PDF-Zeitung - Linkswende
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<strong>Linkswende</strong><br />
für Sozialismus von unten<br />
Nr. 142 • Dez. 2010 / Jän. 2011 • Spende 1,50 EUR • Solidaritätsspende 2,00 EUR<br />
www.linkswende.org<br />
Kampf gegen Bildungs- und Sozialabbau<br />
„the Wire“<br />
Europaweit<br />
wächst<br />
Widerstand<br />
Wilde Streiks in Spanien und Massendemonstrationen in Frankreich; sieben Generalstreiks in<br />
Griechenland in einem Jahr und die größten Proteste in Osteuropa seit dem Zusammenbruch der<br />
Sowjetunion! Quer durch Europa wehren sich die Menschen und der Druck auf die Regierungen nimmt<br />
zu, während sich die Proteste weiter radikalisieren. <strong>Linkswende</strong> berichtet von einigen dieser Kämpfe.<br />
Besetzung der Tory-Zentrale<br />
Schulstreiks<br />
Für viele die beste Fernsehserie aller<br />
Zeiten – <strong>Linkswende</strong> stimmt zu und<br />
empfiehlt wärmstens das „CSI für<br />
Linke“.<br />
>> Seite 11<br />
Falsche<br />
Überheblichkeit<br />
Nach den „faulen Griechen“ jetzt<br />
die „faulen Iren“? Manfred Ecker<br />
argumentiert, warum Chauvinismus die<br />
schlechteste aller Antworten auf die<br />
Krise ist.<br />
Irland<br />
eingestürztes Banken-Casino<br />
Widerstand gegen brutale Sparmaßnahmen<br />
im neoliberalen Musterland<br />
Europas. Mehr als 100.000 Menschen<br />
demonstrieren auf den Straßen Dublins<br />
und fordern den Rücktritt der Regierung.<br />
>> Seite 4<br />
England<br />
Kampf gegen Sparpaket<br />
Zehntausende Studierende und Arbeiter<br />
machen ihrem Unmut über die<br />
Regierung Luft. Die Sparvorhaben sind<br />
schlimmer als jene von Maggie Thatcher.<br />
Studierende besetzen die Parteizentrale<br />
der Tories. >> Seite 4<br />
Frankreich<br />
Proteste gegen Pensionsreform<br />
Raffinerien lahmgelegt, Treibstoff<br />
knapp. Schüler und Studierende demonstrieren<br />
gemeinsam mit Arbeitern.<br />
3,5 Mio. Menschen auf der Straße.<br />
Sarkozy unter Druck. Hauch von Mai<br />
1968 in der Luft.<br />
Wikileaks<br />
>> Seite 3<br />
Medien haben Wahrheiten über den Krieg<br />
verschleiert und über Geheimdiplomatie<br />
geschwiegen. Es ist heuchlerisch,<br />
stattdessen über Julian Assange<br />
herzuziehen, kritisiert Daniel Harrasser.<br />
Betonmischer<br />
rammte Parlament<br />
Portugal<br />
Generalstreik<br />
Die größten Gewerkschaften rufen gemeinsam<br />
Generalstreik aus. Kampf gegen<br />
gegen EU-Spardiktat und öffentlichen<br />
Kahlschlag. Häfen, Schulen,<br />
Krankenhäuser und Flughäfen blieben<br />
geschlossen. >> Seite 4<br />
Barrikade vor<br />
Raffinierie<br />
Besetzter Turm<br />
von Pisa<br />
Italien<br />
Widerstand gegen Berlusconi<br />
Hunderttausende demonstrieren gegen<br />
Kürzungen und neoliberale Bildungsreform.<br />
Radikalisierung: Besetzung<br />
der Scala in Mailand und des<br />
Kolosseums. Regierung Berlusconi<br />
droht zu zerbrechen. >> Seite 2<br />
Der „rote Rudi“<br />
>> Seite 7<br />
In unserer Rubrik „Wer war..?“ fragen<br />
wir nach den Geschichten hinter linken<br />
Ikonen. Die Frage nach Rudi Dutschke<br />
beantwortet uns sein Kampfgefährte<br />
Volkhard Mosler.<br />
Spanien<br />
Fluglotsen- und Generalstreik<br />
Tausende beteiligen sich am Generalstreik<br />
und an Großdemonstrationen.<br />
Gewerkschaften wollen Regierung in<br />
die Knie zwingen. Ministerpräsident<br />
Zapatero setzt Militär gegen spontan<br />
streikende Flutlotsen ein. >> Seite 2<br />
Streikposten verhindern<br />
Ausfahren von Bussen<br />
Griechenland<br />
7 Generalstreiks<br />
Sparpläne der Regierung mit Massenstreiks<br />
beantwortet. Akropolis in Athen<br />
gestürmt. Enorme Sprengkraft der Proteste<br />
in ganz Europa spürbar. Arbeiter<br />
bringen öffentliches Leben tagelang<br />
z u m Stillstand. >> Seite<br />
Arbeiter wehren sich<br />
gegen Kürzungen<br />
Integration?<br />
>> Seite 9<br />
Von Blau bis Grün wird „Integration“<br />
als Allheilmittel verkauft. Warum das<br />
Konzept schon theoretisch falsch ist<br />
und rassistische Vorurteile bestärkt,<br />
schreibt Hannah Krumschnabel.<br />
>> Seite 10
2 B E R I C H T E<br />
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
„Lassen wir uns nicht gefallen,<br />
dass sich das Budget gegen die<br />
Mehrheit der Menschen in unserem<br />
Land richtet.“<br />
fordert der Präsident des<br />
Katholischen Familienverbandes<br />
Österreich (KFÖ),<br />
Clemens Steindl.<br />
„Die nächste Krise kommt eines<br />
Tages. Und wir werden die Hilfe<br />
des Staates brauchen.“<br />
Chef von IHS (Institut für<br />
Höhere Studien) und Staatsschuldenausschuss<br />
Bernhard<br />
Felderer fordert noch<br />
mehr Einsparungen.<br />
„Hören Sie doch auf mit den<br />
Pauschalvorwürfen!“<br />
Josef Pröll reagiert gereizt<br />
gegenüber dem „Standard“<br />
auf eine Frage zu Einbußen<br />
von Familien im Zuge des<br />
Sparpakets.<br />
„Spanien ist zu groß um zu<br />
scheitern und zu groß um gerettet<br />
zu werden.“<br />
sagte US-Ökonom Nouriel<br />
Roubini.<br />
„Das ist schlicht und ergreifend<br />
eine Ohrfeige ins Gesicht von<br />
mobilitätsbehinderten Menschen.“<br />
Michael Svoboda, Präsident<br />
des Behindertenverbandes<br />
NÖ, lehnt die<br />
Fristenstreckung in Sachen<br />
Barrierefreiheit von Bundesbauten<br />
und öffentlichen<br />
Verkehrsmitteln von Ende<br />
2015 auf Ende 2019 ab.<br />
„Wenn das Paket jetzt wirklich<br />
neu aufgemacht wird, holt uns<br />
alle der Teufel.“<br />
prophezeit ÖVP-Budgetsprecher<br />
Günter Stummvoll.<br />
Alarmzustand in Spanien:<br />
Soldaten gegen streikende Fluglotsen<br />
Ministerpräsident Silvio Berlusconis<br />
instabile Regierung erlitt<br />
in Italien einen weiteren Rückschlag,<br />
nachdem Studierende in den letzten<br />
beiden Wochen gegen die geplante<br />
Bildungsreform protestierten. In über<br />
20 Städten haben sie Autobahnen und<br />
Straßen besetzt, sowie Schulen und<br />
Universitäten blockiert. In mehreren<br />
Städten, darunter Mailand und Venedig<br />
haben Studierende Züge durch<br />
Sitzblockaden angehalten und<br />
Vorverkaufsstellen blockiert.<br />
Rom wurde am<br />
30. November durch<br />
den „Blo-<br />
Studierende bringen Berlusconi zum Straucheln<br />
Spanische Regierung schickt das Militär gegen streikende Fluglotsen.<br />
Italien:<br />
Studentenrevolte treibt<br />
Berlusconi in die Enge<br />
ckiert alles Tag“ praktisch zum Stillstand<br />
gebracht. Fünf Schulen wurden<br />
aus Solidarität mit den Studierenden<br />
besetzt und im ganzen Land haben<br />
Schüler die Demonstrationen unterstützt.<br />
Ebenso wurde der schiefen<br />
Turm von Pisa besetzt, wie auch das<br />
Kolosseum in Rom. Mehr als eine<br />
Million Studierende<br />
haben nach eigenen<br />
Schätzungen<br />
an den Protesten<br />
genommen.<br />
Die geplanten<br />
n e o l i b e r a l e n<br />
Reformen sehen<br />
alleine<br />
für das kommende<br />
Jahr<br />
Kürzungen<br />
der Bildungsausgaben<br />
um<br />
700 Millionen<br />
Euro vor.<br />
Berlusconi<br />
IM VISIER:<br />
Manfred Haimbuchner<br />
SPÖ-Landeshauptmann-Stellvertreter<br />
Josef Ackerl bezeichnet ihn als „planmäßigen<br />
Rechtsextremisten“. In den letzten<br />
Wochen ist sich der oberösterreichische FPÖ-<br />
Chef Manfred Haimbuchner nicht zu schade,<br />
eine Presseaussendung nach der anderen abzuschießen,<br />
die die Familie Zogaj verunglimpft.<br />
Haimbuchner versteht die Visa für die Familie<br />
Zogaj als „Beleidigung für hunderttausende Österreicher“<br />
und kann für die Familie „kein Verständnis<br />
mehr aufbringen“.<br />
Es verwundert auch nicht, dass Haimbuchner<br />
die ekelhaften Schweizer Volksabstimmungsergebnisse<br />
goutiert. Einerseits freut er sich über<br />
den Erfolg der rassistischen SVP, andererseits<br />
ist er hochzufrieden, dass das zweite Volksbegehren,<br />
jenes für eine Reichensteuer, nicht angenommen<br />
wurde. In der FPÖ-Tradition, sich<br />
Die spanische Regierung hat,<br />
35 Jahre nach dem Ende des<br />
Faschismus, am 4. Dezember 2010<br />
erstmals wieder den „Alarmzustand“<br />
verhängt und übergab das<br />
Kommando über den Flugverkehr<br />
dem Militär. Soldaten sollten dafür<br />
sorgen, dass die Fluglotsen, die am<br />
Tag zuvor in den Streik traten, ihre<br />
Arbeit wieder aufnehmen. Die Lotsen<br />
hatten zuvor durch den wilden<br />
Streik, der sich gegen die Privatisierung<br />
der Flughäfen und Gehaltskürzungen<br />
richtete, den Luftverkehr<br />
im ganzen Land zum Erliegen<br />
gebracht.<br />
Einige Fluglotsen berichten, dass<br />
Soldaten sie mit vorgehaltenen Gewehren<br />
gezwungen hätten, wieder<br />
zu arbeiten. Der stellvertretende<br />
Ministerpräsident Alfredo Pérez<br />
Rubalcaba drohte den Arbeiterinnen<br />
und Arbeitern, sie wegen<br />
Gehorsamsverweigerung vor Militärgerichten<br />
anzuklagen, wenn sie<br />
nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren.<br />
Den Lotsen, die nach dem<br />
Ausrufen des Alarmzustandes weiter<br />
streikten, drohen nun mehrjährige<br />
Gefängnisstrafen und Schadenersatzforderungen<br />
von bis zu 200.000<br />
Euro pro Kopf. Auf Spekulationen,<br />
die Lotsen könnten die Weihnachtszeit<br />
nutzen, um erneut zu streiken,<br />
reagierte Ministerpräsident Luis Rodriguez<br />
Zapatero mit der Drohung,<br />
den ursprünglich für zwei Wochen<br />
verhängten Alarmzustand um bis zu<br />
zwei Monate zu verlängern.<br />
Die von der Regierung geplanten<br />
Privatisierungen (wie jene der<br />
Flughäfen) sollen Investoren in das<br />
hochverschuldete Land holen. Um<br />
diese angebliche „Krisenbewältigungsstrategie“<br />
umzusetzen, ist jedes<br />
Mittel Recht – auch der Einsatz<br />
des Militärs gegen protestierende<br />
Arbeiter. In den spanischen Medien<br />
kamen ausschließlich Regierungsvertreter,<br />
„betroffene“ Fluglinienbetreiber<br />
und aufgebrachte Reisende<br />
zu Wort. Dementsprechend berichteten<br />
die meisten Tageszeitungen<br />
und Nachrichtensendungen von<br />
entgangenen Umsätzen, festsitzenden<br />
Urlaubern und stornierten<br />
Hotelzimmerbuchungen; die Streikenden<br />
wurden hingegen als überbezahlte,<br />
„geldgeile“ Chaoten dargestellt.<br />
sozial zu geben, praktisch aber auf Seiten der<br />
Reichen neoliberale Politik zu befördern, bezeichnet<br />
er den Vorstoß als „linkspopulistische<br />
Initiative zu Steuererhöhungen der Schweizer<br />
Sozialisten” ... „Dies stellt auch einen Denkzettel<br />
für unsere heimischen Sozialisten dar.” und weiter:<br />
„Die breite Mehrheit erkennt sehr wohl, dass<br />
sich hinter dem Schlagwort ‚die Reichen sollen<br />
zahlen’, lediglich Belastungen für den Mittelstand<br />
verstecken.“<br />
Auch an anderen Fronten bekämpft die FPÖ<br />
verbissen jede Maßnahme, die die Superreichen<br />
ärgern könnte: Eine Initiative zur Anhebung<br />
des Spitzensteuersatzes in Oberösterreich<br />
wurde von der FPÖ, gemeinsam mit der<br />
ÖVP, abgewürgt.<br />
Seine Neoliberale Fratze zeigt Haimbuchner<br />
aktuell in der „Linzer Westring“-Debatte. Er<br />
FOTOBERICHT<br />
Keine Kürzungen der Familienbeihilfe!<br />
Studierende aus Wien, Graz,<br />
Linz und Innsbruck demonstrierten<br />
am 27. November gemeinsam mit<br />
Delegationen der Gewerkschaften<br />
bei Eiseskälte gegen die Kürzungen<br />
der Familienbeihilfe. Zwei Wochen<br />
später hat die ÖVP noch zusätzliche<br />
Hürden für den Studienbeginn<br />
angekündigt. Als bekannt wurde,<br />
hat seit der Abspaltung von Gianfranco<br />
Fini große Probleme zu regieren.<br />
Mit der Unterstützung der Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer könnte<br />
durch diese Studentenproteste die<br />
in Kürze<br />
Haiti: Nach der Bekanntgabe des offiziellen<br />
Ergebnisses der Präsidentschaftswahl<br />
vom 28. November ist es zu Protesten gekommen.<br />
Das Hauptquartier der Regierungspartei<br />
wurde in Brand gesteckt und<br />
Barrikaden errichtet.<br />
Tschechien: Ärzte, Lehrer und andere<br />
Beamte protestierten gegen die Pläne der<br />
Regierung, die Gehälter im öffentlichen<br />
Dienst um zehn Prozent zu senken. In rund<br />
zwanzig Städten gingen die Beamten auf die<br />
Straße. Nach Angaben eines Gewerkschaftschefs<br />
beteiligten sich 123.000 Staatsbedienstete<br />
an den Streiks, 185.000 weitere hätten<br />
ihre Unterstützung zum Ausdruck gebracht.<br />
Griechenland: Mit massiven Streiks haben<br />
in Griechenland Tausende gegen Sparmaßnahmen<br />
im öffentlichen Sektor protestiert.<br />
In der griechischen Hauptstadt Athen<br />
legte der Streik den öffentlichen Nahverkehr<br />
lahm.<br />
Osterinsel: Die Ureinwohner der Osterinsel<br />
demonstrierten Anfang Dezember<br />
für die Rückgabe der Ländereien ihrer Vorfahren.<br />
Der Anwalt der Rapa Nui gab an,<br />
dass die chilenische Polizei – die Osterinsel<br />
wurden 1888 von Chile annektiert – mit<br />
Schrotflinten und Schlagstöcken auf die<br />
Einheimischen losging.<br />
dass die SPÖ mit sich über solche<br />
Vorschläge reden ließe, besetzten<br />
60 Studierende kurzerhand die Parteizentrale<br />
der SPÖ. Vor laufenden<br />
Kameras versicherten die beiden<br />
Bundesgeschäftsführer Kräuter und<br />
Rudas, dass die SPÖ niemals den<br />
Vorschlägen der ÖVP zustimmen<br />
werde. Wer‘s glaubt wird selig, die<br />
Proteste müssen weiter gehen!<br />
Regierung gestürzt werden. Die Studenten<br />
haben bereits Verbindung zu<br />
den Gewerkschaften aufgenommen.<br />
Das könnte einen Neubeginn für die<br />
italienische Linke einläuten.<br />
wünscht sich<br />
eine „Public-<br />
Private-Partnership“<br />
bei der die<br />
Autobahn privat<br />
gebaut und<br />
in privaten Händen<br />
sei. Logischerweise<br />
hat er auch<br />
schon mit Interessenten<br />
gesprochen. Somit ist die<br />
FPÖ Taktik auch hier klar: Verscherbeln was<br />
geht, dafür die Hand aufhalten und das am<br />
besten mit „befreundeten“ Firmen zusammen.<br />
Haimbuchner scheint auch im neuen „FPÖ<br />
Schattenkabinett” als Schattenminister auf. Es<br />
bleibt zu hoffen, dass dieses Gruselkabinett für<br />
immer eine üble Fantasie bleibt.<br />
Foto: <strong>Linkswende</strong> / Oliver Martin
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
L E I T A R T I K E L<br />
3<br />
Debatte :: Argumente :: Diskussion<br />
Kein Grund für „Vaterlands“-Hochmut<br />
Es kommen unappetitliche Zeiten auf uns zu, in denen die Herrschenden wieder verstärkt auf Nationalismus setzen. „Die korrupten Griechen“, „die<br />
faulen Portugiesen“, „die ungeschickten Iren“ und ähnliche Sündenbocktheorien werden jetzt schon unters Volk gebracht, schreibt Manfred Ecker.<br />
In Deutschland und Österreich<br />
hört man: Die „Südländer“ sollen<br />
einmal so ordentlich wirtschaften<br />
wie wir, dann müssten wir nicht dauernd<br />
ihre Schulden zahlen.<br />
Die Kosten eines kranken Systems<br />
Allen voran Angela Merkel schürt<br />
solche Vorurteile. Damit wird eine<br />
ganz wichtige Tatsache verschleiert:<br />
Innerhalb der EU herrscht eine starke<br />
Ungleichheit der Wirtschaftskraft der<br />
einzelnen Länder, und die Stärkeren<br />
nutzen die Krise um diese Ungleichheit<br />
zu vertiefen. Schwache Nationen<br />
importieren die Exporte der Großen –<br />
vor allem Deutschland und Frankreich<br />
– und finanzieren das mit Krediten,<br />
die sie vor allem bei deutschen und<br />
französischen Banken bekommen.<br />
Selbst die einfachen Werktätigen in<br />
den wirtschaftlich schwächeren Nationen<br />
wurden zunehmend dazu verführt<br />
(oder durch Notlagen gezwungen)<br />
ihren täglichen Konsum mittels<br />
Krediten zu finanzieren. In Wahrheit<br />
zahlen „Wir“ nicht für „die Griechen“<br />
oder „die Iren“, wir zahlen für die Torheiten<br />
eines kranken Systems.<br />
Wie überall im Kapitalismus gibt es<br />
in der EU Sieger und Verlierer, und es<br />
gibt die einen nicht ohne die anderen.<br />
Die deutsche Wirtschaft kann nur deshalb<br />
exportieren, weil die Ungleichheit<br />
zu anderen Ländern ihr das erlaubt,<br />
und sie ist interessiert diesen Zustand<br />
beizubehalten. Das deutsche Kapital<br />
scheint sogar blöde oder risikofreudig<br />
genug zu sein, dieses Ungleichgewicht<br />
so stark zu strapazieren, dass<br />
Griechenland und damit ein wichtiger<br />
Absatzmarkt für die deutsche Industrie<br />
kollabiert. Nichts anderes wäre wahrscheinlich<br />
passiert, hätte sich Merkel<br />
Die FPÖ Steiermark versucht aus der Krise mit ekelhaften Wahlplakaten von „faulen Griechen“ Kapital zu schlagen.<br />
im Mai 2010 durchgesetzt und die Finanzhilfe<br />
für Griechenland wäre nicht<br />
zustande gekommen. „Wir“ in Österreich<br />
oder Deutschland haben für<br />
ein Überlegenheitsgefühl gegenüber<br />
den Griechen (oder wer auch immer<br />
in Schwierigkeiten gerät) nicht den<br />
geringsten Anlass. Es sind die verbrecherischen<br />
Machenschaften unserer eigenen<br />
Eliten, die zu diesem Ungleichgewicht<br />
geführt haben, und das einzig<br />
Richtige wäre, unseren Zorn auf diese<br />
Eliten richten. Chauvinismus wird nur<br />
verhindern, dass die Werktätigen hierzulande<br />
ihre wahren Gegner erkennen.<br />
So ist es eine Tatsache, dass Österreichs<br />
Wirtschaft überhaupt nicht funktionieren<br />
würde, wenn sie von der Kaufkraft<br />
im Inland abhängig wäre. Die<br />
hohe Produktivität der heimischen<br />
Wirtschaft bezahlen wir mit der niedrigen<br />
Kaufkraft von uns Lohnabhängigen.<br />
Aus einer gesunden Distanz<br />
betrachtet, haben die Gewerkschaften<br />
in Österreich und Deutschland durch<br />
große Zurückhaltung diese hohe Produktivität<br />
ermöglicht, indem sie zuließen,<br />
dass die Löhne seit 15 Jahren<br />
real nicht gestiegen sind. Man kann<br />
es noble Zurückhaltung nennen oder<br />
auch Angst vor dem Klassenfeind; die<br />
Gewerkschaftsführung nennt es „Verteidigung<br />
der Konkurrenzfähigkeit<br />
des Wirtschaftsstandortes Österreich“.<br />
Wie immer man es nennt, diese Politik<br />
ist falsch und sie ist eine Quelle für den<br />
Chauvinismus, den wir jetzt erleben.<br />
Gemeinsame Interessen<br />
Schon Karl Marx und Friedrich Engels<br />
haben 1848 gegen Nationalismus der<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter argumentiert.<br />
Sie schrieben „Die Arbeiter haben<br />
kein Vaterland“. Lohnabhängige<br />
in Österreich haben viele gemeinsame<br />
Interessen mit Lohnabhängigen überall<br />
auf der Welt, aber sie haben keine<br />
gemeinsamen Interessen mit den Kapitalisten<br />
in ihrem „Vaterland“. Wir<br />
haben kein Interesse an niedrigeren<br />
Löhnen und niedrigeren Sozialleistungen<br />
als Preis für die höheren Profite<br />
unserer Bosse. Stattdessen sollten<br />
wir immer vor Augen haben, dass wir<br />
Lohnabhängigen international solidarisch<br />
sein müssen. Die Belegschaft<br />
vieler Konzerne kann davon ein Lied<br />
singen. Bei Siemens etwa werden soeben<br />
Teile der Produktion in Länder<br />
verfrachtet, die unsere Lohnstandards<br />
unterbieten können. Zuvor haben wir<br />
deutsche Standards unterboten, dort<br />
wurden Stellen abgebaut, hier wurden<br />
welche geschaffen. Tatsächlich hätten<br />
wir damals mit den deutschen Kolleginnen<br />
solidarisch sein und die Produktion<br />
von Siemens hier und dort bestreiken<br />
müssen. Genauso sollten wir<br />
heute die Solidarität von den rumänischen<br />
Kollegen einfordern können.<br />
In Abwesenheit von internationaler<br />
Solidarität blüht und gedeiht dann<br />
allerdings der nationale Chauvinismus.<br />
Es ist jetzt enorm wichtig die<br />
richtigen Antworten auf diese dringlichen<br />
Fragen zu geben, wie man sich<br />
zu den Sparpaketen einerseits und zu<br />
den Finanzhilfen für Portugal, Irland,<br />
Griechenland und Spanien (PIGS) andererseits<br />
stellen soll. Sozialisten und<br />
Sozialistinnen sagen: Kampf den Belastungspaketen<br />
– lasst die Kapitalisten<br />
zahlen! Solidarität mit den Werktätigen<br />
der betroffenen Länder – streicht<br />
die Schulden und verstaatlicht die<br />
Banken. Das klingt heute noch sehr<br />
utopisch und ist dennoch die einzige<br />
Alternative zu einer Abwärtstendenz<br />
an deren Ende die Sozialwesen, die<br />
Bildung und die Pensionssysteme in<br />
allen EU-Ländern zerstört sein werden.<br />
Terrorangst – eine Waffe der Herrschenden<br />
Mit der Angst vor Anschlägen werden der Abbau von Bürgerrechten, der Ausbau des Überwachungsstaates, militärische Interventionen und auch<br />
Hetze gegen Muslime und Asylwerber gerechtfertigt, meint Tom D. Allahyari.<br />
Dutzende sitzen in Frankreich im Gefängnis,<br />
weil sie „Reisen nach Pakistan geplant“<br />
haben, in Deutschland wurde unter<br />
anderem der biometrische Pass eingeführt, in<br />
Großbritannien können verdächtige Staatsbürger<br />
und Migranten ohne Verfahren eingesperrt werden,<br />
die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Es hat<br />
wohl mit Psychologie zu tun, dass die Angst vor<br />
Terroranschlägen viel präsenter ist, als etwa die vor<br />
Autounfällen. Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines<br />
Anschlags zu werden, ist im Vergleich zu anderen<br />
Gefahren in Wahrheit verschwindend gering. Wir<br />
werden mit erschreckenden, aber völlig unspezifischen<br />
Informationen, aus oft dubiosen Quellen,<br />
in Atem gehalten, während unsere Sozialsysteme<br />
zerstört und unpopuläre, imperialistische Kriege<br />
geführt werden.<br />
Jemen im Visier<br />
Neuerlich dürfen Druckerpatronen bei Flügen<br />
nicht mehr im Handgepäck transportiert werden<br />
– eine der seltsameren Folgen des zuletzt<br />
aufgedeckten „Terrorkomplotts“. Zuerst wurde<br />
uns erzählt, Sprengstoff sei von einem Terroristen<br />
im Jemen abgeschickt worden, der am Flughafen<br />
freiwillig seine Adresse und Telefonnummer<br />
hinterlassen haben soll (!). Die Reaktionen waren<br />
vorhersehbar: Sicherheitsmaßnahmen werden weiter<br />
ausgebaut und Forderungen, Einschränkungen<br />
der Bürgerrechte rückgängig zu machen, werden<br />
leiser. Die Informationen über den angeblichen<br />
Anschlagsplan kamen aus einem Saudi-Arabischen<br />
Durch den flächendeckenden Einsatz von Nacktscannern soll die Angst vor Terroranschlägen<br />
genährt sowie unsere Akzeptanz für Überwachungsmaßnahmen gesteigert werden.<br />
Folterkeller.<br />
Der Jemen, der neueste „Schurkenstaat“, ist jetzt<br />
mehr als zuvor im Visier der US-Streitkräfte und<br />
Geheimdienste. Laut Wall Street Journal verstärken<br />
die USA ihre verdeckten Aktionen im Jemen,<br />
die CIA hat die operative Kontrolle über Spezialeinheiten<br />
der US-Armee erhalten. Sie bilden<br />
Elite-Jäger-Killer-Teams zur Jagd auf „Terroristen“.<br />
Der Plan beinhaltet auch den Einsatz von Drohnen,<br />
dieselben, die Tod und Vernichtung über die<br />
Menschen in Afghanistan und Pakistan bringen.<br />
Der Jemen ist ein Land, das von Bürgerkrieg und<br />
Instabilität gezeichnet ist – das Resultat von Jahrzehnten<br />
imperialistischer Einmischung. (siehe LW<br />
134 „Vergessene Geschichte: Jemen – Eine Geschichte<br />
von Imperialismus“)<br />
Der Jemen ist eines der ärmsten Länder der Welt,<br />
US-Interventionen werden nur noch mehr Gewalt<br />
und Unglück über das Land bringen. Die mediale<br />
Aufregung über einen nicht stattgefundenen<br />
Anschlag steht in merkwürdigem Kontrast zum<br />
Mangel an Berichten über das Ausmaß, in dem die<br />
USA Tod und Zerstörung über Menschen bringen<br />
– täglich.<br />
Österreich<br />
Aufgrund einer zweifelhaften Insiderinformation<br />
der belgischen Regierung hat nun Österreich seinen<br />
tschetschenischen Terroristen. Die wahren Hintergründe<br />
sind kaum zu durchschauen, aber eines war<br />
sofort klar: Aus Opfern werden jetzt pauschal Täter<br />
gemacht. Die Kronenzeitung freut sich, Asylwerber<br />
wieder als Terroristen darstellen zu können, Innenministerin<br />
Fekter darf hoffen, dass in Vergessenheit<br />
gerät, wie sie dem tschetschenischen Oppositionellen<br />
Umar Israilow Polizeischutz verweigerte und<br />
ihn damit praktisch zum Abschuss freigegeben hat.<br />
Innenminister wollen sich profilieren, rechte Medien<br />
wollen Feindbilder schüren, Politiker wollen<br />
uns ablenken und überwachen, Solidarität und<br />
Menschlichkeit sollen als naiv hingestellt werden –<br />
all dem dient die Terrorgefahr hervorragend.
4 T H E M A<br />
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
Irland: Wut gegen Banken<br />
Hunderttausende Menschen<br />
auf Dublins Straßen<br />
sind wütend auf<br />
Banker und Bürokraten. Arbeiterinnen<br />
und Arbeiter nehmen die<br />
„Lösung“ der Banken und Regierung<br />
– weitere 4 Jahre mit Sparbudget<br />
– nicht einfach hin.<br />
Der Eurorettungsschirm für Irland<br />
ist ein Trick, um der dortigen Regierung<br />
Geld zu geben, das diese<br />
wiederum an irische und internationale<br />
Banken weitergibt. Internationaler<br />
Währungsfonds, EU<br />
und Europäische Zentralbank<br />
wollen dafür sorgen, dass die europäischen<br />
Banken, die hunderte<br />
Milliarden an irische Banken verliehen<br />
haben, ja keinen Cent verlieren.<br />
Die normalen Menschen<br />
werden davon nicht profitieren,<br />
im Gegenteil: Die irische Regierung<br />
wirft weitere 15 Mrd. Euro<br />
Steuergeld in den Hals der Banken.<br />
Die irische Bevölkerung soll<br />
nach dieser Logik zahlen, darf sich<br />
über die enormen Kürzungen aber<br />
nicht beschweren.<br />
Die globalen Finanz-Aasgeier<br />
versuchen, eine erneute Abwärtsspirale<br />
des gesamten Systems<br />
aufzuhalten. Sie befürchten eine<br />
„Ansteckung“ – eine Vertrau-<br />
Eine neue Phase des Kampfes gegen die geplanten<br />
Sparmaßnahmen der Regierung hat in Großbritannien<br />
begonnen. Nachdem die Erhöhung<br />
der Studiengebühren auf über 10.000 Euro pro Jahr<br />
im Parlament beschlossen wurde, fühlen Studierende,<br />
Schüler, Eltern und Arbeiter einen noch tieferen und<br />
enskrise im Bankensystem, die<br />
sich auf ganz Europa ausbreitet.<br />
Die Antwort der europäischen<br />
Herrschenden auf die Schuldenkrise<br />
ist ein Mechanismus, wie<br />
man mit Staaten umgeht, die<br />
„über ihren Verhältnissen leben“.<br />
Dies bedeutet eine europaweite<br />
Kürzungsmaschine: Auch Portugal<br />
und Spanien sind unter Druck<br />
Sparmaßnahmen durchzuführen,<br />
um Banker zu befriedigen.<br />
Irland muss für Geld, das es aus<br />
dem Paket bekommt, durchschnittlich<br />
6 Prozent Kreditzinsen<br />
zahlen. Das ist sogar noch höher<br />
als die 5,2 Prozent die Griechenland<br />
abverlangt werden.<br />
Auch der österreichischen Regierung<br />
geht es nicht vordergründig<br />
„um die Stützung der gemeinsamen<br />
Währung“, wie Finanzminister<br />
Josef Pröll beteuert, sondern<br />
darum, mögliche Verluste österreichischer<br />
Banken – wenn auch auf<br />
Kosten der normalen Bevölkerung<br />
– aufzufangen.<br />
Das beschlossene Budget in Irland<br />
sieht eine Senkung des Mindestlohns<br />
um 13%, zusätzliche Steuern<br />
für Haushalte von rund 300<br />
Euro und Kürzungen von Arbeitslosengeld,<br />
Kindergeld und anderen<br />
Sozialleistungen um 5% vor.<br />
England: „Erst der Anfang“<br />
von Judith Litschauer<br />
Der Protest auf Irlands Straßen spricht eine deutliche Sprache: „Ihr könnt euch nirgendwo verstecken!“<br />
bitteren Ärger. Die Abstimmung im Parlament fand<br />
unter enormem Protest von zehntausenden Demonstranten<br />
statt. „Der Kampf ist nicht vorbei – das war erst<br />
der Anfang“, war die Grundstimmung, nachdem das<br />
Ergebnis (323 zu 302 Stimmen) auf der Demo vor dem<br />
Parlament bekannt wurde. Die Bewegung geht weiter,<br />
denn der nächste Angriff der konservativ-liberalen Regierung<br />
ist die Kürzung der Education Maintenance<br />
Allowance (EMA; vergleichbar mit Schulgeld / Kinderbeihilfe).<br />
Dies betrifft 600.000 16- bis 19-Jährige<br />
aus ärmeren Lebensverhältnissen, die ohne EMA wohl<br />
nicht in die Schule bzw. an die Uni gehen könnten,<br />
womit ihnen der Zugang zu Bildung versperrt wird.<br />
Es wird immer klarer, dass es ein ideologischer Kampf<br />
ist und nicht ein Widerstand gegen einzelne, voneinander<br />
isolierte, Sparmaßnahmen.<br />
Tom Kay ist Schüler der „Longley Park” in Sheffield<br />
und organisierte einen Schülerstreik an seiner Schule.<br />
Er erzählt: „Meine Schule ist in einem Arbeiterklasse-Bezirk.<br />
Die Eltern erfahren ebenso Sparmaßnahmen und Arbeitsplatzverlust.<br />
Sie erkennen, dass die EMA-Kürzungen<br />
nur ein Teil des Gesamtangriffs der Regierung sind. Die<br />
Eltern vieler meiner Kollegen unterstützen ihre Kinder<br />
beim Schulstreik. Auch die Lehrer sind solidarisch: In ihrer<br />
Gewerkschaft stellten sie einen Antrag gegen die Kriminalisierung<br />
der Schüler, die bei den Streiks und Protesten<br />
aktiv sind. Im Gegenzug unterstützen wir sie in ihrem<br />
Kampf für bessere Löhne. Die Menschen erkennen, dass<br />
wir Seite an Seite stehen müssen, um erfolgreich zu sein,<br />
im Kampf gegen die Kürzungen der Regierung.”<br />
Die Unterstützung der Bewegung durch die breite<br />
Öffentlichkeit wächst von Protest zu Protest. Am 10.<br />
November wurde aus einer Demonstration in London<br />
mit rund 50.000 Teilnehmern das Hauptquartier der<br />
konservativen Torys in der Millbank besetzt. Diese<br />
Radikalisierung innerhalb der Bewegung reflektiert einerseits<br />
den wachsenden Ärger der Studierenden, andererseits<br />
inspirierten sie Millionen Arbeiter mit ihrer<br />
Militanz und Energie. Es wurde klar, dass Widerstand<br />
gegen die Sparmaßnahmen möglich ist. Statt des, von<br />
Herrschenden und Medien herbei geredeten, gesellschaftlichen<br />
Konsenses über die Kürzungen wächst<br />
die Sympathie für die Bewegung. Immer mehr gesellschaftliche<br />
Bereiche beteiligen sich an den Protesten.<br />
Am ersten nationalen Aktionstag (24.11.) gab es die<br />
größten Schülerstreiks seit jenen gegen den Irakkrieg.<br />
Die Proteste der Studierenden gegen die Erhöhung der<br />
Studiengebühren haben sich mit dem Widerstand der<br />
Schüler gegen die Kürzung der EMA verbunden. Am<br />
mittlerweile dritten Aktionstag (9.12.) unterstützten<br />
mehrere Gewerkschaften, unter anderem jene der Busfahrer,<br />
jene der Lehrenden und jene der öffentlich Bediensteten,<br />
die Proteste. Passanten klatschten den Demonstranten<br />
zu, Autofahrer hupten in Solidarität.<br />
Die Bewegung ist massiv, während die Regierungskoalition<br />
schwach ist und die Hosen voll hat. Mit enormer<br />
Polizeirepression wird verzweifelt versucht die Bewegung<br />
zu marginalisieren und zu spalten. Ohne Erfolg<br />
für die Regierung, denn trotz massiver Polizeipräsenz<br />
nahmen die Demonstranten, aus der Dynamik der Bewegung<br />
heraus, den Platz vor dem Parlament ein. Die<br />
Abstimmung für die Studiengebührenerhöhung fiel mit<br />
einer Mehrheit von 21 Stimmen sehr knapp aus. Die<br />
Koalition ist in einer politischen Krise und die Chance<br />
die Regierung zu stürzen ist größer als je zuvor. Die<br />
Uni-Besetzungen gehen weiter, die Einheit von Studierenden<br />
und Schülern wird gestärkt und die Unterstützung<br />
der Arbeiter wächst.<br />
Weiters sollen rund 25.000 öffentlich<br />
Bedienstete arbeitslos werden.<br />
Eine massive politische Krise zwischen<br />
den beiden Regierungsparteien<br />
(Fianna Fail und den Grüne)<br />
ist ausgebrochen. Die Demonstrationen<br />
haben das Potential,<br />
das Kräftegleichgewicht zwischen<br />
Banken und Bossen auf der einen<br />
und Arbeitern auf der anderen Seite<br />
zugunsten letzterer zu verschieben.<br />
Innerhalb der Gewerkschaft<br />
wird der Ruf nach Streik immer<br />
lauter, um mehr Druck auf die<br />
Regierung auszuüben, als es die<br />
Demonstrationen auf der Straße<br />
vermögen.<br />
Wütende Studierende zeigen sich von der Polizeirepression unbeeindruckt.<br />
Der Boom des „Keltischen Tigers“, wie Irland in den<br />
90ern wegen seines rasanten Wirtschaftswachstums<br />
genannt wurde, galt lange als die Erfolgsgeschichte des<br />
Neoliberalismus in Europa schlechthin.<br />
Angetrieben wurde der Boom vor allem durch US-Unternehmen,<br />
die die Insel als Türöffner nach Europa sahen.<br />
Zwischenzeitlich ging bis zu einem Viertel der amerikanischen<br />
Investitionen in der EU nach Irland, bei nur 1%<br />
der Bevölkerung. Doch die Firmen suchten und fanden<br />
mit der Zeit anderswo billigere Geschäftsmöglichkeiten,<br />
und das Geld blieb aus.<br />
Als Antwort darauf stimulierte der irische Staat den Bausektor<br />
und verursachte damit eine regelrechte Immobilienblase.<br />
2006 wurden 20% des Bruttonationaleinkommens<br />
in der Baubranche erwirtschaftet, einer von sieben<br />
Beschäftigten war hier tätig. Kleine Dörfer wurden zu<br />
Pendlerstädten, Hotels und Bürotürme wurden aus dem<br />
Boden gestampft. Irlands Banken vergaben im Zuge des<br />
Booms weit über 100 Milliarden Euro an Krediten.<br />
Immer mehr glaubten sie ihnen wäre alles möglich. Bestechungsskandale<br />
wurden bekannt, bei denen Spekulanten<br />
große Summen an lokale und nationale Politiker zahlten,<br />
um Baugenehmigungen zu erwirken und Entscheidungen<br />
über Bauprojekte zu beeinflussen. Gleichzeitig versuchte<br />
die herrschende Klasse, Dublin als etwas schäbigeren<br />
„Hinterhof“ des Finanzplatzes London zu profilieren<br />
und so durch geringe Regulationen und niedrige Steuern<br />
bewegliches Kapital anzuziehen. Allein 2006 floßen 450<br />
Milliarden britischer Pfund in Hedgefonds die im neuen<br />
„Financial Services Centre“ angesiedelt waren. Etwa 70%<br />
dieser Gelder flossen allerdings weiter auf die Steueroase<br />
Caymaninseln und damit auch am irischen Staat vorbei.<br />
Noch auf der Höhe des Booms halfen die Gewerkschaften<br />
mit, die Löhne der arbeitenden Menschen in Irland niedrig<br />
zu halten. Sie rechtfertigten das mit der Behauptung,<br />
so würden sie sich einen Einfluss in den wirtschaftlichen<br />
Machtzentren sichern. Dieses Konstrukt ist zusammengebrochen.<br />
Die wichtigste Partei der Konzerninteressen, Fianna Fail,<br />
bildet eine Koalitionsregierung mit den Grünen, die sich<br />
bis dahin gern als links der Mitte dargestellt hatten. Gemeinsam<br />
haben sie massive Einschnitte durchgepeitscht.<br />
Im September 2008 verknüpfte die Regierung das Wohlergehen<br />
des Landes mit dem der Banken, indem sie ein<br />
Sparpaket beschlossen, um die Bankenrettung zu finanzieren.<br />
Fast 300.000 Arbeiter gingen 2009 wegen des<br />
Sparpakets in Streik, doch die Gewerkschaftsführung<br />
verhinderte weitergehende Aktionen. Stattdessen boten<br />
die Gewerkschaften der Regierung einen Kuhhandel an<br />
und waren bereit, 15.000 Stellenstreichungen und einer<br />
Flexibilisierung der Arbeitszeit zuzustimmen, wenn die<br />
Regierung im Gegenzug auf Lohnkürzungen verzichtete.<br />
Die Regierung wich aber erwartungsgemäß nicht von den<br />
Kürzungen ab.<br />
Das irische „Wirtschaftswunder“ scheiterte am Platzen<br />
der Immobilienblase und daran, dass die Reichen der<br />
Welt aufgehört hatten, ihr Geld irischen Banken anzuvertrauen.<br />
Generalstreik in Portugal:<br />
Arbeiter wehren sich<br />
gegen Kürzungen<br />
von Jose Biern Boyd Perfeito<br />
Millionen portugiesische Arbeiterinnen<br />
und Arbeiter streikten<br />
Ende November gegen das geplante<br />
Sparpaket. Rund 80% nahmen am Generalstreik<br />
teil, der die Hauptstadt Lissabon<br />
lahm legte. Dabei beteiligten sich<br />
Angestellte aus dem Transport-, Gesundheits-<br />
und Bildungswesen sowie dem<br />
Post- und Telekommunikationsbereich.<br />
Der Generalstreik ist ein Misstrauensvotum<br />
gegen die Minderheitsregierung<br />
der „Sozialisten“ unter Jose Socrates. Sie<br />
betreibt, gemeinsam mit dem rechten<br />
Flügel der Sozialdemokraten, neoliberale<br />
Politik. Der radikale „Linksblock“ und<br />
Was ist mit der<br />
irischen Wirtschaft<br />
schief gegangen?<br />
die Kommunistische Partei stimmten<br />
gegen das Budget 2011, durch das die<br />
Löhne im öffentlichen Sektor um 5% gekürzt,<br />
die Pensionen eingefroren und die<br />
Mehrwertssteuer von 21 auf 23% erhöht<br />
werden sollen.Portugal erlebt zurzeit die<br />
schlimmste Krise seit Jahrtzenhnten.<br />
Etwa 600.000 Portugiesen und Portugiesinnen<br />
über 65 sind unterernährt oder<br />
von Hunger betroffen. Nur die Hälfte<br />
der Arbeitslosen bekommt staatliche<br />
Unterstützung. Dieselbe Regierung, die<br />
nun die Bevölkerung dazu aufruft, Opfer<br />
zu bringen, erlaubt gleichzeitig großen<br />
Firmen Aktiendividenden noch vor Jahresende<br />
auszuzahlen, damit diese nicht<br />
unter die für 2011 vorgesehene Steuererhöhung<br />
fallen. Die Gewerkschaften planen<br />
bereits weitere Aktionen.
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
T H E M A<br />
5<br />
Sparpaket beschlossen? Nicht von uns!<br />
Am Budget 2011 kann sich immer wieder neuer Unmut entzünden, dafür ist durch die vielen schmerzhaften Einschnitte gesorgt. Außerdem ist die<br />
Regierung offensichtlich schwach und zerstritten, meint Manfred Ecker.<br />
Der Wunsch, die einfachen<br />
Lohnabhängigen für die Rettung<br />
des kranken Systems<br />
zahlen zu lassen, ist das Herzstück des<br />
Sparpakets. Wie auch die meisten Medien<br />
anerkennen, ist die Jugend der<br />
größte Verlierer der aktuellen Politik.<br />
Und ein Teil davon, die Studierenden,<br />
hat schon mehrfach die Erfahrung gemacht,<br />
dass durch Kämpfe etwas erreicht<br />
werden kann. Das beste Beispiel<br />
dafür ist die teilweise Abschaffung der<br />
Studiengebühren im Herbst 2008 nach<br />
dem Zerbrechen der letzten Koalitionsregierung<br />
von SPÖ und ÖVP. Zu<br />
dem Zeitpunkt als im Parlament die<br />
Abschaffung beschlossen wurde, waren<br />
terinnen und Arbeiter schwer eingeschränkt<br />
hätte – schon im Parlament<br />
beschlossen. Dann weiteten sich die<br />
Jugendproteste auf Arbeiterinnen und<br />
Arbeiter aus, und nach einem Monat<br />
von Streiks und Protesten wurde das<br />
Gesetz zurück genommen.<br />
Es ist also entscheidend zu wissen,<br />
dass Proteste auch dann noch notwendig<br />
sind und erfolgreich sein können,<br />
wenn das Sparpaket bereits abgesegnet<br />
ist. Das wäre vielleicht weniger klar,<br />
wenn die Regierung fest im Sattel sitzen<br />
würde. Aber die Regierung Faymann/Pröll<br />
ist auffällig defensiv – ein<br />
gutes Zeichen für den nächsten Protest-Anlauf.<br />
Bereits in der ersten Runde<br />
der Kollektivvertragsverhandlungen<br />
kam es vorigen<br />
Monat zu Reibereien zwischen<br />
Betriebsrat Alfred Junghans und<br />
Vorstand Andreas Bierwirth.<br />
Junghans fordert für das Bodenpersonal<br />
eine Inflationsanpassung<br />
von 2 % die beim Flugpersonal<br />
im KV festgeschrieben<br />
ist. Bierwirth will entweder eine<br />
Null-Lohn-Runde oder Kürzungen<br />
bei den Abfertigungsansprüchen<br />
von derzeit maximal<br />
18 auf die gesetzlich festgelegten<br />
12 Monatsgehälter.<br />
Laut GPA-Vizechef Karl Proyer<br />
liegt das Durchschnittsgehalt<br />
der 2.600 Angestellten im technischen<br />
und kaufmännischen<br />
Personal bei 2.500 Euro, wobei<br />
viele nicht einmal auf die 1.200<br />
Euro kämen. Im Vergleich dazu<br />
erhalten die drei AUA-Vorstände<br />
jährlich je 300.000 Euro. Für<br />
AUA-Chef Malanik ein im Vergleich<br />
zu ähnlichen Unternehmen<br />
„bescheidener“ Betrag.<br />
Der Chef des Mutter-Konzerns<br />
AUA-Bodenpersonal<br />
leistet Widerstand<br />
Belegschaft von AUA vor dem Flughafen in Schwechat<br />
Foto: flickr / photosgpadjp<br />
Nach 2.000 Kündigungen in den vergangenen<br />
Jahren und einem Gehaltsverzicht von fünf Prozent<br />
wollen die Beschäftigten des AUA-Bodenpersonals<br />
ihr Gehalt nicht auch noch von der Inflation<br />
auffressen lassen, schreibt Peter Herbst.<br />
Lufthansa Wolfgang Mayrhuber<br />
fordert ein hartes Druchgreifen<br />
gegen die Belegschaft: “Die müssen<br />
erst einmal Geld verdienen.<br />
Die Lufthansa hatte in den letzten<br />
beiden Jahren eine Nulllohnrunde,<br />
obwohl die Airline positiv<br />
war. Das hat auch was mit Konzernhygiene<br />
zu tun.”<br />
Ein Protest am 2. Dezember<br />
von 1.600 Mitarbeitern auf dem<br />
Flughafen Schwechat führte zu<br />
Verzögerungen im Flugverkehr.<br />
Nachdem auch die Gespräche<br />
am 9. Dezember scheiterten,<br />
sind (unter Umständen auch<br />
mehrtägige) Protestveranstaltungen<br />
angekündigt.<br />
Eine Eigenheit der Branche ist<br />
die Trennung der Arbeitskämpfe<br />
von Flug- und Bodenpersonal<br />
die stets zu verschiedenen<br />
Zeiten stattfinden. Es gibt zwar<br />
regelmäßig die Aufforderung an<br />
die jeweils andere Seite, die eigenen<br />
Anliegen zu unterstützen,<br />
allerdings kam es zur Freude<br />
des Managements bislang nicht<br />
dazu.<br />
die Proteste der Studierenden gegen<br />
die Studiengebühren längst abgeklungen<br />
und – so haben viele angenommen<br />
– vergessen. Tatsächlich haben sich diese<br />
Proteste sehr tief ins Bewusstsein der<br />
SPÖ-Führung eingebrannt und deshalb<br />
waren Studiengebühren die erste<br />
Belastung, die von der wahlwerbenden<br />
SPÖ zurückgenommen wurde.<br />
Lehrreich ist auch, dass die SPÖ so reagiert<br />
hat, und nicht die ÖVP. Heute<br />
wird nämlich unter den Aktivistinnen<br />
und Aktivisten diskutiert, ob wir unsere<br />
Angriffe auf die ÖVP oder auf die<br />
SPÖ konzentrieren sollten. Die ÖVP<br />
ist sicher die treibende Kraft hinter<br />
den Verschlechterungen und die „bösere“<br />
der beiden Regierungsparteien.<br />
Sie tritt offen als die Partei auf, die den<br />
Sozialstaat beschneiden und den Studienzugang<br />
beschränken will oder die<br />
Verbesserungen im österreichischen<br />
Schulsystem, einem der schlechtesten<br />
der Welt, verhindert. Aber sie hat als<br />
die große Unternehmerpartei keine<br />
Basis wie die SPÖ, die jetzt schreit:<br />
„Ihr verratet uns und eure Prinzipien!“<br />
Deshalb bringt man die Regierung effizienter<br />
unter Druck, wenn man die<br />
SPÖ für ihre gebrochenen Versprechen<br />
angreift. An ihrem schwächsten Glied<br />
bricht man die Kette.<br />
Außer den Studierenden leiden noch<br />
andere Gruppen ganz massiv unter dem<br />
GPA-djp-Bundesgeschäftsführerin<br />
Dwora Stein erklärte im Rahmen einer<br />
Protestaktion von Forscherinnen und<br />
Forschern am 6. Dezember am Wiener<br />
Minoritenplatz: „Die vom Wissenschaftsministerium<br />
geplanten Kürzungen im Bereich<br />
der außeruniversitären Forschung sind<br />
kontraproduktiv und kurzsichtig.“<br />
Die Regierung plant, die Basissubventionen<br />
für außeruniversitäre Forschungseinrichtungen<br />
zu streichen. Für viele<br />
wissenschaftliche Institute bedeutet dies<br />
das Aus, andere werden in die Universität<br />
eingegliedert und müssen jetzt mit anderen<br />
Einrichtungen um finanzielle Mittel<br />
streiten. „Diese Maßnahmen als Strukturbereinigung<br />
zu bezeichnen ist an Zynismus<br />
nicht zu überbieten”, so Stein weiter.<br />
Während von Medien und Politikern der<br />
Mythos der wissensbasierten Ökonomie<br />
hochgehalten wird, sieht die Realität<br />
anders aus, denn die Lage der wissenschaftlichen<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter<br />
verschlechtert sich stetig. Konkurrenzkampf,<br />
Leistungsdruck und prekäre Arbeitsverträge<br />
führen bei vielen Forschern<br />
Die Sozialabteilung Oberösterreichs<br />
gab am 29.<br />
Oktober den Geschäftsführungen<br />
von pro mente OÖ,<br />
Exit Sozial und Arcus-Sozialnetzwerk<br />
bekannt, dass ihr<br />
Budget so weit gekürzt wird,<br />
dass zahlreiche Leistungen<br />
eingestellt werden müssen.<br />
Ab 1. Jänner 2011 wird das<br />
Budget für die Leistungsbereiche<br />
psychosoziale Beratungsstellen<br />
und Krisendienste<br />
sowie Freizeit- und<br />
Kommunikationseinrichtungen<br />
um 33 Prozent gekürzt.<br />
Als Grund wurde<br />
genannt, es seien wegen der<br />
„budgetären Situation des<br />
Landes in allen Bereichen Einsparungsmaßnahmen”<br />
(insgesamt<br />
25 Millionen Euro) erforderlich.<br />
Gleichzeitig wurde<br />
erklärt, dass Verhandlungen<br />
nicht mehr möglich seien,<br />
nur mehr über die Umsetzung<br />
könne gesprochen werden.<br />
Bei pro mente OÖ wurden<br />
bereits 88 Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter beim AMS<br />
zur Kündigung angemeldet.<br />
Bei EXIT-sozial sind es<br />
25. Bei pro mente OÖ und<br />
EXIT-sozial wurde deshalb<br />
für 13. und 14. Dezember<br />
ein Warnstreik angekündigt.<br />
Die GPA-djp hat die Streikfreigabe<br />
beschlossen und unterstützt<br />
die Kolleginnen und<br />
Kollegen.<br />
Demobericht:<br />
Sparpaket und haben auch schon mit<br />
den ersten Protesten auf sich aufmerksam<br />
gemacht – etwa die Angestellten<br />
der außeruniversitären Forschungseinrichtungen,<br />
denen überfallsartig die<br />
Basisfinanzierungen gestrichen werden<br />
soll. Als nächstes folgen die Schulen.<br />
Der größte Teil der Bevölkerung würde<br />
Proteste für bessere Bildung unterstützen,<br />
weil es auch wirklich beinahe<br />
jede Familie in Österreich betrifft.<br />
Ein Slogan in den französischen Protesten<br />
dieses Jahr war: „Was das Parlament<br />
beschließt, können wir rückgängig<br />
machen!“ 2006 z.B. war in<br />
Frankreich das so genannte CPE – ein<br />
Gesetz, das die Rechte junger Arbei-<br />
Kein Sparen bei der Forschung!<br />
Fehlende Mittel für Wissenschaft: Symbolisch werden Banken-Milliarden verbrannt<br />
zu Burn-Out, Angst- und Stresszuständen<br />
und diversen psychosomatischen Erkrankungen.<br />
Dies ist die Konsequenz der Einführung<br />
von Waren- und Wettbewerbslogik<br />
im wissenschaftlichen Bereich.<br />
„Wir müssen ein für allemal klar machen,<br />
dass wir keine Humanressourcen oder<br />
Standortfaktoren im globalen Wettbewerbskrieg<br />
sind. Jedwede Strukturreform im<br />
Wissenschaftsbereich, muss als oberstes Ziel<br />
haben, die Situation von Forschenden und<br />
Lehrenden nachhaltig zu verbessern und<br />
darf nicht der Optimierung des Wirtschaftsstandortes<br />
untergeordnet werden.“, so Mario<br />
Becksteiner, Lektor an der Uni Wien,<br />
in seiner Rede.<br />
Oberösterreich:<br />
Warnstreik bei pro mente und EXIT-sozial<br />
Betriebsräte aus dem Sozialbereich bei einer Protestversammlung im Sommer 2010<br />
33% Kürzung bedeuten:<br />
• Kündigungen in Bereichen, wo ohnehin zu wenige Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter tätig sind!<br />
• Starke Überlastung der Verbleibenden!<br />
• Weniger Beschäftigte können weniger Kriseneinsätze<br />
leisten!<br />
• Noch längere Wartezeiten (bis zu einem Jahr), obwohl gerade<br />
bei akuten Krisen SOFORT gehandelt werden müsste!<br />
• Die Suizidrate wird laut Experten ansteigen, da Menschenleben<br />
dort gefährdet sind, wo Krisenhilfe fehlt!<br />
Foto: DeSt<br />
Foto: <strong>Linkswende</strong> / M.E.
6 F O R U M<br />
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
Postfach<br />
Kommentare, Berichte oder Briefe bitte an redaktion@linkswende.org<br />
Die hier veröffentlichten Briefe und Berichte repräsentieren nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion von <strong>Linkswende</strong>.<br />
Reaktionen auf den von <strong>Linkswende</strong> jährlich organisierten Kongress „Marx is muss 2010“, der von 19. bis 21.11. stattfand.<br />
MARX IS MUSS 2010<br />
Wer sich im Zeitrahmen von 19. - 21. November<br />
von den einladenden Ständen des Christkindlmarkts<br />
am Spittelberg losreißen konnte, wurde<br />
im Amerlinghaus reichlich belohnt.<br />
Dort fand der alljährliche „Marx is muss“-Kongress<br />
statt und begeisterte MitgestalterInnen<br />
und TeilnehmerInnen gleichermaßen. Eröffnet<br />
wurde die Veranstaltung von Volkhard Mosler<br />
und Martin Maurer, die die Studentenproteste<br />
von 1968 und heute in Verbindung brachten.<br />
Das vielseitige Angebot am Samstag reichte von<br />
Referaten über aktuelle Themen wie die heutige<br />
Mediengesellschaft, den Kampf gegen Islamfeindlichkeit<br />
und den Nah-Ost-Konflikt bis hin<br />
zu geschichtlich reflektierenden Vorträgen über<br />
den Ursprung der Frauenunterdrückung und<br />
Widerstand im Nationalsozialismus. Ein Highlight<br />
des Tages war sicherlich die Filmvorführung<br />
„Bock for President“ in deren Anschluss Ute<br />
Bock und Regisseur Tom-Dariusch Allahyari im<br />
gemeinsamen Gespräch Fragen beantworteten.<br />
Das sonntägliche Programm war nicht weniger<br />
aufregend gestaltet und hatte neben dem internationalen<br />
Gast Yannis Koutras (Streikführer aus<br />
„Die berühmtesten illegalen<br />
Flüchtlinge der Welt sind Maria,<br />
Josef und Jesus!“, „Kein Mensch<br />
ist illegal“, „Grenzen verlaufen<br />
nicht zwischen Ländern, sondern<br />
zwischen oben und unten!“<br />
Solche und viele andere Sprüche<br />
standen auf Plakaten und Stickern<br />
der gut 1.200 Demonstranten<br />
in Innsbruck bei der Demo für<br />
Bleiberecht und gegen inhumane<br />
Abschiebung. Genauso verschieden<br />
wie die Slogans war auch die<br />
Zusammensetzung der Demonstranten:<br />
Katholiken, Gewerkschafter,<br />
unabhängige Flüchtlingshilfe<br />
bis zur KJÖ.<br />
So vielfältig wie die Zusammensetzung<br />
der Initiative Bleiberecht<br />
ist auch die Zusammensetzung<br />
der Forderung die gestellt werden.<br />
So wird das Bleiberecht für Asylbewerber<br />
bedingungslos nach 3<br />
Jahren gefordert; eine solche Zeitspanne<br />
sei wesentlich gerechter als<br />
5 oder 7 Jahre voller Ungewissheit.<br />
Auch seien 3 Jahre genug um Integration<br />
zu gewährleisten und<br />
Für 168 Kongressbegeisterte war das Amerlinghaus drei Tage lang Zentrum des „Marx is Muss 2010“<br />
Griechenland) unter anderem auch Christian<br />
Felber zu bieten. Spannend waren nicht nur die<br />
Vorträge, sondern auch die anschließenden Diskussionen,<br />
die Raum für offene Fragen, Anregungen<br />
und Kritik ließen. Da bei so viel geistiger<br />
Kost auch das leibliche Wohl nicht auf der Strecke<br />
bleiben darf, konnte man im Kongresscafé<br />
neben Kaffee und Kuchen auch selbstgemachtes<br />
(Erdäpfel-)Gulasch genießen. Zum Schluss lässt<br />
sich sagen, dass wir dieses Wochenende nicht<br />
hätten missen wollen und uns schon sehr auf den<br />
Kongress 2011 freuen.<br />
Schafft Abschiebung ab!<br />
Bleiberechtsdemo in Innsbruck am 10. Dezember 2010<br />
Deutsch zu lernen. Praktischer<br />
sind die Forderungen seitens der<br />
Caritas, die natürlich auch von der<br />
Plattform mitgetragen werden, wie<br />
bessere medizinische Versorgung<br />
während der Asylverfahren. Auch<br />
was Arbeitsmarktfragen anbelangt<br />
nimmt die Initiative Stellung: Freiheit<br />
bei der Jobsuche, völliger Zugang<br />
zu Ausbildung und Lehre.<br />
Foto: Julian Fischnaller<br />
Kelly und Veronika<br />
Die Vielfalt der Organisatoren<br />
mag zwar viele Vorteile haben,<br />
aber durch die passiveren Elemente<br />
fällt die Argumentation doch recht<br />
unkämpferisch aus und die Forderungen<br />
werden wenig aggressiv<br />
vorgetragen, obwohl während<br />
dem Demo-Marsch die Stimmung<br />
durchaus kämpferisch war.<br />
Trotzdem ist die Aktion als großer<br />
Erfolg zu werten: 1200 motivierte<br />
Menschen allen Alters und mit<br />
vielen verschiedenen Einstellungen<br />
haben sich zusammengetan um gegen<br />
die Verletzung von Menschenrecht<br />
zu kämpfen. Besonders im<br />
Vergleich zum letzten Jahr, wo die<br />
Besucheranzahl und Stimmung<br />
lange nicht so gut war wie heuer.<br />
Auch allgemein lässt sich etwas<br />
feststellen: Die Bereitschaft der<br />
Menschen auf die Straße zu gehen<br />
steigt und die vorherrschende rassistische<br />
Argumentation wird offen<br />
entgegengetreten.<br />
Julian Fischnaller<br />
aus Innsbruck<br />
Foto: <strong>Linkswende</strong> / O.M.<br />
Antikapitalistischer<br />
Kongress<br />
Laut Wikileaks interessieren sich die österreichischen<br />
Politiker nicht allzu sehr für Politik.<br />
Umso erfreulicher, dass es zumindest<br />
Teile der Bevölkerung tun. Am „Antikapitalistischen<br />
Kongress – Marx ist Muss“, von<br />
19.11. – 21.11.2010, abgehalten im Amerlinghaus,<br />
konnte ein politisches Desinteresse<br />
nicht festgestellt werden. Zahlreiche<br />
Sprecher und Sprecherinnen, wie Christian<br />
Felber, Tom-Dariusch Allahyari, Volkhard<br />
Mosler und Natalie Adler, befassten sich mit<br />
einer Vielzahl an Themen, wie Ursprung<br />
und Überwindung der Frauenunterdrückung,<br />
Widerstand im Nationalsozialismus,<br />
Islamfeindlichkeit und Imperialismus. Und<br />
hier sind noch längst nicht alle genannt.<br />
Auch Ute Bock fand sich zur Vorführung<br />
des äußerst gelungenen Filmes „Bock for<br />
President“ im Amerlinghaus ein.<br />
Im Anschluss an die Vorträge wurde das<br />
Wort an das Publikum weitergegeben und<br />
es folgten anregende und interessante Diskussionen.<br />
Hier sei kurz erwähnt, dass es<br />
unter den österreichischen Politikern und<br />
Politikerinnen leider nicht mehr üblich ist,<br />
die Meinung der Bevölkerung in Entscheidungen<br />
miteinzubeziehen – sei dies im<br />
Falle der Bleiberechtsdebatte oder der Familien-<br />
und Bildungspolitik. Und selbst das<br />
dringliche Ersuchen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof,<br />
im Falle der Dublin<br />
II Abschiebungen nach Griechenland, wird<br />
ignoriert. Nun, ich möchte nicht abschweifen<br />
und lenke die Aufmerksamkeit zurück<br />
zum „Marx ist Muss“ Kongress. Die insgesamt<br />
dreitätige Veranstaltung hat angeregt<br />
zum Denken, Nachlesen und Diskutieren.<br />
Die Stimmung auf dem Kongress spiegelte<br />
den Glauben an die Möglichkeit von Veränderungen<br />
wieder und die Besucher und<br />
Besucherinnen verließen mit diesem Gefühl<br />
die Veranstaltungsräume. Ja gut, dass eine<br />
oder andere hätte sich noch sagen lassen,<br />
mir selbst wären ja im Nachhinein noch einige<br />
wertvolle Diskussionsbeiträge eingefallen.<br />
(Wie das immer so ist.) Aber vielleicht<br />
beim nächsten Kongress. Oder einfach in<br />
der nächsten Diskussion des Alltagslebens<br />
– umso besser! Der Sinn des Kongresses ist<br />
doch das Gehörte und Diskutierte aus dem<br />
Amerlinghaus hinauszutragen. Und ich<br />
denke, das ist gelungen! Liebe Grüße,<br />
Anna P.<br />
Politische Ökonomie<br />
nichtSeminar:<br />
Kapitalismus funktioniert<br />
- ein Plädoyer für Sozialismus<br />
Es ist beinahe Konsens, dass Kapitalismus nicht funktioniert. Allerdings<br />
ist Sozialismus als Alternative dazu durch Stalins brutale Diktatur<br />
völlig diskreditiert worden. Auch die sozialistischen Parteien<br />
außerhalb Russlands haben ihren Teil zum schlechten Ruf einer<br />
guten Idee beigetragen.<br />
Wir wollen das ursprüngliche Konzept einer grundlegend demokratischen<br />
und sozial gerechten Gesellschaft wieder aufleben<br />
lassen. Vor allem wollen wir diskutieren, welche Relevanz Sozialismus<br />
im 21. Jahrhundert haben kann.<br />
Ablauf: Einleitungsreferat von Manfred Ecker, Herausgeber der<br />
Zeitschrift <strong>Linkswende</strong>, mit anschließender Diskussion.<br />
14. Jänner um 19:00 im Depot<br />
(Breite Gasse 3, 1070 Wien)<br />
und Imperialismus<br />
6. Jänner im Amerlinghaus<br />
(Stiftgasse 8, 1070 Wien)<br />
16:00 Teil 1 - Einführung in die<br />
politische Ökonomie<br />
17:30 Teil 2 - Politische Ökonomie<br />
und Imperialismus<br />
Gruppentreffen:<br />
Stadtgruppe Wien jeden Donnerstag um<br />
19:00, Amerlinghaus (7., Stiftg. 8)<br />
Unigruppe jeden Montag um 19:00, Powi-Institut<br />
im 2.Stock des NIG (1., Universitätsstraße 7)<br />
Eintritt frei, keine Anmeldung erforderlich<br />
KONTAKT<br />
Internet: www.linkswende.org - linkswende@linkswende.org<br />
Für Marx gab es keine wirkliche Trennung zwischen<br />
Wirtschaft, Politik und Ideologie. <strong>Linkswende</strong> will<br />
die von Marx erarbeiteten allgemeinen Grundlagen<br />
der politischen Ökonomie vorstellen und versucht<br />
im zweiten Teil auf dieser Grundlage eine Analyse<br />
der globalen Entwicklungen vom Afghanistankrieg<br />
bis zur aktuellen Wirtschaftskrise.<br />
Ablauf des Seminars:<br />
Einleitungsreferate von Manfred Ecker und Tom-<br />
Dariusch Allahyari mit anschließender Diskussion.<br />
IMPRESSUM<br />
für den Inhalt verantwortlich:<br />
<strong>Linkswende</strong><br />
Verein gegen Rassismus<br />
und soziale Ungerechtigkeit<br />
(Vereinsnummer: ZVR - 593032642)<br />
Kettenbrückeng. 11/20, 1050 Wien<br />
0681/10605517, www.linkswende.org<br />
redaktion@linkswende.org
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
Dieselben Politiker,<br />
die uns jahrelang<br />
belogen haben,<br />
empören sich jetzt über die<br />
Enthüllungen durch Wikileaks.<br />
Das ist Heuchelei ersten<br />
Grades und wird nicht<br />
von den Verbrechen ablenken,<br />
über die wir endlich<br />
die Wahrheit erfahren.<br />
Genauso scheinheilig ist es,<br />
wenn dieselben Medien,<br />
die uns so routinemäßig die<br />
Verbrechen westlicher Staaten<br />
verschleiern, jetzt die<br />
Wahrung des Datenschutzes<br />
einmahnen. Es ist doch ihre<br />
Komplizenschaft mit der<br />
Politik, die Institutionen<br />
wie Wikileaks erst notwendig<br />
machen.<br />
US-Politiker fordern, dass<br />
Wikileaks als terroristische<br />
Organisation behandelt<br />
werden soll. Ihr Gründer<br />
Julian Assange muss um<br />
sein Leben fürchten. Sarah<br />
Palin, ehemalige Kandidatin<br />
der Republikaner für das<br />
Amt des Vizepräsidenten,<br />
vergleicht Assange sogar mit<br />
Osama bin Laden und will<br />
ihn „zur Strecke bringen“.<br />
Es scheint, als würden die<br />
durchgesickerten Informationen<br />
für die USA und ihre<br />
Geheimdienste wirklich bedrohlich<br />
sein.<br />
Weltweit wird Assange<br />
und Wikileaks unter dem<br />
Deckmantel der<br />
Gerechtigkeit<br />
attackiert. Doch<br />
während Assange<br />
im Gefängnis<br />
sitzt, werden sich<br />
jene Politiker und<br />
Militäroffiziere, die<br />
Folter und Massaker<br />
an der Zivilbevölkerung<br />
in Irak und Afghanistan<br />
autorisiert<br />
haben – wie Wikileaks<br />
entlarvt hat – wohl<br />
nie vor Gericht rechtfertigen<br />
müssen. Stattdessen<br />
wird eine Hexenjagd gegen<br />
Assange geführt. Die Medien<br />
wollen ihm einen Strick<br />
drehen und lenken die Debatte<br />
von den grausamen<br />
Enthüllungen weg. Sie<br />
stellen Assange als Problem<br />
dar, obwohl sie<br />
es sind, die uns Informationen<br />
über die<br />
wahren Vorgänge im<br />
Irak, etc. verschweigen.<br />
Die Medien<br />
haben kein Recht<br />
ihn und Wikileaks<br />
zu kritisieren. Die<br />
Feindseligkeit der<br />
Medien und Politiker<br />
kommt aus<br />
dem einfachen<br />
Faktum, dass<br />
jene, die an der<br />
Macht sind,<br />
glauben, ein<br />
I n t e r n a t i o n a l<br />
Wikileaks:<br />
Falsche Empörung der<br />
Politiker und Medien<br />
Recht zu haben<br />
ihre Informationen<br />
privat<br />
zu halten. Der<br />
Grund für die<br />
Aufregung der<br />
Herrschenden ist,<br />
dass sie verzweifelt<br />
versuchen<br />
uns im Dunkeln<br />
zu lassen.<br />
Dabei sind die Einzelheiten<br />
der Meldungen<br />
zumeist banal.<br />
Es ist keine<br />
wirkliche Überraschung,<br />
dass<br />
US-Außenministerin<br />
Hillary Clinton<br />
ihren Diplomaten<br />
befohlen hat, weltweit<br />
verschiedene Funktionäre<br />
und Diplomaten der<br />
Vereinten Nationen auszuspionieren.<br />
Das ist<br />
genau das, wozu Diplomaten<br />
da sind.<br />
Es ist auch kein<br />
Schock, dass der österreichische<br />
Raiffeisen<br />
Investment<br />
Bank Verbindungen<br />
mit dem organisierten<br />
Verbrechen<br />
in Russland<br />
n a c h g e s a g t<br />
werden. „Dreckige“<br />
Geschäfte<br />
sind im<br />
internationalen<br />
Bankwesen normal. Noch<br />
viel weniger erschreckt es,<br />
dass der österreichische Botschafter<br />
in Teheran die USA<br />
mit Informationen versorgt,<br />
die als Legitimierung für einen<br />
möglichen Angriff auf<br />
den Iran verwendet werden<br />
können. „Neutrale Diplomatie“<br />
gibt es nicht, auch<br />
nicht in Österreich.<br />
Diplomaten haben Informationen<br />
gesammelt, und<br />
die Geheimdienste haben<br />
diese verwendet (oder verdreht)<br />
und Kriege begonnen,<br />
Menschen gefoltert,<br />
und auf dieser Grundlage<br />
wurde entschieden, wessen<br />
Arbeitsplätze im Dienste<br />
des Freihandels geopfert<br />
werden.<br />
Die Wikileaks-Veröffentlichungen<br />
enthüllen nur<br />
einen Bruchteil der Informationen<br />
wie das System<br />
funktioniert – was geheim<br />
gehalten wird. Der Öffentlichkeit<br />
wird durch die allmählichen<br />
Bekanntgaben<br />
ein flüchtiger Blick ermöglicht.<br />
Wikileaks wird so<br />
das System nicht ernsthaft<br />
gefährden, aber sie können<br />
uns einen tiefen Einblick<br />
geben, wie die Herrschenden<br />
– allen voran die USA<br />
– ihre Verbündeten, ihre<br />
Feinde und ihre Angriffsziele<br />
auswählen.<br />
Erfolg: Britische Regierung zahlt Millionen-<br />
Entschädigung an Guantanamo-Häftlinge<br />
von Mario Schulmeister<br />
Demütigung eins Häftlings, wie sie die US-Armee in geheimen Gefängnissen weltweit praktiziert<br />
Insgesamt zwölf Männer hatten Großbritannien<br />
wegen Beihilfe zur Folter vor dem High<br />
Court of Justice, verklagt. Sie sind entweder<br />
britische Staatsbürger oder haben ihren Wohnsitz<br />
im Land, und waren an verschiedenen Orten im<br />
Ausland – darunter im US-Lager Guantanamo<br />
Bay auf Kuba oder nahe dem afghanischen Luftwaffenstützpunkt<br />
Bagram – gefangen gehalten<br />
worden. Die britische Regierung hat sich offenbar<br />
mit Ihnen auf millionenschwere Entschädigungszahlungen<br />
geeinigt. Die Ex-Insassen berichten,<br />
dass die Geheimdienste MI5 und MI6 bei den<br />
Überstellungsflügen und bei der inhumanen Behandlung<br />
im US-Gefangenenlager mitgemacht<br />
haben. Mehrere der Ex-Häftlinge gaben an, man<br />
habe sie der Foltermethode des „Waterboarding“<br />
(simuliertes Ertrinken) unterzogen. Einer hat die<br />
Sehkraft eines Auges eingebüßt – nachdem Soldaten<br />
ihm dieses mit einem in Pfefferspray getränkten<br />
Lumpen eingerieben hatten.<br />
Der bekannteste Fall ist der von Binyam Mohamed,<br />
der 2002 in Pakistan festgenommen<br />
worden war und über Marokko ins US-Gefangenenlager<br />
Guantanamo gebracht wurde. Erst nach<br />
vier Jahren wurde er entlassen. Vergangenes Jahr<br />
tauchten Gerichtsdokumente auf, die besagen,<br />
dass Mohameds Genitalien mit einem Skalpell<br />
aufgeschlitzt worden waren. Offensichtlich war<br />
Mohamed auch weiterer Folter ausgesetzt, gegen<br />
die, so ein Gerichtsmitarbeiter, Waterboarding<br />
eher noch zu den harmloseren Methoden gerechnet<br />
werden müsste.<br />
Der letzte britische Guantanamo Gefangene Shaker<br />
Aamer bekam ebenfalls eine Entschädigung<br />
zugesprochen, obwohl er immer noch in seiner<br />
Guantanamo Zelle sitzt.<br />
Die britische Regierung hat sich nun zu der Entschädigungszahlung<br />
in Millionenhöhe entschieden,<br />
da durch die drohende Gerichtsverhandlung<br />
zahlreiche Geheimdokumente offengelegt werden<br />
würden. Diese Dokumente würden zeigen, dass<br />
die britische Regierung die ausdrückliche Befugnis<br />
zur Folter erteilt hatte, oder beide Augen<br />
zudrückte und absichtlich nicht nachfragte. Die<br />
Offenlegung der Dokumente hätte dem ohnehin<br />
bereits stark angeschlagenen Ruf des Landes noch<br />
stärker geschadet.<br />
Offiziell wollte die Regierung mit der außergerichtlichen<br />
Einigung langwierige und kostspielige<br />
Prozesse vermeiden. Der Regierung zufolge waren<br />
zuletzt 100 Geheimdienstmitarbeiter rund um<br />
die Uhr damit beschäftigt, die Prozesse vorzubereiten.<br />
Foto: indymedia<br />
Wikileaks enthüllt<br />
Brutalität der<br />
US-Diplomatie<br />
7<br />
Ein Dokument unter den bisher veröffentlichten<br />
Wikileaks-Akten sticht besonders<br />
hervor: Es ist ein Telegramm der US-Botschaft<br />
in Berlin aus dem Jahr 2007 und beschreibt<br />
von Daniel Harrasser<br />
eine Sitzung, in der der damalige stellvertretende<br />
Chef der US-Mission in Deutschland,<br />
John M. Koenig, den stellvertretenden Berater<br />
für nationale Sicherheit in Deutschland,<br />
Rolf Nikel, dazu drängte, „auf sorgfältige Weise<br />
bei jedem Schritt die Auswirkungen auf die<br />
Beziehungen mit den USA abzuwägen“, wenn<br />
er Haftbefehle gegen CIA-Agenten, wie im<br />
Fall des vom amerikanischen Geheimdienstes<br />
entführten Khaled al-Masri, ausstelle. „Er erinnerte<br />
Nikel an die Auswirkungen an die bilateralen<br />
Beziehungen zwischen den USA und<br />
Italien im Zuge eines ähnlichen Schrittes der<br />
italienischen Behörden im vergangenen Jahr.“<br />
Nikel fühlte sich verpflichtet, den Worten Koenigs<br />
nachzukommen, wiederholte aber, dass<br />
er in diesem Moment nicht versprechen könne,<br />
dass alles gut gehe.<br />
Die durchgesickerten Dokumente sagen<br />
nichts darüber aus, was mit Masri passiert ist.<br />
Der deutsche Autoverkäufer war offenbar zu<br />
Silvester 2003 mit einem Al-Kaida-Verdächtigen<br />
mit ähnlich lautendem Namen verwechselt<br />
worden. Er war verhaftet worden, als er<br />
in einem Bus die Grenze von Serbien nach<br />
Mazedonien überqueren wollte. Die mazedonischen<br />
Behörden übergaben ihn an den CIA.<br />
Maskierte Männer zogen ihn nackt aus, fesselten<br />
ihn und brachten ihn in eine Boeing<br />
737. Von Skopje flog sie erst nach Bagdad, wo<br />
die Maschine eine militärische Landebefugnis<br />
hatte, und dann zum berüchtigten Gefängnis<br />
„Salt Pit“ nahe der afghanischen Hauptstadt<br />
Kabul.<br />
Er wurde auf dem Boden des Jets angekettet,<br />
ihm wurde Beruhigungsmittel injiziert. Nach<br />
der Landung wurde er in den Kofferraum eines<br />
Autos gelegt und zu einem Gebäude gefahren,<br />
wo er in eine feuchte Zelle gebracht wurde.<br />
Masri wurde dort wiederholt von einem US-<br />
Agenten namens Sam verhört. Er verbrachte<br />
die nächsten vier Monate unter Verhören, Folter<br />
und sexuellem Missbrauch.<br />
Fast fünf Monate nach seiner Entführung<br />
brachten Masris Entführer ihn nach Mazedonien<br />
zurück. Sie setzten ihn im Mai 2004<br />
an einer verlassenen Straße in der Nähe der<br />
albanischen Grenze aus. Der US-Flugzeug-<br />
Crew erging es besser als ihrem Passagier.<br />
Dokumente schildern, wie sie nach der Ablieferung<br />
Masris im afghanischen Gefängnis zur<br />
Ferieninsel Mallorca weiterflogen, wo die Besatzungsmitglieder<br />
für zwei Nächte in einem<br />
Luxushotel übernachteten.<br />
Zurück zum besagten Wikileaks-Dokument:<br />
Die CIA-Agenten, die Masri entführt und gefoltert<br />
hatten, wurden trotz internationalem<br />
Haftbefehl niemals belangt. Die US-Drohung<br />
zeigte demnach Wirkung.<br />
Hinter der scheinbaren Banalität der Diplomatie<br />
verbirgt sich eiskalte Brutalität.<br />
Buchtipp<br />
Craig Murray, ehemaliger<br />
britischer Botschafter in<br />
Usbekistan, wurde abgesetzt,<br />
weil er offen das<br />
vom Westen unterstützte<br />
Folterregime kritisierte. Als<br />
politischer Aktivist gegen Krieg und<br />
Islamfeindlichkeit schrieb er ein informatives<br />
und zugleich erschreckendes Buch über<br />
seine Erfahrungen. Auf Englisch erhältlich:<br />
„Murder in Samarkland - A British<br />
Ambassador’s Controversial Defiance of<br />
Tyranny in the War on Terror”<br />
Hardcover; 400 S.; 9,95 EUR;<br />
ISBN: 1845961943
8 <strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
Die Schweiz marschiert<br />
nach rechts<br />
Der Widerstand gegen den Ausländerhass der Schweizer Volkspartei (SVP) war leider zu gering. Nur<br />
ein Jahr nach dem Verbot von Minaretten hat eine Volksabstimmung in der Schweiz das Ausländerrecht<br />
erneut deutlich verschärft, schreibt Karin Wilflingseder.<br />
Die Annahme der so genannten „Ausschaffungsinitiative“<br />
der rechtspopulistischen<br />
SVP von Christoph<br />
Blocher bedeutet, dass künftig Straffällige<br />
ohne Schweizer Pass doppelt bestraft werden.<br />
Ausländische Straftäter werden ohne Einzelfallprüfung<br />
abgeschoben. Leider verteidigten<br />
nur wenige das demokratische Grundrecht auf<br />
Gleichbehandlung, das hier ganz klar verletzt<br />
wird. Die Mobilisierung von Jugendlichen<br />
und der arbeitenden Bevölkerung, um diese<br />
Angriffe erfolgreich zurückzuweisen, verlief<br />
unzureichend.<br />
Am Sonntagabend nach der Abstimmung erklärte<br />
die sozialdemokratische Bundesrätin<br />
Simonetta Sommaruga, die Ausländerkriminalität<br />
sei „ein ernstes Problem in der Bevölkerung“.<br />
Die Schweizer Regierung werde den<br />
Auftrag entgegennehmen und den Willen der<br />
Initiative umsetzen.<br />
An der Abstimmung beteiligten sich 52,6 Prozent,<br />
also praktisch nur jeder zweite Stimmberechtigte,<br />
und davon stimmte etwas mehr als<br />
jeder Zweite mit Ja.<br />
Um der SVP das Feld nicht ganz zu überlassen,<br />
hatten die bürgerlichen Parteien FDP und<br />
CVP einen Gegenvorschlag erarbeitet, der sich<br />
jedoch kaum vom SVP-Entwurf unterschied.<br />
Dieser Gegenentwurf wurde in keinem einzigen<br />
Kanton angenommen. Die Sozialdemokratische<br />
Partei (SP), die Grünen und einige<br />
Gewerkschaften hatten dazu aufgerufen, zweimal<br />
mit Nein zu stimmen, d.h. beide Vorschläge<br />
abzulehnen. Doch hatten sie sich praktisch<br />
erst in letzter Minute und sehr halbherzig zur<br />
zweifachen Nein-Parole durchgerungen.<br />
Triumph für Rechtsextreme und Reiche<br />
Bereits vor einem Jahr hatte die SVP Erfolg<br />
In der Schweiz vergiften die Rechtsextremen erfolgreich das politische Klima.<br />
mit der islamfeindlichen Kampagne gegen Minarette.<br />
Nun lenkt sie zum zweiten Mal den<br />
gesellschaftlichen Unmut auf Migranten, denen<br />
zu Unrecht unterstellt wird, sie seien krimineller<br />
als der Rest der Bevölkerung.<br />
Dieser Sieg für Rassismus in der Schweiz ist<br />
vor allem auf die Schwäche der Linken zurückzuführen.<br />
Wie nach dem Minarettverbot hat die FPÖ<br />
schon jetzt versucht diese Abstimmung für sich<br />
zu nutzen. Johann Gudenus, Klubobmann der<br />
Wiener FPÖ, jubelte: „Die Schweizer zeigen<br />
wieder einmal vor wie es geht.“ Die Kampagne<br />
der SVP beweist anschaulich die erschreckende<br />
Gefahr der Wahl von rechtsextremen Parteien.<br />
Die gleichzeitige Abstimmung über mehr<br />
Steuergerechtigkeit bekämpfte die SVP entschieden.<br />
In einer beispiellosen Kampagne<br />
brandmarkten SVP, bürgerliche Parteien und<br />
Wirtschaftsverbände diesen zaghaften Vorstoß,<br />
Superreiche wenigstens minimal zu besteuern,<br />
als Generalangriff auf mittlere und<br />
kleinere Unternehmen und als „sozialistische<br />
Enteignung“. Für die Kampagne gegen diese<br />
Initiative wurden noch einmal Dutzende Millionen<br />
Schweizer Franken ausgegeben, und als<br />
Ablenkung diente dann die massive Kampagne<br />
gegen die „Ausländerkriminalität“.<br />
Die Abstimmung in der Schweiz ist eine ernste<br />
Warnung. Das Ergebnis verschont die Reichen<br />
und öffnet die Tür für weitere Übergriffe gegen<br />
Migranten.<br />
GraficArt: Shir Katz<br />
„Rot-Weiß-Rot-Card“<br />
Arschkarte für<br />
Migranten<br />
Regierung und Wirtschaftskammer sind begeistert<br />
über ihr neues Zuwanderungsmodell: In Zukunft<br />
sollen nur mehr „nützliche“ Arbeitskräfte einwandern.<br />
Die Rot-Weiß-Rot-Card (RWR-Card) bedeutet eine<br />
von Hannah Krumschnabel<br />
relative Freizügigkeit für wenig privilegierte Arbeitsmigrantinnen<br />
und -migranten bei gleichzeitig gnadenloser<br />
Härte gegen alle anderen.<br />
Damit würde die Regierung eine EU-Strategie umsetzen,<br />
nach der nur noch zwei Kategorien von Migranten<br />
geduldet werden: zum einen die hoch qualifizierten,<br />
die die Wettbewerbsfähigkeit steigern und von staatlicher<br />
Kontrolle unbehelligt bleiben; zum anderen die<br />
mittel und niedrig qualifizierten, die unter strengsten<br />
Bedingungen für einen gewissen Zeitraum Arbeitskräftemängel<br />
in einzelnen Branchen ausgleichen dürfen.<br />
Es bestünde also nicht nur eine Ungleichbehandlung<br />
zwischen „normalen“ Migranten und jenen mit Aussicht<br />
auf eine RWR-Card, sondern auch zwischen verschiedenen<br />
„Säulen“ innerhalb des Systems. Menschen,<br />
die mindestens 70 Punkte erreichen (also besonders gut<br />
ausgebildet sind) dürfen z.B. einwandern, ohne dass sie<br />
Deutsch beherrschen – die, die nur 50 Punkte „wert<br />
sind“ (und Jobs übernehmen sollen, die sonst niemand<br />
will) müssen bereits vor der Einreise deutsche Sprachkenntnisse<br />
beweisen.<br />
Die „Bewertung“ von Humankapital folgt einer neoliberalen<br />
Logik. Und diese fällt, auch wenn das Sozialministerium<br />
und die Arbeiterkammer das nicht wahrhaben<br />
wollen, auf die gesamte Arbeiterschaft zurück.<br />
Sie spiegelt sich wider, wenn einem unterfinanzierten<br />
öffentlichen Bildungssystem exklusive Eliteschmieden<br />
gegenüberstehen, oder wenn tausende arbeitslose Jugendliche<br />
der Krise geopfert werden. Eine Vertretung,<br />
die wirklich die Interessen der Lohnabhängigen vertreten<br />
will, muss also diesem neoliberalen Gesetz ebenso<br />
abschwören wie dem Standortnationalismus, der darin<br />
steckt. Ausländische Arbeitskräfte zu diskriminieren<br />
schützt nicht die einheimischen, sondern bereitet den<br />
Weg für die Entrechtung aller.<br />
Strache in Israel<br />
Die rechtsextremen Parteien Europas stellen sich<br />
immer klarer auf die Seite Israels. FPÖ-Chef Strache<br />
reiste Anfang Dezember nach Israel zu einer<br />
Tagung israelischer Rechtsextremer „gegen den<br />
islamischen Fundamentalismus“. Mit dabei waren<br />
Philip Dewinter vom flämischen Vlaams Belang<br />
und Kent Ekeroth von den Schwedendemokraten<br />
(die bis vor kurzem in Naziuniformen zu sehen<br />
waren).<br />
Im viel strapazierten „Kampf der Kulturen“ wollen<br />
sich die rechten Recken an die vorderste Front stellen,<br />
als Verteidiger des „europäischen Siedlerstaats<br />
im Orient“ vor den „Barbaren“. Keine europäische<br />
Rechtspartei hat sich mit der Israel-Solidarität<br />
schwerer getan als die FPÖ, weil keine Partei so<br />
viele „originale“ alte Nazis als Mitglieder hat.<br />
Strache dürfte nach dem Wahldebakel von Barbara<br />
Rosenkranz zum Schluss gekommen sein, dass die<br />
„Alten“ für den Aufbau seiner Bewegung vor allem<br />
ein Hindernis sind, und nimmt keine Rücksicht<br />
mehr auf sie. In Zukunft muss sich seine Anhängerschaft<br />
ganz auf das Feindbild Islam konzentrieren.<br />
Der, in der Partei nicht auszurottende, Antisemitismus<br />
hat sich dem unterzuordnen.<br />
In der von Strache mit formulierten „Jerusalemer<br />
Erklärung” soll es heißen: „Wir haben die totalitären<br />
Systeme wie Faschismus, Nationalsozialismus<br />
und Kommunismus überwunden. Jetzt stehen wir<br />
vor der neuen Bedrohung des fundamentalistischen<br />
Islamismus - und wir werden Teil sein des weltweiten<br />
Kampfes der Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten.”<br />
So verhelfen radikale israelische Siedler einer europäischen<br />
Nazipartei zu Legitimation und Seriosität.<br />
Islamfeindlichkeit und extrem rechte Ideologie<br />
verbinden die neuen, ungleichen Freunde.<br />
Schreckgespenster wie Terroristen<br />
und Kinderschänder<br />
liefern dabei den Vorwand<br />
für neue Gesetze und Maßnahmen,<br />
von denen die übrige Bevölkerung<br />
betroffen ist. Solche Maßnahmen<br />
bestehen in Internetsperren, die angeblich<br />
die Kinderporno-Industrie<br />
austrocknen sollen. Diese Sperren<br />
berühren jedoch nicht die eigentlichen<br />
Verbreitungskanäle, können<br />
von versierten Nutzern leicht<br />
umgangen werden und verstecken<br />
bestenfalls das Problem vor der<br />
Öffentlichkeit. Ursprünglich von<br />
CDU-Familienministerin Ursula<br />
von der Leyen als Wahlkampfgag<br />
vorgestellt, wird das Vorhaben inzwischen<br />
von der EU-Kommissarin<br />
für Inneres Cecilia Malmström<br />
weiter verfolgt. In Schweden, wo<br />
es solche Sperren seit fünf Jahren<br />
gibt, stellte man deren Wirkungslosigkeit<br />
fest. In Finnland stehen auf<br />
solchen Sperrlisten auch Betreiber<br />
politischer Sites, obwohl gegen diese<br />
nichts vorliegt.<br />
Aber auch sonst wird aufgerüstet.<br />
Artikel 222 des Vertrags von Lissabon<br />
erklärt: „Die Union mobilisiert<br />
alle ihr zur Verfügung stehenden<br />
EU rüstet sich gegen<br />
Widerstand von unten<br />
Während FRONTEX (EU-Grenztruppe) die Außengrenzen Europas dicht macht, werden innerhalb<br />
Europas Maßnahmen getroffen, um den Burgfrieden zu wahren, schreibt Peter Herbst.<br />
Mittel, einschließlich der ihr von<br />
den Mitgliedstaaten bereitgestellten<br />
militärischen Mittel, um […]<br />
im Falle […] einer vom Menschen<br />
verursachten Katastrophe einen<br />
Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner<br />
politischen Organe innerhalb seines<br />
Hoheitsgebiets zu unterstützen.“<br />
Mit einer „vom Menschen verursachten<br />
Katastrophe“ sind auch „soziale<br />
Unruhen“ wie zum Beispiel<br />
Massenstreiks gemeint. Das Sagen<br />
hat dabei EU-Ministerrat und Außenbeauftragter,<br />
das Parlament erhält<br />
einen Bericht.<br />
Bereits 2006 wurde die European<br />
Gendarmerie Force (EGF) gegründet,<br />
eine Struktur, in der sich Polizeieinheiten<br />
länderübergreifend<br />
organisieren können. Obwohl für<br />
Einsatztrainings (EUPFT) Mittel<br />
aus dem gemeinsamen EU-Haushalt<br />
verwendet werden, hat das<br />
EU-Parlament kein Kontrollrecht.<br />
Während dem EUPFT 2010 wurde<br />
laut der Informationsstelle Militarisierung<br />
etwa der Einsatz von<br />
Scharfschützen gegen militante<br />
Demonstranten geübt. Einsatzleiter<br />
war unter anderen Maurizio Piccolotti,<br />
der 2001 beim G8-Gipfel in<br />
Menschenrechtsaktivisten verkleiden sich als Sondereinsatzkommando.<br />
Genua an der fragwürdigen Razzia<br />
der Armondo-Diaz-Schule beteiligt<br />
war. Als Beobachter mit dabei war<br />
unter anderen die österreichische<br />
WEGA. Während die EGF bereits<br />
über Hauptquartier und Akademie<br />
verfügt, soll bald eine stehende<br />
Truppe von zunächst 800, später<br />
2300 Mann hinzukommen. Erfahrung<br />
sammeln konnte die Truppe<br />
bereits im Kosovo, in Afghanistan<br />
und zuletzt Haiti.<br />
Der Mafiaparagraf 278a ist keine österreichische<br />
Besonderheit sondern<br />
Teil eines europäischen Trends hin<br />
zu einer Einschränkung der Grundrechte<br />
und einer Stärkung des Polizeiapparats.<br />
Maßnahmen wie die<br />
Vorratsdatenspeicherung im Sicherheitspolizeigesetz<br />
werden mit EU-<br />
Vorgaben entschuldigt. Organisationen<br />
wie die EGF oder FRONTEX<br />
stehen nicht nur außerhalb der Kontrolle<br />
durch nationale Institutionen<br />
– auch das EU-Parlament darf höchstens<br />
die Budgetmittel abnicken.<br />
Foto: <strong>Linkswende</strong> / J.L.
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
K O L U M N E N<br />
9<br />
Vergessene Geschichte<br />
Die türkische Revolution<br />
Tom D. Allahyari erzählt die Geschehnisse der türkischen bürgerlichen Revolution von 1908, und lässt die<br />
verschwiegenen Kämpfe gegen den Sultan wieder aufleben.<br />
Das unumstößlich scheinende<br />
Paradigma der<br />
jüngeren türkischen Geschichte<br />
sagt zusammengefasst: In<br />
den frühen 20er Jahren erbaute eine<br />
kleine Elite unter Führung von Kemal<br />
Atatürk den modernen türkischen<br />
Staat auf den Ruinen des Osmanischen<br />
Reichs und vertrieb die<br />
Imperialisten. Die Masse der Bevölkerung<br />
war passiv und musste von<br />
einer kleinen aufgeklärten Gruppe<br />
aus dem Mittelalter geführt werden.<br />
Ideologie & Geschichtsschreibung<br />
Die offizielle Revolution 1919-<br />
1923 und die Niederlage der britisch-griechischen<br />
Invasion werden<br />
Atatürk zugute geschrieben. In<br />
Wirklichkeit waren sie Folgen der<br />
antiimperialistischen Kämpfe im<br />
britischen Empire, der Antikriegsbewegung<br />
in Griechenland und der<br />
russischen Revolution, nicht das<br />
Werk eines heroischen Führers.<br />
Bis zum heutigen Tag muss nach<br />
der kemalistischen Ideologie die<br />
Bevölkerung von oben vor den<br />
Gefahren des Islamismus und des<br />
Verlusts der nationalen Integrität<br />
geschützt werden - darunter leiden<br />
vor allem die Kurden. Von Anfang<br />
an war der Kemalismus Ausdruck<br />
der Interessen von Armeeoffizieren,<br />
Staatsbeamten und Intellektuellen.<br />
Er schrieb die Geschichte neu,<br />
um jede Rolle „normaler Leute“<br />
an den politischen Umbrüchen zu<br />
verschleiern und um die Tatsache<br />
vergessen zu machen, dass an der<br />
Revolution Christen, Juden und<br />
Muslime beteiligt waren. Türken,<br />
Griechen, Armenier, Kurden und<br />
Bulgaren, Bürger, Soldaten und Arbeiter<br />
kämpften Seite an Seite gegen<br />
Wer war ?<br />
Am 11. April 1968 wurde Rudi<br />
Dutschke bei einem Attentat<br />
lebensgefährlich verletzt.<br />
Als ich 1963 dem Sozialistischen<br />
Deutschen Studentenbund (SDS)<br />
beitrat, hat dieser fast nur „Seminarmarxismus“<br />
betrieben und<br />
sich kaum in praktischen Aktivitäten<br />
engagiert. Rudi Dutschke und<br />
eine Gruppe junger anarchistischer<br />
Studierender („Subversive Aktion”)<br />
traten 1965 noch mit dem Ziel auf,<br />
einzelne Mitglieder für ihre Gruppe<br />
zu gewinnen. Binnen drei Jahren<br />
hatten sie die Mehrheit im SDS erobert<br />
und ihn zu einer aktiven Massenorganisation<br />
transformiert.<br />
Rudi beschäftigte sich intensiv mit<br />
der Rolle des Individuums in der<br />
Geschichte. Die alte Führung des<br />
SDS betonte stattdessen einen einseitigen<br />
Materialismus. Sie verstanden<br />
Geschichte als etwas, das einer<br />
gesetzmäßigen Richtung unterworfen<br />
ist. Demnach würde die Gesellschaft<br />
wie von selbst Kapitalismus<br />
überwinden und im Sozialismus<br />
Eine Postkarte feiert die Verfassung vom 24. Juli 1908 mit Enver Bey. „Lang<br />
lebe das Vaterland! Lang lebe die Nation! Lang lebe die Freiheit!“<br />
die repressive Monarchie an. Sogar<br />
im Zentrum des Osmanischen<br />
Reichs, dem Gebiet der heutigen<br />
Türkei, waren 1908 20% der Bevölkerung<br />
Nicht-Muslime.<br />
Bürgerliche Revolution<br />
Entgegen der offiziellen Geschichtsschreibung<br />
hat schon 1908 in der<br />
Türkei eine bürgerliche Revolution<br />
stattgefunden. Kemal Atatürk hat<br />
darin keine Rolle gespielt. Sultan<br />
Abdülhamid II. wurde 1908 entmachtet,<br />
und die von ihm 1878<br />
außer Kraft gesetzte Konstitution<br />
von 1876 wurde wiederhergestellt.<br />
Der erste Weltkrieg versetzte dem<br />
Sultanat später den endgültigen Todesstoss.<br />
Aber schon 1908 war die<br />
Monarchie zu einem Hindernis für<br />
die weitere kapitalistische Entwicklung<br />
geworden und die Menschen<br />
riefen nach Freiheit. Innerhalb der<br />
Armee hatten sich revolutionäre<br />
Zirkel gebildet, aber auch außerhalb<br />
der Armee hatte die Bewegung<br />
tiefe Wurzeln in der Bevölkerung.<br />
Rudi Dutschke<br />
ankommen. Rudi kritisierte, dies<br />
„liquidiert (...) die bewusste freie Entscheidung<br />
des Individuums, der Gruppe,<br />
der Partei usw. – alles wird unvermeidlich;<br />
da der Kommunismus, die<br />
klassenlose Gesellschaft, beschlossene<br />
Sache ist, braucht uns eigentlich die<br />
Gefahr eines Atomkriegs nicht zu<br />
schrecken. Die Denker solchen Unsinns<br />
werden nie die Entfremdung des<br />
Menschen aufheben.”<br />
Rudi reiste nach Ungarn und besuchte<br />
den Marxisten Georg Lukacs<br />
und war wie dieser fasziniert von der<br />
Bedeutung der „Subjektivität”. Geschichtliche<br />
Entwicklungen werden<br />
demnach sehr wohl von Individuen<br />
oder Parteien und ihrem bewussten<br />
Eingreifen in historisch entscheidenden<br />
Momenten beeinflusst<br />
(z.B. wäre ohne Lenin in Russland<br />
die Revolution sehr wahrscheinlich<br />
nicht gelungen).<br />
Wie die Massen sozialistisches Bewusstsein<br />
erlangen, davon hatte<br />
Rudi sehr unterschiedliche Ansichten<br />
zur alten Führung des SDS.<br />
Die Traditionalisten behaupteten,<br />
dass nur die Lehren des SDS die<br />
Studierenden zu revolutionärem<br />
Der Sturz des Zaren in Russland<br />
1905 und des Schah von Persien<br />
hatten die türkischen Revolutionäre<br />
inspiriert. Die Forderungen<br />
nach Demokratie, einem Ende der<br />
Unterdrückung und der Dominanz<br />
durch ausländische Mächte wurden<br />
immer lauter.<br />
Am 10. Juni 1908 trafen der russische<br />
Zar und der englische König<br />
zusammen und beschlossen, die<br />
türkischen Gebiete Kosovo, Manastir<br />
und das Gouvernement von<br />
Saloniki unter Kontrolle zu bekommen.<br />
Die wichtigste türkische<br />
Widerstandsorganisation, die CUP<br />
musste reagieren.<br />
Eine multiethnische Revolution<br />
Am 3. Juli 1908 nahm der revolutionäre,<br />
albanisch-stämmige Offizier<br />
Nijazi mit 100 Soldaten und einigen<br />
Hundert bewaffneten Zivilisten<br />
den Kampf auf. Schnell waren<br />
Städte in albanischen Gebieten der<br />
Manastir-Provinz erobert. In den<br />
Städten wurden Milizen gebildet<br />
In dieser Serie stellen wir historische Persönlichkeiten der Linken vor und die Ideen, für die sie stehen.<br />
von Volkhard Mosler<br />
Bewusstsein führen kann, während<br />
Rudi den praktischen Erfahrungen<br />
der Massen viel stärkere Bedeutung<br />
beimaß. Hier kam auch der Einfluss<br />
des deutsch-amerikanischen<br />
Philosophen Herbert Marcuse zum<br />
Tragen: Marcuse schrieb 1966 den<br />
viel beachteten Artikel „Repressive<br />
Toleranz”, worin er argumentierte,<br />
dass die unterdrückten Massen niemals<br />
ein Recht auf die Beendigung<br />
von Unterdrückung finden würden.<br />
Recht und Ordnung würden immer<br />
die etablierte soziale Hierarchie<br />
beschützen. Aber, „wenn die Unterdrückten<br />
Gewalt anwenden, dann<br />
schmieden sie keine neuen Ketten, sie<br />
brechen die alten.”<br />
Diese Gedanken wurden von manchen<br />
wie der Roten Armee Fraktion<br />
(RAF) als Aufruf zu individuellen<br />
Gewaltakten ausgelegt. Rudi<br />
Dutschke hatte für solches Abenteurertum<br />
nichts übrig. Allerdings<br />
musste er sich dennoch den Vorwurf<br />
des Voluntarismus von Jürgen Habermas<br />
gefallen lassen. Habermas<br />
argumentierte völlig zu Recht, dass<br />
sich in Deutschland keine revolutionäre<br />
Situation entwickelt hatte<br />
um Sultan-treue Truppen abzuwehren.<br />
Als der monarchistische<br />
General Shemsi-Pasha mit zwei Batallionen<br />
eintraf um den Aufstand<br />
zu unterdrücken, wurde er von einem<br />
CUP-Offizier erschossen. Die<br />
Revolte verbreitete sich über Skopje<br />
über das ganze Land. Immer mehr<br />
Truppen verweigerten dem Sultan<br />
den Gehorsam und wurden von revolutionärer<br />
Propaganda mitgerissen.<br />
Am 26. Juli hatten in Istanbul<br />
100.000 Menschen demonstriert<br />
(bei einer Gesamtbevölkerung von<br />
unter einer Million), in den Reden<br />
wurde immer wieder die Solidarität<br />
zwischen den verschiedenen Religions-<br />
und Volksgruppen gefeiert.<br />
Auch die Arbeiter hatten Grund zu<br />
feiern, der jüdische Arbeiterführer<br />
Abraam Benaroya beschreibt die<br />
Stimmung: „... Die Freiheit ist gekommen.<br />
Freiheit für Türken und<br />
für Christen, Freiheit für alle. Jetzt<br />
sind wir alle Brüder und Schwestern,<br />
Muslime, Christen, Juden, Türken,<br />
Albaner, Araber, Griechen und Bulgaren<br />
– Wir sind jetzt alle freie Bürger<br />
des Osmanischen Mutterlandes.“<br />
Schon bald begannen die Arbeiter<br />
die neuen Freiheiten zu nutzen und<br />
für ihre Rechte zu streiken.<br />
Ohne ehrliche Aufarbeitung der<br />
Geschichte werden auch linke Kräfte<br />
es schwer haben, die schreiende<br />
soziale Ungleichheit, den alles erstickenden<br />
Nationalismus in der<br />
Türkei zu überwinden. Es gibt eine<br />
wunderbare Tradition der Solidarität<br />
und des gemeinsamen Widerstands<br />
zu entdecken.<br />
Lesetipp:<br />
„Making The Turkish Revolution“<br />
von Cem Uzun (Bookmarks)<br />
und Gewaltanwendung deshalb die<br />
Arbeiter abschrecken würde und die<br />
revolutionären Studierenden sich so<br />
von den Massen isolieren.<br />
Eine weitere Schwäche übernahm<br />
Dutschke von Marcuse: er traute der<br />
Arbeiterinnen- und Arbeiterklasse in<br />
den Industriestaaten nicht zu, selbst<br />
Träger einer Revolution sein zu können.<br />
Sie hätten sich für ihren hohen<br />
Lebensstandard verkauft. Nur kurz<br />
später widerlegten die französischen<br />
Arbeiter diese These von der „Arbeiteraristokratie”,<br />
als sie mit dem<br />
größten Generalstreik der Geschichte<br />
an der Seite von Studierenden den<br />
Staat lahm legten und in eine revolutionäre<br />
Krise stürzten.<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Wer war Angela Davis?<br />
Bücher<br />
for Rebels<br />
von Mario Schulmeister<br />
Horacio Castellanos Moya<br />
„Der schwarze<br />
Palast“<br />
S. Fischer Verlag, 334 Seiten; 20,60 EUR<br />
ISBN 978-3-10-010223-2<br />
Für viele Linke in Europa war in den<br />
70er- und frühen 80er-Jahren Solidarität<br />
mit dem Befreiungskampf der linken<br />
Guerilla gegen das US-gestützte Terror-Regime<br />
in El Salvador der wichtigste Bezugspunkt. Die<br />
Todesschwadronen der Militär-Junta und der<br />
Großgrundbesitzer begingen 1981 in El Mozote<br />
eines der schlimmsten Massaker in der Geschichte<br />
Lateinamerikas. Doch die<br />
Geschichte von Diktatur<br />
und US-Intervention begann<br />
schon viel früher.<br />
„Der Schwarze Palast“<br />
spielt in El Salvador<br />
1944, während des zweiten<br />
Weltkrieges. Der Autor<br />
Horacio Castellanos<br />
Moya erzählt die Geschichte<br />
einer Familie,<br />
als sich das Land von<br />
seinem Diktator General<br />
Martinez (im Roman<br />
der „Nazi-Hexer“) befreite.<br />
Die Zentrale Figur der Geschichte ist Haydee,<br />
eine klassische Frau der Oberschicht. Ihr<br />
Ehemann Pericles, mittlerweile Journalist, einst<br />
persönlicher Berater des Generals und Diplomat,<br />
wurde wegen eines regimekritischen Artikels<br />
verhaftet und in der Polizeizentrale, dem so genannten<br />
schwarzen Palast, festgehalten. Haydee<br />
besucht ihren Mann täglich und versorgt ihn<br />
mit Informationen und Nahrung. Währenddessen<br />
spitzt sich die politische Lage immer mehr<br />
zu. Wenige Tage später scheitert ein dilettantisch<br />
ausgeführter Putschversuch, bei dem sowohl<br />
Haydees und Pericles’ Sohn Clemente als auch<br />
dessen Cousin Jimmy eine führende Rolle spielen:<br />
der eine als Radiosprecher, der andere als Angehöriger<br />
des Militärs. Von einem Kriegsgericht<br />
werden beide in Abwesenheit zum Tod verurteilt.<br />
Clemente und Jimmy gelingt gemeinsam die<br />
Flucht. Der weinerliche und versoffene Clemente,<br />
der gar nicht so recht weiß, wie und warum er<br />
in diese Situation gekommen ist, und der rational<br />
funktionierende Jimmy sind durch ihr gemeinsames<br />
Schicksal auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet,<br />
ohne sich ausstehen zu können.<br />
Zunächst verbringen sie Tage auf dem finsteren<br />
Dachboden eines Geistlichen, unternehmen im<br />
Anschluss, als Priester und Messdiener verkleidet,<br />
eine abenteuerliche Bahnfahrt zur Küste, um<br />
schließlich in einem Mangrovensumpf die Orientierung<br />
und alle Hoffnungen zu verlieren.<br />
Auf der anderen Seite ist Haydee, die während<br />
des Putsches keine Besuchserlaubnis mehr bekommt<br />
und langsam politisches Interesse entwickelt.<br />
Da sie nicht mehr ihren Mann zum Reden<br />
hat, vertraut sie ihre Sorgen und Bedenken ihrem<br />
Tagebuch an. So organisiert Haydee gemeinsam<br />
mit Müttern und Ehefrauen anderer Opfer des<br />
Regimes eine Art von Untergrund-Kaffeekränzchen-Netzwerk:<br />
Bei Schokotorte und verschlossenen<br />
Fensterläden werden Flugblätter gegen den<br />
General entworfen und vervielfältigt. Schließlich<br />
verbreitet die „frisch politisierte“ Hadyee ihre<br />
Flugblätter im Schönheitssalon, in den sie pilgert,<br />
bevor sie für die Freilassung ihres Mannes<br />
demonstriert.<br />
„Der schwarze Palast“ ist in einer konkreten<br />
politisch-historischen Wirklichkeit angesiedelt,<br />
in den Tagen vom 24. März bis zum 9. Mai 1944,<br />
bis zu jenem Tag also, an dem General Martinez,<br />
der zwölf Jahre lang in El Salvador ein theosophisch-rassistisches<br />
Schreckensregime ausgeübt<br />
hatte, vor den Protesten in die Knie ging.
10 T H E O R I E<br />
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
Gastarbeiter in einem eigens für sie errichteten Quartier in Frankfurt am Main, 1959. Isolierung von den<br />
„Einheimischen“ war gewollt.<br />
„Integration“<br />
Gutes Image, böse Absicht<br />
Von der FPÖ bis zu den Grünen wird „Integration“ als Antwort auf ein<br />
vermeintliches „Ausländerproblem“ gepriesen. Doch während das auf den ersten<br />
Blick nach einer gut gemeinten Lösung klingt, unterstellt es eigentlich<br />
den meisten Migrantinnen und Migranten einen selbst<br />
verschuldeten Mangel, kritisiert Hannah Krumschnabel.<br />
Die Bleiberechtsbewegung<br />
hat dieses Jahr ihren ersten<br />
großen Erfolg gefeiert, als<br />
die kosovarischen Familien<br />
Komani und Zogaj, Positivbeispiele<br />
„gelungenener Integration“, nach der<br />
Abschiebung nach Österreich zurückkommen<br />
durften.<br />
Ohne abzuschwächen, welche Signalwirkung<br />
das erstmalige Nachgeben der<br />
Innenministerin hat, ist trotzdem der<br />
Blick auf die andere Seite der Medaille<br />
nötig: Haben allein reisende Afrikaner<br />
kein Recht auf Asyl? Haben seit Jahrzehnten<br />
in Österreich lebende Menschen<br />
weniger Anspruch auf Sozialleistungen,<br />
nur weil sie sich zum Islam<br />
bekennen? Ist es okay, als Kind von Einwanderern<br />
für die Gesellschaft erst einmal<br />
prinzipiell als verdächtig zu gelten?<br />
Die Auffassung von Integration als Allheilmittel<br />
macht manche Einwanderer<br />
zu Tätern und andere zu Opfern – aber<br />
nie zu Menschen. Integration basiert<br />
auf einer rassistischen Vorstellung von<br />
kulturell und „ethnisch“ einheitlichen<br />
Nationalstaaten, zu denen man sich den<br />
Zutritt erst einmal verdienen muss. Es<br />
hilft, sich die Geschichte der Migration<br />
nach Mitteleuropa anzuschauen, um die<br />
Karriere und die Fallstricke dieses Konzeptes<br />
zu begreifen.<br />
Vom Gastarbeiter…<br />
Als Teile Europas nach dem 2. Weltkrieg<br />
einen lang andauernden wirtschaftlichen<br />
Aufschwung erfuhren, benötigte<br />
die wachsende Massenproduktion mehr<br />
und mehr Arbeitskräfte. Gleichzeitig<br />
lebten Menschen in Südeuropa und den<br />
ehemaligen Kolonien in bitterer Armut<br />
und versuchten, sich im boomenden<br />
West- und Mitteleuropa einen Lebensunterhalt<br />
zu verdienen. Somit trafen<br />
sich die Interessen von Arbeiterinnen<br />
und Arbeitern mit denen der Unternehmer<br />
und Politiker, und es entstanden<br />
„Anwerbeabkommen“ zwischen<br />
Herkunfts- und Gastländern, die die<br />
aufkommende Massenmigration regulierten<br />
und bestärkten.<br />
Erst einmal in Deutschland oder Österreich<br />
angekommen, übernahmen<br />
die neuen Arbeitskräfte vor allem ungelernte<br />
Fabriksarbeiten oder schlecht<br />
bezahlte Dienstleistungen. Dabei wurde<br />
aber angenommen, dass sie als „Gäste“<br />
nach vollbrachter Arbeit wieder in die<br />
Heimat zurückkehren würden. Ihnen<br />
wurden weder gleichgestellte Rechte<br />
zuerkannt, noch sollten sie die Sprache<br />
lernen oder außerhalb von „Gastarbeiterheimen“<br />
wohnen – Integration war<br />
absolut unerwünscht.<br />
„Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen<br />
Menschen“, so ein berühmter<br />
Ausspruch von Max Frisch. Sie wollten<br />
nicht zurückkehren, sondern ihre Familien<br />
nachholen in das reiche Land. Sie<br />
gaben sich nicht zufrieden mit ihren<br />
Arbeitsbedingungen, sondern führten<br />
einige der inspirierendsten Streiks der<br />
70er-Jahre an (allein 1973 in 355 deutschen<br />
Betrieben). Sie forderten soziale<br />
und politische Rechte ein und organisierten<br />
sich in starken Netzwerken.<br />
…zum Integrationszwang<br />
Doch zur gleichen Zeit, als die Bewegung<br />
der Gastarbeiter an Stärke gewann,<br />
kehrte die Krise zurück. Arbeitslosigkeit<br />
traf Migrantinnen und Migranten wegen<br />
ihrer sozialen Position besonders,<br />
aber auch Einheimische kamen unter<br />
Druck. In dieser Zeit der Existenzängste<br />
verliehen die Herrschenden dem Rassismus<br />
einen kräftigen Aufschwung. Die<br />
Lohnabhängigen sollten ihren Feind<br />
lieber in „den Ausländern“ sehen, die<br />
ihnen den Arbeitsplatz wegnähmen, anstatt<br />
in der Regierungspolitik oder ihren<br />
Arbeitgebern. Genau zu diesem Zeitpunkt,<br />
Ende der 70er, kam der Begriff<br />
der „Integration“ auf und wurde zum<br />
absoluten Non plus Ultra in der Einwanderungsdebatte.<br />
Dabei überdeckt<br />
die Popularität dieses Konzepts seine<br />
extremen Widersprüche:<br />
Wie oben erwähnt war es die diskriminierende<br />
Politik, die die „Beheimatung“<br />
(so nannten Gastarbeiter-Communities<br />
ihren Kampf um soziale Rechte selbst)<br />
verhinderte, aber nun warf man die<br />
fehlenden Sprachkenntnisse, „Ghettoisierung“<br />
und niedrige Bildung den einzelnen<br />
Einwanderern vor – nach dem<br />
Motto „selber Schuld“.<br />
Soziale „Sprengkraft“<br />
Wie heute wurde dazu schon damals<br />
politische Angstmache betrieben. Konservative<br />
Politiker warnten – die großen<br />
Gastarbeiterstreiks noch gefährlich<br />
nah vor Augen – vor sozialen Unruhen.<br />
Dazu ein CDU-Abgeordneter: „Gastarbeiter-Probleme<br />
können zu Gastarbeiter-Aufständen<br />
führen wie in Amerika<br />
Neger-Probleme zu Neger-Aufständen<br />
geführt haben.“ Wie bedrohlich organisierte<br />
und selbstbewusste Migranten<br />
auf den Staat wirken, zeigte auch in der<br />
jüngeren Vergangenheit die „Operation<br />
Spring“, in der antirassistische afrikanische<br />
Aktivisten in Österreich in einer<br />
groß angelegten Polizeiaktion als Drogenring<br />
verunglimpft wurden.<br />
Nun waren aber die 70er die Blütezeit<br />
der Sozialdemokratie. Auch ihr war die<br />
soziale Situation der gebliebenen Gastarbeiter<br />
ein Dorn im Auge. Ihrer Vorstellung<br />
nach sollten alle Menschen in einer<br />
Gesellschaft gleich an ihr partizipieren<br />
können, damit der soziale Frieden erhalten<br />
bliebe. So war „Integration“ eigentlich<br />
ein Projekt von Mitte-Links<br />
– nur zur falschen Zeit. Denn die nationalistische<br />
bzw. rassistische Vorstellung,<br />
dass die „Ausländer“ gar nicht zur<br />
Gesellschaft gehörten, war (auch in der<br />
Partei und ihrer Gewerkschaft) weit verbreitet.<br />
Und mit der Rezession und dem<br />
Aufstieg des Neoliberalismus wurde die<br />
Idee des Sozialstaats an sich, gelinde gesagt,<br />
unmodern.<br />
Kultureller Rassismus<br />
Doch mit den Warnungen vor sozialen<br />
Unruhen und dem nationalistischen<br />
Agieren der Gewerkschaften ist nicht<br />
der Kern der Integrationsdebatte getroffen.<br />
Denn dazu wurde die gesamte<br />
Diskussion weg von der Frage der Rechte<br />
und des Sozialen und hin zu den<br />
„kulturellen Unterschieden“ geführt.<br />
Der persönliche Lebensstil, nicht die<br />
sozialen Missstände, waren und sind so<br />
die Hauptkritik, wie es auch dem heute<br />
so verbreiteten kulturellen Rassismus<br />
entspricht.<br />
Die Grundannahme der Integration<br />
trifft sich mit der des Rassismus: dass<br />
Einwanderer je nach ihren Herkunftsländern<br />
eine fixe kulturelle Identität<br />
haben und grundsätzlich „anders“ sind<br />
als die Mehrheitsgesellschaft. Mit einem<br />
solchen „essenzialistischen“ Kulturbegriff<br />
werden Menschen also erst als<br />
komplett inkompatibel mit der herrschenden<br />
Kultur abgestempelt, um von<br />
ihnen dann unter dem Label „Integration“<br />
eine ständige Anpassungsleistung<br />
gegen diesen angedichteten Fehler einzufordern.<br />
Ähnlich wie im Kolonialismus<br />
unterstellt man ihnen, dass sie ihre<br />
Eigeninteressen nicht erkennen und<br />
deshalb zu unmündig sind, freie Entscheidungen<br />
zu treffen.<br />
Integration als technokratische, politische<br />
Strategie ist deshalb rassistisch,<br />
weil sie der Vorstellung vom „Problem“<br />
Migrant bzw. „Problem“ Moslem staatliche<br />
Anerkennung zukommen lässt, und<br />
weil sie die Lösung nicht in gruppenübergreifender<br />
Sozialpolitik, sondern in<br />
repressiven, kulturellen Anforderungen<br />
an Einzelne festmacht.<br />
Wischiwaschi Integration<br />
Selbstverständlich sind dennoch nicht<br />
alle, die von Integration reden, rassistisch<br />
(Stichwort Multikulturalismus).<br />
Jedoch sieht Integration immer den<br />
größten Handlungsbedarf bei den zugewanderten<br />
Menschen selbst und damit<br />
die wichtigste Konfliktlinie in der<br />
Gesellschaft zwischen verschiedenen, als<br />
einheitlich und unflexibel vorgestellten,<br />
Kulturen.<br />
Heute wird Integration mit „Parallelgesellschaften“,<br />
„Bildungsmängel“, kulturellen<br />
Zwängen und kriminellen Handlungen<br />
umschrieben. Für Österreicher<br />
wie für Einwanderer fungiert Integration<br />
sozusagen als Glaubensbekenntnis<br />
des guten Willens. Dabei ist völlig egal,<br />
dass die gepriesenen „westlichen Werte“<br />
von Demokratie und Frauenbefreiung<br />
auch hier alles andere als umgesetzt<br />
sind, oder dass bereits ein Strafrecht existiert,<br />
das „Ehrenmorde“ wie alle anderen<br />
Morde verurteilt.<br />
Unterdrückungsverhältnis<br />
Deshalb scheint es so, dass Integration<br />
– anstatt des plumpen Rassismus<br />
von ganz Rechts – seit Jahrzehnten als<br />
Scheindebatte betrieben wird, um die<br />
Markierung der Zuwanderer als Andere<br />
(bzw. Schlechtere) aufrecht zu erhalten<br />
und mit Sündenböcken von sozialer<br />
Ungerechtigkeit abzulenken. Darauf<br />
deutet auch hin, dass sie als Programm<br />
des konstanten Misserfolgs betrieben<br />
wird: Kaum kann ein großer Teil der<br />
Immigranten die bestehenden Integrationsanforderungen<br />
bestehen, werden die<br />
Ansprüche nach oben geschraubt.<br />
Auch wenn Integration der Ruf des<br />
Progressiven anhaftet, unterdrückt sie<br />
in Wahrheit Minderheiten. In Deutschland<br />
gibt es bereits Gesetze, nach denen<br />
(wie auch immer gemessen) nicht ausreichend<br />
integrierte Immigranten weniger<br />
Sozialleistungen erhalten oder von<br />
Ausweisung bedroht werden. So wird<br />
Nicht-Integration zu einer strafrechtlichen<br />
Kategorie und bestätigt damit<br />
den Rassismus, dass Migranten prinzipiell<br />
anders sind und Anders-Sein prinzipiell<br />
negativ ist.<br />
Das wahre Problem?<br />
Tatsächlich lassen sich aber alle „Ausländerprobleme“<br />
im Grunde auf die soziale<br />
und rechtliche Situation der Migranten<br />
zurückführen, oder aber auf den Alltagsrassismus,<br />
den diese Tag für Tag spüren.<br />
Nicht nur Sozialstatistiken beweisen,<br />
dass ausländische und vor allem türkische<br />
Familien am untersten Ende der<br />
Einkommenshierarchie stehen, in den<br />
kleinsten und desolatesten Wohnungen<br />
wohnen, wegen ihrer Herkunft in der<br />
Schule mehr diskriminiert denn gefördert<br />
werden. Es ist kein Wunder, dass<br />
Zuwanderer Strategien entwickeln,<br />
mit dieser sozialen Unsicherheit umzugehen.<br />
„Parallelgesellschaften“ – also<br />
großer Familienzusammenhalt und<br />
Migranten-Netzwerke – sind Ausdruck<br />
einer solchen Strategie.<br />
Armut gepaart mit permanenten rassistischen<br />
Erfahrungen macht Jugendliche<br />
der „2. Generation“ also nicht zufällig<br />
unangepasst oder aggressiv: Wenn<br />
jemand, der sich in seinem Verhalten<br />
fast gar nicht von österreichischen Kindern<br />
unterscheidet und sich selbst als<br />
absolut gleich wahrnimmt, Tag für Tag<br />
damit konfrontiert wird, dass er trotz<br />
allem nicht ganz dazugehört, dann ist<br />
Integration kein gangbarer Weg mehr.<br />
Manchmal führt dann ein emanzipativer<br />
Weg gerade zur Religion. Die Untersuchung<br />
„Töchter der Gastarbeiter“ von<br />
Siegrid Nökel zeigt z.B., dass sich junge<br />
gebildete Frauen, die sich von der Gesellschaft<br />
als „unterdrückte Muslimin“<br />
diskriminiert fühlen und gleichzeitig<br />
mit manchen traditionellen Wertvorstellungen<br />
ihrer Familien nicht einverstanden<br />
sind, ihren dritten Weg oft in<br />
einem aufgeklärten, selbst bestimmten<br />
Islam finden, den sie bewusst sichtbar<br />
praktizieren.<br />
Die wahre Lösung!<br />
Es liegt also nahe, dass nur fortschrittliche<br />
und befreiende Sozialpolitik,<br />
entlang von Klassen- anstatt von „Kultur“-Grenzen,<br />
gemeinsam mit konsequentem<br />
Antirassismus eine Alternative<br />
zur Integration sein kann. Das bedeutet<br />
in unserer politischen Arbeit, dass wir<br />
reformistische Bestrebungen unterstützen<br />
müssen, die Migrantinnen und<br />
ihren Kindern mehr Rechte zuerkennen.<br />
Also: Wahlrecht, Entschärfung des<br />
Fremdenrechts, Quotenregelungen im<br />
öffentlichen Dienst uvm. Die „Integrationsbedürftigen“<br />
sind bereits integriert<br />
– nämlich ganz spezifisch im untersten<br />
Segment des Arbeitsmarktes. Diese diskriminierende<br />
Form der Einbeziehung<br />
zu korrigieren, wäre das eigentlich Erforderliche.<br />
Gleichzeitig müssen wir,<br />
wenn immer nötig und möglich, Rassismus<br />
konfrontieren – sowieso die FPÖ,<br />
aber auch Abschiebungen (egal ob von<br />
süßen Kindern oder von bärtigen Männern)<br />
und jeden anderen Vorfall, den<br />
wir beobachten.<br />
Allerdings sind die meisten Menschen<br />
mit Migrationshintergrund nicht nur<br />
rassistisch benachteiligt, sondern ganz<br />
allgemein als Arbeiterinnen und Arbeiter.<br />
In einer gemeinsamen Bewegung<br />
von Lohnabhängigen, unabhängig von<br />
ihrer Herkunft oder Religion, liegt der<br />
Schlüssel für ein wirkliches Ende aller<br />
Ausbeutung. Rassismus endet erst da,<br />
wo ihn die Solidarität besiegt.
<strong>Linkswende</strong> :: Nr. 142 :: Dez. 2010 / Jän. 2011<br />
K U L T U R<br />
11<br />
Die TV-Serie besteht<br />
aus 60 Folgen, die<br />
in Baltimore spielen<br />
und gedreht wurden. Baltimore<br />
ist eine der ehemaligen<br />
großen Industriestädte der<br />
USA, die heute von Arbeitslosigkeit<br />
beherrscht werden.<br />
Politische Ökonomie des<br />
Drogenhandels<br />
„The Wire“ kreist um die Ermittlungen<br />
der Polizei gegen<br />
eine der lokalen Drogengangs.<br />
Vom kleinen Polizisten, der<br />
dem Druck erliegt, schnell<br />
herzeigbare Ermittlungsergebnisse<br />
zu produzieren, über seine<br />
Vorgesetzten bis zu korrupten<br />
Politikern, dringt die Serie<br />
in alle Ebenen der Hierarchie<br />
zwischen Politik und Polizei<br />
ein. Vom Junkie über den kleinen<br />
Dealer bis zum Politiker<br />
und Immobilienhai, der die<br />
Drogengelder investiert und<br />
wäscht, wird die ganze politische<br />
Ökonomie des Drogenhandels<br />
dargestellt. Junkies<br />
werden hier nicht nur auf ihre<br />
eigenen persönlichen Schwächen<br />
reduziert, sondern sind,<br />
ohne es plakativ darzustellen,<br />
Opfer eines wirtschaftlichen<br />
und politischen Systems.<br />
Der Titelsong „Way Down<br />
in the Hole“ von Tom Waits<br />
gibt ein Hauptthema der<br />
Serie wieder. Um in dieser<br />
Welt leben zu können, muss<br />
man es schaffen, sein Elend<br />
zu überwinden, ansonsten ist<br />
man verloren („you gotta keep<br />
the devil down in the hole“).<br />
Verkörpert wird dies u.a.<br />
im Junkie Bubbles, eine der<br />
„The Wire“<br />
Eine Serie seziert die USA<br />
Stellvertretend für die Zerstörungen des Neoliberalimus weltweit, porträtiert die Krimiserie „The Wire“ die Stadt<br />
Baltimore und seine heruntergekommenen Arbeiterviertel. Ein Muss für jeden Linken, meint Manfred Ecker.<br />
Ein Sampler der besonderen<br />
Art bringt neue Einsichten in<br />
das Schaffen der Songwriter-<br />
Legende.<br />
Wie kein anderer beeinflusst Bob<br />
Dylan seit fast fünfzig Jahren das<br />
Singer-Songwriter-Genre und darüber<br />
hinaus die gesamte populäre<br />
Musik. Besonders bemerkenswert<br />
ist, dass sich Bob Dylan in den frühen<br />
Sechziger Jahren mit „Blowin’<br />
in the wind“ zum Sprachrohr<br />
der unterdrückten Afro-Amerikanischen<br />
Bevölkerung machte.<br />
Schwarze Musiker wie Sam Cooke<br />
Die „Cornerboys“ aus der vierten Staffel von „The Wire“<br />
warmherzigsten Figuren, die<br />
mir je im TV untergekommen<br />
sind. „The Wire“ erlaubt<br />
aber mehr als nur Mitgefühl<br />
mit ihm persönlich, die Serie<br />
ermöglicht Verständnis und<br />
tiefen Einblick in die sozialen<br />
Verhältnisse, die ihn krank<br />
gemacht haben. So seziert<br />
sie, scheinbar nebenher, den<br />
gesellschaftlichen Niedergang<br />
der USA.<br />
Ähnlich geht die Serie aber<br />
auch mit korrupten Polizisten<br />
Leo K`s<br />
How Many Roads: Black<br />
America Sings Bob Dylan<br />
Album „How many Roads”<br />
wurden dadurch ermutigt, selbst<br />
Protestlieder zu schreiben, sodass<br />
sich eine ambitionierte und erfolgreiche<br />
schwarze Musik-Szene<br />
jenseits des gefälligen Soul-<br />
Kommerzes herausbildete.<br />
Es ist daher nicht verwunderlich,<br />
dass immer<br />
wieder Künstlerinnen<br />
und Künstler eben jener<br />
Szene Bob Dylan ihre Referenz<br />
erwiesen, und seine Stücke<br />
covern. Auf der Compilation findet<br />
sich der unlängst verstorbene<br />
Solomon Burke mit „Ain’t Gonna<br />
Work On Maggie’s Farm No More“<br />
ebenso wie Nina Simone mit „Just<br />
like a woman“. Absolute Highlights<br />
des Albums sind „Most likely you<br />
go your way and I’ll go mine“ von<br />
Patti La Belle und „Knockin’ on<br />
heavens door“ in der Version von<br />
Booker T. Jones. Damit ist auch<br />
klargestellt, dass hier nicht nur dem<br />
jungen Folk-Hero Bob Dylan Tribut<br />
gezollt wird, sondern auch seinem<br />
späteren kreativen Output, der<br />
ja oftmals die widersprüchlichsten<br />
Reaktionen hervorgerufen hat.<br />
um. Sie leben und arbeiten<br />
in einem korrupten System<br />
und der permanente Druck,<br />
schnelle statt ehrlicher Ergebnisse<br />
zu produzieren, spült<br />
diejenigen nach oben, die<br />
diesem Druck erliegen. Das<br />
gilt für die Polizei und für die<br />
Schulbehörde in West-Baltimore<br />
genauso wie für die Politiker<br />
und das Justizpersonal.<br />
Bezeichnenderweise ist für<br />
die Hafenarbeiter der zweiten<br />
Staffel die Karriereleiter nie in<br />
Musiktipps<br />
Soweto Kinch:<br />
The New Emancipation<br />
Der britische Saxofonist prangert<br />
auf seinem dritten Album<br />
die modernen Formen der<br />
Sklaverei und die Auswirkungen<br />
der aktuellen<br />
Wirtschaftskrise an.<br />
Der „Rising Star“ bei<br />
den Jazz Awards des<br />
Jahres 2002 hat sich der<br />
Fusion aus Jazz, Rap,<br />
Poetry und Soul verschrieben.<br />
Sowohl das Debut „Conversations<br />
with the unseen“ (2003) als auch das<br />
Konzept-Album „A Life in the Day of<br />
B19“ (2006) wurden als mutige Veröffentlichungen<br />
jenseits des Mainstreams<br />
gefeiert. Mit Sicherheit trifft Soweto<br />
Kinch mit seinem manchmal avantgardistisch<br />
anmutenden Stilmix einerseits<br />
den Nerv einer jungen Generation, die<br />
für Jazz und Hiphop offen ist, andererseits<br />
bietet er gleichzeitig soliden Jazz eigener<br />
Prägung für ältere Jahrgänge. „The<br />
new Emancipation“ schlägt musikalisch<br />
in eine ähnliche Kerbe. Der Ausnahme-<br />
Saxofonist gibt sich hier jedoch besonders<br />
sozialkritisch und kämpferisch.<br />
Wie in den frühen „Worksongs“ und<br />
Soweto Kinch<br />
Griffweite, egal ob sie der Korruption<br />
erliegen oder nicht.<br />
Aber wie der Autor David<br />
Simmons meinte: „Wenn Polizisten<br />
die Lösung sein sollen,<br />
dann haben wir ohnehin die<br />
falschen Fragen gestellt!“<br />
Cops, Junkies, Dealer und<br />
ein desolates System<br />
Neben Bubbles kämpft<br />
D’Angelo um die Bewahrung<br />
seiner Menschlichkeit.<br />
D’Angelo ist ein Drogendealer<br />
der mittleren Ebene, der<br />
– obwohl selbst ein Mörder<br />
– versucht der Gewalt seiner<br />
Gang zu entkommen. In einer<br />
Szene bringt seine Mama die<br />
Jause an den Arbeitsplatz, der<br />
zerfallenden Vorstadtsiedlung,<br />
wo er den Drogenhandel organisiert.<br />
Drogenhändler haben<br />
Familien, Verantwortung<br />
und ein Privatleben, das oft<br />
nicht erkennen ließe, wie sie<br />
ihr Geld verdienen. In der<br />
vierten Staffel legt „The Wire”<br />
nochmals an Qualität zu, sie<br />
dreht sich um das Schicksal<br />
von vier ca. 14-jährigen Burschen<br />
in der Mühle zwischen<br />
einem desolaten Schulsystem,<br />
der sicheren Arbeitslosigkeit<br />
und dem sozialen Netz, das<br />
die Gesellschaft der heruntergekommenen<br />
Vorstadt ihnen<br />
anzubieten hat. Ihre Lehrerinnen<br />
und Lehrer bemühen sich<br />
heldenhaft, mehr zu geben,<br />
als das Schulsystem anzubieten<br />
hat, aber das öffentliche<br />
Bildungssystem in den USA<br />
ist noch kaputter als hierzulande.<br />
Ohne die nötigen<br />
Mitteln, um die Kinder wirklich<br />
zu betreuen, besteht die<br />
Hauptaufgabe darin, sie zu<br />
bändigen. „Lass die Fenster zu,<br />
dann werden die Kinder schläfrig<br />
– und schläfrig ist gut!“ Wer<br />
Schule schwänzt, wird von<br />
einer eigenen Truppe gesucht<br />
und einmal pro Monat in die<br />
Schule gebracht. Wie immer<br />
geht es darum, die Statistiken<br />
zu verschönern. Ebenfalls vorgestellt<br />
wird Felicia „Snoop“<br />
Pearson, laut Stephen King<br />
die „wahrscheinlich furchterregendste<br />
Schurkin, die jemals in<br />
einer Fernsehsendung vorkam.“<br />
Snoop ist eine junge Frau aus<br />
Baltimore, die wegen Mordes<br />
als Jugendliche ins Gefängnis<br />
kam und von Michael K.<br />
Williams, dem Darsteller von<br />
Omar Little in einer Bar in<br />
Baltimore entdeckt und sofort<br />
in den Cast von „The Wire“<br />
aufgenommen wurde. Omar<br />
Little selbst schließlich ist definitiv<br />
eine der tollste Gangsterfiguren,<br />
die jemals kreiert<br />
wurde. Er ist offen schwul und<br />
zärtlich zu seinem Liebhaber<br />
und Partner. Er lebt davon,<br />
Drogendealer zu überfallen, er<br />
zeigt keine Angst („Omar don’t<br />
scare“), und er kennt die Straßen<br />
und ihre Gesetze besser als<br />
alle anderen. Einer der Höhepunkte<br />
ist Omars Auftritt vor<br />
Gericht, wo er ungeniert vom<br />
Leben als Krimineller erzählt.<br />
Auf Youtube sind eine Vielzahl<br />
von Trailern zu finden.<br />
Die erste Staffel ist soeben<br />
auf Deutsch als DVD Box<br />
erschienen, es lohnt sich aber,<br />
das Original (mit Untertiteln)<br />
anzusehen.<br />
Blues-Balladen prangert Soweto Kinch<br />
die Sklaverei an, die in Zeiten der globalen<br />
Wirtschaftskrise neue und besonders<br />
perfide Formen angenommen hat. Die<br />
Stimmung der Songs des Albums reicht<br />
von zornig bis traurig und spiegelt sehr<br />
authentisch das Lebensgefühl der „Generation<br />
Y“ zum Ausklang des Jahres<br />
2010 wieder. Als Anspiel-Tipp seien<br />
das fragile Stück „Help“ und der schräge<br />
Rap „Raise your spirit“ genannt, in<br />
denen Soweto Kinch gekonnt all seine<br />
Register zieht.<br />
www.soweto-kinch.com<br />
WAS<br />
WIR<br />
WOLLEN<br />
Eine andere Welt. Heute lebt die Hälfte<br />
der Menschheit von weniger als 2 Dollar<br />
pro Tag, 67% der Reichtümer sind<br />
in den Händen von nur 2% der Bevölkerung,<br />
die USA alleine geben mehr<br />
als 400 Milliarden Dollar im Jahr für<br />
Waffen aus, nur 324 Milliarden Dollar<br />
wären nötig, um die schlimmste Armut<br />
zu beseitigen.<br />
Hunger, Krieg und die Zerstörung der<br />
Umwelt sind völlig unnötige Nebenprodukte<br />
des Konkurrenzkampfs und der<br />
Gier der wenigen Superreichen, die<br />
unsere Gesellschaft beherrschen. Was<br />
heute produziert wird, würde schon<br />
ausreichen, um alle Menschen der<br />
Welt mit dem Grundlegendsten zu versorgen.<br />
Demokratische Kontrolle. Wir wollen<br />
eine Gesellschaft, in der gezielt für die<br />
Bedürfnisse der gesamten Menschheit<br />
und mit Rücksicht auf die Natur produziert<br />
wird. Dafür ist eine wirklich demokratische<br />
Ordnung nötig, in der die<br />
werktätigen Menschen das Sagen haben.<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter produzieren<br />
allen Reichtum dieser Welt. Eine<br />
neue Gesellschaft ist nur vorstellbar,<br />
wenn sie die Produktion ihrer Reichtümer<br />
und ihre Verteilung kontrollieren.<br />
Um eine solche gerechte – eine sozialistische<br />
– Gesellschaft errichten zu<br />
können, müssen Arbeiter und Arbeiterinnen<br />
kollektiv gegen das herrschende<br />
System vorgehen, seine staatlichen<br />
Strukturen zerschlagen und kollektiv<br />
die Kontrolle übernehmen.<br />
Internationalismus. Wir leben in einer<br />
Zeit, in der Millionen Menschen gegen<br />
Krieg und Kapitalismus aufstehen und<br />
sich international vernetzen. Die globalen<br />
Protestbewegungen, die mit Seattle<br />
1999 die Bühne betreten haben, fordern:<br />
„Eine andere Welt ist nötig – Eine<br />
andere Welt ist möglich!“<br />
Gegen Unterdrückung. Wir leben auch<br />
in einer Welt, in der weltweite Konzerne<br />
die Wirtschaft dominieren. Nur wenn wir<br />
uns international verbinden und andere<br />
Grenzen wie Rassismus und Sexismus<br />
überwinden, können wir erfolgreich gegen<br />
die herrschenden Eliten vorgehen.<br />
Gegen Rassismus. Wir wenden uns<br />
aktiv gegen alle Versuche, die Werktätigen<br />
verschiedener Herkunft gegeneinander<br />
zu hetzen. Wir sind gegen jede<br />
Diskriminierung, gegen Einwanderungskontrollen,<br />
gegen Arbeitsverbote und<br />
für grenzüberschreitende Solidarität.<br />
Gewerkschaften müssen sich im Zeitalter<br />
der Globalisierung mit Arbeiterinnen<br />
und Arbeitern aller Länder solidarisieren.<br />
Während sich das Interesse der<br />
globalen Eliten auf die Beherrschung<br />
der erdölreichsten Regionen konzentriert,<br />
werden ihre Kriege mit Propaganda<br />
gegen Muslime gerechtfertigt.<br />
Wir stehen für Solidarität mit der muslimischen<br />
Bevölkerung und für das volle<br />
Recht auf freie Religionsausübung.<br />
Gegen Krieg. Krieg ist die grausamste<br />
Form des internationalen Konkurrenzkampfs,<br />
aber auch Ausdruck für den<br />
Bankrott und die Hilflosigkeit der herrschenden<br />
Eliten. Wir glauben, dass<br />
eine radikale und internationale Bewegung<br />
gegen Krieg heute schon das kapitalistische<br />
System erschüttern kann<br />
und den Grundstein für weitere Kämpfe<br />
für eine gerechte Welt legen kann.<br />
Revolutionäre Partei. Unsere Herrscher<br />
sind deshalb so mächtig, weil sie<br />
organisiert sind. Sie kontrollieren die<br />
Medien, die Justiz, Polizei und Militär.<br />
Um diese Macht zu konfrontieren, müssen<br />
sich auch die Werktätigen organisieren.<br />
Wir glauben, dass diejenigen,<br />
die eine völlig andere Welt wollen, sich<br />
zusammentun müssen und die Entwicklung<br />
der Protestbewegungen nicht dem<br />
Zufall überlassen dürfen. Je stärker die<br />
revolutionäre Strömung innerhalb der<br />
Bewegung ist, desto mächtiger wird die<br />
Bewegung als Ganzes.
<strong>Linkswende</strong><br />
Für Sozialismus von unten<br />
Im Interview: Obfrau der österreichischen Frauenhäuser<br />
Sparpaket kann Frauen<br />
das Leben kosten<br />
Jede fünfte Frau erleidet in ihrem Leben Gewalt. Gerade diese Frauen trifft das Sparpaket besonders, wenn sie ohne gewalttätigen Ernährer ihre Kinder<br />
nicht mehr durchbringen können. Beschämend: Gleichzeitig wird bei den Frauenhäusern gespart, wie Maria Rösslhumer,<br />
Chefin der österreichischen Frauenhäuser, im Interview mit <strong>Linkswende</strong>.<br />
Österreich ist stolz auf sein Gewaltschutzgesetz.<br />
Doch das<br />
hilft wenig, wenn durch das<br />
Sparpaket wichtige Transferleistungen<br />
gekürzt werden. „Für Frauen gibt es<br />
große ökonomische Schwierigkeiten,<br />
wenn sie sich trennen wollen. Gerade sie<br />
brauchen diese Transferleistungen“, sagt<br />
Maria Rösslhumer, Obfrau der Autonomen<br />
Frauenhäuser in Österreich.<br />
Die Folge: „Viele sagen: Ohne Ernährer<br />
schaffe ich es allein mit den Kindern<br />
nicht.” Manche Frauen bezahlen das<br />
mit ihrem Leben. Die Krise hat das<br />
Problem verschärft: „Wenn die Familie<br />
über ein niedriges Einkommen verfügt,<br />
kann das zu massiven Streitigkeiten führen”,<br />
so Rösslhumer. Gleichzeitig wird<br />
bei den Frauenhäusern gespart: „Es<br />
mussten Frauen abgewiesen werden. Das<br />
ist sehr frustrierend.”<br />
Von solchen Missständen wie auch von<br />
den Folgen des Sparpakets lenkt die<br />
Politik gern mit Rassismus ab: Statt<br />
über echte Gleichberechtigung wird<br />
über das Burka-Verbot debattiert. Dass<br />
die Kombination von Sparmaßnahmen<br />
und rassistischen Gesetzen gerade Migrantinnen<br />
massiv gefährdet, fällt unter<br />
den Tisch. „Schlimm ist es insbesondere<br />
für Migrantinnen, die vielleicht gar keinen<br />
legalen Aufenthalt haben. Die überlegen<br />
sich sehr genau, ob sie überhaupt<br />
die Polizei rufen”, so Rösslhumer.<br />
<strong>Linkswende</strong>: Weihnachten steht vor<br />
der Tür. Ist das für die Frauenhäuser<br />
eine Zeit zu verschnaufen?<br />
Maria Rösslhumer: Nein. Die Frauenhäuser<br />
sind in der Zeit meistens voll.<br />
Die Erwartungen in der Familie sind<br />
hoch und die Spannungen steigen, besonders,<br />
wenn es davor schon Gewalt<br />
gab.<br />
LW: Wirkt sich die Wirtschaftskrise<br />
aus?<br />
Rösslhumer: Wenn die Familie über<br />
ein niedriges Einkommen verfügt, kann<br />
Maria Rösslhumer, Obfrau der Autonomen Frauenhäuser in Österreich<br />
das zu massiven Streitigkeiten führen.<br />
Von einigen Einrichtungen wurde festgestellt,<br />
dass die Schwere der Gewalt<br />
zugenommen hat. Für Frauen gibt es<br />
sowieso große ökonomische Schwierigkeiten,<br />
wenn sie sich trennen wollen.<br />
Viele sagen: Ohne Ernährer schaffe ich<br />
es allein mit den Kindern nicht. Aber<br />
die Gewalt wird immer schwerer, je<br />
länger so eine Beziehung dauert. Viele<br />
Frauen haben oft gar keine Jobs und<br />
die Frauen bleiben deshalb auch länger<br />
in den Frauenhäusern. Schlimm ist es<br />
insbesondere für Migrantinnen, die<br />
vielleicht gar keinen legalen Aufenthalt<br />
haben. Die überlegen sich sehr genau,<br />
ob sie überhaupt die Polizei rufen.<br />
LW: Wie wirkt sich denn das Sparpaket<br />
aus?<br />
Rösslhumer: Die Kürzungen der Familienbeihilfe<br />
und beim Pflegegeld gehen<br />
extrem auf Kosten der Frauen. Kaum<br />
eine Alleinerzieherin wird es sich jetzt<br />
noch leisten können, ihr Kind studieren<br />
zu lassen. Frauen, die von Gewalt<br />
betroffen sind, kämpfen sowieso schon<br />
jeden Tag buchstäblich ums Überleben.<br />
Viele verlieren ihren Job, weil Gewalt<br />
krank macht und sie daher öfters in<br />
Krankenstand gehen müssen und weil<br />
sie oft behördliche Termine haben. Oft<br />
akzeptiert der Chef oder die Chefin das<br />
nicht. Gerade sie brauchen diese Transferleistungen.<br />
LW: Sind auch die Frauenhäuser von<br />
Kürzungen betroffen?<br />
Rösslhumer: Ja, leider. Im Frühjahr<br />
sollte zB das Frauenhaus in Hallein geschlossen<br />
werden. Das Land Salzburg<br />
wollte die Gelder insgesamt um 15 Prozent<br />
kürzen, dank der Unterstützung<br />
der Bevölkerung waren es dann nur 10<br />
Prozent. Das Frauenhaus in Salzburg-<br />
Stadt musste bei den Mitarbeiterinnen<br />
kürzen. Es mussten Frauen abgewiesen<br />
werden. Das ist sehr frustrierend. Was<br />
durch das aktuelle Sparpaket der Bundesregierung<br />
kommt, weiß ich noch<br />
nicht. Aber wenn die ökonomische<br />
Situation von Frauen schlechter wird<br />
und die Gewalt steigt ist der Bedarf<br />
größer, obwohl es gleich viel Plätze in<br />
Frauenhäusern gibt. Im vergangenen<br />
Jahr haben wir 3.163 Fälle betreut. Es<br />
gibt eine EU-Empfehlung, dass man<br />
pro 10.000 Einwohner einen Platz in<br />
einer Schutzeinrichtung braucht. Bei<br />
einer Einwohnerzahl von 8,3 Millionen<br />
und 750 bestehenden Plätzen fehlen<br />
Österreich also 80.<br />
LW: Was sind die Ursachen für die Gewalt?<br />
Es gibt ja die Meinung, Männer<br />
wären einfach Schweine oder es gäbe<br />
einen „Opfertyp” unter Frauen.<br />
Rösslhumer: Frauen, die von Gewalt<br />
betroffen sind, sind im Grunde sehr<br />
stark: Sie versuchen, sich und ihre Kinder<br />
zu schützen. Sie versuchen, ihren<br />
Job zu behalten, machen den Haushalt.<br />
Grundsätzlich geht es um unterschiedliche<br />
Macht- und Herrschaftsverhältnisse,<br />
das wirkt sich auf die individuellen<br />
Beziehungen aus. Dass Männer<br />
zB nicht bereit sind, in Karenz zu gehen.<br />
Das betrifft die Akademikerin ja<br />
genauso. Auf der persönlichen Ebene<br />
sind Männer oft nicht fähig, über Gefühle<br />
zu reden und partnerschaftlich<br />
Konflikte zu lösen.<br />
LW: Sind Migranten häufiger gewalttätig?<br />
Die deutsche Feministin Alice<br />
Schwarzer fühlt ja „Unbehagen an<br />
der statistisch nachweisbaren höheren<br />
Gewalt in traditionell moslemischen<br />
Familien“.<br />
Rösslhumer: Nein, das würde ich nicht<br />
so sagen. Je patriarchaler die Strukturen<br />
einer Gesellschaft, desto eher kommt<br />
es zu Gewalt an Frauen. Aber das hat<br />
nichts mit der Religion zu tun. Migrantinnen<br />
sind deshalb schwerer von<br />
Gewalt betroffen, weil sie viel weniger<br />
Perspektiven haben. Sie haben oft keine<br />
Jobaussichten, es gibt Sprachbarrieren.<br />
Da haben die Männer viel mehr<br />
Einfluss auf die Frauen.<br />
LW: Wie sehen Sie in dem Zusammenhang<br />
ein Burka- oder ein Kopftuchverbot?<br />
Rösslhumer: Mit einem Verbot werden<br />
Frauen, die von Gewalt betroffen<br />
sind, noch viel mehr in die Isolation<br />
gedrängt. Ich bin natürlich gegen<br />
Kopftuch- oder Burka-Zwang. Aber<br />
diese Emanzipation müssen die Frauen<br />
selber schaffen und wir müssen ihnen<br />
bei der Selbstbestimmung behilflich<br />
sein. Viele sagen außerdem, dass sie das<br />
Kopftuch freiwillig tragen. Ich bin der<br />
Meinung, dass man bei sozioökonomischen<br />
Faktoren ansetzen muss. Wo<br />
hat denn eine Frau mit Kopftuch in<br />
Österreich eine Chance auf einen Job?<br />
Durch Ablehnung, sogar Kriminalisierung,<br />
werden die Frauen gestraft, nicht<br />
die Männer.<br />
Demonstration gegen die Schließung des Frauenhaus Hallein im Frühjahr<br />
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