30 - GEW Landesverband Bayern
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<strong>30</strong> Jahre<br />
Sexualpädagogik<br />
Wie aus<br />
einem Koffer<br />
ein<br />
Täschchen<br />
wurde<br />
Vor <strong>30</strong> Jahren schwärmten<br />
die SexualpädagogInnen<br />
der pro familia München<br />
noch mit dem Verhütungskoffer<br />
aus. Ihr Ziel waren die Sozialräume<br />
der Jugend. Heute<br />
ist unser Gepäck leichter und<br />
kleiner – auch unsere Ziele<br />
Verhütungskoffer<br />
Foto: M. Niggel<br />
haben sich z. T. geändert. Eine Zeitreise zurück in die 70er-<br />
Jahre des letzten Jahrhunderts zeigt warum.<br />
Vom Jugendzentrum in die Schule<br />
* Alle AutorInnen arbeiteten früher auch im Sexualpädagogischen Team der<br />
pro familia München.<br />
Ende der 70er-Jahre, Anfang der 80er-Jahre kooperierten<br />
die SexualpädagogInnen der pro familia München<br />
noch mit der außerschulischen Jugendarbeit: »Wir gingen<br />
in Jugendgruppen der verbandlichen Jugendarbeit, vor allem<br />
aber in Freizeitheime, Jugendzentren und offene Jugendtreffpunkte.<br />
Wir hatten in diesen Gruppen überwiegend<br />
mit Hauptschülern, Lehrlingen, Jungarbeitern und arbeitslosen<br />
Jugendlichen zu tun« (S. 13), berichten S. Fricke,<br />
P. Paulich und M. Klotz in ihrem Buch »Sexualerziehung?«,<br />
das zuletzt 1983 erschienen ist.*<br />
Mitte der 90er-Jahre kamen ca. 90 % der Anfragen aus<br />
den Schulen (Förder-, Grund-, Hauptschule und Gymnasium).<br />
Termine wurden nun eher eingehalten, vereinbarte<br />
Gruppen fanden tatsächlich statt. In den Freizeitheimen<br />
kämpften wir dagegen mit einer hohen Fluktuation. Der<br />
Erfolg der Arbeit, der inhaltlich und methodisch auf mehrere<br />
Treffen aufbaut, wurde dadurch oft geschmälert.<br />
Heute gibt es sogar sogenannte »Stammschulen«, die<br />
uns alljährlich anfordern. Unterstützt wird unser Anliegen<br />
auch von den Eltern, die zunehmend meinen, dass Sexualität<br />
auch und gerade an der Schule ein wichtiges Thema ist<br />
und die klassische Sexualaufklärung im Biologieunterricht<br />
nicht die einzige Antwort sein kann.<br />
Methodisch unterscheidet sich unser Unterricht von<br />
der klassischen Form: LehrerInnen sind während unserer<br />
Arbeit nicht im Klassenraum. Die Teilnahme an unseren<br />
Unterrichtseinheiten ist freiwillig. Trotz dieser Besonderheiten<br />
ist die Schulatmosphäre omnipräsent. Der Gedanke<br />
an die nächste Schulaufgabe, MitschülerInnen, die<br />
man sich nicht ausgesucht hat – all dies unterscheidet sich<br />
vom Setting eines Freizeitheims. Allerdings müssen wir Jugendliche<br />
nicht lange von der Attraktivität unseres Angebotes<br />
überzeugen – spannender als Matheunterricht ist unser<br />
Thema allemal.<br />
Über die Jahre hat sich auch die Altersstruktur verändert:<br />
Nachdem das Bayerische Kultusministerium die Sexualerziehung<br />
umfassender im Lehrplan verankert hat, haben<br />
wir begonnen, auch in vierten Klassen zu arbeiten.<br />
Sexualpädagogik ist keine Verhütungspädagogik<br />
In den 70er-Jahren waren Verhütungsmittel und ungewollte<br />
Schwangerschaft die zentralen Themen unserer Arbeit.<br />
Die These, »dass es für Jugendliche im allgemeinen<br />
nicht sinnvoll ist, Kinder in die Welt zu setzen, und sie das<br />
in der Regel auch nicht wollen« (S. 95), bestimmte unsere<br />
Arbeit bis Mitte der 90er-Jahre. Ein auffälliger Verhütungskoffer<br />
war deshalb unser wichtigstes Arbeitsutensil. Heute<br />
passen die ausgewählten Verhütungsmittel in ein Täschchen.<br />
Wir haben nicht mehr den Anspruch, Jugendliche<br />
schon in der siebten Klasse über sämtliche, auch selten benutzte<br />
Verhütungsmittel detailliert zu informieren.<br />
Die frühe Elternschaft thematisieren wir allerdings weiterhin,<br />
aber nicht, indem wir sie ausschließlich problematisieren.<br />
Kulturelle und soziale Unterschiede würden wir damit<br />
nämlich ausblenden. Unter einem anderen Blickwinkel<br />
könnte sogar kritisch gefragt werden, ob es immer erstrebenswert<br />
ist, erst im Alter von <strong>30</strong> Jahren (statistisches<br />
Durchschnittsalter) Mutter oder Vater zu werden.<br />
9 DDS März 2012
Das Verhältnis zum eigenen Körper<br />
»Die Einstellung zur Selbstbefriedigung ist immer noch<br />
sehr ambivalent (obgleich auch problemloser als früher),<br />
wobei mit zunehmendem Alter die Jungen deutlich liberaler<br />
sind als die Mädchen« (S. 24) – auch ein Statement aus<br />
den 70er-Jahren. Was daraus wurde?<br />
Aufschluss geben die anonymisierten Fragen und Antworten,<br />
die sich Mädchen und Jungen während unseres<br />
Unterrichts, der nach Geschlechtern getrennt abläuft,<br />
stellen. Auf die Frage »Wie oft machen Jungen eigentlich<br />
Selbstbefriedigung pro Woche?« kann sich die Jungengruppe<br />
meist rasch auf die Antwort »zwischen drei und sechs<br />
Mal ungefähr« einigen. Die Frage, ob Jungs das tun, steht<br />
gar nicht zur Debatte – weder bei den Mädchen noch bei<br />
den Jungen.<br />
Die Formulierung der Gegenfrage klingt dagegen auffällig<br />
anders: »Machen Mädchen auch Selbstbefriedigung?«,<br />
will die Jungengruppe vorsichtig wissen. Meine Kolleginnen<br />
berichten, dass die Mädchen es nicht einmal untereinander<br />
wagen zuzugeben, dass sie »so was« tun. Deshalb<br />
lautet die Antwort oft: »Wir schätzen zwei Mal im Monat,<br />
aber nur bei 60 % der Mädchen.«<br />
Viel hat sich also nicht geändert. Ansporn genug für<br />
unsere weitere pädagogische Arbeit: Ein lustvoller Zugang<br />
zum eigenen Körper ist gerade für Mädchen nach wie vor<br />
deutlich schwieriger, scham- und angstbesetzter als für<br />
Jungen. Diese geringere Wertschätzung des eigenen Körpers<br />
erschwert auch das selbstbewusste Einstehen für die<br />
eigenen Interessen. Trotz dieser Problematik ist es bei unserer<br />
Arbeit besonders wichtig, die gruppenpädagogische<br />
Ebene nicht zugunsten eines beraterisch-therapeutischen<br />
Ansatzes zu verlassen. Deshalb machen wir auf die Unterschiede<br />
zwischen der Einstellung der Mädchen und der<br />
Jungen aufmerksam und regen Diskussionen darüber an.<br />
Wir fragen aber nicht, wer welche Erfahrungen bereits gemacht<br />
hat, da Schamgrenzen von uns nicht überschritten<br />
werden dürfen.<br />
Sexualität und Bilder<br />
In den 70er-Jahren standen bei diesem Thema Printmedien<br />
sowie das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Fokus<br />
der Diskussion: »In der Regel wird dort ein klischeehaftes<br />
Wissen über Sexualität vermittelt, sei es in einem<br />
pseudowissenschaftlichen Sex-Report einer Zeitschrift<br />
oder sei es in einer meist in immer gleichen Mustern ablaufenden<br />
Liebesszene eines Spielfilms. Das setzt Maßstäbe!«<br />
(S. 25)<br />
Drei Medien, die heute unsere Lebenswelt bestimmen,<br />
gab es damals noch gar nicht: Privatfernsehen, Internet<br />
und Handys. Medien, die Jugendliche heute nutzen, um an<br />
Bilder über Sex zu kommen – auch an Bilder, die für sie, ja<br />
sogar für Erwachsene verboten sind. Gerade für sehr viele<br />
Jungen gilt: Lange, bevor sie jemandem sexuell näher<br />
kommen, haben sie den Geschlechtsakt oft in tausendfacher<br />
Variation in bewegten Bildern gesehen. Das setzt heute<br />
Maßstäbe.<br />
Sammeln wir in unseren Gruppen z. B. Begriffe zum<br />
Thema Sexualität, entspringen sehr viele der Pornografie.<br />
Es braucht viel Zeit, um klarzustellen, dass Pornos in aller<br />
Regel keine realen sexuellen Begegnungen wiedergeben<br />
oder das zeigen, was Frauen wirklich wünschen. Auch<br />
der Hinweis, dass die Bilder oft verfremdet sind, wird lange<br />
nicht angenommen. Deshalb thematisieren wir auch,<br />
dass pornografische Bilder nicht nur erregen, sondern<br />
auch irritieren, verunsichern und abstoßen können – und<br />
zwar nicht nur Mädchen. Und selbstverständlich geht es<br />
auch darum, dass die Weitergabe von Pornografie an unter<br />
18-Jährige schlicht verboten ist, auch wenn der Weitergebende<br />
unter 18 Jahre ist.<br />
Vom Beratungsbus zur Online-Beratung<br />
Während all der Jahre stell(t)en wir uns immer wieder<br />
die Frage, wie wir Jugendliche auf unser Beratungsangebot<br />
aufmerksam machen können. In den 70er-Jahren waren<br />
es die Beratungsbusse auf gut besuchten, öffentlichen<br />
Plätzen. Mitte der 90er-Jahre begannen wir mit der telefonischen<br />
Jugendberatung – beide Projekte wurden mangels<br />
Erfolgs wieder eingestellt.<br />
Der vorläufig letzte Versuch eines regionalen Beratungsangebots<br />
war die sogenannte »First-Love-Ambulanz«.<br />
Einmal pro Woche konnten Jugendliche hier anonym<br />
und kostenlos einer SexualpädagogIn und einer ÄrztIn<br />
psychosoziale und medizinische Fragen stellen. Das<br />
Medien-Echo war groß, ebenso der Werbeaufwand. Doch<br />
auch dieses Projekt wurde wegen mangelnder Akzeptanz<br />
wieder eingestellt. Befragte Jugendliche sagten uns, es sei<br />
unglaublich peinlich, schambesetzt, schlicht uncool, zu einer<br />
Beratungsstelle zu gehen.<br />
Das Internet brachte dann vor einigen Jahren den<br />
Durchbruch. Jugendliche chatten dort, holen sich Infos,<br />
knüpfen Kontakte ... Die Online-Beratung »Sextra.de«,<br />
ein bundesweites pro-familia-Projekt, dockte hier an. Und<br />
Sextra.de boomt. Über Sextra.de beraten wir heute wesentlich<br />
mehr Jugendliche als in den vergangenen Jahren über<br />
andere Kommunikationskanäle.<br />
von Sebastian Kempf<br />
Diplom-Sozialpädagoge (FH), arbeitet seit 18 Jahren<br />
im Sexualpädagogischen Team<br />
der pro familia München<br />
Kontakt: sebastian.kempf@profamilia.de<br />
Literatur:<br />
Senta Fricke/Michael Klotz/Peter Paulich: Sexualerziehung? Handbuch für die<br />
pädagogische Gruppenarbeit für Berater und Eltern. Reinbek 1983.<br />
DDS März 2012 10