrisse und über<br />

den Hauptplatz installierten wir ein System<br />

von Monitoren“, sagt Dozent Vít Vilímek<br />

von der Naturwissenschaftlichen Fakultät<br />

der Karlsuniversität Prag, der gemeinsam<br />

mit Jiří Zvelebil vom Tschechischen Geologischen<br />

Dienst und Jan Klimeš vom Institut<br />

für Strukturen und Mechanismen von Gesteinen<br />

der Tschechischen Akademie der<br />

Wissenschaften den Kern des tschechischen<br />

Teams darstellt.<br />

Unter den Fachleuten in der Welt herrschte<br />

keine Übereinstimmung über die Ausmaße der<br />

Gefahr. Die einen behaupteten, daß die Berge<br />

immer mehr auseinanderklaffen und schlugen<br />

eine drastische Lösung (z.B. eine 200 Meter<br />

tiefe Bohrung auf der archäologischen Fundstelle)<br />

vor. Eine ganz andere Ansicht vertritt<br />

das tschechische Expertenteam. Sie widersprechen<br />

der Meinung, daß den Denkmälern<br />

Gefahr droht, keineswegs, aber ihnen zufolge<br />

ist dieses Risiko weit niedriger, als es die japanischen<br />

Wissenschaftler beschreiben.<br />

Womit begründen die Tschechen diese<br />

Ansicht? Der Kamm sei vermutlich nach<br />

einem starken Erdbeben zerfallen, zu dem es<br />

lange vor dem Bau der Stadt gekommen war.<br />

Wenn die tiefe Bergkluft unter dem Hauptplatz<br />

wirklich gäbe und bis heute arbeiten<br />

würde, wären nach einigen Jahrhunderten<br />

von den Gebäuden der Stadt bis heute nicht<br />

mehr als zerfallene Ruinen übrig.<br />

Die Fläche sinkt vor allem an den Stellen ein,<br />

wo die damaligen Bauleute Dellen und kleine<br />

Klüfte ausfüllten, um einen ebenen Bauplatz<br />

zu erhalten. Am meisten haben die Bodensenkungen<br />

den sog. Haupttempel am Fuße des<br />

Hügels Intiwatana beschädigt. Die Archäo -<br />

logen nehmen sogar an, daß er eben deshalb<br />

nicht von den Inka zu Ende gebaut wurde.<br />

Den letzten Forschungsergebnissen tschechischer<br />

Geologen und Geomorphologen<br />

zufolge ist es wahrscheinlich, daß der anlie -<br />

gende Teil des heiligen Hügels samt den bereits<br />

fertigen Terrassen in die Tiefe stürzte.<br />

Eben das Bersten der großen Tempelbauten,<br />

also ein klarer Beweis des Unwillens der<br />

Götter, können die Naturwissenschaftler den<br />

Archäologen als Grund dafür anbieten,<br />

warum die Bewohner die Stadt verließen.<br />

Den tschechischen Experten gelang es<br />

auch aufzuhellen, warum die Gebäude in der<br />

Umgebung des Sonnentempels eingesackt<br />

sind. An dieser Stelle endete nämlich die<br />

Wasserleitung der Inka, die in den Gebäudekomplex<br />

mit den Ritualbädern führte. Bis<br />

heute leitet der Kanal Wasser von einer mehr<br />

als einen Kilometer entfernten Quelle am<br />

Hang der Berge hierher. Das Wasser lief aus<br />

dem beschädigten Kanal, drang in den Boden<br />

unterhalb der Gebäude in der Nähe des Tempels<br />

ein und schwemmte kleine Gestein -<br />

stücke heraus. Es entstanden so Lücken, in die<br />

größere Stücke des Baumaterials einsanken.<br />

Das übertrug sich auf die Grundmauern und<br />

Wände der Inka-Bauten. Ein weiteres Durchsickern<br />

und Wegschwemmen wird glücklicherweise<br />

auf eine etwas seltsame Weise<br />

unterbunden. Das Wasser wird zum großen<br />

Teil von einem unweit der archäologischen<br />

Fundstelle erbauten Hotel bezogen ...<br />

Josef Matyáš<br />

Redakteur des Tagesblattes Lidové noviny<br />

Photos: Simon Chang, Archiv Vít Vilímek<br />

Vít Vilímek an seinem Prager Arbeitsplatz<br />

(Karlsuniversität)<br />

Lama am Machu Picchu, der heiligen Stadt der Inka<br />

Die Kultstätte der Inka befindet sich auf dem<br />

Schnittpunkt dreier geologischer Bruchlinien.<br />

29


Mein Platz ist<br />

im Labor<br />

Ein sympathischer älterer Mann<br />

stellt ein Stück Zucker auf die Spitze.<br />

Den Vorsitz Tschechiens in der EU<br />

propagiert der doppelsinnige Spot<br />

„Wir versüßen es Europa“ – und mit<br />

dem Zuckerstück spielen im Spot die<br />

bekanntesten Tschechen. Ein Man nequin,<br />

ein Eishockeyspieler, ein Fußballspieler,<br />

eine Primaballerina, ein<br />

Dirigent – und der bedeutendste tschechische<br />

Wissenschaftler. Ein Che miker,<br />

der Erfinder eines Stoffes, aus dem<br />

Arzneien entstanden, die Millionen<br />

Menschen auf der Heilung versprechen.<br />

Antonín Holý.<br />

Für den Beruf eines Chemikers entschied<br />

er sich bereits als Oberschüler.<br />

Ursprünglich befaßte er sich mit klassischer<br />

organischer Chemie, weit entfernt<br />

von der Medizin. Vielleicht war es der<br />

Besuch und der Anblick kahlköpfiger<br />

an Leukämie erkrankter Kinder, vielleicht<br />

führte sein Weg aber auch nur<br />

ganz gesetzmäßig von der klassischen<br />

Chemie der Nukleotide zum Studium<br />

der Enzyme, begann neue Stoffe zu<br />

synthetisieren und drang zu Minimalstrukturen<br />

und im Organismus ständig<br />

aktiven biologischen Stoffen vor.<br />

Ausschlaggebend für sein weiteres<br />

Leben wurde jedoch der Studienaufenthalt<br />

in Göttingen, es folgte ein<br />

Symposium, bei welcher er zum ersten<br />

Mal – vor gut vierzig Jahren – mit Erik<br />

De Clercq zusammentraf. Der junge<br />

Arzt von der Katholischen Universität<br />

in Leuven und Virologe mit ausgezeichneten<br />

Kenntnissen der Chemie<br />

war mit dem Vorschlag zur Konferenz<br />

gekommen, daß es interessant wäre,<br />

neue Stoffe aus dem Gebiet der Nukleonsäuren<br />

daraufhin zu testen, ob sie<br />

nicht gegen Viren einzusetzen seien.<br />

„Damals war das ein ganz neuer<br />

Gedanke“, erinnert sich Prof. Holý<br />

in einem Gespräch für die Website<br />

Tváře české vědy (Gesichter der tschechischen<br />

Wissenschaft). Arzneimittel<br />

gegen Viren und die Entwicklung<br />

antiviraler Stoffe stand noch an ihren<br />

Anfängen – außer Acylpyrin gab es<br />

nur Antiviren-Impfstoffe.<br />

Holý erklärte De Clercq, daß er interessante<br />

Stoffe zusammengestellt<br />

30


hätte, die sich nicht im Organismus<br />

zersetzen, und De Clerc bot sich an,<br />

diese zu testen.<br />

Das war 1976. Antonín Holý sandte<br />

einen Umschlag mit einigen Milligramm<br />

von sechs Substanzen nach<br />

Belgien. Eine davon erwies sich tatsächlich<br />

aus wirksam. Später entstand<br />

daraus das Arzneimittel Duviragel,<br />

das gegen Herpes hilft.<br />

Holý begann systematisch an neuen<br />

Stoffen mit antiviraler Wirkung zu<br />

arbeiten.<br />

So kam eine Zusammenarbeit zustan -<br />

de, die bis zum heutigen Tage reicht.<br />

Holý – De Clercq – Martin<br />

Aus der dritten Versuchsreihe, die<br />

um 1985 getestet wurde, gingen drei<br />

Medikamente hervor. Vistide gegen<br />

Windpocken und andere Viren, Veread<br />

gegen AIDS und Hepsera gegen Hepatitis<br />

B.<br />

Das Team um Antonín Holý hätte<br />

jedoch niemals allein aus den Wirkstoffen<br />

Medikamente herstellen können.<br />

Dazu braucht man gut 15 Jahre<br />

und vor allem einen Haufen Geld.<br />

Es wurde erforderlich, die Zusammenarbeit<br />

mit der Pharma-Industrie<br />

in Angriff zu nehmen. So kam als dritter<br />

Partner die Firma Gilead Sciences<br />

hinzu. Es entstand so eine Dreiergruppe,<br />

die in der Welt manchmal mit<br />

großer Übertreibung – und dem Verweis<br />

auf den Namen des tschechischen<br />

Wissenschaftlers – als Holy Trinity bezeichnet<br />

wird. Zusammen setzt sich<br />

das Spitzenteam aus Holý, De Clercq<br />

und dem Direktor der kalifornischen<br />

Firma Gelead Sciences John Martin.<br />

Dank dieser Zusammenarbeit konnten<br />

aus den Entdeckungen Holýs Arzneien<br />

gegen AIDS, Pocken, Herpes und<br />

Gelbsucht werden ...<br />

Von diesen wirksamen Medikamenten<br />

gibt es jetzt schon eine ganze<br />

Reihe: Auf der Grundlage der von<br />

Holý entwickelten Stoffe ist es heute<br />

möglich das Leben von AIDS-Kranken<br />

zu verlängern und die Lebens -<br />

qualität erheblich zu verbessern – eine<br />

Tablette Truvada (zugelassen in den<br />

USA seit 2004) ersetzt den AIDS-<br />

Patienten 13 verschiedene Pillen. Den<br />

Patienten verlängert er das Leben,<br />

im frühen Stadium unterdrückt er die<br />

Vermehrung der HIV-Viren und bei<br />

der Geburt verhindert er die Übertragung<br />

von AIDS auf die Neuge bo -<br />

renen. Vistide (1996) wirkt auf Viren<br />

der Gürtelrose, Windpocken, Magengeschwüre<br />

und Entzündungen der<br />

Augenschleimhaut. Hepsera (2003) ist<br />

ein Medikament gegen Hepatitis B<br />

und schützt so Tausende von Patienten<br />

vor der Transplantation der Leber, Zirrhose<br />

und Leberkrebs. Viread (2001)<br />

ist eines der gegenwärtig wirksamsten<br />

Arzneien gegen AIDS, verlängert den<br />

Betroffenen das Leben und verbessert<br />

die Lebensqualität ...<br />

Die Firma Gilead Sciences, die u.a.<br />

auch Dank Holýs Erfindungen seit<br />

2006 erfolgreich Gewinn abwirft, sag -<br />

te Holýs Institut – dem Institut für<br />

Organische Chemie und Biochemie<br />

der Tschechischen Akademie der Wissenschaften<br />

– eine jährliche Unter -<br />

stützung von 1,1 Millionen Dollar zu.<br />

Davon stehen Prof. Holý jährlich<br />

200tsd. Dollar zur Verfügung.<br />

An Einnahmen aus den Lizenzen<br />

fließen dem Institut jährlich weitere<br />

400 Mio. Kronen zu und so kann sich<br />

das Institut dank der Erfindungen<br />

des Professors die neueste Ausstattung<br />

leisten. Der Professor arbeitet geduldig<br />

weiter, auch mit seinen 72 Jahren<br />

ist er täglich im Institut anzutreffen.<br />

„Mein Platz“, so erklärt er, „ist im<br />

Labor.“ Und denen, die ihn wegen der<br />

„Wunder“ bewundern, die unter seinen<br />

Händen entstehen, beteuert er: „Ich<br />

rette die Menschheit nicht. Da müßte<br />

ich ja verrückt sein. Ich entwickle im<br />

Labor gern neue Stoffe, die es bisher<br />

noch nicht gab ...“<br />

Neue Medikamente in Aussicht<br />

– gegen Krebs<br />

Im Vorjahr machte ein neuer Stoff<br />

des Professors von sich reden, der zum<br />

Wirkstoff eines neuen Medikaments<br />

gegen Lymphknotenkrebs und chronische<br />

Leukämie.<br />

Das Testpräparat aus dem Wirkstoff<br />

GS-9219 wurde mit Erfolg an Tieren<br />

getestet. Es zeigte sich, daß es nur<br />

Krebszellen angreift, während das gesunde<br />

Zellmaterial nicht beschädigt<br />

wird. Im vergangenen Juli wurde das<br />

Präparat in fünf tschechischen Krankenhäusern<br />

getestet. Im November<br />

wurden Tests auf Gefahrlosigkeit für<br />

den Menschen durchgeführt – und<br />

wieder mit positivem Ergebnis. Dennoch<br />

wird es mindestens fünf oder<br />

sechs Jahre dauern bis die Arznei für<br />

die Patienten verfügbar sein wird.<br />

„Auf den Stoff bin ich vor vier Jahren<br />

nur durch Zufall gestoßen“, hören wir<br />

von Professor Holý in einem Gespräch.<br />

„Nur der Zufall wollte es, daß ich<br />

einen Wirkstoff gegen diese Art von<br />

Krebs fand.“<br />

31


Zufall, Glück, aber auch Geduld und<br />

lange Jahre unermüdlicher, konzentrierter<br />

Arbeit, das sind die Worte mit<br />

denen Professor Holý seinen Weg zu<br />

Erfolg und Ruhm beschreibt.<br />

Er selbst hört das Wort Ruhm nicht<br />

gern. „Ruhm hat mich nie interessiert,<br />

das ist nichts für mich, ich liebe die<br />

Chemie und bis heute fasziniert es mich,<br />

zu testen, was passiert, wenn man zwei<br />

Stoffe miteinander vermischt“, versichert<br />

der Wissenschaftler.<br />

Kandidat für den Nobelpreis<br />

Über den Respekt und die Anerkennung<br />

zu sprechen, die ihm seine<br />

tschechischen Kollegen zollen, ist<br />

über flüssig.<br />

Für sie alle soll hier der neu gewählte<br />

Vorsitzende der Tschechischen<br />

Akademie der Wissenschaften Jiří<br />

Drahoš: „Prof. Holý lernte ich näher<br />

kennen als Kollegen in der zweiten<br />

Hälfte der 1990er Jahre, als er das Institut<br />

für Organische Chemie und Biochemie<br />

der AdW leitete und ich das<br />

Institut für Chemische Prozesse. Ich<br />

bewunderte ihn, weil er sich auch im<br />

Amt eines Direktors sehr intensiv seinen<br />

Forschungen widmete und Zeit<br />

für die Arbeit im Labor fand. Manchmal<br />

schimpfte er über die Arbeit als<br />

Di rektor, beschwerte sich über die<br />

überflüssige Bürokratie, die ihn von<br />

der wissenschaftlichen Arbeit abhielt,<br />

aber trotzdem hielt er in seinem Amt<br />

zwei Wahlperioden, als zweimal vier<br />

Jahre, aus. Ich selbst widme mich der<br />

chemischen Ingenieurtechnik, die Chemie<br />

der Nukleonsäuren ist nicht mein<br />

„Bier“, aber schon damals wußte<br />

ich von den Erfolgen des Präparates<br />

Diviragel, für den Prof. Holý und sein<br />

Team 1986 den Staatspreis erhielten.<br />

An Prof. Holý hat mir immer gefallen,<br />

daß er schematische, rein sziento -<br />

metrische Wertung des Erfolgs ablehnt<br />

– als einer der meistzitierten tsche chischen<br />

Chemiker konnte er sich das<br />

übrigens auch leisten. Immer betonte<br />

er, daß es guter Ideen, harter Arbeit<br />

und einer Portion Glück bedürfe,<br />

wenn die Arbeit eines Wissenschaftlers<br />

weltweite Anerkennung bringen<br />

soll. Man sollte allerdings hinzufügen,<br />

daß das Glück meist nur dem Tüch tigen<br />

winkt.“<br />

Fordert man Prof. Drahoš auf, Prof.<br />

Holý in den Kontext der internationalen<br />

Wissenschaft zu bringen, fällt<br />

seine Antwort einfach aus. „Zweifelsfrei<br />

ist Prof. Holý ein Wissenschaftler<br />

von Weltrang.“<br />

32


Das alles sind Gründe genug, war um<br />

im Zusammenhang mit dem Na men<br />

Antonín Holý mit hin vom Nobelpreis<br />

gesprochen wird. Voriges Jahr be stätigte<br />

die Tschechische AdW, daß sie<br />

Prof. Holý als Kandidaten für den Nobelpreis<br />

für Medizin vorschlägt.<br />

Unter den tschechischen Wissenschaftler<br />

ging er bisher nur 1959 an Jaroslav<br />

Heyrovský. Die Chancen stehen<br />

den Fachleuten zu Folge im Hinblick<br />

auf Holýs Stellung zwischen Medizin<br />

und Chemie und der großen Konkurrenz<br />

nicht all zu groß. Eins ist allerdings<br />

sicher, daß er einer der wenigen<br />

Wissenschaftler Tschechiens ist, der<br />

in diese Klasse gehört. Egal ob er den<br />

Nobelpreis bekommt oder nicht.<br />

Wer ist nun<br />

eigentlich<br />

Antonín Holý?<br />

Eva Bobůrková<br />

Photos: František Vonderka,<br />

Zeitschrift Doba seniorů.<br />

Geboren wurde er am 1. September<br />

1936 in Prag, bis 1959 studierte er<br />

Organische Chemie an der Mathe -<br />

matisch-Physikalischen Fakultät der<br />

Karls universität. Seine Doktorarbeit<br />

schrieb er am Institut für Organische<br />

Chemie und Biochemie, wo er bis jetzt<br />

wirkt – 8 Jahre davon im Amt des Insti -<br />

tuts vorstands.<br />

Er ist Autor oder Mitautor von mehr<br />

als 650 Publikationen, zitiert wurde er<br />

mehr als 9500mal, was ihn unter die<br />

erfolgreichsten Chemiker der Welt einreicht.<br />

Auf seinem Konto stehen 60<br />

tschechische und ausländische Patente.<br />

Ausgezeichnet wurde er u.a. mit dem<br />

Descartes-Preis der EU für wissenschaft<br />

liche Forschungen und die Tschechische<br />

Staatsmedaille Für Verdienste<br />

I. Klasse (2002), den Nationalpreis<br />

Česká hlava (Tschechiens Kopf, 2007),<br />

Medaille für Verdienste um die Entwicklung<br />

der Wissenschaft der Tschechischen<br />

Gelehrten Gesellschaft (2008),<br />

ist Ehrendoktor der Universität Manchester,<br />

Doctor honoris causa der Palacký-Universität<br />

in Olomouc (Olmütz),<br />

der Hochschule für Chemie-Techno -<br />

logie (VŠCHT) in Prag und der Universität<br />

in Gent, ist verheiratet und hat<br />

zwei Töchter.<br />

33


Vertrag von Lissabon in Tschechien<br />

ratifiziert<br />

An der Umfrage, die sich auf Drei- und<br />

Vier-Sterne-Hotels beschränkt, beteiligten<br />

sich mehr als 6 000 Benutzer des<br />

Servers. Prag wurde mit der Note 7,66<br />

bewertet, und liegt damit nur um zwei<br />

Zehntel hinter dem erstplatzierten<br />

Tokio, der zweite Platz wurde Lissabon<br />

zugesprochen. Manch eine große Metropole<br />

– Moskau, New York und London<br />

– kamen nicht einmal unter die<br />

ersten zwanzig. Diese Anerkennung ist<br />

schon das zweite Zertifikat für die Prager<br />

Dienstleistungen in kurzer Zeit.<br />

Das Prädikat „Bestes Hotel der Welt“<br />

ging erst kürzlich an das Kleinseitner<br />

Hotel Aria.<br />

durch eine Ausstellung in Erinnerung<br />

gebracht, die die Novemberereignisse,<br />

die sog. Samtene Revolution, in der<br />

Tschechischen Republik schildert. Die<br />

Wanderausstellung besucht vier irakische<br />

Städte. Ihr Ziel ist es, die irakische<br />

Öffentlichkeit über die Ereignisse in<br />

den Revolutionstagen des Jahres 1989<br />

zu informieren, die dem Fall des kommunistischen<br />

Regimes vorausgingen.<br />

Das Projekt läuft ab dem 30.6. d.J. in<br />

der Botschaft in Bagdad.<br />

Jiří Trnka und seine Nachfolger<br />

Ondřej Doležal, 12 J.<br />

Das tschechische Parlament ratifizierte<br />

den sog. Lissaboner Vertrag, ein grundlegendes<br />

Dokument der Europäischen<br />

Union. Der Vertrag soll der europäischen<br />

Institution nach der Erweiterung auf 27<br />

Mitgliedsländer reformieren. Er kann in<br />

Kraft treten, wenn er von allen Mitgliedsstaaten<br />

der EU angenommen wird. In<br />

Irland wurde im vergangenen Jahr im Juli<br />

durch ein Referendum darüber abgestimmt,<br />

das mit einer Ablehnung des Vertrages<br />

endete.<br />

Auch in Tschechien gab es verschiedene<br />

Hürden zu überwinden, ehe der Vertrag<br />

angenommen wurde. Am April letzten<br />

Jahres wurde er beispielsweise vom Senat<br />

zur Begutachtung ans Verfassungsgericht<br />

überstellt, das ihn im November 2008<br />

für unbedenklich erklärte. Das Gericht<br />

verwarf allerdings nur die wichtigsten Gegenargumente,<br />

der ganze Lissabonner Vertrag<br />

wurde nicht überprüft, wodurch für<br />

weitere Spekulationen Spielraum blieb.<br />

„Die Annahme des Vertrages betrachte<br />

ich als einen bedeutenden Schritt im Ratifizierungsprozeß<br />

in Tschechien. Es geht<br />

um einen verantwortungsvollen Schritt,<br />

dem eine gründliche demokratische Diskussion<br />

vorausgegangen ist“, sagt der Vize -<br />

premier für europäische Angelegenheiten<br />

Alexandr Vondra.<br />

Prager Hotels mit Weltruf<br />

Die Benutzer des Internetportals<br />

Hotel.info stuften Prag und seine Hotels<br />

als drittsolideste in der Welt ein.<br />

Zwanzig Jahre nach dem Fall<br />

des Eisernen Vorhangs<br />

Während des tschechischen EU-Vorsitzes<br />

erinnert sich Europa des zwanzigsten<br />

Jahrestages des Falls des<br />

Eisernen Vorhang und des fünften Jahrestages<br />

der Erweiterung der EU um<br />

Länder Mittel- und Osteuropas. Am<br />

dritten März findet aus diesem Anlaß<br />

ein Konzert statt, an welchem Chöre<br />

aus Aussig an der Elbe (Ústí nad<br />

Labem) und Umland gemeinsam mit<br />

Chören aus der Region Sachsen-Anhalt<br />

auftraten. Der Abend war der Musikproduktion<br />

hinter dem Eisernen<br />

Vorhang gewidmet und der Art und<br />

Weise, wie sich Musik und Volkskunst<br />

(Protestsongs) in den Kampf gegen den<br />

Totalitarismus einbrachten.<br />

Der zwanzigste Jahrestag des Falls<br />

des Eisernen Vorhangs wird auch<br />

Konferenz „Erweiterung der EU – 5 Jahre danach“,<br />

März 2009, Prag<br />

Zu den begeisterten Bewunderern des „Märchenbaums“<br />

von Trnka auf der EXPO ’58 in Brüssel gehörte auch der<br />

US-amerikanische Trickfilmzeichner Walt Disney.<br />

Die Vertreter der tschechischen Regionen<br />

in Brüssel stehen vor der Eröffnung<br />

der Dny krajů České repuliky v Bruselu<br />

(Tag der Regionen Tschechiens in Brüssel).<br />

Im Rahmen dieses Projektes werden<br />

während des tschechischen EU-Vorsitzes<br />

in der belgischen Hauptstadt eine Reihe<br />

von Workshops und kulturellen Begleitveranstaltungen<br />

in Angriff genommen. So<br />

findet etwa in den Tagen vom 24.3. bis<br />

zum 2.4. die Ausstellung Jiří Trnka a jeho<br />

následovníci (Jiří Trnka und seine Nachfolger)<br />

statt. Der bekannte Künstler, Puppenspieler<br />

und Puppenmacher sowie<br />

Trickfilmregisseur Trnka verdankt seine<br />

Wertschätzung vor allem der Tatsache, daß<br />

er mitgeholfen hat, dem europäischen Puppen-<br />

und Trickfilm dem amerikanischen<br />

Einfluß zu entziehen. Trnka brachte vor<br />

allem Poesie und künstlerische Vollkommenheit<br />

in diese Kunstart. In Einheit mit<br />

Hermína Týrlová und Karel Zeman wird<br />

er für den Gründer dieses Genres angesehen.<br />

An sein Erbe knüpften andere einheimische<br />

Künstler wie Stanislav Látal, Adolf<br />

Born oder Zdeněk Smetana an.<br />

Informelles EU-Gipfeltreffen<br />

Am 1. März fand in Brüssel ein informelles<br />

Gipfeltreffen der Mitgliedsländer<br />

der EU statt. Auf dem Programm standen<br />

Mittel und Wege zur Bekämpfung<br />

der Finanzkrise. Neben den Staatsoberhäuptern<br />

nahmen auch führende Repräsentanten<br />

der Europäischen Kommission<br />

und des Europäischen Parlaments statt.<br />

34


Mosaik<br />

Das Treffen sollte dem tschechischen<br />

Premier zufolge ein klares Signal dafür<br />

setzen, daß die EU-Länder beim Entwerfen<br />

eines Planes zur wirtschaftlichen<br />

Erneuerung koordiniert vorgehen werden.<br />

„Europäische Solidarität ist nicht<br />

denkbar ohne nationale Verantwortung“,<br />

sagt Mirek Topolánek mit dem<br />

Zusatz, daß wenn das Vertrauen in den<br />

einheitlichen Markt erhalten und verstärkt<br />

werden soll, alle Mitgliedsstaaten<br />

die Regeln einhalten müssen. Er führte<br />

weiter aus, daß Protektionismus und<br />

Verstoß gegen die Regeln eines fairen<br />

Wettbewerbs größere ökonomische und<br />

politische Schwierigkeiten nach sich<br />

ziehen könnten, als die Krise selbst.<br />

Zusammenkunft der<br />

Justizminister<br />

Die Justizminister aller EU-Länder tagten<br />

am 27. Februar 2009 unter der Leitung<br />

des tschechischen Justizministers Jiří Pospíšil<br />

in Brüssel. Der tschechische Vorstand<br />

legte dabei den Ministern den Entwurf<br />

einer Rahmenentscheidung über Prävention<br />

und Lösung juristischer Konflikte vor.<br />

Grund für den Vorschlag Tschechiens ist<br />

das Interesse daran, daß die im Strafrecht<br />

aktiven Organe nicht Zeit, Mittel und Energie<br />

auf die Ahndung von Straftaten verschwendet<br />

müssen, die bereits in einem<br />

anderen EU-Staat behandelt werden.<br />

„Es ist höchst ineffektiv, wenn die gleiche<br />

Straftat derselben Person gleichzeitig<br />

in mehreren EU-Staaten verfolgt bzw. so -<br />

gar abgeurteilt wird. Das Verfahren sollte<br />

sich optimal in einem Land konzentrieren,<br />

um so Kosten und Arbeitskräfte einzusparen“,<br />

ließ Jiří Pospíšil verlautbaren.<br />

Der Rat der Minister beschloß ebenfalls,<br />

daß er den Start des europäischen<br />

Portals e-Justice im Dezember 2009 und<br />

die Er arbeitung von Dokumenten, die auf<br />

die Ver einfachung von grenzübergreifenden<br />

Videokonferenzen ausgerichtet sind,<br />

bei den Gerichten und unter den Experten<br />

auf dem Gebiet der Rechtspflege unterstützen<br />

werde.<br />

Aus Böhmen bis ans Ende der Welt<br />

Der südböhmische Kreis plant für die<br />

Zeit des tschechischen EU-Vorsitzes ein<br />

ungewöhnliches Projekt, das mit dem<br />

27.3.2009 beginnt. Die Aktion Z jižních<br />

Čech až na konec světa (Aus Südböhmen<br />

bis ans Ende der Welt) suchte ihre Inspi ra -<br />

tion in der europäischen Mission, auf welche<br />

König Jiří von Poděbrad im 15. Jh. Vertreter<br />

der böhmischen Lande aussandte. Die<br />

damalige Delegation rief zur Verbindung<br />

der europäischen Länder im Rahmen einer<br />

„Friedensverfassung durch das Christentum“<br />

auf und war das erste Vorhaben dieser<br />

Art auf dem europäischen Kontinent.<br />

Freiwillige des Europäischen Wanderverbandes<br />

machen sich in einer imagi nären<br />

Reminiszenz auf den Spuren des tsche chischen<br />

Gesandten Lev von Rožmitál auf<br />

den Weg. Auf ihrem viermonatigen Marsch<br />

kommen sie durch Tschechien, Deutschland,<br />

die Niederlande und Belgien. In den<br />

Straßen verschiedener europäischer Städte<br />

werden sie auch Straßentheatervorstellungen<br />

zum besten geben.<br />

Leben und Zeit Karel Čapeks<br />

Die Wanderausstellung, die vom 1.9.<br />

2008 bis 30.11.2009 veranstaltet wird,<br />

wurde im Vorjahr anläßlich des 70. Todes<br />

tages eines der berühmtesten tschechischen<br />

Schriftsteller zusammengestellt.<br />

Die Ausstellung wurde in mehreren Sprachen<br />

konzipiert und geht in verschiedene<br />

deutsche Städte (Ulm Tübingen, Freiburg,<br />

Nürnberg, München, Konstanz) sowie<br />

nach Brüssel.<br />

Der Besucher lernen Persönlichkeit<br />

Ča pek aus unterschiedlichsten Blick winkeln<br />

kennen – auch den weniger offi -<br />

ziel len. Neben seinem dramatischen und<br />

Prosawerken (R.U.R., Die weiße Krankheit,<br />

Krieg mit den Molchen, ...) wird<br />

auch seiner journalistischen Tätigkeit, seinen<br />

bürgerlichen Standpunkten, Freundschaften<br />

und Liebschaften, aber auch<br />

seinen Hobbys und Vorlieben Aufmerksamkeit<br />

geschenkt. Teil der Ausstellung<br />

ist auch ein kurzes Kunstfilmdokument<br />

des Regisseurs Josef Císařovský.<br />

Klimatologen in Prag zu Gast<br />

Die Vertreter der Ministerien für<br />

Um welt und Finanzen der EU-Mitgliedsstaaten<br />

und der Europäischen<br />

Kom mis sion trafen sich am 24. Februar<br />

in Prag. Im Verlaufe ihrer Sitzung<br />

unterstützten die Delegierten die<br />

Ambitionen der EU zu einem Schlüsselinitiator<br />

im globalen Kampf gegen<br />

die Klimaveränderungen zu werden.<br />

Eine nicht zu unterschätzende Entscheidung<br />

traf die EU bereits, als sie sich<br />

im Klima-Energie-Paket zur Senkung<br />

der Emission der Treibhausgase um<br />

20% bis zum Jahre 2020 verpflichtete.<br />

Das vorsitzende Tschechien führt im<br />

Rat der EU Verhandlungen mit bedeutenden<br />

Produzenten dieses Gases, um<br />

sie zur Teilnahme am Internationalen<br />

System für Klimaschutz zu bewegen,<br />

das im Dezember 2009 in Kopen hagen<br />

ausgehandelt werden soll. „Die Staaten<br />

Europas wissen, daß diese Vereinbarung<br />

die Einführung funktionstüchtiger<br />

Mechanismen erfordert, auf deren<br />

Grund lage die entwickelten Länder<br />

den Entwicklungsländern Hilfe bei der<br />

Herabminderung der Folgen klima -<br />

tischer Änderungen gewähren“, versichert<br />

Tomáš Zídek, stellvertretender<br />

Finanzminister Tschechiens.<br />

35


Martinů<br />

Revisited<br />

Die Musik Bohuslav Martinůs, wiewohl reich an internationalen Einflüssen,<br />

Jazz nicht ausgeschlossen, entsprang immer der Tiefe böhmischer und mährischer<br />

Quellen. Der Beseeltheit, Schönheit und Unverwechselbarkeit ihrer<br />

Harmonie wegen fand sie viele Liebhaber auf der ganzen Welt.<br />

Zwei Saisons mit der Musik<br />

Martinůs<br />

In dieses Jahr fällt der 50. Todestag<br />

eines der prominentesten tschechischen<br />

Komponisten, Bohuslav Martinů (1890 –<br />

1959). Dieser Weltbürger ging gezwun -<br />

genermaßen vor dem Krieg nach Frankreich<br />

um neue Erfahrungen zu sam meln.<br />

Der hier bereits renommierte Komponist<br />

wurde von der Entwicklung der<br />

Ereignisse im Jahr 1939 überrascht. Nach<br />

der Okkupation der Tschechoslowakei<br />

durch Hitlerdeutschland war keine Rückkehr<br />

mehr möglich und Martinů wählte<br />

die Emigration in die USA. Hier entstehen<br />

weitere bedeutsame Werke, vor<br />

allem Sinfonien, und Martinů erlangt<br />

Weltruhm. Gleich nach Kriegsende ist<br />

es ihm eines komplizierten Unfalls<br />

wegen nicht vergönnt, in seine geliebte<br />

Bohuslav Martinů<br />

Heimat zurückzukehren. Als er dann<br />

den unglücklichen Verlauf der Ereignisse<br />

in der Tschechoslowakei verfolgt,<br />

der zum kommunistischen Putsch<br />

von 1948 führt, entscheidet er sich in<br />

Amerika zu bleiben. Seine elf letzten<br />

Lebens- und Schaffensjahre verbringt<br />

er abwechselnd in Frankreich, den<br />

USA und der Schweiz, wo er schließlich<br />

auch 1958 stirbt.<br />

Es ergibt sich die Frage, warum<br />

das Projekt Martinů Revisited, welches<br />

der Musikwissenschaftler Aleš Bře -<br />

zina, Leiter des Bohuslav-Martinů-<br />

Ins tituts in Prag, eines der tragenden<br />

Pro jekte in der Zeit des tschechischen<br />

EU-Vorsitzes ist.<br />

Treffend und erhebend drückt sich<br />

dazu der tschechische Außenminister<br />

Ka rel Schwarzenberg aus, der die<br />

Schirm herrschaft übernommen hat:<br />

„Persönlichkeiten vom Rang Bohuslav<br />

Martinů gibt und gab es nicht viele.<br />

Nicht nur in der tschechischen Gesellschaft.<br />

Sein Leben und Werk ist gekenn -<br />

zeichnet von ständigen Überlappungen<br />

der Orte wie der Zeit. Bohuslav Martinů<br />

war nicht ein Weltbürger mit europäischer<br />

Adresse sondern auch ein<br />

Reisender quer durch die Musikgenres,<br />

der Historie und der Experimente ... Es<br />

ist eine große Ehre für mich die Schirmherrschaft<br />

über das Projekt Martinů<br />

Revisited übernehmen zu dürfen. Sein<br />

Werk und sein Schicksal verdienen<br />

unsere Aufmerksamkeit und Berücksichtigung.<br />

Durch das Verständnis des<br />

Erbes dieses Komponisten können wir<br />

nur gewinnen.“<br />

Durch die geduldige mehrjährige<br />

Arbeit des Bohuslav-Martinů-Instituts<br />

und der Prager Theaterfakultät gelang<br />

es, auch Dutzende Musik- und Kulturinstitutionen<br />

in das Projekt einzubinden,<br />

was für die Anerkennung von<br />

Mar tinůs Werk nicht ohne Bedeutung<br />

ist. Ihr Teilnahme und ihr Interesse beweist,<br />

daß Martinů tatsächlich einer der<br />

Komponisten ist, dessen Musik die<br />

gleiche Beachtung verdient, wie der<br />

Nachlaß des bereits anerkannten Dreigestirns<br />

Smetana-Dvořák-Janáček, die<br />

Tschechien am häufigsten auf ausländischen<br />

Podien repräsentieren.<br />

Das Projekt Martinů Revisited soll<br />

ein dauerndes Interesse der Öffentlichkeit,<br />

der tschechischen wie der internationalen,<br />

für sein Werk wecken.<br />

Es soll vor allem dazu beitragen, Martinůs<br />

Musik dieselbe Position zu verschaffen,<br />

die sie zu Lebzeiten des<br />

Komponisten einnahm, als er Erfolge<br />

in Frankreich, der USA und anderswo<br />

erntete.<br />

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Martinůs Musik in Tschechien<br />

Sehen wir uns also zuerst an, was das<br />

Projekt Martinů für Prag bedeutet:<br />

Im Verlauf eines Jahres werden sich<br />

die Tschechische Philharmonie, das<br />

Sinfonische Orchester der Stadt Prag,<br />

FOK, und andere bedeutende Musikkörper.<br />

Im Mai eröffnet das Tschechische<br />

Museum für Musik die große Aus stellung<br />

Phänomen Martinů, eine Wanderausstellung<br />

gleichen Namens wird<br />

in einigen Tschechischen Zentren im<br />

Ausland zu sehen sein.<br />

Auf dem bekanntesten Musikfestival<br />

Tschechiens, dem Prager Frühling,<br />

erklingt nicht nur die Musik des Komponisten,<br />

gleichzeitig findet eine inter -<br />

na tionale Konferenz statt, die seiner<br />

Persönlichkeit gewidmet ist. Beachtung<br />

verdient gewiß auch das Tanzpädagogische<br />

Unterfangen Špalíček,<br />

über das Aleš Březina sagt: Schon im<br />

Jahre 2007 hat ein Team von Konservatorium<br />

für Tanz begonnen, etwa 160<br />

Kinder von Prager Mittelschulen, aus<br />

allen möglichen sozialen Schichten,<br />

aber auch verschiedener Nationalität,<br />

meist ohne Erfahrungen mit Tanz und<br />

klassischer Musik, auszuwählen. Sinn<br />

des Projektes ist es, festzustellen, inwieweit<br />

die intensive Begegnung mit<br />

der Musik Bohuslav Martinůs in der<br />

Choreographie von Eva Blažíková in<br />

ihnen Interesse für diese Art von Musik<br />

weckt, ob sie sich daran gewöhnen.<br />

Den Punkt aufs i werden zwei Auftritte<br />

mit dem Špalíček im Juli im Kongreßzentrum<br />

setzen. Darüber hinaus wird<br />

alles, vom Beginn bis hin zur letzten<br />

Darbietung, von der Dokumentartistin<br />

Ol ga Sommer für das Tschechische<br />

Fernsehen aufgenommen. Der Film<br />

hält so ein Zeugnis darüber fest, wie<br />

klassische Musik und Tanz sich in<br />

der Entwicklung der Kinderseele der<br />

widerspiegeln.“<br />

Im Herbst 2009 wird dem Komponisten<br />

zu Ehren ein feierliches Konzert<br />

in der Staatsoper Prag gegeben. Das<br />

Nationaltheater inszeniert seine Oper<br />

Hry o Marii (Marienspiele). Außerhalb<br />

von Prag finden zahlreiche Konzerte<br />

und Ausstellungen auch auf Festivals<br />

in Brünn (Brno) und Ostrau (Ostrava)<br />

und anderen Orten stattfinden, eröffnet<br />

wird das Bohuslav-Martinů-Zentrum<br />

in seinem Geburtsort Polička eröffnet.<br />

Martinů Revisited im Ausland<br />

Anläßlich des 50. Todestages des<br />

Kom ponisten gelang es – auch dank<br />

den Mitgliedern der internationalen<br />

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Gesellschaft Martinů Circle – für das<br />

Projekt Martinů Revisited einige bedeutende<br />

Musikkörper und -institutionen<br />

zu interessieren. Um nur einiges<br />

herauszugreifen, ein Konzert mit Werken<br />

von Martinů spielt zum Beispiel<br />

das BBC Symphony Orchester mit<br />

dem Chefdirigenten Jiří Bělohlávek,<br />

den Berliner und New Yorker Philharmonikern,<br />

Martinůs Musik wird auch<br />

auf dem Budapester Frühling zu hören<br />

sein oder etwa von slowakischen Ensembles<br />

einstudiert.<br />

In der Schweiz, wo Martinů auch<br />

lebte und wirkte, werden Szenen aus<br />

seinen Opern über die Bühne gehen.<br />

Im Norden, im schwedischen Nörrköping,<br />

wird Martinůs 6. Sinfonie ihre<br />

Premiere erleben. Martinů erklingt im<br />

brasilianischen São Paulo oder in Südafrika<br />

in Johannesburg. Konzerte der<br />

Tschechischen Philharmonie und des<br />

Sinfonischen Orchesters des Tschechischen<br />

Rundfunks begleiten die Wanderausstellung<br />

über Leben und Werk<br />

des Komponisten, die in den Tschechischen<br />

Zentren von Brüssel, Wien,<br />

Berlin, von Paris oder Stockholm und<br />

Kiew zu sehen sein wird. Auf die musikwissenschaftliche<br />

Konferenz in Prag<br />

folgen zwei weitere Konferenzen in<br />

Dresden und Wien. Und das ist nur<br />

eine unvollständige Aufzählung aller<br />

Ereignisse, die unter dem Logo Martinů<br />

Revisited ablaufen werden. Aleš<br />

Březina sagt dazu: Fünfzig Jahre nach<br />

dem Tod des Komponisten ist ein<br />

entscheidender Moment für die Überprüfung<br />

der Lebensfähigkeit seines<br />

Wer kes. Es ist der Zeitraum, in dem die<br />

letzten direkten Verwandten, engen<br />

Freunde und befreundeten Interpreten<br />

das Zeitliche gesegnet haben und „nur“<br />

das Œuvre geblieben ist. Aber das Interesse<br />

an den Kompositionen von Bohuslav<br />

Martinů ist in den letzten zehn<br />

Jahren kontinuierlich gestiegen.“ Dies<br />

konstatieren auch die Mitglieder des<br />

Ehrenkomitees Martinů Revisited, tschechische<br />

Künstler von Weltformat, die<br />

Cembalistin Zuzana Růžičková, die Sopranistin<br />

Gabriela Beňačková und der<br />

Geiger Josef Suk.<br />

Martina Fialková<br />

www.martinu.cz<br />

Photos: Gedenkstätte Bohuslav Martinů<br />

in Polička, Archiv, Zdeněk Chrapek,<br />

Radek Kalhous<br />

Magdalena Kožená, Sopranistin, und Sir Charles<br />

beim Eröffnungskonzert des Projektes Martinů<br />

Revisited, 11.12.2008<br />

Die Kammer Bohuslav Martinůs auf dem Turm<br />

in Polička<br />

Turm der Kirche in Polička<br />

Eröffnungskonzert des Projektes Martinů Revisited,<br />

11.12.2008<br />

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