Guido Mingels Reportagen aus der Schweiz Reisen ins Landesinnere

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Hör auf zu weinen, sei still. Dein Schmerz ist nicht der Schmerz des Kranken, es ist der Schmerz des Neugeborenen. Schlag weiter, Meister, schlag zu. Als Kind sammelt Willi die Mondo- und die Silva-Punkte, die auf allen Lebensmitteln stehen, und tauscht sie gegen bunte Bildbände ein, über Indien, Neuseeland, Hawaii, im holzgetäferten Kinderzimmer erobert er die Welt. „Das Hulahulazeug“, sagt Willi, „hat mich immer fasziniert.“ Doch Willi wird Schreiner, Bauer, Fabrikarbeiter, wie die anderen auch. Er denkt: Das kanns nicht sein. Es muss noch etwas andres geben. Er kündigt und kauft sich ein Ticket, Alaska, Mexiko, Tahiti, Australien, Indonesien, zwei Jahre ist er unterwegs, allein. Zurück in der Schweiz, bedient er in der Firma Flumroc in Flums, Wärmedämmprodukte aus Steinwolle, den Produktionscomputer und lässt sich einen Indianerkopf auf die rechte Schulter tätowieren, tut gar nicht weh. Wie Wasser fliesst dein Blut, wir fühlen Mitleid. Wäre dein Schmerz ein schwerer Stein, wir trügen ihn für dich. Schlag weiter, Meister, schlag zu. Willi, 1994, kauft sich einen Bausatz des Dreimasters Bounty, abends bastelt er an Modellschiffen, tagsüber macht er die Segelschule auf dem Walensee. „Die Schifffahrerei“, sagt er, „die hat mich schon immer gereizt.“ Aufs Meer will er, aufs Meer. Willi wird Skipper, Hochseepatent 1997, und führt gegen Gage Yachten von einem Kontinent zum nächsten. Wieder daheim, renoviert er das Alphaus der Eltern, hört Volksmusik und mäht in steilen Hängen das Gras. Es muss noch etwas andres geben. Willi’s Wiedergeburt Der Meissel ritzt, der Hammer geht nieder, die Farbe brennt sich ein, dass sie für immer bleibt. Schlag weiter, Meister, schlag zu. Willi will, dass etwas läuft. Er kündigt Wohnung, Versicherung, Krankenkasse und reist mit einem Freund an den Yukon, 1999. Sie kaufen zwei Kanus und paddeln gut tausend Kilometer weit. Am Dalton Highway steigen sie aus, um zu überwintern, Willi wird Schlittenhundpfleger und geht auf Elchjagd. Wieder zu Hause, gibt Willi den Skilehrer und den Wanderführer, 4
und er liebt, wen immer ihn lieben mag, doch nie für lang. Es geht ihm, sagt er, mit den Frauen wie mit den Ländern, ist er da, will er dorthin, ist er dort, will er dahin. In Zürich lässt er sich einen Skorpion auf die linke Brust tätowieren, er ist ein Fremder im Dorf und in sich selbst. Er ist bereit und weiss nicht, wofür. Bald wirst du die schönen Muster tragen, aber noch sind sie Stückwerk, unverbunden, dein Schmuck nicht vollendet. Schlag weiter, Meister, schlag zu. Dann also, 2001, „bin ich auf das Samoa!“, spricht Willi im Dialekt. Er will segeln in der Südsee, es ist zu früh, die Winde sind schlecht, er wartet und macht Sightseeing. Von den Männern hier sind viele verziert, fällt ihm auf, es sieht aus wie gemusterte Shorts, von Hüfte bis Knie ornamentiert, sie nennen es tatau. Sein Herbergsvater hat einen Bruder, der trägt das tatau, und der fragt: Gefällt dir das? Willi nickt, sie hocken in einer Hütte am Strand, Bier in der Hand und Joints zwischen den Lippen, und Willi hört sich sagen: „Very much. Very, very much.“ Der andere fragt: Willst du das auch? „„Willst du das auch?“, hat der mich gefragt!“ Willi zieht an seiner Parisienne, Arvenstube vom Restaurant Pöstli in Tannenboden, Pommes Chips und Biberli auf dem Tisch. Willi sagt: „Wieso hat der mich das gefragt? Sie bieten es eigentlich niemandem an. Ein tatau ist nicht für Fremde gedacht. Und ich frage mich bis heute: Wieso wusste der, dass ich das will?“ Kind werde, wenn er es tue, dass sein alter Körper verfaule, dass er das Gehen neu lernen müsse, dass er vielleicht nicht stark genug sei. Von Geheimnis reden sie und von zweiter Geburt und von grossem Schmerz. Willi hört zu und begreift nicht. So schlimm kann das alles nicht sein, denkt er sich. Das tatau gefällt ihm, er sieht es als Zierde, als Schmuck, der zu ihm passt. Ist ja auch nicht sein erstes Tattoo, der Indianer auf der Schulter, der Skorpion auf der Brust. Ein Mann aus dem Dorf geht nach Manono, einer kleinen Insel vor Upolu, wo der Meister wohnt, um ihn zu fragen, ob er bereit sei, einen palagi, einen 5
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Seite 18 und 19: es in ihrer Mädchenzeit keine gab,
Seite 20 und 21: ausgemergelt wie die Zürcherinnen.
Seite 22 und 23: als schaumgeborene Venus dem Meer e

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