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Guido Mingels Reportagen aus der Schweiz Reisen ins Landesinnere

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<strong>der</strong> im Kampfe erschlagenen Feinde, ist <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong> Missionare<br />

auch auf die Ausübung <strong>der</strong> Tätowierkunst in Samoa nur ein<br />

verschwindend geringer gewesen.“ Geköpft wird nicht mehr – ansonsten<br />

gilt Marquardts Feststellung von 1899 bis heute.<br />

Willi gesucht –<br />

Fahndungsfoto<br />

<strong>der</strong> Berner Polizei<br />

um 1922.<br />

© Polizeiarchiv Bern<br />

In schnellem Rhythmus schlägt <strong>der</strong> Meister Holz auf Holz und<br />

zieht dabei den Meissel über Willis Kreuz, einen Millimeter tief,<br />

vielleicht zwei, dringt er unter die Haut. Die Helfer spannen die<br />

Leinwand für sein Kunstwerk, und einer von ihnen wischt ständig<br />

das Blut weg. „Brennt wie Satan!“, sagt Willi im Restaurant Pöstli, „als<br />

würde dir jemand glühende Kohle über den Körper ziehen.“ Und alle paar<br />

Minuten rufen sie nach ihm, malo?, malo?, samoanisch für „hallo“, um zu<br />

hören, ob er noch bei Bewusstsein sei. Davon abgesehen, herrscht Schweigen,<br />

nur die Trostgesänge <strong>aus</strong> dem alten Kassettengerät sind zu hören und<br />

das Klopfen des Hammers. Nach drei Stunden setzt <strong>der</strong> Meister ab: P<strong>aus</strong>e.<br />

Das erste Motiv, es sieht <strong>aus</strong> wie ein Kanu, ist vollendet.<br />

„Das Kanu“, sagt Willi in <strong>der</strong> Arvenstube, „steht glaubs irgendwie für die<br />

Reise durchs Leben, ich weiss nicht genau.“ Er öffnet sein Hemd, zieht das<br />

Leibchen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Hose, entblösst seine Hüfte. „Das ganze Muster heisst<br />

ja „Fliegen<strong>der</strong> Fuchs“ o<strong>der</strong> „Fle<strong>der</strong>m<strong>aus</strong>“, von denen gibts viele da – hier,<br />

siehst du, das sind die Umrisse <strong>der</strong> Flügel. Und die kleinen Pfeile hier<br />

sind Speerspitzen und das Runde da Saugnäpfe vom Tintenfisch.“ Die<br />

gezackte Linie, eine Schlange. Zwei Fische. Die dünnen Linien: Pfähle,<br />

auf denen die Hütten stehen. Die breiten Linien sind Dachsparren. Ein<br />

T<strong>aus</strong>endfüssler. Giftige Muscheln. Spielkartensymbole. Blätter. Astgabeln.<br />

Wellen. Panflötenmusik erklingt im Restaurant Pöstli in Tannenboden,<br />

„El condor pasa“.<br />

Sie zeichnen drei Stunden am Morgen, drei Stunden am Nachmittag. Zwischendurch<br />

wird Willi gekühlt, und <strong>der</strong> Gang zur Dusche gerät zur Tortur.<br />

Die paar Meter dem Strand entlang unter <strong>der</strong> sengenden Sonne erscheinen<br />

ihm wie Schritte durch einen Hochofen, <strong>der</strong> Kaltwasserschwall wie ein<br />

Lavabad. Moskitos und Fliegen, die sich auf seine Haut setzen, hält er für<br />

Dolchstösse. Ihm ist, als hätte sein Körper jede Schutzhülle verloren, wie<br />

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