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Guido Mingels Reportagen aus der Schweiz Reisen ins Landesinnere

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auf jenen Darstellungen in Medizinbüchern, wo <strong>der</strong> Mensch als gehäutetes<br />

Wesen <strong>aus</strong> Muskeln und Sehnen erscheint. Am vierten Abend kann Willi<br />

nicht mehr aufstehen, wohl, weil seine Nervenbahnen ein wenig durcheinan<strong>der</strong><br />

geraten sind, Befehle vom Hirn bleiben unterwegs stecken o<strong>der</strong><br />

kommen am falschen Ort an. Sie richten ihn auf, geben ihm Krücken, sagen,<br />

das sei normal. Marionettengleich stakt er umher, bis sie ihn daran erinnern,<br />

dass er bitte nicht vergessen solle, die Kniegelenke zu beugen, sonst<br />

blieben die für immer versteift.<br />

Willi will die Knie beugen. Nichts passiert. Man beugt sie ihm. Willi will laufen,<br />

er fällt hin, man richtet ihn auf. Nachts schlafen seine Wächter neben<br />

ihm, gegen die Angst. Sie kühlen ihn, wenn er zittert. Er lässt Wasser, ohne<br />

es zu wollen. Der Abenteurer, <strong>der</strong> Bergbauernsohn, wehrlos wie ein Kind.<br />

Fünfter, sechster, siebter Tag: Alles ist Schmerz. Doch je länger die Prüfung<br />

dauert, desto mehr konzentriert sich das Signal, scheint bald eingekesselt<br />

an einem Punkt, und egal, wohin <strong>der</strong> Meister sticht, ob in Bauch, Oberschenkel<br />

o<strong>der</strong> Rücken, für Willi ist alles dasselbe. So kann er es <strong>aus</strong>halten,<br />

denkt er, indem er dem Schmerz einen Platz zuweist. Aber vielleicht hat er<br />

bloss den Überblick verloren und weiss nicht mehr, <strong>aus</strong> welchen Teilen er<br />

besteht, wo oben ist und wo unten. Vielleicht ist ihm das Klopfen des Hammers<br />

nur noch das Echo <strong>aus</strong> einer alten Welt, während er eine neue betritt.<br />

An Willi wächst die neue Hülle, achter, neunter, zehnter Tag. Es gibt<br />

Probleme, Entzündungen zwingen zu P<strong>aus</strong>en, Willi schluckt Schmerzmittel<br />

<strong>aus</strong> seiner Reiseapotheke, Ponstan 500, die erste Pille, dann die zweite,<br />

dritte, vierte, es nützt alles nichts. Als <strong>der</strong> Meister den Oberschenkel<br />

schraffiert, erreicht Willi das Fieber, sein Körper zittert. Alle paar Stunden<br />

schleppen sie ihn zur Dusche, zum Lavaschwall, um ihn zu kühlen, um ihn<br />

zu foltern, und wenn sie kommen, versteckt sich Willi in seiner Hütte wie<br />

ein quengeln<strong>der</strong> Balg, jammernd unter Decken und Tüchern. „Du weisst“,<br />

sagt Willi in <strong>der</strong> Arvenstube, „du weisst zwar, dass du gekühlt werden musst,<br />

sonst wärst du am nächsten Morgen tot, aber das ist dir in diesem Moment<br />

völlig egal, das hättest du sogar am liebsten, wenn es nur endlich vorbei<br />

wär dafür.“ Einmal hat Willi den Gedanken, dass er seine ganze Haut vom<br />

Körper ablösen und alles wegwerfen könnte wie ein altes Kleid.<br />

„Riechst du das?“, fragt Willi einen Helfer, <strong>der</strong> bei ihm ist in <strong>der</strong> Hütte.<br />

Willi’s Wie<strong>der</strong>geburt<br />

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