Heft als pdf - diskurs
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N e u e r s c h e i n u n g<br />
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Thema<br />
Alexander Kästner<br />
Sylvia Kesper-Biermann<br />
Alexander Kästner<br />
Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.)<br />
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Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz<br />
von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne<br />
Bayern und Savoyen im Spanischen Erbfolgekrieg<br />
Experten und Expertenwissen<br />
in der Strafjustiz von der<br />
Frühen Neuzeit bis zur Moderne<br />
Meine Verlag<br />
Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der<br />
Frühen Neuzeit bis zur Moderne<br />
Alexander Kästner und Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.)<br />
Seit dem 19. Jahrhundert werden Sachverständige vor Gericht <strong>als</strong> Experten bezeichnet.<br />
Mittlerweile wird der Begriff des Experten nahezu inflationär gebraucht. Der vorliegende<br />
Band untersucht Erscheinungsformen von Experten und Expertenwissen in<br />
der Strafjustiz vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Die Beiträge zeigen, dass über den<br />
Sachverständigen vor Gericht hinaus eine Vielzahl von Fachleuten in der Strafjustiz<br />
agierte, die aufgrund ihrer Tätigkeiten, Erfahrungen oder Funktionen über besondere<br />
Fähigkeiten und besonderes Wissen verfügten. Behandelt werden sowohl Rollen, Funktionen<br />
und Wissen von Experten <strong>als</strong> auch die Frage, aufgrund welcher Bedingungen<br />
einzelnen Personen oder Gruppen ein Expertenstatus zugeschrieben wurde.<br />
Ausstattung und Preis<br />
• Umfang 176 Seiten sowie 3 Fotos<br />
• Autorenverzeichnis und Sachregister<br />
• ISBN: 978-3941305-00-7<br />
• Preis: 28,95 EUR<br />
• kostenloser Versand durch www.absolutbuch.de<br />
• mehr Informationen unter www.kaestner.meine-verlag.de
Dis|kurs<br />
Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische<br />
Interventionen<br />
Herausgegeben von<br />
Matthias Lemke, Daniel Kuchler und Sebastian Nawrat<br />
In Zusammenarbeit mit dem<br />
Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften (IBS)<br />
der Hochschule Vechta, Wissenschaft von der Politik,<br />
Prof. Dr. Peter Nitschke<br />
und der<br />
Humanwissenschaftlichen Fakultät<br />
der Karls-Universität Prag,<br />
Prof. Dr. Hans Rainer Sepp
Inhalt<br />
Editorial<br />
Sebastian Nawrat, Matthias Lemke, Daniel Kuchler Seite | 1<br />
Patient Demokratie<br />
Politische Theorie<br />
Renate Martinsen Seite | 3<br />
Das Demokratieprojekt <strong>als</strong> „Perpetuum Mobile“? Gefährdungen<br />
und Potentiale von Demokratie im Zeitalter sich wandelnder<br />
Staatlichkeit<br />
Wesley Nishiyama Seite | 22<br />
Voting Rights for the Homeless<br />
Innenpolitik<br />
Matti Seithe Seite | 36<br />
Das ‚neue Aids’. Veränderungen der journalistischen Darstellung<br />
von HIV und Aids in der HAART-Ära<br />
Dis|kurs (2) 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
Karl-Heinz Breier Seite | 47<br />
Bürgerethos und Amtsverantwortung <strong>als</strong> Lebenselixier einer<br />
republikanischen Ordnung<br />
Ines Weber Seite | 60<br />
Sind Demokratien noch zeitgemäß? Eine einführende Analyse<br />
republikanischer und liberaler Ideen<br />
Martin Lücke Seite | 76<br />
Geschlechterdemokratie lernen – Politische Partizipation und<br />
„gender“ in didaktischer Perspektive<br />
Chris O’Kane Seite | 84<br />
Problematizing Pluralism<br />
Nadine Niemann Seite | 96<br />
Fortwährende Banalität des Bösen und sozialpsychologische<br />
Entschuldigung
B) (Ver-)Fallstudien<br />
Christoph Krakowiak Seite | 103<br />
Russland: Demokratie „auf russische Art“<br />
oder Autoritarismus?<br />
Julia Shestakova Seite | 117<br />
Demokratische Staatsbürgerschaft ohne nationale Identität?<br />
Betrachtungen zu möglichen Ursachen interkultureller Konflikte<br />
in Estland<br />
Sonja Meyer Seite | 130<br />
Rechtsextremismus in Deutschland. Wurzeln und aktuelle<br />
Erscheinungen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen<br />
Wandels und der Multikulturalität<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Nils Bock Seite | 142<br />
Öffentlicher Repräsentant – Repräsentant der Öffentlichkeit.<br />
Das Medium Herold in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />
Dis|kurs (2) 2008<br />
Bastian Walter Seite | 156<br />
Von städtischer Spionage und der Bitte, Briefe zu zerreißen:<br />
Alternative Kommunikationsnetze von Städten während der<br />
Burgundkriege (1469–1477)<br />
Jochen Missweit Seite | 168<br />
Ein Fest für alle Sinne: Die symbolisch-klangliche Dimension<br />
frühneuzeitlicher Herrschaftsinszenierung am Beispiel der<br />
Herrschereinzüge zum Regensburger Reichstag von 1653/54<br />
Internationale Politik<br />
Johannes Morrow Seite | 181<br />
Taking Indigenous Politics Seriously in the Study World Politics:<br />
The Limits and Possibilities of Political Vision<br />
Gelesen<br />
Susanne Gottlöber Seite | 202<br />
Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn<br />
Stephan Sandkötter Seite | 206<br />
Politische Soziologie. Grundlagen einer Demokratiewissenschaft
Christian Gellinek Seite | 211<br />
Staunings Kampf um Dänemarks Demokratie und Landfrieden<br />
Sebastian Nawrat Seite | 215<br />
Daniel Hard: SPD-Programmdebatte vom Schröder-Blair-Papier<br />
bis zur Agenda 2010. Sozialpolitische Deutungen in Parteitagsbeschlüssen<br />
der SPD 1998–2003<br />
Autorinnen und Autoren Seite | 217<br />
Beiträge Seite | 221<br />
Impressum Seite | 222<br />
Dis|kurs (2) 2008
Editorial<br />
Editorial<br />
Patient Demokratie<br />
Sebastian Nawrat, Matthias Lemke, Daniel Kuchler<br />
Dass der Tod einer politischen Ordnung immer kommt, steht für Peter Nitschke<br />
außer Frage. Keine Ordnung sei von (ewiger) Dauer, auch nicht die der Demokratie. 1<br />
So sehr diese Wette auf die Zukunft auch verstören mag, angesichts mannigfaltiger<br />
Herausforderungen, denen sich die Demokratie gegenüber sieht – angefangen bei<br />
der zunehmenden politischen Apathie und Frustration in etablierten demokratischen<br />
Systemen, über den zunehmenden politisch motivierten Fundamentalismus<br />
bis hin zur Infragestellung demokratischer Regierungspraxis durch einen ungezähmten<br />
Kapitalismus – scheint sie nicht gänzlich von der Hand zu weisen zu sein.<br />
Vielmehr deutet sich die Renaissance eines Systemwettbewerbs an: Die Alternative<br />
zwischen Kapitalismus und Kommunismus hat sich im 21. Jahrhundert hin zu einer<br />
Konkurrenz von demokratischen und nicht-demokratischen Marktwirtschaften verschoben.<br />
Diese Verschiebung wird in der Politikwissenschaft seit einigen Jahren unter<br />
dem Begriff der Defekten Demokratie weitläufig diskutiert 2 , nur suggeriert diese<br />
Begrifflichkeit, dass der Defekt der Demokratie schon irgendwie wird behoben werden<br />
können. Dass sich der Defekt auch <strong>als</strong> Tot<strong>als</strong>chaden herausstellen könnte, steht<br />
eher nicht zur Debatte.<br />
Wenn sich dieses Themenheft <strong>als</strong>o der Frage nach den gegenwärtigen pathologischen<br />
Erscheinungen rund um die Demokratie widmet, die manch ein Analytiker nach<br />
dem Regimezerfall in Osteuropa nach 1989 schon vor einem endgültigen Sieg hatte<br />
stehen sehen 3 , dann kann das zweierlei bedeuten. Einerseits kann es durchaus sein<br />
– und das steht für all diejenigen Gesellschaften, denen ein demokratisch-partizipatives<br />
System zu qualitativer und substantieller Freiheit verholfen hat, durchaus zu<br />
hoffen – dass der Demokratie <strong>als</strong> Organisationsform von Gesellschaft noch zu helfen<br />
ist. Gegenwartsdiagnostisch gedacht würde dies bedeuten, neben dem akuten Krisenbefund<br />
auch Wege und Lösungsstrategien aufzeigen zu können, die aus dem, was<br />
Demokratie gegenwärtig geworden ist, wieder ein tragfähiges Konzept nachhaltiger<br />
Freiheitsgenerierung zu rekonstruieren vermögen. Andererseits, und das ist sicherlich<br />
die beängstigendere Perspektive, kann es aber auch sein, dass der Patient Demokratie<br />
bereits ein Fall für die Palliativmedizin geworden ist. In diesem Fall bliebe in<br />
1 Vgl. Nitschke, Peter, Der Tod der demokratischen Ordnung – eine neoklassische Rekonstruktion,<br />
in: Zeitschrift für Politik, 54 (2/2007), S. 141–161, hier S. 141.<br />
2 Vgl. etwa einführend Merkel, Wolfgang u. a., Defekte Demokratie. Band 1: Theorie, Opladen<br />
2003, S. 65–95.<br />
3 Vgl. paradigmatisch etwa Fukuyama, Francis, Das Ende der Geschichte, München 1992.<br />
Dis | kurs 1
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
erster Linie zu fragen: Was kommt dann? Welche Organisationsform von hochindustrialisierten<br />
Großgesellschaften vermag die Demokratie zu ersetzen? – Ob adäquat<br />
oder funktional, ist dabei noch eine ganz andere Frage. Dazu gesellt sich in diesem<br />
Zusammenhang die sich zwangsläufig aufdrängende, nachgerade verzweifelten Frage,<br />
wie es soweit hatte kommen können.<br />
Zwischen diesen beiden Polen der Analyse, nämlich mehr oder minder stiller Hoffnung<br />
und ebenfalls mehr oder minder stiller Resignation hinsichtlich der Genesungsmöglichkeiten<br />
eines lieb gewonnenen, zumindest aber akzeptierten, jedoch<br />
auch angeschlagenen Organisationsmusters von Staatlichkeit bewegt sich der Themenschwerpunkt<br />
dieses <strong>Heft</strong>es. Dabei wollen und können die einzelnen Autoren<br />
eine finale Diagnose sicherlich nicht abgeben, denn die der Untersuchung zugrunde<br />
zu legenden Parameter sind hierfür einfach zu komplex. Jedoch, und das ist ein erster<br />
Schritt hinsichtlich der Frage nach dem Was ist?, liefern die einzelnen Aufsätze des<br />
Themenschwerpunktes Indikatoren, Momentaufnahmen, und Analysen, die aufzeigen,<br />
was in der weltweiten Summe der Demokratie alles an Herausforderungen aufgebürdet<br />
worden ist. Wobei in jeder aus einer solchen Herausfoderung resultierenden<br />
Krise auch wieder – positiv gewendet – eine Chance für die (Selbst-)Erneuerung<br />
der Demokratie liegen kann. Auf mehr <strong>als</strong> dieses „Hilf' Dir selbst!“ wird der Patient<br />
Demokratie, darin liegt seine Chance, aber eben auch die Quelle seiner Verletzlichkeit,<br />
kaum hoffen dürfen.<br />
2 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
Politische Theorie<br />
Das Demokratieprojekt <strong>als</strong> „Perpetuum Mobile“?<br />
Gefährdungen und Potentiale von Demokratie im<br />
Zeitalter sich wandelnder Staatlichkeit<br />
Renate Martinsen<br />
Universität Duisburg-Essen, Institut für Politikwissenschaft<br />
E-Mail: renate.martinsen@uni-due.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Deliberation, Legitimation, Wandel der Staatlichkeit, (Global) Governance,<br />
Globalisierung, Mediation, Bürgerkonferenz, Diskursverfahren<br />
Zeitdiagnosen zum Zustand der Demokratie vermitteln ein widersprüchliches Bild.<br />
Auf der einen Seite wird der glanzvolle Triumph der Demokratie verkündet. Denn<br />
Demokratie findet (zumindest in der westlichen Welt) <strong>als</strong> normatives Leitbild für<br />
politische Systeme mittlerweile universelle Anerkennung. Auf der anderen Seite<br />
mehren sich indes die Krisendiagnosen. Zunehmend erscheint gerade auch auf der<br />
politikwissenschaftlichen Agenda die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Demokratie.<br />
Dabei wird der prinzipielle Wert der Demokratie in aller Regel nicht bezweifelt.<br />
Vielmehr geht es im Kern um die Frage nach den Grenzen der Leistungsfähigkeit<br />
dieser Regierungsform unter den gewandelten sozio-ökonomischen Bedingungen<br />
des 21. Jahrhunderts. Wenn wir die beiden scheinbar gegenläufigen Wahrnehmungen,<br />
den Sieg der Demokratie <strong>als</strong> abstrakte Idee und die Krise der Demokratie <strong>als</strong><br />
politische Organisationsform, gleichermaßen berücksichtigen, dann können wir von<br />
einem Demokratie-Paradox sprechen: Demokratie steht in dem Augenblick, in dem<br />
sie sich historisch <strong>als</strong> unumstrittene Norm etabliert hat, zugleich vor der größten<br />
Belastungsprobe.<br />
Es ist davon auszugehen, dass die gegenwärtig stattfindenden gesellschaftsstrukturellen<br />
Umwälzungen nicht bloß graduellen Charakter aufweisen, sondern die Qualität<br />
Dis | kurs 3
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
eines sozialen Strukturbruchs aufweisen, in dem sich auch die konstitutiven Regeln<br />
des Politischen verändern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen nahezu alle politikwissenschaftlichen<br />
Schlüsselbegriffe vor der Herausforderung einer Neuerfindung.<br />
Auffälligstes Indiz hierfür sind die Diskurse über den Wandel von Staatlichkeit<br />
– das Megathema der Politikwissenschaft in den letzten Jahren.<br />
Um den Möglichkeitskorridor auszuloten, der sich für Demokratien unter essentiell<br />
veränderten Bedingungen eröffnet, könnte zunächst ein kurzer Blick in die Ideengeschichte<br />
hilfreich sein. Zentral beim Modell der antiken Demokratie, das in der<br />
Literatur immer wieder <strong>als</strong> demokratisches Urmodell angeführt wird, ist die Vorstellung<br />
einer Identität zwischen Regierenden und Regierten. Der demos der athenischen<br />
Demokratie war mehr <strong>als</strong> die bloße Aggregation von Einzelwillen – eine Reihe<br />
struktureller Vorkehrungen zielte darauf ab, den demos <strong>als</strong> kollektives Subjekt zu installieren.<br />
1 Mit dem Label zweite demokratische Transformation wird – nach über 2000<br />
Jahren Abwesenheit demokratischer Herrschaftsordnungen – die Entstehung moderner<br />
Demokratien im 18./19. Jahrhundert in Nordamerika und Europa beschrieben.<br />
Zuvorderst stellt sich in diesem Zusammenhang das Problem der Größenordnung:<br />
Die modernen Nation<strong>als</strong>taaten waren – im Unterschied zur antiken Polis – Flächenstaaten<br />
mit Millionenbevölkerung. Es bedurfte quasi einer Neu-Erfindung der Demokratie,<br />
um diese Herrschaftsform unter den geänderten Rahmenbedingungen zu<br />
revitalisieren.<br />
Zu Beginn der Moderne lassen sich ideengeschichtlich zwei gegensätzliche Varianten<br />
der Fortschreibung von Demokratie vorfinden: die Identitätstheorie der Demokratie,<br />
wie sie insbesondere in Rousseaus demokratischem Kontraktualismus zum Ausdruck<br />
kommt einerseits, sowie das Demokratiemodell liberal-demokratischer Verfassungsstaaten,<br />
wie es in den Federalist-Papers entwickelt wird andererseits. Im weiteren<br />
Verlauf der Geschichte – so lässt sich heute konstatieren – hat sich in der westlichen<br />
Welt das liberale Modell der amerikanischen Gründerväter <strong>als</strong> das erfolgreichere erwiesen.<br />
Die dabei zugrunde gelegte Idee einer Verbindung von Demokratie- und<br />
Repräsentationsprinzip kommt einer demokratietheoretischen Revolution gleich.<br />
Weitere institutionelle Absicherungen, wie die von Montesquieu ausgearbeitete Gewaltentrennungslehre<br />
sowie das Prinzip des Föderalismus tragen dem Gedanken einer<br />
Machtlimitierung durch ein System wechselseitiger Kontrollen Rechnung.<br />
Welche Folgen hat diese Neuadjustierung von Demokratie an die gewandelten Verhältnisse<br />
nun in Bezug auf den substantiellen Gehalt der Volksherrschaft? Mit der<br />
Verankerung von Demokratie in einer liberalen rechtsstaatlichen Verfassung, die<br />
1 Vergleiche hierzu ausführlich Fuchs, Dieter: Modelle der Demokratie. Partizipatorische,<br />
liberale und elektronische Demokratie. In: Kaiser, André / Zittel, Thomas (Hg.), Demokratietheorie<br />
und Demokratieentwicklung. Wiesbaden 1004, insb. S. 20–24.<br />
4 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
allgemeine, freie und gleiche Wahlen garantiert und die Möglichkeit des Regierungswechsels<br />
inkludiert, verschiebt sich der Fokus von Demokratie grundlegend: und<br />
zwar von der unmittelbaren Teilhabe des Volkes am Regieren hin zur Auswahl der<br />
Regierenden durch das Volk. In Anbetracht der Periodizität der Wahlen lässt sich<br />
die Rückbindung des Regierungshandelns an den Wählerwillen nun vermittels des<br />
Prinzips der Responsivität herstellen. Die veränderte Wahrnehmung der Gestaltungsmacht<br />
des Staates unter komplexer gewordenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
(Stichwort „Governance“) im 21. Jahrhundert kann nicht ohne Rückwirkungen<br />
auf die aktuelle Demokratie-Diskussion bleiben. 2 Häufig wird auf die Gefahr einer<br />
zunehmenden Entdemokratisierung im Zeitalter von Globalisierung und Global<br />
Governance aufmerksam gemacht. Andererseits wird in der politikwissenschaftlichen<br />
Debatte verstärkt auch nach Demokratisierungspotentialen von Governancestrukturen<br />
gefragt. In der zweiten demokratischen Transformation wurden Lösungen<br />
für das „Größenproblem“ gesucht und mehr oder weniger befriedigende Antworten<br />
gefunden. Die drängende Frage, die sich derzeit in demokratietheoretischer Hinsicht<br />
stellt, richtet sich darauf, inwiefern sich für das aktuell anstehende „Entgrenzungsproblem“<br />
gleichfalls demokratiekompatible Perspektiven entwickeln lassen.<br />
Um die Gefährdetheit der Demokratie im Zuge einer dritten demokratischen Transformation<br />
3 angemessen zu diskutieren, sind zum einen die veränderten sozio-strukturellen<br />
Kontexte in Rechnung zu stellen: Inwiefern haben sich die Rahmenbedingungen<br />
für Demokratie gegenwärtig verschlechtert? Zum anderen ist das Problem<br />
der Begriffsbestimmung ins Visier zu nehmen: In welchem Verhältnis stehen Norm<br />
und Realität? Auf diesen konzeptionellen Überlegungen aufbauend soll im Beitrag<br />
schließlich der Frage nachgegangen werden, inwiefern die New Modes of Governance 4<br />
einen Abgesang der Demokratie einleiten bzw. einen Beitrag zu einer zeitgemäßen<br />
Re-Konzeptualisierung des Demokratiebegriffs zu leisten vermögen.<br />
2 Diese Thematik ist Profilschwerpunkt des Instituts für Politikwissenschaft der Universität<br />
Duisburg-Essen und wird in einem aktuell erschienenen Institutsband aus verschiedenen<br />
Perspektiven beleuchtet. Vergleiche darin auch meine ausführlichen Überlegungen zu<br />
„Democratic Governance“ in Martinsen, Renate: New Modes of Governance. Opportunities<br />
and Limitations of Creating Legitimacy by Deliberative Politics Politics in a Globalizing<br />
World. In: Schmitt-Beck, Rüdiger/Debiel, Tobias/Korte, Karl-Rudolf (eds.), Governance<br />
and Legitimacy in a Globalized World, Baden-Baden 2008, S. 9–30.<br />
3 Bezogen auf die Demokratiethematik geht Robert Dahl davon aus, dass sich im Zusammenhang<br />
mit der Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
eine sog. „dritte demokratische Transformation“ vollzieht, vgl. Dahl, Robert Alan:<br />
Democracy and its Critics. New Haven/London 1989. Ich verwende diesen Terminus hier<br />
in einem allgemeineren Sinne.<br />
4 Unter „New Modes of Governance“ werden netzwerkartige Regelungsstrukturen unter<br />
Einschluss von zivilgesellschaftlichen Akteuren auf unterschiedlichen territorialen Ebenen<br />
verstanden.<br />
Dis | kurs 5
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Wandel der Kontexte: Globalisierung und (Global) Governance<br />
Anknüpfungspunkt der Demokratieentwürfe für liberal-repräsentative Gesellschaften<br />
war bis dato in aller Regel der nach innen und außen souveräne Nation<strong>als</strong>taat. Im<br />
Zuge der Globalisierungsprozesse wird dieser bisher <strong>als</strong> selbstverständlich vorausgesetzte<br />
Ausgangspunkt von Demokratietheorien in Frage gestellt. Auflösungsprozesse<br />
des staatlich fixierten territorialen Rahmens vollziehen sich dabei in zwei Richtungen:<br />
Zum einen kommt es nach innen zu einer Unterminierung der Voraussetzungen<br />
des neuzeitlichen Staatsbegriffs: Denn im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung<br />
scheint der Nation<strong>als</strong>taat zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben immer<br />
stärker auf verstreute gesellschaftliche Ressourcen angewiesen. Als Folge dieser<br />
Entwicklung finden sich staatliche Akteure zunehmend mit gesellschaftlichen und<br />
substaatlichen Akteuren in Verhandlungssystemen eingebunden. Zum anderen wird<br />
die Figuration des Staates <strong>als</strong> kompaktem Handlungsakteur auch von außen herausgefordert<br />
– und zwar durch politische Internationalisierungsprozesse, die der global<br />
entgrenzten Ökonomie quasi „nachwachsen“. Denn zahlreiche grenzüberschreitende<br />
Probleme können offensichtlich nicht mehr im nation<strong>als</strong>taatlichen Rahmen gelöst<br />
werden.<br />
In seinem programmatischen Vortrag zur Frage staatlicher Handlungsfähigkeit am<br />
Ende des 20. Jahrhunderts auf dem 18. Politologenkongress „Staat und Demokratie<br />
in Europa“, hat Fritz Scharpf die Zunft allgemein und die Demokratietheoretiker<br />
im besonderen dazu aufgefordert, sich auf die Realität der vielfach vernetzten und<br />
durch Verhandlungen gekennzeich neten Politik einzustellen – weitsichtig fügte er<br />
hinzu: „Ob man dabei freilich noch von politischer oder staatlicher ‚Steuerung‘ wird<br />
reden können, bleibt abzuwarten“. 5 Tatsächlich ist es in den Folgejahren zu einem<br />
weitgehenden Wechsel des vorherrschenden politikwissenschaftlichen Vokabulars<br />
zur Beschreibung staatlicher Gestaltungsambitionen gekommen: Statt Steuerung6<br />
rückt nun Governance ins Zentrum politikwissenschaftlicher Analysen. Das Label<br />
„Governance“ soll nicht zuletzt die Neuartigkeit der politischen Regulierungsmodi<br />
in der komplexer gewordenen Welt des 21. Jahrhunderts unterstreichen.<br />
Die politikwissenschaftlichen Diskurse zur Transformation von Staatlichkeit wer-<br />
5 Scharpf, Fritz W.: Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie. In:<br />
Michael Greven (Hg.): Demokratie – eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher<br />
Kongreß der DVPW. Opladen 1998, S. 81.<br />
6 Im klassischen Verständnis bestimmte sich Steuerung <strong>als</strong> politische Intervention von<br />
außen in bestimmte Gesellschaftsbereiche, um eine intentionale Zustandsveränderung<br />
herbeizuführen. Vgl. Mayntz, Renate: Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme<br />
– Anmerkungen zu einem theoretischen Paradigma. In: Thomas Ellwein/<br />
Joachim Jens Hesse/Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hg.), Jahrbuch zur Staats- und<br />
Verwaltungswissenschaft, Bd.1. Baden-Baden 1987, S. 89-110.<br />
6 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
den zumeist begleitet von der Überzeugung, dass das Governance-Konzept nicht<br />
nur normative Plausibilität beanspruchen könne; vielmehr wird in der Regel davon<br />
ausgegangen, dass sich in der empirischen Realität tiefgreifende Wandlungsprozesse<br />
vollziehen, die im Wechsel des hegemonialen Begriffsvokabulars ihren Niederschlag<br />
finden. Was sind die entscheidenden Antriebskräfte, die diesen politisch-gesellschaftlichen<br />
Strukturbruch herbeigeführt haben?<br />
Zurückgeführt werden die gegenwärtigen Veränderungen des Politischen insbesondere<br />
auf Prozesse der Globalisierung, die sich auf einer abstrakten Ebene <strong>als</strong> eine Art<br />
„Fernwirkung“ verstehen lassen: im Kern geht es dabei um die „Verwandlung von<br />
Raum und Zeit“. 7 Aus räumlichen Differenzen gehen nun nicht mehr unmittelbar<br />
zeitliche Unterscheidungen hervor. In der einschlägigen Literatur zur Globalisierung<br />
wird der Kern der weltweiten Interdependenzen überwiegend auf der ökonomischen<br />
Ebene angesiedelt, <strong>als</strong> deren Motor wiederum die technologische Innovationsdynamik<br />
insbesondere im Bereich der neuen Kommunikations- und Informationsmedien<br />
erscheint. In einer sich globalisierenden Welt kommt es zu einem tendenziellen<br />
Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Sphären, die im Nation<strong>als</strong>taat miteinander<br />
verkoppelt waren: die Arena, in der politisch folgenreiche Wirkungen erzeugt werden,<br />
erscheint unter globalisierten Vorzeichen nicht mehr kongruent mit der Arena,<br />
in der politische Gestaltung möglich ist. Die vollendete Internationa lisierung der<br />
Kapitalmärkte entzieht Versuchen einer nation<strong>als</strong>taatlichen „Glob<strong>als</strong>teuerung“ den<br />
Boden. Aus neoliberaler Sicht stellt sich der Globalisierungsprozess dar <strong>als</strong> quasi naturwüchsiger<br />
Sachzwang, der zur Abdankung der Politik führt.<br />
Demgegenüber wird vielerorts auch im Politischen zunehmend die Perspektive der<br />
Reorientierung betont, da die entfesselte Innovationsdynamik ein zerstörerisches<br />
Potential beinhalte. Mit anderen Worten: auf der politikwissenschaftlichen Agenda<br />
nimmt die Frage nach den verbleibenden Möglichkeiten politischer Steuerung<br />
in einer sich globalisierenden Welt einen zunehmend exponierten Platz ein. Dabei<br />
lässt sich mit Wiesenthal Globalisierung von der Internationalisierung gesellschaftlicher<br />
Sphären dadurch unter scheiden, dass es unter dem Einfluss des erweiterten<br />
Optionenraums schließlich zu einem „Wandel der vertrauten Alternativen“ 8 kommt,<br />
weshalb sich die Wirkungen der Globali sierung gerade nicht unter Bezugnahme auf<br />
ausschließlich quantitative Phänomene (zum Beispiel wachsendes Wertvolumen<br />
des internationalen Handels) noch zureichend beschreiben lassen. Die Redeweise<br />
vom „Umschlag von Quantität in Qualität“ bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt.<br />
7 Giddens, Antonoy: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie.<br />
Frankfurt a. M. 1997, S. 23.<br />
8 Wiesenthal, Helmut: Globalisierung. Soziologische und politikwissenschaftliche Koordinaten<br />
im neuartigen Terrain. In: Brunkhorst, Hauke/Kettner, Matthias (Hg.), Globalisierung<br />
und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien. Frankfurt a. M. 2000, S. 24.<br />
Dis | kurs 7
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Entscheidend bei einem solchermaßen vertieften Begriffsverständnis von Globalisierung<br />
ist der Umstand, dass das im Zuge von Globalisierungsprozessen gewachsene<br />
Alternativenbewusstsein unmittelbar lokale Rückwirkungen zeitigt. Die Formel „unter<br />
den Bedin gungen der Globalisierung“ bedeutet in diesem Verständnis, dass alles<br />
Handeln in der Gesellschaft unter neuen Vorzeichen zu vermessen ist.<br />
Demokratietheoretische Ernüchterungs<strong>diskurs</strong>e – was nun?<br />
Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Demokratie auf dem Hintergrund dieser<br />
gesellschaftlichen Transformationsprozesse mit wachsender Dringlichkeit gestellt.<br />
Guéhenno's berühmt-berüchtigtes Diktum vom „Ende der Demokratie“ weist dem<br />
Jahr 1989 eine spezifische Bedeutung zu: nun ende das, was durch die Revolutionen<br />
von 1789 institutionalisiert worden sei, 9 das heißt die skeptische Demokratie-Diagnose<br />
bezieht sich auf das angenommene Ende des Zeitalters der Nation<strong>als</strong>taaten.<br />
Hieran knüpft die Redeweise von den „postdemokratischen“ Verhältnissen an: sie<br />
zielt zuvorderst ab auf die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“: 10 Zwar wird vom<br />
Fortbestehen der nation<strong>als</strong>taatlichen demokratischen Institutionen und Verfahren<br />
ausgegangen, doch seien Zweifel angebracht, ob sich auf dem Hintergrund grundlegend<br />
gewandelter Weltverhältnisse („unter den Bedingungen der Globalisierung“)<br />
das im Demokratiebegriff transportierte Partizipationsversprechen noch einlösen<br />
lasse. Indes lässt sich Demokratie nicht auf ein feststehendes Set von Verfahren und<br />
Institutionen zur Kennzeichnung einer bestimmten Regierungsform reduzieren.<br />
Vielmehr handelt es sich um einen Tendenzbegriff, der moderne Verfassungen mit<br />
einer inhärenten Dynamik ausstattet. 11 Im geschichtlichen Verlauf entfaltet sich so<br />
das Wechselspiel von Norm und Realität der Demokratie. In diesem Sinne ist der<br />
Demokratiebegriff selbst fluide, kontrovers und komplex gebaut. Insbesondere in<br />
Zeiten epochalen gesellschaftlichen Wandels ist deshalb häufig umstritten, ob eine<br />
empirische Veränderung in demokratietheoretischer Hinsicht eine Fehl- oder eine<br />
Weiterentwicklung signalisiert.<br />
Was die in den Sozialwissenschaften behauptete Herausbildung von governanceartigen<br />
Regierungsformen auf nationaler und transnationaler Ebene im Hinblick auf<br />
Demokratie- und Legitimationsfragen bedeutet, wird entsprechend kontrovers diskutiert.<br />
Demokratietheoretische Skepsis gegenüber der Ausbreitung von Netzwerkpolitiken<br />
ist nicht selten anzutreffen. Denn die Verbreiterung des Akteursspektrums in<br />
den neuen Governanceformen stellt den tradierten Konnex zwischen Regieren und<br />
9 Guèhenno, Jean-Marie: Das Ende der Demokratie. München/Zürich 1994, S. 10.<br />
10 Jörke, Dirk: Auf dem Weg zur Postdemokratie. In: Leviathan, Jg.33, H.4 (2005), S. 491.<br />
11 Vgl. Guggenberger, Bernd: Artikel „Demokratie/Demokratietheorie“. In: Dieter Nohlen<br />
(Hg.), Wörterbuch Staat und Politik. München/Zürich 1996, S. 80–90.<br />
8 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
demokratischer Rekrutierung beziehungsweise Kontrolle des politischen Person<strong>als</strong><br />
in Frage. Die hieraus abgeleiteten Bedenken, ob die neuen Steuerungsmodi überhaupt<br />
demokratisch zu legitimieren seien, finden sich auf allen territorialen Ebenen<br />
– allerdings steigert sich in der Regel die Befürchtung einer Entdemokratisierung des<br />
Regierens mit dem Internationalisierungsgrad. Zunächst lässt sich festhalten, dass<br />
die Kritik am Regieren an „Runden Tischen“ (wie der neuen Politikstil bisweilen<br />
auch bezeichnet wird) sich derjenigen Argumente bedient, die auch schon in der<br />
Korporatismuskritik vorgebracht wurden: Exklusivität des Zugangs und Intransparenz<br />
der Politikvorgänge sind mit den Anforderungen an politisch-öffentliche<br />
Entscheidungen in Demokratien nicht vereinbar. 12 Insbesondere die Gefahr einer<br />
Externalisierung von Kosten zu Lasten unbeteiligter Dritter erscheint demokratietheoretisch<br />
bedenklich.<br />
Auf der Ebene der EU erweitert sich die Demokratieproblematik um zusätzliche Aspekte:<br />
die institutionelle Vertiefung der EU im Zuge ihrer Erweiterung bedingt eine<br />
Stärkung des supranationalen Moments – die Rückbindung europäischer Politik an<br />
den Willen der demokratisch gewählten Regierungen wird damit tendenziell ausgehöhlt.<br />
Darüber hinaus kritisiert etwa Fritz Scharpf 13 , dass die Supranationalität des<br />
Europarechts insbesondere der „negativen Integration“ zugute komme – und damit<br />
eine Asymmetrisierung von markteröffnender und marktbegrenzender Politik<br />
erfolge. Außerdem wird in Mehrebenen-Analysen 14 die Möglichkeit der Exekutive<br />
betont, mit dem Verweis auf Bindungserfordernisse auf EU-Ebene die staatlichen<br />
Handlungsspielräume gegenüber den gesellschaftlichen Akteuren auszuweiten. Sodann<br />
stellt sich die Frage, ob die EU überhaupt demokratiefähig ist: so wird darauf<br />
hingewiesen 15 , dass die EU nicht über eine kollektive Identität verfüge – dies beinhalte,<br />
dass die in diesem Rahmen getroffenen Entscheidungen nur eine eingeschränkte<br />
Belastbarkeit aufweisen würden.<br />
Schließlich stellt sich auf globaler Ebene die Legitimitätsproblematik in einer nochm<strong>als</strong><br />
verschärften Weise: Zwar kann die tradierte Annahme, der internationale<br />
12 Schneider, Volker: Möglichkeiten und Grenzen der Demokratisierung von Netzwerken in<br />
der Politik. In: Jörg Sydow/Arnold Windeler (Hg.), Steuerung von Netzwerken. Konzepte<br />
und Praktiken, Opladen 1999, S. 327–346.<br />
13 Vgl. Scharpf, Fritz W.: Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt. In: Jachtenfuchs,<br />
Markus/Kohler-Koch, Beate (Hg.), Europäische Integration. 2. Aufl., Opladen 2003,<br />
S. 219–253.<br />
14 Vgl. beispielsweise Moravcsik, Andreas: Warum die Europäische Union die Exekutive<br />
stärkt: Innenpolitik und internationale Kooperation. In: Klaus Dieter Wolf (Hg.), Projekt<br />
Europa im Übergang? Baden-Baden 1997, S. 211–269.<br />
15 Vgl. Kielmannsegg, Peter Graf: Integration und Demokratie. In: Markus Jachtenfuchs/<br />
Kohler-Koch, Beate (Hg.), Europäische Integration. 2. Aufl., Opladen 2003, S. 49–84.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Raum sei durch den Zustand der „Anarchie“ 16 gekennzeichnet, weiterhin Gültigkeit<br />
beanspruchen – und zwar in dem Sinne, dass es keine übergeordnete Instanz gibt,<br />
die kollektiv verbindliche Normen setzen, deren Einhaltung überwachen und das<br />
Zuwiderhandeln wirkungsvoll sanktionieren kann, das heißt es gibt keine politische<br />
Superordnung. Dennoch lässt sich beobachten, dass die inter- und transnationalen<br />
Beziehungen von einem Netz von Normen durchwebt werden, an deren Entwicklung<br />
häufig Internationale Organisationen sowie privatwirtschaftliche Akteure maßgeblich<br />
beteiligt sind. Diese Normen weisen nur eine eingeschränkte Rechtsqualität<br />
auf; das heißt sie formulieren zuvorderst kollektive Verhaltenserwartungen, die Standards<br />
angemessenen Verhaltens in bestimmten Sachbereichen etablieren („soft law“).<br />
Da im globalen Raum weitgehend eine wirkungsvolle Rückbindung der im Netzwerk<br />
getroffenen politisch-normativen Entscheidungen an die Entscheidungsbetroffenen<br />
fehlt, wird in diesem Zusammenhang auch von einer Tendenz der Re-Feudalisierung<br />
bzw. „Privatisierung der Weltpolitik“ 17 gesprochen.<br />
Demokratietheoretische Befürchtungen, die sich auf die Entgrenzung des Regierens<br />
nach innen und außen beziehen, sind im Kern politikwissenschaftlicher Common<br />
Sense. Diese Kritik speist sich hauptsächlich aus den Kriterien für Inklusion und<br />
Repräsentation, wie sie dem Modell der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie<br />
zugrunde liegen. Wenn wir indes davon ausgehen, dass sich gegenwärtig ein tiefgreifender<br />
Wandel des Politischen vollzieht, stellt sich die Frage nach einer möglichen<br />
Weiterentwicklung der demokratietheoretischen Standards. Es gilt dabei zwei<br />
Optionen zu disprivilegieren: das starre Festhalten an demokratischen Kriterien, die<br />
unter anderen sozio-politischen Rahmenbedingungen entwickelt wurden einerseits,<br />
eine bloße Flucht in die normative Beliebigkeit andererseits. Für Demokratietheorien<br />
stellt sich somit die Aufgabe, den evolutionären gesellschaftlichen Korridor im Auge<br />
zu behalten und zu erforschen, inwieweit es für wünschenswerte Normen auch sog.<br />
„aufnehmende Strukturen“ in der Realität gibt. Die Seinsmodalitäten von Demokratie<br />
sind in diesem Sinne durch historische Pfadentwicklungen geprägt. Insofern<br />
müssen Demokratietheorien, um die gesteigerte Komplexität in der globalisierten<br />
Welt adäquat erfassen zu können, das Moment der Evolution in die Theoriebildung<br />
integrieren.<br />
Wenn Giddens' Diagnose zutrifft, dass wir uns derzeit von einer globalen Entwicklung<br />
herausgefordert sehen, die sich <strong>als</strong> Veränderung der Raum-Zeit-Verhältnisse<br />
beschreiben lässt, so ist zu fragen, welche Konsequenzen dieser Wandel für die Be-<br />
16 Vgl. Waltz, Kenneth N.: Anarchic Orders and Balance of Power. In: Waltz, Kenneth:<br />
Theory of international politics, New York et al. 1979, pp 102–128.<br />
17 So etwa Brühl, Tanja/Debiel, Tobias/Hamm, Brigitte/Hummel, Hartwig/Martens, Jens<br />
(Hg.): Die Privatisierung der Weltpolitik. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im<br />
Globalisierungsprozess, Bonn 2001.<br />
10 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
wertungsmaßstäbe von Demokratie bergen könnte. Bei aller Unterschiedlichkeit<br />
der Governance-Ansätze im Einzelnen ist <strong>als</strong> genereller Trend erkennbar, dass die<br />
Beschränkung staatlicher Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung<br />
durch die Ausbildung von (grenzüberschreitenden) „netzwerkartigen“ Steuerungsstrukturen<br />
aufgefangen werden soll, bei denen anstelle von Befehl (Staat) und<br />
Tausch (Markt) nun Deliberation in Form der beiden Kommunikationsmodi Verhandeln<br />
und Argumentieren ein zentraler Stellenwert zukommt.<br />
Anhand der Analyse deliberativer Politikmodelle, die alternative (das heißt nicht juridische)<br />
Formen der Konfliktregulierung vorstellen, soll die Frage nach der demokratischen<br />
Legitimität neuer Governance-Formen weiter verfolgt werden. Die neuen<br />
Politikverfahren, 18 die auf organisierte Kommunikationsprozesse setzen, lassen sich<br />
beim Regieren diesseits sowie in Ansätzen auch jenseits des Nation<strong>als</strong>taats auffinden<br />
und eignen sich daher für eine Untersuchung von „democratic governance“ auf unterschiedlichen<br />
territorialen Ebenen.<br />
Angesichts der Pluralisierung von Interessenlagen im erweiterten politischen Raum<br />
kommt es nach Münch 19 verstärkt darauf an, „in einem mehrstufigen Selektionsprozess<br />
diejenigen Problemlösungen auszuscheiden, die zuviel Widerstand erzeugen“ und diejenigen<br />
Lösungsangebote weiterzuverfolgen, die vorläufig tragfähig erscheinen. Die<br />
Inklusion einer Vielzahl von Akteuren in deliberative Verfahren insbesondere bei<br />
umstrittenen wissens- und technikbasierten Issues kann legitimationsstiftende Wirkung<br />
entfalten, da die kollektiven Entscheidungen dadurch auf eine breitere soziale<br />
und kognitive Basis gestellt werden. Die Legitimitätsgründe für politische Herrschaft<br />
nach Max Weber (Sitte, Charisma, Satzung) lassen sich demnach um einen vierten<br />
Typus der Rechtfertigung ergänzen: Legitimität kraft Deliberation.<br />
Deliberative Politikmodelle – Perspektiven einer Re-Demokratisierung?<br />
In den neuen politischen Kommunikationsarenen, in denen temporäre problembezogene<br />
Politik-Netzwerke gebildet werden, soll der kollektive Willensbildungsprozess<br />
auf deliberativem Wege („Argumentieren“ und „Verhandeln“) vorangebracht werden.<br />
Je nach Schwerpunktsetzung kann man dabei zwischen Verfahren unterscheiden, die<br />
18 „Neu“ sind die kooperativ ausgerichteten Deliberationsmodelle insofern, <strong>als</strong> sie über<br />
die tradierten Unterscheidungskategorien der klassischen empirischen Partiziaptionsforschung<br />
hinausweisen, die in der dichotomischen Gegenüberstellung von Bürger und<br />
Staat verwurzelt waren – herkömmliche kommunikative Politikmodelle wären demnach<br />
z. B. die öffentliche Anhörung oder der Bürger-Experte. Vergleiche hierzu ausführlicher<br />
Martinsen, Renate: Demokratie und Diskurs. Organisierte Kommunikationsprozesse in<br />
der Wissensgesellschaft. Baden-Baden 2006.<br />
19 Münch, Richard: Politik in der globalisierten Moderne. In: Nassehi, Armin/Schroer, Markus<br />
(Hg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt, Sonderband 14 (2003), S. 123.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
primär auf das Erzielen einer verbindlichen Einigung hin orientiert sind (Mediation)<br />
und solchen, die zuvorderst auf die Förderung von Verständigungsprozessen<br />
ausgerichtet sind (Bürgerkonferenz, Diskursverfahren). Insbesondere im Zuge der<br />
von sozialen Bewegungen hervorgebrachten Forderungen nach einer „Demokratisierung<br />
von Expertise“ kam es zur Entwicklung zahlreicher experimenteller Verfahrensvorschläge<br />
für Bürgerbeteiligung. 20 Im Folgenden sollen die drei wichtigsten<br />
deliberativen Grundtypen kurz charakterisiert sowie anhand von Fallbeispielen, die<br />
exemplarisch auf unterschiedlichen territorialen Ebenen angesiedelt sind, vorgestellt<br />
werden.<br />
(a) Mediation auf lokaler Ebene<br />
Mediation bezeichnet ein kommunikatives Verfahren zur Konfliktvermittlung zwischen<br />
unterschiedlichen Interessengruppen unter Einsatz eines „neutralen Dritten“.<br />
Die Teilnahme der involvierten Akteure („stakeholder“) ist freiwillig, sie verfolgen<br />
in der Regel einen positionsorientierten Verhandlungsstil. Dem unabhängigen<br />
Schlichter obliegt zwar die Gestaltung der Verfahrensregeln, er verfügt indes über<br />
keine schiedsrichterlichen Entscheidungskompetenzen. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen,<br />
um die Kompromissbildung zu erleichtern. Primäre Zielsetzung bei<br />
Verhandlungsverfahren ist die Suche nach einer für alle Beteiligten vor Ort akzeptablen<br />
Form der Konfliktbewältigung – dabei gilt die Ergebnisoffenheit <strong>als</strong> erforderliches<br />
Grundmerkmal. Der Anstoß zur Einleitung eines Mediationsverfahrens erfolgt<br />
überwiegend durch die öffentliche Hand, zumeist <strong>als</strong> Reaktion auf Bürgerproteste.<br />
Ein prominentes Beispiel für den Einsatz eines Mediationsverfahrens auf lokaler/<br />
nationaler Ebene stellt das Beteiligungsverfahren beim Konflikt um den Ausbau des<br />
Frankfurter Flughafens dar. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen in den 1970/80er<br />
Jahren, <strong>als</strong> die Massenproteste der Bürger nur durch den Einsatz massiver staatlicher<br />
Gewaltpotentiale befriedet werden konnten, setzte die Hessische Landesregierung<br />
Ende der 90er Jahre auf Methoden des „sanften Regierens“, bei dem frühzeitig alle<br />
Konfliktparteien in einen dialogischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess<br />
eingebunden werden sollten. Das Frankfurter Verfahren 21 stellt analytisch eine<br />
Governance-Form dar, nämlich ein politisch initiiertes und angeleitetes Verhandlungssystem<br />
auf Zeit, das auf „Outsourcing“ von Politikentwicklung sowie Rationa-<br />
20 Vergleiche zum Variantenreichtum an neuen kommunikativen Formen der politischen<br />
Beteiligung Feindt, Peter Henning: Neue Formen der politischen Beteiligung. In: Ansgar<br />
Klein / Ruud Koopmans / Heiko Geiling (Hg.), Globalisierung, Partizipation, Protest. Opladen<br />
2001, S. 255–274.<br />
21 Vgl. im Folgenden Geis, Anna: Beteiligungsverfahren zwischen Politikberatung und<br />
Konfliktregelung: Die Frankfurter Flughafen-Mediation. In: Peter Henning Feindt/Thomas<br />
Saretzki (Hg.), Umwelt und Technikkonflikte, Wiesbaden 2008 (Manuskript); dies.: Mediationsverfahren<br />
<strong>als</strong> alternative Form der Politikberatung. In: Stephan Bröchler/Rainer<br />
Schützeichel, (Hg.), Politikberatung. Ein Handbuch. Stuttgart 2008, S. 130–146.<br />
12 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
lisierung des Politikprozesses setzt. Ausgangspunkt des Verhandlungsverfahrens war<br />
ein polarisierter Konflikt, bei dem die Befürworter auf die wohlstandsoptimierenden<br />
ökonomischen Potentiale eines Flughafenausbaus verwiesen, während die Gegner<br />
einer Erweiterung die möglichen ökologischen, gesundheitlichen sowie sozialen Risiken<br />
in den Vordergrund stellten. Da Umweltverbände und Bürgerinitiativen in die<br />
Vorbereitung des Verfahrens nicht eingebunden waren, lehnten sie eine Teilnahme<br />
ab. Dennoch konstituierte sich die Mediationsgruppe 1998 auf der Basis massiver<br />
Vorgaben der Hessischen Staatskanzlei in konzeptioneller sowie personaler Hinsicht.<br />
Nach der Konsultation zahlreicher externer Experten erarbeitete eine 20-köpfige<br />
Gruppe, die aus kommunalen Vertretern, Repräsentanten unterschiedlicher Ministerien,<br />
der Flugwirtschaft, der Gewerkschaft unter anderem bestand einen „Mediationspakt“<br />
mit politischen Empfehlungen.<br />
Für die Hessische Landesregierung stellt sich der Kompromissvorschlag, bei dem<br />
alle betroffenen Seiten gravierende Abstriche an ihren Zielvorstellungen vornehmen<br />
mussten, <strong>als</strong> regierungstechnischer Gewinn dar. Der politische Erfolg durch Zivilisierung<br />
des Konfliktaustrags lässt sich insbesondere auf die Kanalisierung <strong>diskurs</strong>iver<br />
Prozesse und die Privilegierung wissenschaftlichen Wissens gegenüber anderen<br />
Wissensarten zurückzuführen. Demgegenüber stellt sich aus Sicht der betroffenen<br />
„stakeholder“ das Ergebnis, das so nicht vorherzusehen war, <strong>als</strong> Niederlage für alle<br />
dar. Kritiker bemängeln, dass die „weiche Steuerung“ via Dialog-Leitidee ernst zu<br />
nehmende Risiken berge, insbesondere die Gefahr der politischen Instrumentalisierung<br />
von Mediation im Rahmen einer symbolischen Politik. Durch „Selbstbindung“<br />
wird das konfrontative Potenzial sozialer Bewegungen geschwächt – da der Verzicht<br />
auf Mobilisierung von Öffentlichkeit neben der Androhung eines gerichtlichen Verfahrens<br />
die stärkste Ressource von Umweltgruppen darstellt, müssen Chancen und<br />
Risiken hier gegeneinander abgewogen werden.<br />
(b) Bürgerkonferenz im Kontext der EU<br />
Die Bürgerkonferenz, welche 2005-2006 unter dem Namen „Meeting of Minds.<br />
European Citizens' Deliberation on Brain Science“ 22 im Rahmen der Europäischen<br />
Union stattfand, stellt ein aufwändiges Pilot-Projekt dar, in dem „das Neuland einer<br />
grenzüberschreitenden europäischen Diskussion“ 23 betreten werden sollte. Der Rekrutierungsmodus<br />
von Bürgerkonferenzen stellt eine Kombination von erklärter Selbstauswahl<br />
und Fremdauswahl dar – letztere soll eine repräsentative Zusammensetzung<br />
der Gruppe „unabhängiger“ BürgerInnen im Hinblick auf soziodemographische<br />
Kriterien (wie Geschlecht, Alter, Schulbildung, Demographie) gewährleisten. Im<br />
22 Vgl. Europäische Bürgerkonferenz: Meeting of Minds. Brüssel/Belgien 2006.<br />
23 Nationaler Bürgerbericht: Meeting of Minds. Nationaler Bürgerbericht aus Deutschland<br />
(27.11.2005). Dresden 2005, S. 12.<br />
Dis | kurs 13
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Unterschied zum Mediationsverfahren sind hier gesellschaftliche „stakeholders“ von<br />
vornherein ausgeschlossen. Die ehrenamtlich tätigen Laien informieren sich über<br />
das betreffende Thema zum Teil auf der Basis von einschlägiger Literatur sowie insbesondere<br />
durch die Einladung und Befragung von Experten, die formal gesehen<br />
nur Beraterstatus haben. Ziel ist die Erarbeitung eines – wenn möglich konsensualen<br />
– Schlussberichts (ggf. Ausweis eines begründeten Dissenses), der ein möglichst<br />
großes Publikum erreichen soll, das heißt anders <strong>als</strong> beim Mediationsverfahren wird<br />
hier auf das Öffentlichkeitsprinzip gesetzt.<br />
Die erste europäische Bürgerkonferenz befasste sich mit dem Thema „Hirnforschung“.<br />
An diesen Forschungszweig wird einerseits die Erwartung geknüpft, dass<br />
sie zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Hirnstörungen<br />
(zum Beispiel Alzheimer) beitragen könne; andererseits besteht die Befürchtung,<br />
dass die Entwicklung von Technologien, die regulierend in Hirntätigkeiten<br />
eingreifen, unabsehbare Folgen für unsere Identität beinhalten könnte. Auf diesem<br />
Hintergrund lässt sich konstatieren, dass die Hirnforschung neue ethische, rechtliche<br />
und soziale Fragen aufwirft, die alle BürgerInnen betreffen. Die aufgrund des<br />
durchlaufenen Lernprozesses „wohl informierten Bürger“ 24 von (EU-)Bürgerkonferenzen<br />
sollen ein neues Element in den zumeist von Experten und Interessengruppen<br />
dominierten technologiepolitischen Beratungsprozess einbringen und Debatten<br />
in der politischen Öffentlichkeit anstoßen. Neu entwickelten Dialog-Verfahren („Karussells“,<br />
„Europäische Cafés“) sollten gewährleisten, dass der Empfehlungstext zu<br />
sechs ausgewählten Themenkomplexen der Hirnforschung, der am 23. Januar 2005<br />
im Europäischen Parlament vorgestellt wurde, <strong>als</strong> gemeinsam verfasster Bericht aller<br />
TeilnehmerInnen gelten kann. Kritische Stimmen 25 verweisen auf eine Reihe von<br />
Schwächen dieses neuen Politikinstruments: insbesondere die unklare Funktionsbestimmung,<br />
das problematische Verhältnis von Aufwand und Ertrag, das geringe<br />
Interesse der Funktionssysteme Politik und Medien an solchen „Alternativen“, die<br />
ein implizites Eingeständnis ihres eigenen Versagens beinhalten würden. Aus der<br />
Sicht der Kritiker ist Meeting of Minds zuvorderst <strong>als</strong> Beitrag zu einem Stück symbolischer<br />
Politik zu betrachten. In den Stellungnahmen von Beteiligten bzw. Mitgliedern<br />
des wissenschaftlichen Beirats von Meeting of Minds sowie von Beobachtern<br />
wird hingegen der Beitrag hervorgehoben, den das Bürgerbeteiligungsverfahren zur<br />
24 Hennen, Leonhard/Petermann, Thomas/Scherz, Constanze: Partizipative Verfahren<br />
der Technikfolgenabschätzung und parlamentarische Politikberatung. Neue Formen der<br />
Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. TAB-Arbeitsbericht Nr. 96.<br />
Berlin 2004, S. 49.<br />
25 Vgl. etwa Gärtner, Barbara: Das Gehirn ist nur ein Platzhalter. Die Bürgerkonferenz<br />
„Meeting of Minds“. In: polar – Halbjahresmagazin für politische Philosophie und Kultur,<br />
Ausgabe 1 (2006), S. 12–17.<br />
14 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
Belebung der europäischen Demokratie leisten könne 26 – ein Reporter bezeichnete<br />
die Europäische Bürgerkonferenz gar <strong>als</strong> „großes Demokratielabor“. Es könne <strong>als</strong><br />
sinnvolle Ergänzung zum System der repräsentativen Demokratie fungieren und so<br />
bestimmte Defizite moderner Massendemokratien kompensieren helfen – indes nur<br />
unter der Voraussetzung, dass sich Bürgerkonferenzen <strong>als</strong> Teil der politischen Kultur<br />
etablieren lassen.<br />
(c) Diskursverfahren im globalen Raum<br />
Im Unterschied zu den Bürgerkonferenzen werden im Diskursverfahren „stakeholder“<br />
(Betroffene und Interessengruppen) einbezogen, die – trotz ihrer Interessengebundenheit<br />
– auf eine Gemeinwohlperspektive verpflichtet werden sollen (dies unterscheidet<br />
sie wiederum von Mediationsverfahren mit ihrer positionsorientierten<br />
Ausrichtung). Zentraler Anspruch von Diskursverfahren ist es, in einem rationalitätsgestützten<br />
(das heißt auf Argumentation und Begründung fokussierten) Diskursprozess<br />
unter gleichberechtigten Anwesenden unterschiedliche Problemwahrnehmungen<br />
und -lösungen miteinander zu vermitteln. Die <strong>diskurs</strong>iven Prozesse in der<br />
face-to-face-Kommunikation werden kanalisiert durch methodische Gesprächsregeln,<br />
wie zum Beispiel die Trennung von Fakten und Werten, die Verpflichtung auf<br />
allseits anerkannten Begründungen, die Ordnung der Werte in einer Zielhierarchie<br />
sowie die Suche nach einem Konsens. Mittlerweile existieren auch Ansätze zu Diskursverfahren<br />
auf globaler Ebene. Im Unterschied zu den quasi anarchisch ablaufenden<br />
Meinungsäußerungen in der öffentlichen Arena (für die der Typ „Weltkonferenz“<br />
einschlägig wäre), werden Diskursverfahren durch ein spezielles „Framing“<br />
strukturiert, das einem politischen Verlautbarungsstil entgegenwirken soll.<br />
So wurde etwa von Oktober 2001 bis Februar 2002 auf Initiative des World Business<br />
Council for Sustainable Development (WBCSD 2003) ein „Stakeholder Dialogue<br />
Process“ zur Thematik „Intellectual Property Rights in Biotechnology and Health<br />
Care“ initiiert, das von einer Gruppe von Sozialwissenschaftlern am WZB (Wissenschaftszentrum<br />
Berlin) organisiert und moderiert wurde. Die Teilnehmer am Diskursverfahren<br />
setzten sich aus folgenden Gruppen zusammen: Vertreter von Pharmafirmen,<br />
transnational operierende Non-Governemental Organizations (NGOs),<br />
unabhängige Patentrechtsexperten sowie Vertreter von Regulierungsinstanzen. 27<br />
26 Vgl. Deutsches Hygiene-Museum Dresden: Newsletter „Europäische Bürgerkonferenz<br />
zur Hirnforschung“ (März 2006).<br />
27 Vgl. im folgenden Daele van den, Wolfgang / Döbert, Rainer: Imaginierte Gemeinschaften.<br />
Forderungen und Mechanismen transnationaler Solidarität beim Zugang zu<br />
patentgeschützten Medikamenten. In: Gosewinkel, Dieter/Rucht, Dieter/van den Daele,<br />
Wolfgang/Kocka, Jürgen (Hrsg.), Zivilgesellschaft – national und transnational. Berlin<br />
2003, S. 309–335; dies.: Globale Solidarität und die Rechte des geistigen Eigentums, in:<br />
Jens Beckert / Julia Eckert / Martin Kohli / Wolfgang Streeck (Hg.), Transnationale Solidarität.<br />
Chancen und Grenzen, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 148–162.<br />
Dis | kurs 15
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Hintergrund des globalen Diskursverfahrens bildeten Probleme eines sich entwickelnden<br />
internationalen Regimes im Bereich der Patentvergabe: Die Globalisierung<br />
der Rechte des geistigen Eigentums, wie sie im „Agreement on Trade-related<br />
Aspects of Intellectual Property Rights“ (TRIPS-Abkommen) von 1995 verkörpert<br />
sind, führte zu massiven Konflikten. Das Ausgangsproblem bestand im Streit über<br />
Patentoptionen und dem Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten – denn in<br />
Bezug auf die Verfügbarkeit wichtiger Medikamente lassen sich weltweit eklatante<br />
Ungleichverteilungen feststellen. Weltweiter Protest von NGOs richtete sich insbesondere<br />
gegen die Weigerung von Pharmafirmen, die Vergabe von Zwangslizenzen<br />
für die Produktion von kostengünstigen Generika gegen Aids zu tolerieren. Die kritisch<br />
gestimmten Gruppen im Diskursverfahren beriefen sich auf – im internationalen<br />
Recht codierte – soziale Menschenrechte (insbesondere das universelle Recht<br />
auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit) und suchten Unterstützung bei den<br />
Massenmedien. Die ambitionierten moralischen Forderungen der Kritiker erfuhren<br />
indes im Diskursverfahren eine Relativierung: zum einen wurde die bestehende nationale<br />
und internationale Rechtslage <strong>als</strong> Ausgangsbasis genommen, um an Firmen<br />
gerichtete Umverteilungsforderungen zurückzuweisen: Soziale Leistungsansprüche<br />
können demnach in juridischer Hinsicht nur an Staaten adressiert werden, die neben<br />
dem Gewaltmonopol auch über die Möglichkeit der Steuererhebung verfügen. Zum<br />
anderen galt der funktionale Imperativ des ökonomischen Systems (Orientierung<br />
am Profit) <strong>als</strong> weitere Grenze der Moralisierung. Ausgehend von diesen Setzungen<br />
sollten auch die (durch ihr Interesse an einer Imageverbesserung motivierten) Unternehmensvertreter<br />
Zugeständnisse machen. Die Ausbalancierung der moralischen<br />
mit den wirtschaftlichen Zielvorstellungen führte zu folgenden konkreten Empfehlungen:<br />
Ermächtigung von Staaten zur Erteilung von Zwangslizenzen in Notlagen<br />
und Errichtung eines globalen Systems der differentiellen Preisgestaltung. Allerdings<br />
sind die inhaltlichen Ergebnisse des Diskursverfahrens rechtlich unverbindlich. Um<br />
eine Wirksamkeit des <strong>diskurs</strong>iven Politikstils zu gewährleisten ist deshalb eine Rückbindung<br />
an internationale Verhandlungssysteme erforderlich – diese scheint im vorliegenden<br />
Fall durch die Verankerung im institutionellen Gefüge der UN zumindest<br />
ansatzweise gegeben zu sein.<br />
Transformation demokratischer Legitimationsprozesse in einer<br />
sich globalisierenden Welt<br />
Von einer zwingenden Verbindung zwischen einem Mehr an Deliberation und einem<br />
Mehr an demokratischer Legitimation kann zunächst nicht ausgegangen werden.<br />
Die Kritik, es handle sich bei Diskurs- und Mediationsverfahren nur um „symbolische<br />
Politik“ auf der einen Seite sowie der Vorwurf, durch diese deliberativen<br />
Politikformen würden quasi „Privatregierungen“ ohne demokratisches Mandat ins-<br />
16 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
talliert, verweisen auf das Dilemma der sog. „Runden Tische“ zwischen mangelnder<br />
und illegitimer Verbindlichkeit. Desgleichen ist ein Zuwachs an deliberativer Politik<br />
nicht automatisch <strong>als</strong> Governanceerfolg zu verbuchen. Wiesenthal warnte seinerzeit<br />
in einem viel beachteten Beitrag 28 davor, dass das bloße Einbringen einer zusätzlichen<br />
Menge von unkoordinierten Anspruchskriterien, wie sie in partizipationsorientierten<br />
Sozialverträglichkeitskonzepten en vogue waren, das typische Niveau sozialer<br />
Komplexität moderner Gesellschaften verfehle – es drohe dadurch die Lähmung<br />
der politischen Handlungsfähigkeit. Ohne institutionelle Innovationen für einen<br />
balancierenden Umgang mit pluralen Rationalitäten führe die erhöhte Präsenz von<br />
Akteuren in Meinungsbildungs- und Entscheidungsverfahren nur zur gesteigerten<br />
Frustration der Beteiligten. Entscheidend in der Governancedimension wäre somit<br />
die Frage, ob es gelingt reflexive institutionelle Designs zu kreieren und erfolgreich<br />
einzusetzen. Dem durch die Verfahrensregeln bestimmten Framing von Deliberationen<br />
kommt so die Aufgabe einer Bündelung und Transformation der pluralen<br />
konfliktiven Forderungen zu.<br />
Üblicherweise wird Deliberation im deutschsprachigen Raum mit der deliberativen<br />
Demokratietheorie von Jürgen Habermas in Verbindung gebracht – hierbei geht es<br />
darum, durch bestimmte Verfahren („herrschaftsfreier Diskurs“) substantielle Konsense<br />
der TeilnehmerInnen zu erzielen. 29 Gegenüber dieser restriktiven Begriffsstrategie<br />
ist auf die theorietechnischen Gewinne zu verweisen, wenn man den Deliberationsbegriff<br />
konstruktivistisch konzeptualisiert – dann geht es Deliberationsforen aus<br />
der Beobachterperspektive nurmehr darum, Konsensfiktionen zu erzielen, durch die<br />
sich die TeilnehmerInnen an den Runden Tischen nur vorläufig und unter Widerrufsvorbehalt<br />
binden. Konsensfiktionen sind erforderlich, damit die Kommunikationsprozesse<br />
in den partizipatorischen Foren nicht „leer laufen“ und anschlussfähige<br />
Wahrnehmungs- und Lösungsperspektiven generiert werden können. 30<br />
Bereits die ausgewählten Fallbeispiele verdeutlichen, dass eine Beurteilung von „Democratic<br />
Governance“ nicht pauschal erfolgen kann, sondern im Hinblick auf Deliberationstypus<br />
und konkretem Framing des Verfahrens differenziert werden muss.<br />
Im Falle der Frankfurter Flughafen-Mediation liegt ein Beteiligungsverfahren vor,<br />
das relativ nahe am Modell Governance by Government angesiedelt werden kann,<br />
da es sich um ein politisch gesteuertes Verhandlungssystem aus staatlichen und gesellschaftlichen<br />
Akteuren handelt. Die Hessische Staatskanzlei, von der die Initiative<br />
zum Mediationsverfahren ausging, traf bereits im Vorhof des Verfahrens entschei-<br />
28 Vgl. Wiesenthal, Helmut: Ist Sozialverträglichkeit gleich Betroffenenpartizipation?<br />
In: Soziale Welt, Jg. 41., H. 1 (1990), S. 28–46.<br />
29 Vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1992.<br />
30 Vgl. hierzu Martinsen, Renate: Demokratie und Diskurs, S. 84.<br />
Dis | kurs 17
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
dende Weichenstellungen (Konzeption, Zusammensetzung, Fragestellung, Auswahl<br />
der Mehrzahl der Mediatoren). Erst innerhalb eines politisch vorstrukturierten<br />
Rahmens konnte sich die soziale Dynamik des Partizipationsverfahrens entwickeln.<br />
Ausschließlich wissenschaftlich anschlussfähige Begründungen, die mit dem vorgegebenen<br />
Framing kompatibel sind, fallen somit nicht durch das <strong>diskurs</strong>ive Raster<br />
der Anerkennung – affektive Meinungsäußerungen und diffuser Einspruch hingegen<br />
werden zuverlässig ausgefiltert. 31 Die dadurch erzielte rationale Einhegung des<br />
Konflikts kann politisch <strong>als</strong> Erfolg gewertet werden. Dass der Konflikt insbesondere<br />
in der Wertedimension (Ökonomie versus Ökologie) auf Seiten der Umweltgruppen<br />
weiterschwelt, steht dem nicht entgegen. 32 Denn Konfliktabsorption durch die<br />
Öffnung des Verfahrens erfolgt auch dann, wenn einige unzufrieden zurückbleiben.<br />
Denn der Einbezug einer Vielzahl von sachlich und sozial repräsentativen Akteuren<br />
verleiht dem Verhandlungsergebnis in den Augen Dritter eine gewisse Legitimität –<br />
und delegitimiert gleichzeitig einen möglicherweise fortgesetzten Protest.<br />
Anders <strong>als</strong> beim Frankfurter Mediationsverfahren, bei dem es um einen manifesten<br />
Konflikt zwischen unterschiedlichen Interessengruppen vor dem Hintergrund eines<br />
konkreten kommunalen Planungsvorhabens ging, lag bei der EU-Bürgerkonferenz<br />
zur Hirnforschung ein anderer Konflikttyp zugrunde: hier handelte es sich um die<br />
partizipative Klärung von Zukunftsfragen durch beteiligungswillige, repräsentativ<br />
ausgewählte BürgerInnen aus unterschiedlichen EU-Ländern, die keine Partikularinteressen<br />
verfolgten. Die Idee dürfte hier darin gelegen haben, eine „aufgeklärte öffentliche<br />
Meinung im Kleinen“ 33 zu simulieren und damit eine Debatte in der politischen<br />
Öffentlichkeit anzustoßen. In den Dokumentationsbroschüren zum Verfahren wird<br />
immer wieder die Demokratisierungsfunktion von „Meeting of Minds“ betont – auf<br />
dem Hintergrund der Debatte, ob die Europäische Union überhaupt „demokratiefähig“<br />
sei, das heißt die Voraussetzungen für die Bildung einer kollektiven Identität<br />
mitbringe, wäre das Zusammentreffen von BürgerInnen bei der europäischen Bürgerkonferenz<br />
<strong>als</strong> Keimzelle eines solchen mentalen Demokratisierungsprojekts jenseits<br />
nation<strong>als</strong>taatlicher Sphären interpretierbar. Angesichts der geringen Medienresonanz<br />
dürften indes die Legitimationseffekte für die Europäische Kommission (die<br />
<strong>als</strong> Projektförderer fungierte) im konkreten Fall eher bescheiden ausfallen. Da bei<br />
diesem Deliberationstyp ausschließlich Bürger-Experten miteinander diskutieren,<br />
31 Vgl. zu diesem Aspekt von Deliberationsverfahren kritisch Martinsen, Renate: Ethikpolitik<br />
<strong>als</strong> mentale Steuerung der Technik – Zur Kultivierung des Gewissens im Diskurs. In:<br />
Simonis, Georg / Martinsen, Renate / Saretzki, Thomas (Hg.), Politik und Technik, PVS-<br />
Sonderheft (2001), S. 499–525.<br />
32 Vgl. Geis, Anna: Beteiligungsverfahren zwischen Politikberatung und Konfliktregelung.<br />
33 Hennen, Leonhard/Petermann, Thomas/Scherz, Constanze: Partizipative Verfahren,<br />
S. 48–19.<br />
18 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
handelt es sich hierbei um einen Fall von Governance without Government. Die Regelsetzung<br />
durch nicht-staatlichen Akteure, die im Abschlussdokument mit Empfehlungscharakter<br />
ihren Niederschlag gefunden hat, ist allerdings entscheidungsfern<br />
angesiedelt. Zwar wurden die Deliberationsergebnisse vor dem Europäischen Parlament<br />
präsentiert – doch ist eine (zumindest schwache) Verbindlichkeit des Bürgervotums<br />
nicht vorgesehen. Im Unterschied zum geschilderten Mediationsverfahren,<br />
dessen Zusammensetzung sich funktional im Hinblick auf einen möglichen Beitrag<br />
der Beteiligten zur friedlichen Konfliktbeilegung bestimmte, orientierte sich die<br />
Auswahl beim EU-Bürgerbeteiligungsverfahren an Kriterien territorialer und sozialer<br />
Repräsentativität. Beide Verfahren sind indes weniger <strong>als</strong> Alternative denn <strong>als</strong><br />
Ergänzung zu konstitutionell orientierten Demokratiemodellen konzipiert.<br />
Das globale Diskursverfahren zur Patentfrage unterscheidet sich insofern von den<br />
beiden bisher diskutierten deliberativen Politikmodellen <strong>als</strong> hier ein erweiterter politischer<br />
Raum in Erscheinung tritt, bei dem die Spielregeln der nationalen Demokratie<br />
nicht gelten und auch die zumindest indirekte Legitimitätsgrundlage durch die<br />
intergouvernementalen Elemente des Politikmodus in der EU nicht gegeben sind.<br />
Im überwiegend anarchisch strukturierten globalen Raum scheint die Bestückung<br />
der Runden Tische im Hinblick auf funktionale beziehungsweise sektorale Repräsentativität<br />
und die Selbstverpflichtung der Beteiligten auf anerkannte Standards des<br />
Verhaltens, wie im globalen Diskursverfahren exemplarisch vorgestellt, einen ansatzweise<br />
legitimationsträchtigen Ausweg aufzuzeigen. Aber woher soll die Legitimität<br />
der Normensetzung kommen, wenn die Vorstellung einer fiktiven Volkssouveränität<br />
im transnationalen politischen Raum nicht greift? Offensichtlich geht es insbesondere<br />
darum, dass das Ergebnis in den Augen Dritter (des Publikums) Legitimität<br />
gewinnt. Die Diskursteilnehmer sind dadurch auch nach dem Verlassen der Diskursarena<br />
möglicherweise einer „Logik normativer Verstrickung“ 34 ausgesetzt, das heißt<br />
sie geraten aus Reputationsgründen in Zugzwang, ihre öffentlich gemachten Zusagen<br />
zumindest nicht gänzlich zu missachten. Demnach wäre das Demokratie-Kriterium<br />
primär nicht durch die Orientierung am Gemeinwohl zu ermitteln, sondern an der<br />
Anzahl von checks and balances zu bemessen, die ein Vorschlag durchläuft, bis er<br />
(mehr oder weniger) kollektiv verbindlich wird. Rubrizieren lässt sich diese Deliberationsveranstaltung<br />
<strong>als</strong> zivilgesellschaftliches Forum, bei dem gesellschaftlich organisierte<br />
Interessen im Vorfeld internationaler Organisationen miteinander kommunizieren<br />
– durch diese institutionelle Verankerung nähert sie sich einem Typ des<br />
Regierens durch private und öffentliche Akteure (Governance with Government) an.<br />
Die vorgestellten Fallbeispiele auf unterschiedlichen territorialen Ebenen können<br />
34 Vgl. Brock, Lothar: Trends und Interdependenzen in der Weltgesellschaft. In: Globale<br />
Trends 2002. Stiftung Entwicklung und Frieden. Frankfurt a. M. 2001, S. 390–393.<br />
Dis | kurs 19
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
allenfalls exemplarisch Einblick in mögliche demokratische Gefährdungen und Potenziale<br />
der kommunikativen Politikformen gewähren. Wandel der Staatlichkeit in<br />
globalisierten Arenen hat evidenterweise Folgen für die Konzeptualisierung des Demokratiebegriffs.<br />
Er wird in diesem argumentativen Kontext überwiegend funktional<br />
bestimmt, das heißt <strong>als</strong> möglicher Beitrag zu (Global) Governance. Demokratie erscheint<br />
<strong>als</strong> politische Herrschaftsform, die am ehesten geeignet scheint, das Problem<br />
sozialer Komplexität zu meistern, indem sie die Zukunft offen hält für neue Entscheidungen<br />
bei andersartigen Problemlagen. 35 Der Bedarf an funktionalen Äquivalenten<br />
zu klassisch repräsentativen Formen der Demokratie steigt unter den Bedingungen<br />
der Globalisierung – deliberative Politikformen stellen hierbei eine mögliche Option<br />
vor. Dabei bleibt es künftigen Forschungen vorbehalten, erforderliche Merkmale<br />
und notwendige Randbedingungen von organisierten Kommunikationsprozessen zu<br />
klassifizieren, welche geeignet erscheinen die unterschiedlichen Deliberationstypen<br />
auf den jeweiligen territorialen Ebenen <strong>als</strong> legitimitätsstiftende Elemente von (Global)<br />
Governance zu entwickeln. Wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit von modernen<br />
Demokratien unhintergehbar auf sich selbst zurückgeworfen ist, dann wird die<br />
Operationalisierung von Wertbegriffen notwendig zu einer Funktion sozialer Verständigung.<br />
Die dritte demokratische Transformation ergänzt die verfassungsstaatlich<br />
verankerte liberal-repräsentative Demokratie durch Formen einer kommunikativen<br />
Demokratie 36 , die sich <strong>als</strong> dynamische Kooperation im Netzwerk institutionalisiert<br />
und auf die Prinzipien der Horizontalisierung und Sektoralisierung fokussiert.<br />
Buchstein/Jörke üben Kritik an der gegenwärtigen Bedeutungsverschiebung des hegemonialen<br />
Demokratieverständnisses: betont werde nicht mehr Partizipation, sondern<br />
Rationalität. 37 Tatsächlich erscheint Demokratie im Kontext des Governanceparadigmas<br />
insbesondere <strong>als</strong> erforderliche Voraussetzung für das Funktionieren von<br />
Governance, somit <strong>als</strong> Rationalitätsgebot des kooperativen Staates. Allerdings verweisen<br />
die Autoren auch darauf, dass ihre Betonung der Versprechensdimension des<br />
Demokratiebegriffs (Identität von Autor und Adressat von Gesetzen) eine Ergänzung<br />
zum vorherrschenden institutionalistischen Demokratieverständnis darstelle. Das<br />
damit insinuierte Festhalten an direktdemokratischen Elementen von Demokratie<br />
wäre dann nicht auf alle demokratischen Formationen beziehbar, sondern auf einige,<br />
insbesondere solche in territorial kleinräumigen Kontexten.<br />
35 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Hg. v. André Kieserling, Frankfurt<br />
a. M. 2000, S. 301.<br />
36 Der Terminus „Kommunikative Demokratie“ ist im Unterschied zum Begriff „Deliberative<br />
Demokratie“ nicht belastet durch die Konnotation mit der emphatischen Deliberationstheorie<br />
von Jürgen Habermas.<br />
37 Vgl. Buchstein, Hubertus / Jörke, Dirk: Das Unbehagen an der Demokratietheorie. In:<br />
Leviathan, Jg. 31, H. 4 (2003), S. 470–495.<br />
20 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
Auch die vorgestellten kommunikativen Formen von Demokratie signalisieren nicht<br />
eine demokratische Wachablösung, sondern experimentieren mit neuen Demokratie-Bausteinen,<br />
die Lösungsperspektiven andeuten könnten für Probleme demokratischer<br />
Legitimation im Zeitalter der Entgrenzung des Staates nach innen und außen.<br />
Die semantische Verschiebung des Demokratiebegriffs in der Gegenwart läge<br />
dann letztlich darin, dass in einigen Herrschaftsdimensionen das Verfahren38 zur<br />
alleinigen Quelle der Legitimität wird: „Demokratie ist hier nicht die Herrschaft eines<br />
imaginären Volkes oder die Herrschaft seiner Repräsentanten oder die Verwirklichung<br />
des Allgemeinwillens durch repräsentative Organe, sondern ein endloses Verfahren, bei<br />
dem es darauf ankommt, dass der Ball im Spiel bleibt und niemand so aus dem Spiel geworfen<br />
wird, dass er die Lust am Weiterspielen verliert und womöglich zu einer Gefahr<br />
für die Fortführung des Spiels wird.“ 39<br />
All dies deutet darauf hin, dass auch der Demokratiebegriff auszudifferenzieren ist –<br />
die Diskussion möglicher demokratischer Gefährdungen wäre dann zu beziehen auf<br />
das Leitbild einer komplexen Demokratiearchitektur in Form eines perpetuum mobile,<br />
bei dem es darum geht, dass sich unterschiedliche Demokratieakzentuierungen<br />
gegenseitig in Bewegung halten.<br />
Literatur (Auswahl)<br />
Fuchs, Dieter: Modelle der Demokratie. Partizipatorische, liberale und elektronische Demokratie.<br />
In: Kaiser, André / Zittel, Thomas (Hg.), Demokratietheorie und Demokratieentwicklung.<br />
Wiesbaden 2004, S. 19–53.<br />
Giddens, Antonoy: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt<br />
a. M. 1997.<br />
Guggenberger, Bernd: Artikel „Demokratie/Demokratietheorie“. In: Dieter Nohlen (Hg.),<br />
Wörterbuch Staat und Politik, München/Zürich: 1996, S. 80–90.<br />
Jörke, Dirk: Auf dem Weg zur Postdemokratie, in: Leviathan, Jg. 33, H. 4 (2005), S. 482–491.<br />
Martinsen, Renate: Demokratie und Diskurs. Organisierte Kommunikationsprozesse in der<br />
Wissensgesellschaft. Baden-Baden 2006.<br />
Münch, Richard: Politik in der globalisierten Moderne. In: Nassehi, Armin/Schroer, Markus<br />
(Hg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt, Sonderband 14 (2003), S. 117–133.<br />
Wiesenthal, Helmut: Globalisierung. Soziologische und politikwissenschaftliche Koordinaten<br />
im neuartigen Terrain. In: Brunkhorst, Hauke/Kettner, Matthias (Hg.), Globalisierung und<br />
Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien, Frankfurt a. M. 2000, S. 21–52.<br />
38 Die herausgehobene Relevanz des Verfahrensaspektes per se <strong>als</strong> Legitimationsquelle<br />
ist bei den Diskussionen zum Regieren jenseits des Nation<strong>als</strong>taates besonders evident.<br />
Dieser Gesichtspunkt spielt indes auch beim Regieren diesseits der nation<strong>als</strong>taatlichen<br />
Grenzen eine zunehmende Rolle insofern man die Horizontalisierungstendenz im<br />
Politischen („kooperativer Staat“) in Rechnung stellt. Allerdings fungieren deliberative<br />
Verfahren hier <strong>als</strong> Ergänzung zu anderen legitimitätsstiftenden Kriterien (Repräsentation,<br />
Partizipation) in demokratischen Herrschaftssystemen.<br />
39 Münch, Richard: Politik in der globalisierten Moderne, S. 126.<br />
Dis | kurs 21
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Politische Theorie<br />
Voting Rights for the Homeless<br />
Wesley Nishiyama<br />
State University of New York at Albany<br />
E-Mail: wn8492@albany.edu<br />
Keywords<br />
Democracy, Homeless People, Civil Rights, Elections, Discrimination<br />
In 1984, two buses transported about a hundred of Orange County's homeless to the<br />
Federal Court (S.D.N.Y.). They were to face a judge, not to be accused of breaking<br />
the law, but instead, they were to charge Orange County of breaking the law. They<br />
accused the county of denying them the right to vote in a federal election, a right that<br />
is guaranteed to all citizens of the United States, eighteen years of age or older and without<br />
a criminal record. They argued that the right to vote should not be contingent<br />
on a residency status. That is, the right to own property entails the right not to own<br />
property; and anyone, who exercises this right, should not be penalized with disenfranchisement.<br />
They won their case and set a precedent, Pitts v. Black (1984).<br />
Despite the victory for the homeless, much needs to be done. Pitts v. Black only requires<br />
that states take a loose interpretation of what constitutes residency; it does<br />
not prohibit a residency requirement. Today, forty states require a mailing address<br />
to register to vote. Thirty-seven states have yet to enact a statue establishing voting<br />
rights for the homeless. 1 Why has change been so slow, if at all? The simple answer<br />
is that very few people care about securing this right for the homeless. The people<br />
1 Y.D.N.H.V. Voting Manuel 2008.<br />
22 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
do not care – probably because they are unaware of this infringement; possibly the<br />
homeless do not care – they have other concerns; and the politicians do not care.<br />
Why do the politicians not care? In this essay, I will: first, consider how the structure<br />
of the electoral system can offer one explanation to why politicians do not consider<br />
the apparent disenfranchisement of the homeless; second, I will suggest who is in<br />
the position to help the homeless gain enfranchisement; and finally, I will examine<br />
proper representation, self-gerrymandering, and possible solutions.<br />
I. Institutional Causes of the Disenfranchisement of the<br />
Homeless<br />
In America, political action stems from four interrelated sources: political parties,<br />
politicians, interests groups, and public opinion. Let us consider why national legislators,<br />
particularly those from the House of Representatives, have been fairly inattentive<br />
to the disenfranchisement of the homeless. One explanation is that representatives<br />
in attempts to be reelected every two years focus on the concerns of their constituency.<br />
Since the constituency is determined by residency, the homeless (in most states)<br />
cannot be a constituent of any district. This leads to the dilemma of the homeless: the<br />
homeless do not have constituent status because no politician would champion their<br />
cause, and no politician would champion their cause because the homeless are not<br />
legally a part of their constituency. 2 Not only are the homeless not represented, but<br />
<strong>als</strong>o all constituents (homeless or otherwise) are not equally represented. The degree<br />
to which a representative listens to a constituent depends on, first, the number of<br />
like-minded constituents in a particular group and second, the expected intensity<br />
that each would participate in the next election – voting, contributing funds, campaigning,<br />
etc. The research of Richard Fenno 3 supports this claim. He argues that<br />
members of the House engage in a permanent campaign and continuously try to please<br />
those who would most affect their campaigns. Fenno divides a constituency into<br />
four groups, each receiving different degrees of representation (listed here from most<br />
represented to least represented). The personal constituency comprises of personal<br />
friends and family members. The next group is the primary constituency, which includes<br />
those who would not only vote for the incumbent, but would personally assist<br />
in the election (i.e., endorsing the candidate and assisting in fundraising). These<br />
first two groups are overrepresented. The third group is the re-elective constituency<br />
(those who are likely to vote for the incumbent), and finally, the fourth group is the<br />
geographic constituency (those who can vote). One can amend Fenno's model and<br />
2 Here I am not assuming the homeless are explicitly or implicitly demanding the right<br />
to vote, however, these demand may be hypothetical. If we were to ask them would you<br />
want the right to vote, they would probably say yes.<br />
3 Fenno, Richard F.: Home Style: House Members in Their Districts. Boston 1978.<br />
Dis | kurs 23
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
add a fifth constituency where the members are invisible to the representatives; this<br />
constituency consists of the homeless. Fenno does not discuss the homeless, however,<br />
we can easily apply his theory to the homeless. The homeless are at a loss; first,<br />
their numbers in any one district probably do not constitute a large percentage of<br />
citizens in that district; certainly such percentage will vary from district to district.<br />
We must note, the dearth of close elections entails only a group, which constitutes<br />
a significant percentage of the electorate will warrant the attention of candidates 4<br />
especially in elections where there is an incumbent. Second, it is unlikely, granted<br />
the opportunity, the homeless would vote. 5 Much research has found that those of<br />
a lower social-economic status vote less frequently. 6 Furthermore, the magnitude of<br />
the difference in this relationship appears to be increasing since the 1960's. 7 Assuming<br />
that the homeless are of a lower social-economic status, we can conclude that<br />
the homeless (given the right to vote) are less likely to vote than those who are not<br />
homeless. Mitchell and Wlezien 8 find that unemployment (let alone homelessness)<br />
reduces both the likelihood of registering (a coefficient of -0.235 (0.106)) and voting<br />
(a coefficient of -0.262 (0.105)). 9<br />
II. Who Can Help Enfranchise the Homeless?<br />
Parties<br />
Seemingly, representatives have little incentives to spend effort and time drafting a<br />
bill prohibiting states from having registration restrictions that encumber the home-<br />
4 Citrin, Jack, Eric Schickler, and John Sides: What if Everyone Voted? Simulating the<br />
Impact of Increased Turnout in Senate Elections. In: American Journal of Political Science<br />
47.1 (2003). pp. 75–90.<br />
5 Many states including New York and California allow the homeless to vote using a homeless<br />
shelter as their address.<br />
6 Wolfinger, Raymond E., and Stephan J. Rosenstone: Who Votes? New Haven 1980;<br />
Cassel, Carol A., and David B. Hill: Explanations of Turnout Decline: A Multivariate Test.<br />
In: American Politics Quarterly 9 (1981). pp. 191–95; Conway, M. Margaret: Political<br />
Participation in Midterm Congressional Elections: Attitudinal and Social Characteristics<br />
during the 1970's. In: American Politics Quarterly 9 (1981). pp. 221–44; Teixeira, Ruy A.:<br />
Why Americans Don't Vote: Turnout Decline in the United States, 1960–1984. New York<br />
1987.; Leighley, Jan E., and Johnathan Nagler: Individual and Systematic Influences on<br />
Turnout: Who Votes? 1984. In: Journal of Politics 54 (1992). pp. 718–40.<br />
7 Burnham, Walter Dean: The Current Crisis in American Politics. New York: 1982; Bennett,<br />
Stephen E.: Left Behind: Exploring Declining Turnout among Noncollege Young<br />
Whites, 1964–188. In: Social Science Quarterly 72 (1991). pp. 314–33; Reiter, Howard<br />
L.: Why Is Turnout Down? In: Public Opinion Quarterly 43 (1979). pp. 297–311.<br />
8 Mitchell, Glenn E., and Christopher Wlezien: The Impact of Legal Constraints on Voter<br />
Registration, Turnout, and the Composition of the American Electorate. In: Political Behavior<br />
1.2 (1995). pp. 179–202.<br />
9 Regarding the elections of 1972, 1978, 1980, and 1982.<br />
24 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
less from voting. Thus, the task of fully enfranchising the homeless might rests on<br />
political parties. The party leadership must set the go<strong>als</strong> and visions of its members.<br />
There are, however, two obstacles, which prevent the party from doing so. First, parties<br />
in America have been considerably weak compared to their European counterparts.<br />
10 Second, parties indirectly attempt to enfranchise those who are homeless by<br />
eradicating homelessness and creating healthy levels of employment. In addition,<br />
the Department of Housing and Urban Development seeks to find low cost housing<br />
for those who would otherwise find themselves on the streets. Interestingly enough,<br />
President Johnson's „Great Society“ sought to enfranchise (de facto) minorities but<br />
did not directly attempt to enfranchise the homeless, instead, the „War on Poverty“<br />
sought to eradicate homelessness. Why enfranchise the homeless if you can eradicate<br />
homelessness?<br />
Organizing the Homeless<br />
Perhaps the homeless can help themselves; they can organize and protest. Such a<br />
movement faces several problems; first, high turnover and mobilization make organizing<br />
the homeless difficult. Many cities have anti-homeless laws, preventing one<br />
from squatting. The parks in Los Angeles have park benches that have intermittent<br />
armrests, which prevents one from using the bench as a bed. In addition, the sprinkler<br />
systems water every part of the park at arbitrary interv<strong>als</strong> during the night, preventing<br />
anyone from sleeping in the park for more than an hour. Santa Barbara, CA,<br />
had a policy of busing their homeless to Los Angeles, until Los Angeles threatened to<br />
do the same (bus their homeless to Santa Barbara). Essentially, many of the homeless<br />
are constantly moving.<br />
A second problem is a lack of resources. Jean Calterne Williams discusses the problems<br />
the homeless encountered when they attempted to organize the movement<br />
„Shelter Now.“ She states:<br />
What it takes to put together a successful protest are the very things that Shelter<br />
Now lacks. Without money, office space, phones, or even paper the organizers have<br />
difficulty networking with homeless people. Furthermore, they lack a central meeting<br />
place where interested homeless people could find leaders of the group or could<br />
connect with one another. 11<br />
Advocates of the homeless, who are not homeless themselves, can provide such<br />
needed resources. Interestingly enough, while these advocates promote respect for<br />
10 Wattenberg, Martin P.: The Decline of American Political Parties: 1952–1994. Cambridge<br />
(Mass) 1996; Sabato, Larry: The Party's Just Begun. Glenview 1988.<br />
11 Williams, Jean Calterone: The Politics of Homelessness: Shelter Now and Political Protest.<br />
In: Political Research Quarterly 58.3 (2005). pp. 497–509.<br />
Dis | kurs 25
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
the homeless as humans, they seem to not respect them as citizens. These advocate<br />
groups do not engage the homeless or include the homeless as an active part of their<br />
movement. 12<br />
Finally, like political parties, both the organized homeless and the advocate groups<br />
focus first on food, shelter, and safety, and second, eradicating homelessness. These<br />
things seem to be more urgent than the right to vote. Furthermore, why seek the<br />
enfranchisement of the homeless when providing shelter and eradicating homelessness<br />
will make the enfranchisement unnecessary? Eradicating homelessness is the<br />
desirable outcome, however, it is difficult to achieve; <strong>als</strong>o, shelter for all who needs<br />
shelter is expensive. The problem of the disenfranchisement of the homeless seems<br />
like a relatively easy problem to solve when comparing it with the other two challenges.<br />
Mobilizing People<br />
Seemingly, an advocate group can mobilize enough citizens or constituents in a<br />
district to attract the attention of a representative, leading to national legislation to<br />
enfranchise the homeless. However, the advocacy group might find persuading people<br />
of their cause a difficult task. There are three arguments for the enfranchisement<br />
of the homeless: first, all should have the right to vote even if one does not have private<br />
property; second, the homeless should have a way to express their opinion; and<br />
third, although less compelling, the electorate should reflect the demands of the people<br />
and if one group is disenfranchised, then the electorate does not properly reflect<br />
the people as a whole. There are three arguments against the enfranchisement of the<br />
homeless. First, the homeless lack the ability to make an informed decision; second,<br />
the homeless are not a part of the community; and third, the homeless will not vote<br />
even if they could vote. Let us consider the arguments against the enfranchisement<br />
of the homeless and how they might be refuted.<br />
The homeless might find political knowledge hard to come by. They do not have ready<br />
access to a television, political magazines, or the current newspaper. They might<br />
be ignorant of any elections. How then can they make an informed decision? First,<br />
they might not need to know policy, the candidate's experience, or how the economy<br />
operates. Instead, they can use the party as a shortcut. They might know which party<br />
(if any) is best for the homeless and vote for members of that party. Second, who<br />
is to determine what level of political knowledge one needs to make an informed<br />
decision? Such arguments remind us of the time when states violated civil rights by<br />
12 Cohen, Marcia B., and David Wagner: Acting on Their Own Behalf: Affiliation and<br />
Political Mobilization among Homeless People. In: Journal of Sociology & Social Welfare<br />
19 (1992). pp. 21–39.; Wagner, David: Checkerboard Square: Culture and Resistance in a<br />
Homeless Community. Boulder, CO 1993.<br />
26 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
requiring one to pass a political literacy test before he or she could vote. 13 Finally,<br />
most Americans lack political knowledge and make very unsophisticated decisions. 14<br />
Often, people have „non-attitudes“ concerning politics 15 and people offer top-of-thehead<br />
responses to survey and interview questions. 16 Thus, if the homeless should not<br />
be permitted to vote because of a lack of political knowledge, then most Americans<br />
<strong>als</strong>o should not be permitted to vote for the same reason.<br />
A healthy democracy requires a community. Thomas Jefferson believed that the people<br />
in a republic must have civic virtue. The people ought to not simply be an aggregate<br />
of individu<strong>als</strong> who live within a delineated boundary, but rather constitute (what<br />
the ancient Greeks called) a Polis. 17 In the past, some believed that private property<br />
would foster such interests in the community. Today, many believe that a residency<br />
would stimulate such an interest. Let us consider these claims.<br />
Machiavelli states in „The Prince“, „But above all, he [the prince] must abstain from<br />
the property of others, because men will forget the death of a father more quickly<br />
than the loss of a patrimony“. 18 This suggests that property creates interest in politics<br />
and the community. The prince cannot maintain loyalty or support from the people<br />
if he is a threat to their property. Many years later, Charles Beard, in his book,<br />
„An Economic Interpretation of the Constitution“, reve<strong>als</strong> that at the inception of the<br />
United States, only property owners could vote in state elections. Furthermore, since<br />
the states determined the Senate and Electoral College (and therefore, the President)<br />
and the president nominates and the Senate confirms the Supreme Court Justices,<br />
indirectly property owners determined five-sixth of the federal government. The<br />
non-property owners elect only the House and even then, they do so together with<br />
property owners. Beard's claim shocked Americans, but perhaps only because they<br />
lived in a time when every citizen of a particular age had not only the right to vote<br />
but <strong>als</strong>o the duty to do so. (Although minorities were disenfranchised.) However, at<br />
the birth of the nation the popular belief in Europe was that only those who owned<br />
property would care about politics. 19 They had the most to lose.<br />
13 Literacy tests, in practice in Southern states until the 1960s, gained infamy as a means to<br />
denying African Americans suffrage.<br />
14 Smith, Eric R. A. N.: The Unchanging American Voter. Berkeley 1989; Sniderman, Paul,<br />
Richard Brody, and Philip Tetlock: Reasoning and Choice. Cambridge (UK) 1991.<br />
15 Converse, Philip E.: The Nature of Belief Systems in Mass Publics. In: David Apter (ed.):<br />
Ideology and Discontent. New York 1964.<br />
16 Zaller, John R.: The Nature and Origins of Mass Opinion. New York 1992.<br />
17 Cf. Aristotle: Politics. Indianapolis 1998.<br />
18 Machiavelli, Niccolo: The Prince. Chicago 1985.<br />
19 In France right before the French Revolution, the nobles seemed not to care about the<br />
conditions (political and economic) as much as the Estates General or the bourgeoisie.<br />
Dis | kurs 27
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Although, most would reject the argument that only those with property would take<br />
an interest in politics, the residency requirement, which is a variation of the property<br />
requirement, persists. One might argue that to be interested in politics one has to be<br />
a part of the community. And being a part of the community requires having permanent<br />
and lasting residency.<br />
Jefferson promoted a republic of small agrarian communities. He believes the farmers<br />
are those who would have the civic virtue and the mor<strong>als</strong> to cultivate a strong<br />
republic. He states:<br />
… generally speaking, the proportion which the aggregate of the other classes of citizens<br />
bears in any state to that of its husbandmen, is the proportion on its unsound<br />
to its healthy parts, and is a good barometer whereby to measure its degree of corruption<br />
… While we have land and labor then, let us never wish to see our citizens<br />
occupied at a work-bench … 20<br />
In a letter to Madison, he further states, „The small landholders are the most important<br />
part of the state“. 21 Farmers made good citizens because they owned enough land<br />
to take some interests in the community, but not enough land to become a feudal<br />
lord. De Tocqueville describes America as a land of small communities with town<br />
hall meetings and civil associations. These thinkers, Jefferson, de Tocqueville and<br />
others believe that democracy requires a community. Empirical studies collaborate<br />
the claims of Aristotle, Jefferson, and de Tocqueville regarding the community. Robert<br />
Putnam argues, in „Making Democracy Work“, that community or civil society<br />
is an important element of a healthy democracy.<br />
If community is vital to democracy then how do we understand the homeless; are the<br />
homeless a part of the community? Do they see themselves as a part of the community?<br />
For example, would they share the same concerns as the rest of the community,<br />
i.e., the quality of public schools and public libraries? Or are they simply vagabonds<br />
and transients?<br />
Perhaps society has ostracized the homeless from the community. Perhaps, some<br />
are homeless because their previous community abandoned them. It is easy to apply<br />
Michel Foucault's idea of the insane to homeless, especially after the 1980's when<br />
many people with mental disabilities left the hospit<strong>als</strong> and went into the streets after<br />
the Reagan administration reduced government assistance to hospit<strong>als</strong>. Foucault<br />
argues that in the late Middle Ages, „madness“ or „unreason“ was readily accepted as<br />
a sacred or forbidden type of knowledge. With such a status the insane remained as<br />
a part of the community, different from most parts of the community but still a part<br />
20 Jefferson, Thomas: The Portable Jefferson. New York 1977. p. 217.<br />
21 Ibid, p. 397.<br />
28 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
of the community nonetheless. He states, „… madness was present everywhere and<br />
mingled with every experience by its image or dangers“. 22 Perhaps, Don Quixote best<br />
represents how the insane was accepted as part of the community. Foucault discusses<br />
how the insane were placed in hospit<strong>als</strong>, which essentially took them out of the community.<br />
Perhaps homeless shelters unintentionally or intentionally serve the same<br />
purpose, to get people off streets and out of the view of the public. One might question<br />
why was the homeless shelter for New York City placed in Orange County? Was it<br />
to hide the homeless? Michael Harrington, in his book „The Other American“, makes<br />
a similar argument. The poor and the homeless have been made invisible. The poor<br />
have their community (the ghettos) out of sight of the middleclass communities, the<br />
suburbs. The homeless are further ostracized from the poor communities through<br />
vagrancy laws (anti-homeless laws). For example, most communities prohibit one<br />
from sleeping in a park or a library.<br />
The requirement of community membership in order to vote is a dangerous requirement.<br />
Certainly, such a requirement can be used to not only disenfranchise the<br />
homeless, but <strong>als</strong>o to disenfranchise crimin<strong>als</strong> and foreigners. Robert Putnam argues<br />
that there has been a decline in community (civil society). 23 More and more, people<br />
do not know their neighbors, attend church, engage in civil associations, and build<br />
social networks. Instead, people are becoming reclusive. Should these people (noncommunity<br />
members) be disenfranchised? Those living aboard are not a part of the<br />
community in which they vote. Should they be disenfranchised? No. People who<br />
move from one city to another are less likely to immediately establish social networks.<br />
24 Research has suggested that mobility reduces political participation. 25 No<br />
state has a residency requirement of more than thirty-one days, and three states have<br />
a minimum residency requirement of only one day. 26 Should this residency requirement<br />
be changed to a year or two so that a person can establish a sense of community?<br />
Probably not. Given that „one-third of the nation [America] moves every two<br />
22 Foucault, Michel: Madness and Civilization. New York 1965. p. 70.<br />
23 Putnam, Robert: Bowling Alone. In: Journal of Democracy 6.1 (1995) pp. 65–78; Putnam,<br />
Robert: Bowling Alone. New York 2000.<br />
24 Brians, Craig Leonard: Residential Mobility, Voter Registration, and Electoral Participation<br />
in Canada. In: Political Research Quarterly 50.1 (1997). pp. 215–227.<br />
25 Verba, Sidney, and Norman H. Nie: Participation in America: Political Democracy and<br />
Social Equality. Chicago 1972; Glass, David, Peverill Squire, and Raymond Wolfinger:<br />
Voter Turnout: An International Comparison. In: Public Opinion December/January<br />
(1984). pp. 49–55; Wolfinger, Raymond E., and Stephan J. Rosenstone: Who Votes?<br />
New Haven 1980; Squire, Peveerill, Raymond E. Wolfinger, and David P. Glass: Residential<br />
Mobility and Voter Turnout. In: American Political Science Review 81 (1987). pp.<br />
45–65.<br />
26 Rosentone, Steven J., and Raymond E. Wolfinger: The Effect of Registration Laws on<br />
Voter Turnout. In: The American Political Science Review 72 (1978). pp. 22–45.<br />
Dis | kurs 29
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
years“ 27 such a policy would disenfranchise a large group of citizens. Finally, one<br />
might argue, as we have already, even if all the homeless could vote, they would not.<br />
We have already discussed how the relation between social-economic status and the<br />
likelihood of voting suggests that the homeless most likely would not vote. Again, we<br />
can apply the arguments against the enfranchisement of the homeless to the general<br />
population. If one's likelihood of voting determined their right to vote, most Americans<br />
would be prohibited from voting in local elections, however, such a prohibition<br />
would not be tolerated by most of the non-voters of local elections.<br />
Perhaps the general public is the best force to enact change. If people are made aware<br />
of the disenfranchisement of the homeless, informed of the arguments in support<br />
for such policy and given the refutations of the arguments against this policy, they<br />
might become more supportive. What is essential is that they learn how little effort<br />
it would take to enfranchise the homeless (i.e., a loose definition of residency). The<br />
force of the people certainly would motivate legislators to act. Perhaps it's a matter<br />
of making people aware of the problem. Certainly, Michael Harrington's book, „The<br />
Other America“, revealed the plight of the poor in America to the general public, thereby<br />
leading to political action, namely, the „Great Society.“ We must first consider<br />
the different policies which enfranchisement can be achieved.<br />
III. Representation, Self-gerrymandering, and Possible<br />
solutions<br />
A Question of Proper Representation<br />
The structure of representation in the United States leads to some debate regarding<br />
the homeless. Who should represent them? This was the debate in the Pitts v. Black<br />
case. Mr. Cortight, a member on the Board of Elections for Orange County NY, stated,<br />
„We're not denying them [the homeless] the vote. The question is where they<br />
should vote.“ The 240 homeless housed in Camp La Guardia, a rehabilitation center<br />
for „the unfortunate of New York City,“ wanted to vote in the Orange County district.<br />
The Board of Elections explained that they should vote in New York City since the<br />
center was housing for New York City and not for Orange County. Essentially, the<br />
structure of the federal government system of representation leads to such disputes.<br />
That is, the single member district leads to representation that requires defined constituencies<br />
and stresses local districts. 28<br />
Many political scientists claim that American politics is local politics. 29 Members<br />
27 Squire, Wolfinger, Glass: Residential Mobility and Voter Turnout. p. 45<br />
28 See Duverger's Law, cf. Duverger, M.: Political Parties. London 1959.<br />
29 Fenno, Richard F.: Home Style: House Members in Their Districts. Boston 1978; Tag-<br />
30 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
of Congress tend to represent their district more than they represent their party. A<br />
member would often cross party lines if he/she has a chance to provide his/her district<br />
with benefits (often called pork-barrel). Parties in many European countries are<br />
more powerful than the constituents of a district or ward. A party, with its power,<br />
might make homelessness one of their major concerns. In the United States, even if<br />
a party champions the eradication of homelessness, they cannot succeed if particular<br />
districts do not champion the same cause. That is, it is political suicide for a politician<br />
to support the party without support of his/her constituents.<br />
The structure of representation influences policy in a second way. To properly represent<br />
their constituents, members of Congress must know who their constituents are.<br />
Who is in their district? Residents. One who is not a resident but lives in the district,<br />
is not treated (legally) as a constituent but as just someone passing by (a transient),<br />
and therefore cannot vote.<br />
Self-gerrymandering<br />
Imagine that one could register without a residence. 30 What might take place is that<br />
voters would change their district if they knew they had a better chance of making a<br />
difference in another district. For example, suppose that 80% of district A and 49%<br />
of district B (where both districts are of the same population) are Republicans. What<br />
prevents 10% of the Republicans in district A from reregistering in district B, allowing<br />
both districts to have a Republican majority? This is gerrymandering from<br />
below or self-gerrymandering – by individu<strong>als</strong>, and not from above – by the state.<br />
One might argue that if the dominant party of each state can redraw their district<br />
lines to benefit their parties, why cannot individu<strong>als</strong> choose the district in which they<br />
want to be a member? The answer is simple, reconstituting membership in a district<br />
not only affects the power of parties, but <strong>als</strong>o can affect the power among racial and<br />
religious groups. Certainly, it is illegal for a state to reconstitute (or redraw) a district<br />
based on race or religion. A violation of this law by a state party can be easily detected<br />
by the department of justice. How can the violation of this law by individu<strong>als</strong> be<br />
detected? How can we understand the intention of an individual who changing from<br />
district to another? Furthermore, unlike the gerrymandering from above, gerrymandering<br />
from below or self-gerrymandering, unless restricted, would occur constantly<br />
gart, William A., and Robert F. Durant: Home Style of A U.S. Senator: A Longitudinal<br />
Analysis. In: Legislative Studies Quarterly 10 (1985); Denzu, Authur, William Riker, and<br />
Kenneth Shepsle: Farquharson and Fenno: Sophisticated Voting and Home Style. In:<br />
American Political Science Review 79 (1985).<br />
30 Here, if the homeless need not be a resident to register to vote in a district then the nonhomeless<br />
should <strong>als</strong>o have the right to register without designating the district in which<br />
their home lies as their political district.<br />
Dis | kurs 31
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
(as opposed to every ten years). Here, we see that the resident requirement is a consequence<br />
of practical reasons and not of normative reasons.<br />
Possible Solutions<br />
Two sets of solutions exist, change policy at the state level (the less extreme solution)<br />
and change the national institutions (which is more difficult to accomplish and will<br />
have many consequences). Let us consider these solutions and their ramifications.<br />
Some states have already changed policies by following the Federal Court's decision<br />
that states should have a loose interpretation of what constitutes residency. New<br />
York allows the homeless to list a homeless shelter as a place of residency. In San<br />
Diego, CA three men registered to vote listing a public park as the address of their<br />
residence. The election board rejected their application because it was illegal to squat<br />
in the park. The three men protested and in 1994 the Federal Court sided with the<br />
three men in Collier v. Manzel. Other states allow the homeless to list a friend's or<br />
relative's address as a place of residency. These solutions encounter the problems of<br />
self-gerrymandering.<br />
A second solution is to replace the Electoral College system with the popular vote<br />
system. Much has been written supporting and opposing the Electoral College. 31<br />
These arguments are beyond the scope of this paper. Such change, if accompanied by<br />
a national registration instead of state and district registration, will eliminate much<br />
of the legal difficulties that hinder the homeless from voting. The question of whether<br />
the homeless is part of the community is resolved. The homeless might not be seen<br />
as a member of a local community, but as long as they remain within the borders of<br />
the United States they are a part of the national community and therefore have the<br />
right to vote. Questions of self-gerrymandering and proper representation disappear.<br />
Despite offering the homeless representation in the executive branch, this solution<br />
does not provide representation in the legislative branch.<br />
Another alternative is to change the national institution by creating a district-at-large<br />
(and perhaps a state-at-large). Such a change will allow the homeless to register in<br />
a district where non-residency (and not residency) is required. A district-at-large<br />
might <strong>als</strong>o include those who are mobile, perhaps even citizens living abroad. Taylor<br />
E. Dark III notes that many states ignore overseas voters. 32 This district will offer<br />
more than representation in government, but will <strong>als</strong>o allow the homeless to receive<br />
31 For example, Polsby and Wildavsky´s (1984) study on the effects on the one party states<br />
(mainly in the South); Yunkers´s (1963) consideration of demographics; and Smith and<br />
Squires´ (1987) concern of varying turnout rates in different states.<br />
32 Dark III, Taylor E.: Americans Abroad: The Challenge of a Globalized Electorate. In: PS:<br />
Political Science and Politics 36 (2003). pp. 733–740.<br />
32 Dis | kurs
Politische Theorie<br />
(case work) services. For example, under the present system, if one has problems<br />
with the social security agency, he can seek help from his representative. However, if<br />
he is homeless, and is not legally a constituent of a representative, he may not receive<br />
the help that he is seeking. This would not be the case if a district-at-large existed.<br />
How might elections take place? On Election Day, each voting site will have districtat-large<br />
ballots that the homeless can cast; or perhaps the constituents of this district<br />
could vote on line. Such a district, however, may invite election fraud and so must be<br />
carefully monitored.<br />
There are several opposing arguments to the district-at-large; some based on principle<br />
and others based on practice. First, a district-at-large counters the American<br />
tradition of federalism, that the states have the right to determine election laws. The<br />
district-at-large would certainly be under the auspices of the federal government.<br />
Such a district, however, does not take any powers from individual states, other than<br />
those powers the states have implicitly surrendered to the Federal government by disenfranchising<br />
the homeless. Certainly, a homeless person who can claim the homeless<br />
shelter as his/her resident will be prohibited from registering in the district-atlarge.<br />
Second, one might argue that a district should not be constituted according to<br />
a particular characteristic (i.e., race, religion, party) of its constituency. Although, it<br />
is common practice for states to redraw district lines each decade to favor one party<br />
or another, district lines cannot exclusively be based on party but must consider<br />
geographic lines. That is, a district must be continuous. A district-at-large, however,<br />
will have non-continuous lines. We can refute both these arguments. First, a districtat-large<br />
is based on a geographic space and not other characteristics; namely, any<br />
space that has not been claimed by another district falls in the domain of the district<br />
at large. Second, the district-at-large does not have non-continuous lines because it<br />
has no lines.<br />
A district-at-large presents several practical problems. First, how does a candidate<br />
campaign for the position? Information will be difficult to communicate to the voters.<br />
This might open the door to anyone who cannot successfully run in his/her own<br />
district to run for the district-at-large (which may or may not present a problem). A<br />
second and more serious problem regards a disincentive for good work. Normally, a<br />
representative promotes policies that will help his/her constituents (pork-barreling)<br />
in hopes that he/she will be rewarded in the next election. This, however, would not<br />
be the case in a district-at-large. Perhaps the most important policy a representative<br />
of the homeless can offer is the reduction of homelessness. However, if the representative<br />
is strategic, he/she will realize that those he/she helps out of homelessness will<br />
no longer be in the district-at-large and will be unable to reward the representative<br />
with votes. Thus, there is an incentive to focus on less important policies, like antiharassment<br />
laws instead of finding the homeless employment or low cost housing.<br />
Dis | kurs 33
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Conclusion<br />
We have not fully explored the consequences of any of the changes discussed. The<br />
consequences could greatly change political outcomes. The question that must be<br />
answered is do we want to secure the voting rights of the homeless if all studies indicate<br />
that they are unlikely to exercise their rights and especially if the consequences<br />
affecting the political system are unknown? Essentially, we must balance the normative<br />
arguments with the practical arguments. What must be done, however, is to<br />
consider seriously the voting rights of the homeless. Such a consideration has been<br />
absent from political discussions and academic studies.<br />
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Dis | kurs 35
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Innenpolitik<br />
Das ‚neue Aids’.<br />
Veränderungen der journalistischen Darstellung von<br />
HIV und Aids in der HAART-Ära<br />
Matti Seithe<br />
Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />
E-Mail: mattiseithe@gmx.de<br />
Schlüsselwörter<br />
HIV/Aids, Inhaltsanalyse, Journalismus, Siegessäule, HAART, MSM<br />
1. Einleitung<br />
Seit den panischen Anfangsjahren der HIV- und Aids-Epidemie hat sich vieles verändert.<br />
Zu einem entscheidenden pharmazeutischen Fortschritt im Kampf gegen die<br />
Immunschwächekrankheit kam es im Juli 1996. Mit der Hoch Aktiven Anti-Retroviralen<br />
Therapie, kurz HAART, konnte die Lebenserwartung von HIV-positiven<br />
Menschen erstm<strong>als</strong> deutlich verlängert werden.<br />
Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Martin Dannecker spricht für die Zeit nach<br />
der HAART-Einführung vom ‚neuen Aids‘, das sich vom ‚alten Aids‘ grundsätzlich<br />
unterscheide: „Das alte Aids war eines, das konstruiert war <strong>als</strong> etwas, bei dem kein<br />
Unterschied zwischen HIV-Infektion und Aids gemacht werden konnte: Eine Ansteckung<br />
mit dem Virus war fast identisch mit raschem Sterben.“ Die HIV-Infektion sei<br />
seit 1996 „(e)ine schwere chronische Krankheit, so wie es andere gibt, Zucker zum Beispiel.<br />
Wer an dieser Krankheit leidet, ist auch schweren Einschränkungen unterworfen<br />
– nicht mehr, nicht weniger.“ 1<br />
1 Feddersen, Jan: Die Sexualität hat sich aus dem Schatten von Aids befreit. Interview mit<br />
Prof. Dr. Martin Dannecker. In: die tageszeitung. 30.11.2005. S. 13.<br />
36 Dis | kurs
Innenpolitik<br />
In Deutschland wird seit den 1980er Jahren auf Präventionskampagnen gesetzt,<br />
die kurzfristig allgemeine Aufmerksamkeit für das Thema HIV und Aids erzeugen<br />
sollen und mittelfristig Verhaltensänderungen zum Ziel haben. 2 Im Gegensatz zu<br />
diesem Feld öffentlicher Kommunikation ist die Rolle des Journalismus im Zusammenhang<br />
mit Prävention bisher in der Kommunikationswissenschaft nur am Rande<br />
untersucht worden. Der Begriff ‚Aufklärung‘ im Sinne von Prävention geht davon<br />
aus, dass die Informiertheit des Menschen eine der wichtigsten Voraussetzungen<br />
für Verhaltensänderungen ist. Demnach sind jegliche Informationsquellen, auch die<br />
journalistische Berichterstattung, zu untersuchen.<br />
Der hier vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die journalistische Darstellung im<br />
Brennpunkt der Infektion in Deutschland, der in der Risikogruppe ‚Männer, die Sex<br />
mit Männern haben‘ (MSM) sowie den Ballungsräumen zu finden ist. So genannte<br />
‚Schwulenzeitungen‘, die in Metropolen wie Berlin, Hamburg, Köln etc. publiziert<br />
werden, genügen diesem Anspruch. Sie stellen zudem die Hauptinformationsquelle<br />
zum Thema HIV und Aids für schwule und bisexuelle Männer dar. 3<br />
2. Epidemiologische Entwicklungen<br />
Starken Rückgängen der registrierten Aids-Fälle zwischen 1995 und 1997 folgt von<br />
1998 bis 2002 eine weitere, aber weitaus leichtere Abnahme. Darauf verbleibt die<br />
Aids-Inzidenz 4 bis 2004 auf etwa gleichem Niveau (von knapp 700 Fällen pro Jahr)<br />
und fällt in 2005 und 2006 erneut leicht (vgl. Abb. 1). Diese Entwicklung ist vor allem<br />
auf MSM zurückzuführen.<br />
Die HIV-Inzidenz entwickelt sich spätestens seit 2001 gegenläufig (vgl. Abb. 2). Stetigen<br />
Rückgängen bis zum Jahr 2001 folgen seit 2002 abrupte Anstiege. Spätestens im<br />
Jahr 2006 liegt die Zahl der jährlich verzeichneten HIV-Neuinfektionen bei mehr <strong>als</strong><br />
2.500 und damit über dem Niveau der ersten qualifizierten Messung im Jahr 1993.<br />
Gegenüber dem Tiefststand im Jahr 2001 hat sie um rund zwei Drittel zugenommen.<br />
Unter MSM ist die Zunahme der registrierten HIV-Inzidenz am stärksten ausgeprägt.<br />
Hier verdoppelt sich in etwa die Anzahl von 2001 bis 2006. Die regionale Verteilung<br />
2 Vgl. Pott, Elisabeth: AIDS-Prävention in Deutschland. Bonn, 2006. S. 32 f.<br />
3 62 % gaben im Jahr 2003 in einer Befragung von schwulen und bisexuellen Männern an,<br />
sich aus solchen Presseerzeugnissen zu informieren. Nur 43 % informierten sich z. B.<br />
aus Materialien der Aids-Hilfen. Vgl. Bochow, Michael et al.: Schwule Männer und Aids.<br />
Berlin, 2004. S. 76.<br />
4 Inzidenz meint die Neudiagnosen einer Krankheit während eines bestimmten Zeitraums,<br />
meist ein Jahr. Vgl.: Weinreich, Sonja; Benn, Christoph: AIDS. Eine Krankheit verändert<br />
die Welt. Frankfurt/Main, 2005. S. 19.<br />
Dis | kurs 37
ptinformationsquelle Abbildung 1: Aids zum in Thema Deutschland HIV und von Abbildung<br />
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
ner dar. 3 1982 bis 2006 5<br />
Aids-Fälle zwischen 1995 und 1997 folgt<br />
aber weitaus leichtere Abnahme. Darauf<br />
auf etwa gleichem Niveau (von knapp 700<br />
d 2006 erneut leicht (vgl. Abb. 1). Diese<br />
urückzuführen.<br />
on Abbildung 2: HIV in Deutschland von<br />
Abbildung 1: Aids in Deutschland von 1982 bis 2006<br />
1993 bis I/2007 6<br />
5<br />
Die HIV-Inzidenz entwickelt sich spätestens seit 2001<br />
Stetigen Rückgängen bis zum Jahr 2001 folgen sei<br />
Spätestens im Jahr 2006 liegt die Zahl der jähr<br />
Neuinfektionen bei mehr <strong>als</strong> 2.500 und damit über<br />
qualifizierten Messung im Jahr 1993. Gegenüber dem<br />
hat sie um rund zwei Drittel zugenommen. Unter M<br />
registrierten HIV-Inzidenz am stärksten ausgeprägt. H<br />
die Anzahl von 2001 bis 2006. Die regionale Vertei<br />
von den Großstädten Berlin, Frankfurt/Main, Hambu<br />
Abbildung München 2: HIV dominiert. Deutschland von Über 1993 bis I/2007 die Hälfte aller Deutschen,<br />
6<br />
5 6<br />
testens<br />
leben<br />
wird seit in Deutschland 2001<br />
hier.<br />
gegenläufig<br />
Gleiches gilt<br />
von den Großstädten (vgl.<br />
für die<br />
Berlin, Abb.<br />
Inzidenz<br />
Frankfurt/Main, 2).<br />
von HIV. Ge<br />
Hamburg, Düsseldorf,<br />
2006 Köln die und höchste München dominiert. Inzidenzrate Über die Hälfte aller Deutschen, Bundesländer die an Aids<br />
2001 folgen seit 2002 abrupte Anstiege.<br />
mit 1<br />
erkrankt sind, leben hier. Gleiches gilt für die Inzidenz von HIV. Gesamt-Berlin hatte<br />
Zahl im Jahr der 2006 jährlich die höchste Inzidenzrate verzeichneten aller Bundesländer HIVund<br />
damit über dem Niveau der<br />
mit 11,46 HIV-Infektionen<br />
ersten<br />
3 62 % gaben im Jahr 2003 in einer Befragung von schwulen und bisexu<br />
Presseerzeugnissen zu informieren. Nur 43 % informierten sich z.B. aus<br />
Bochow, Michael et al.: Schwule Männer und Aids. Berlin, 2004. S. 76.<br />
4 Inzidenz meint die Neudiagnosen einer Krankheit während eines bestimmt<br />
Weinreich, Sonja; Benn, Christoph: AIDS. Eine Krankheit verändert die W<br />
5 Quelle: Robert Koch Institut: HIV/AIDS-Folien. Berlin, 2007. S. 6.<br />
. Gegenüber 5 1 Quelle: Robert dem Koch Tiefststand Institut: HIV/AIDS-Folien. im Jahr Berlin, 2007. 2001 S. 6.<br />
mmen. Unter MSM ist die Zunahme der<br />
6 2 Quelle: Ebd.: 18. (Für 2007 sind nur die Zahlen des ersten Halbjahres ausgewiesen.)<br />
en ausgeprägt. 38 Dis | kurs Hier verdoppelt sich in etwa
Innenpolitik<br />
pro 100.000 Einwohner und Jahr. 7 Weltweit sind nach Schätzungen von UNAIDS<br />
und WHO aktuell ca. 33 Mio. Menschen mit HIV infiziert, wobei davon im Jahr 2007<br />
etwa 2,5 Mio. neue HIV-Infektionen hinzukamen. 2007 starben bedingt durch HIV<br />
und Aids rund 2,1 Mio. Menschen. 8 Die am stärksten betroffene Region der Erde<br />
ist Afrika südlich der Sahara. Hier leben über 50 % aller HIV-positiven Menschen<br />
weltweit. Die nicht ausreichende Verfügbarkeit der HAART ist ein Hauptgrund für<br />
die hohe Sterblichkeit weltweit. 9<br />
3. Hypothesen<br />
Grundsätzliche Vermutung dieses Beitrages ist, dass sich die Veränderungen in Medizin,<br />
Epidemiologie und Pharmazie auch im Ergebnis journalistischer Selektionsund<br />
Produktionsprozesse, dem Medieninhalt niederschlägt. Nach Vorwürfen, die<br />
Dramatisierung der Berichterstattung in den 1980er Jahren hätte Präventionsbemühungen<br />
entgegengewirkt 10 , soll hier nun, angesichts der medizinischen Fortschritte,<br />
die Frage nach dem gegenteiligen Extrem gestellt werden: Wie harmlos werden HIV<br />
und Aids dargestellt? Der Begriff Harmlosigkeit betrifft die Gefahren und Folgen,<br />
aber auch die Kontexte der Immunschwächekrankheit. Folgende fünf darauf aufbauende<br />
Vermutungen sollen nachfolgend untersucht werden.<br />
H1: Die HIV-Infektion wird nach Einführung der HAART häufiger in den Kontext<br />
der Behandelbarkeit gestellt <strong>als</strong> zuvor. Damit wird ein chronischer, nicht tödlicher<br />
Verlauf impliziert, wie z. B. bei Diabetes.<br />
Dieser Kontext bezieht sich auf das ‚neue Aids‘ und betont das Leben mit der HIV-<br />
Infektion. Problem ist nicht mehr die Krankheit <strong>als</strong> solche, die zum Tod führt, sondern<br />
die durch die HAART verursachten Nebenwirkungen. Ihre Lösung wird dabei<br />
nicht oder <strong>als</strong> machbar durch medizinische Forschung beschrieben. HIV und Aids<br />
werden insgesamt ausgewogen bewertet. Der oppositionelle Kontext dazu ist der<br />
des ‚alten Aids‘. Hier steht das Sterben an der Krankheit im Mittelpunkt, welches<br />
<strong>als</strong> grundsätzlich nicht aufhaltbar beschrieben wird. HIV und Aids werden mit diesem<br />
Kontext generell negativ bewertet. (vgl. Kap. 1). Im Zusammenhang mit HIV<br />
und Aids soll außerdem die Darstellung der Risiken einer HIV-Infektion sowie der<br />
HAART-Behandlung untersucht werden. Dabei soll nach der Risikodefinition von<br />
7 Vgl. Marcus, Ulrich; Starker, Anne: HIV und Aids. Berlin, 2006. S. 19. Vgl. RKI: Epidemiologisches<br />
Bulletin. Sonderausgabe A, 29.05.2007. S. 10 f.<br />
8 Vgl. Robert Koch Institut: Epidemiologisches Bulletin. Nr. 47/2007, 23.11.2007. S. 430.<br />
9 Vgl. Weinreich/Benn 2005: 20–23. Vgl. Kamps, Bernd Sebastian: Einleitung. Wuppertal-Beyenburg,<br />
2007. S. 40.<br />
10 Vgl. Kitzinger, Jenny: The role of the mass media in the prevention of AIDS. Berlin,<br />
1995. S. 110. Vgl. Schmidt, Hans-Jürgen: Mediale Deutungsmuster von AIDS. Duisburg/<br />
Essen, 2005. S. 111.<br />
Dis | kurs 39
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Michael Schanne 11 keine mathematische Risikoberechnung zu Grunde werden. Sondern<br />
subjektive Kategorien der Risiko-Wahrnehmung werden auf ihre Ausprägungen<br />
im Medieninhalt untersucht (vgl. Kap. 5).<br />
H2: Beide Risiken werden abnehmend hoch dargestellt werden. 12<br />
Gleichzeitig nimmt auch der Informationsgehalt der einzelnen Artikel bezüglich<br />
HIV und Aids ab. ‚Informationen‘ werden dabei nicht <strong>als</strong> konkrete Handlungsanweisungen<br />
verstanden, sondern <strong>als</strong> Aussagen im Text, die individuelle Handlungen<br />
ermöglichen, in dem sie Optionen aufzeigen oder zusätzlich auf die verschiedenen<br />
Konsequenzen dieser Optionen eingehen.<br />
H3: Der Informationsgehalt zu ‚Prävention und Ansteckungswegen‘, ‚psychischen,<br />
sozialen, finanziellen und medizinischen Hilfsmöglichkeiten‘ sowie zu<br />
‚Möglichkeiten Geld zu spenden oder sich ehrenamtlich zu engagieren‘ sinkt.<br />
Aufgrund der zahlreichen Verbesserungen der HAART seit 1996 wird zudem vermutet:<br />
H4: Nach Einführung der HAART überwiegt die Darstellung von positiven Emotionen.<br />
Die Kehrseite verbesserter individueller Behandlungsmöglichkeiten kann eine abnehmende<br />
kollektive Bearbeitung von HIV und Aids darstellen. Ein Indikator dafür<br />
ist die abnehmende öffentliche Finanzierung von gesellschaftlichen Gruppen und<br />
entsprechenden Präventionsmaßnahmen. 13 Diese Entwicklungen, so wird vermutet,<br />
korrelieren mit der medialen Agenda.<br />
H5: Nicht-Staatliche Hilfs- und Selbsthilfe-Maßnahmen sowie Folgen der Infektion<br />
werden seltener thematisiert.<br />
4. Untersuchungsdesign<br />
Untersucht werden alle Artikel aus der Zeitschrift „Siegessäule“, die zwischen 1995<br />
und 2006 erschienen sind und in denen HIV und Aids erwähnt werden. Somit<br />
schließt die Grundgesamtheit Artikel aus 18 Monaten ein, welche vor der Einführung<br />
der HAART im Sommer 1996 liegen. Zur Zielgruppe der Zeitschrift gehören<br />
seit ihrer Gründung homo- und bisexuelle Männer. Ihre Auflagenzahl verdoppelte<br />
sich im Untersuchungszeitraum knapp von 25.000 im Jahr 1995 auf 48.700 in 2006. 14<br />
11 Vgl. Schanne, Michael: Risiko, Kommunikation, ‚Risiko-Kommunikation‘. Zürich, 1996.<br />
S. 21.<br />
12 Die Höhe der Risiken wird nach einem Risikofaktor berechnet, der auf Kategorien der<br />
Risikowahrnehmung nach Ruhrmann 1992 (vgl. Kap. 5) berechnet wird.<br />
13 Vgl. Wießner, Peter: AIDS <strong>als</strong> moderner Mythos. Berlin, 2003. S. 64 f.<br />
14 Vgl. Stamm-Verlag: Stamm 1995–2006. Essen, 1995–2006, je Band 2.<br />
40 Dis | kurs
Innenpolitik<br />
Die Zeitschrift wird kostenlos in Berlin vertrieben.<br />
Für eine Langzeitstudie bietet sich die empirische Methode der standardisierten<br />
Inhaltsanalyse nach Früh an. Sie ist „(…) eine Methode zur systematischen, intersubjektiv<br />
nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von<br />
Mitteilungen (…).“ 15 Mit dieser Methode ist es nicht möglich, das Untersuchungsmaterial<br />
reaktiv zu beeinflussen. Insgesamt sind inhaltsanalytische Untersuchungen<br />
beliebig wiederholbar. Die Inhaltsanalyse ist zudem zeitlich und finanziell sparsamer<br />
<strong>als</strong> die Methoden Befragung oder Beobachtung. 16 Auf Grundlage der Hypothesen<br />
wurden die entsprechenden Variablen operationalisiert. Die zugewiesenen messbaren<br />
Indikatoren bilden das Untersuchungsinstrument, das Codebuch, anhand dessen<br />
jedem Artikel für jede Variable ein Code (Indikator) zugewiesen wird. Erhoben<br />
wurden insgesamt 513 Artikel aus insgesamt 140 Ausgaben der Zeitschrift. 17 In der<br />
Hauptuntersuchung wurde davon aus forschungsökonomischen Gründen jeder vierte<br />
Artikel kodiert, so dass die Stichprobe insgesamt 128 Artikel enthielt.<br />
80%<br />
Abbildung 3: Relative Häufigkeit der Kontexte von HIV und Aids (n=<br />
Kontext 'Leben'<br />
60%<br />
Kontext 'Tod'<br />
40%<br />
Kein / Anderer Konte<br />
20%<br />
0%<br />
Rapider Rückgang Leichte Abnahme Stagnation auf niedrigem Niveau Weitere leichte Abnahme<br />
Zeiträume der Aids-Inzide<br />
Abbildung 3: Relative Häufigkeit der Kontexte von HIV und Aids (n=128)<br />
15 Früh, Werner: Inhaltsanalyse. Konstanz, 2004. S. 25.<br />
16 Vgl. Früh 2004: 39. Vgl. Schnell, Rainer et al.: Methoden der empirischen Sozialforschung.<br />
München, 2005. S. 407 f.<br />
17 Für 1995 und 1998 fehlen insgesamt vier Ausgaben. Gründe sind Nicht-Publikation<br />
sowie Nicht-Archivierung.<br />
Dis | kurs 41
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
5. Ergebnisse<br />
Der Bedeutungshorizont ‚behandelbare, chronische, nicht-tödliche Krankheit‘ nimmt<br />
mit Einführung der HAART zunächst stark zu, um gegen Ende des Untersuchungszeitraums<br />
wieder seltener zu werden. Gleichwohl überwiegt er in der HAART-Ära<br />
seit 1996 durchgehend den Kontext des ‚alten Aids‘, den ‚Tod‘. Die Abnahme des<br />
Kontextes des ‚neuen Aids‘ in den letzten beiden Zeiträumen (2003–2006) ist auf<br />
die gleichzeitige Zunahme der Rest-Kodierung ‚Kein/Anderer Kontext oder Bedeutungshorizont<br />
erkennbar‘ zurückzuführen, die nun dominiert. (Vgl. Abb. 3)<br />
Damit kann die Hypothese H1 <strong>als</strong> nicht widerlegt bezeichnet werden. In allen Zeiträumen<br />
der HAART-Ära liegt der Kontext ‚Leben‘ über dem Wert der Prä-HAART-<br />
Phase. 18 Die starke Dominanz der Artikel ohne einen der beiden Kontexte ab dem<br />
Jahr 2003 ist <strong>als</strong> Anzeichen zu werten, dass nach gut sechs Jahren HAART der Kontext<br />
des ‚neuen Aids‘ <strong>als</strong> allgemein etabliert angenommen und deshalb auf diesen<br />
Kontextbezug verzichtet wird. 19 In nur 30 bzw. 37 Artikeln der Stichprobe wurde<br />
die Möglichkeit einer HIV-Infektion bzw. die HAART erwähnt. Um die dargestellte<br />
Höhe der Risiken zu beschreiben, wurde ein Risikofaktor für jeden der 30 (37) Artikel<br />
berechnet, der auf einer Skala von 0 (nicht-riskante Darstellung) bis 4 (hochriskante<br />
Darstellung) liegt. 20 Das Risiko sich mit HIV zu infizieren wird im Zeitraum<br />
von 1998 bis 2002 durchschnittlich etwas geringer dargestellt <strong>als</strong> in den übrigen Zeiträumen,<br />
in denen der Wert bei gut 3 Skalenpunkten liegt. Die HAART wird zunächst<br />
abnehmend riskant dargestellt. Im letzten Zeitraum von 2005 bis 2006 steigt jedoch<br />
der Wert an und liegt mit 2,33 Skalenpunkten über dem Niveau der ersten Phase mit<br />
1,9 Skalenpunkten (vgl. Tab. 1).<br />
18 In der Zeit bis Juni 1996 findet sich kein Artikel mit dem Kontext ‚Leben‘. In drei Vierteln<br />
der Artikel dieses Zeitraum findet sich der Kontext ‚Tod‘. In einem Viertel ist keiner oder<br />
ein anderer Kontext zu erkennen.<br />
19 Die Rest-Ausprägung lässt sich nicht eindeutig interpretieren, da hier Artikel gänzlich<br />
ohne Kontext und solche mit möglicherweise anderen Kontexten in einer Gruppe zusammengefasst<br />
sind.<br />
20 Der Faktor berechnet sich wie folgt nach bestimmten Indikatoren der Teilkategorien<br />
der Risikowahrnehmung, vgl. Ruhrmann, Georg: Risikokommunikation. In: Publizistik.<br />
Vol. 37, Nr. 1, 1992. S. 10 f. Für folgende Indikatoren erhält der Artikel je einen Risikopunkt,<br />
da durch sie das Risiko <strong>als</strong> größer wahrgenommen wird: 1. Wenn <strong>als</strong> Risikoquelle<br />
menschliches oder technisches Versagen beschrieben wird. 2. Wenn die Folgen <strong>als</strong><br />
unkontrollierbar dargestellt werden. 3. Wenn die Risikofolgen überwiegend anschaulich<br />
beschrieben werden. 4. Wenn ein relevanter Nutzen des Risikos beschrieben wird.<br />
5. Wenn eines der Merkmale anders ausgeprägt ist, gibt es jeweils keinen Punkt. Die<br />
Summe der Punkte ergibt den Risikofaktor des Artikels. Die ausgewiesenen Werte sind<br />
jeweils die Mittelwerte des jeweiligen Zeitraums.<br />
42 Dis | kurs
Innenpolitik<br />
Tabelle 1: Veränderung der Risikofaktoren HIV-Infektion (n=30) und HAART (n=37)<br />
Zeiträume der Aids Inzidenz in<br />
Deutschland<br />
Risikofaktor HIV-Infektion<br />
Risikofaktor HAART<br />
N Mittelwert Median N Mittelwert Median<br />
Rapider Rückgang (1995–1997) 6 3,33 3,5 10 1,90 2,0<br />
Leichte Abnahme (1998–2002) 12 2,75 3,0 18 1,44 1,5<br />
Stagnation auf niedrigem Niveau<br />
(2003–2004)<br />
5 3,20 4,0 3 1,00 1,0<br />
Weitere leichte Abnahme<br />
(2005–2006)<br />
7 3,29 3,0 6 2,33 2,0<br />
Insgesamt 30 3,07 3,0 37 1,68 2,0<br />
Die in Hypothese H2 vermutete Abnahme der dargestellten Höhe der Risiken wurde<br />
damit bezogen auf den gesamten Zeitraum widerlegt. Nicht alle Informationsbereiche<br />
nehmen ab, wie mit Hypothese H3 vermutet. Werden die Häufigkeiten des ersten<br />
Zeitraums (1995 bis 1997) und des vierten Zeitraums (2005 bis 2006) miteinander<br />
verglichen, ist zu erkennen, dass die Informationen zu Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten<br />
sowie zu ehrenamtlichem Engagement und Spendensammeltätigkeiten<br />
seltener werden. Differenziert nach den Präventionsstufen 21 zeigt sich für die Informationen<br />
zu Prävention und Ansteckungswegen, dass der Anteil der Informationen<br />
zu Primär-Prävention stetig steigt, der Anteil sekundär-präventiver Informationen<br />
hingegen sinkt (Vgl. Abb. 4).<br />
Die Artikel weisen in den ersten Jahren nach Einführung der HAART häufiger positive<br />
<strong>als</strong> negative Emotionen auf (vgl. Abb. 5). 22 Zwischen 2005 und 2006 dominieren<br />
jedoch erneut negative Emotionen in den Artikeln. Der Anteil der positiven Emotionen<br />
steigt im gesamten Untersuchungszeitraum sehr leicht, aber kontinuierlich,<br />
an. Ein Grund für diese Entwicklungen könnte sein, dass die HAART fortlaufend<br />
verbessert wurde und mit ihr die Aussichten auf ein längeres Leben mit der HIV-<br />
Infektion. Der erneute Anstieg des Anteils negativer Emotionen gegen Ende des Untersuchungszeitraums<br />
könnte auf die zunehmenden HIV-Neuinfektionen zurückzuführen<br />
sein (vgl. Kap. 2). Damit muss Hypothese H4 für den letzten Zeitraum <strong>als</strong><br />
widerlegt gelten.<br />
21 Es gibt drei Präventionsstufen. Primär-Prävention hat zum Ziel, die Infektion mit HIV<br />
zu verhindern. Sekundär-Prävention will verhindern, dass das Vollbild Aids bei HIVpositiven<br />
Menschen ausbildet. Tertiär-Prävention zielt auf die Verhinderung des Tods<br />
von Aids-Patienten und versucht, akute Symptome zu lindern. Vgl. Mayer, Alexander:<br />
Prävention. Regensburg, 1995. S. 14.<br />
22 Innerhalb des ersten Zeitraums ‚Rapider Rückgang‘ der Aids-Inzidenz entfällt nur ein Artikel<br />
mit positiven Emotionen auf die Zeit vor Juli 1996, <strong>als</strong>o die Phase in der noch keine<br />
HAART verfügbar war.<br />
Dis | kurs 43
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
40%<br />
Abbildung 4: Relative Häufigkeit der Informationsbereiche (n=1<br />
35%<br />
Primär-Prävention<br />
30%<br />
Sekundär-Prävention<br />
25%<br />
Beratungs- und Hilfsmöglichke<br />
20%<br />
Ehrenamt / Spenden<br />
15%<br />
10%<br />
5%<br />
0%<br />
Rapider Rückgang Leichte Abnahme Stagnation auf niedrigem<br />
Niveau<br />
Zeiträume der Aids-Inzidenz<br />
Zeiträume der Aids-Inzide<br />
Weitere leichte Abnahme<br />
Abbildung 4: Relative Häufigkeit der Informationsbereiche (n=128)<br />
Hypothese H5 vermutet eine Abnahme der Thematisierung von Nicht-staatlichen<br />
Hilfs- und Selbsthilfe-Maßnahmen. Die relative Häufigkeit des Unterthemas ‚Hilfsmaßnahmen<br />
(nicht-staatlich) für (potentiell) Betroffene‘ zeigt ein recht konstantes<br />
Bild. Sie bewegt sich zwischen 40 und 50 % mit einer sehr leicht steigenden Tendenz.<br />
‚Folgen der HIV-Infektion und der Aids-Erkrankung‘ werden in der Prä-HAART-<br />
Phase bis Juni 1996 noch in sieben von zwölf Fällen thematisiert. Ihr Anteil liegt<br />
nach der HAART-Einführung nie mehr über 40 %. Somit kann die Hypothese H5<br />
insgesamt nur für den ersten Themenblock <strong>als</strong> widerlegt gelten.<br />
6. Fazit<br />
Die in dieser Studie widerlegten Hypothesen widersprechen der Vorstellung einer<br />
uneingeschränkt harmloseren Darstellung von HIV und Aids. Weder überwiegen<br />
positive Emotionen in den Artikeln, noch nehmen die Information zu primärer<br />
Prävention ab. Bis auf eine Phase zwischen 1998 und 2002 wird dieses Risiko einer<br />
HIV-Infektion <strong>als</strong> konstant ‚hoch‘ beschrieben. Die HAART wird zwar zunächst erwartungsgemäß<br />
abnehmend riskant dargestellt. In den Jahren 2005 und 2006 wird<br />
sie dann aber riskanter <strong>als</strong> je zuvor beschrieben. Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten<br />
wurden konstant in etwas weniger <strong>als</strong> der Hälfte aller Artikel erwähnt, was ebenfalls<br />
nicht vermutet wurde.<br />
Nicht widerlegt werden konnten hingegen die Vermutungen zur Dominanz des<br />
Kontextes ‚Leben‘. Dieser Kontext belegt HIV und Aids mit der Bedeutung einer behandelbaren,<br />
chronischen und nicht-tödlichen Krankheit. Dieser Kontext überwog<br />
den Bedeutungshorizont des alten Aids, den ‚Tod‘. Gleichzeitig verliert aber die<br />
44 Dis | kurs
Innenpolitik<br />
Abbildung 5: Relative Häufigkeit von Artikeln mit Emotionsfärbung in % (n=<br />
50%<br />
40%<br />
Überwiegend positive Emotion<br />
Ausgeglichene Emotionsfärbun<br />
30%<br />
Überwiegend negative Emotion<br />
Keine Emotionen<br />
20%<br />
10%<br />
0%<br />
Rapider Rückgang Leichte Abnahme Stagnation auf niedrigem Weitere leichte Abnahme<br />
Niveau<br />
Zeiträume der Aids-Inzidenz<br />
Zeiträume der Aids-Inzide<br />
Abbildung 5: Relative Häufigkeit von Artikeln mit Emotionsfärbung in % (n=128)<br />
Unterscheidung zwischen Leben und Tod an Bedeutung: Ab 2003 findet sich in der<br />
absoluten Mehrheit aller Artikel keiner der beiden Kontexte. Ebenfalls nahmen,<br />
wie vermutet, die Anteile der Artikel mit Informationen zu Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten,<br />
zu ehrenamtlichem Engagement und Spendenmöglichkeiten sowie<br />
zu sekundärer Prävention ab. Folgen von HIV und Aids für Patienten wurden nach<br />
Einführung der HAART nie mehr so häufig thematisiert wie vorher.<br />
Auch wenn sich in dieser Studie gezeigt hat, dass ein Vorwurf an den Journalismus,<br />
er verharmlose HIV und Aids seit Einführung der HAART, zumindest für die Siegessäule<br />
nicht haltbar ist, muss selbstverständlich weiter nach den Ursachen für die<br />
steigenden HIV-Neuinfektionen gesucht werden. Auch mit dieser Studie ist die journalistische<br />
Darstellung der Immunschwächekrankheit noch nicht ‚aus dem Schneider‘.<br />
Beispielsweise muss ihr Zusammenspiel mit Präventionskampagnen weiter untersucht<br />
werden. In der Forschung zur Health Communication, die sich vorwiegend<br />
um strategische Gesundheitskommunikation kümmert, 23 einem Feld der Public<br />
Relations, wird die journalistische Berichterstattung oft nur <strong>als</strong> ‚Kanal‘ für Aufklärungsbotschaften<br />
betrachtet. 24 Dieses Verständnis lässt fundamentale Funktionen<br />
des Journalismus, wie Selektion und Kritik außer Acht. Angesichts der Verlautbarungen<br />
der Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) aus der Schweiz, erfolgreich<br />
behandelte und dauerhaft kontrollierte HIV-Patienten seien nicht infektiös,<br />
23 Vgl. Signitzer, Benno: ‚Health Communication‘. Konstanz 1994. S. 293, 297.<br />
24 Vgl. Kreps, Gary L.: Trends and Directions in Health Communication Research. In: Medien<br />
und Kommunikationswissenschaft. Vol. 51, Nr. 3–4, 2003. S. 355–357.<br />
Dis | kurs 45
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
forderte beispielsweise die Zeitschrift ‚blu‘ (ein Berliner Konkurrenzblatt der Siegessäule):<br />
„Aidshilfe muss umdenken“. 25 Welchen Einfluss solch eine offensichtlich nicht<br />
stromlinienförmige Weitergabe von Präventionsbotschaften auf die Umsetzung präventiver<br />
Maßnahmen hat, müssen nachfolgende Studien untersuchen.<br />
Literatur<br />
Früh, Werner: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. Konstanz, 5. Auflage, 2004.<br />
Kamps, Bernd Sebastian: Einleitung. In: Hoffmann, Christian; Rockstroh, Jürgen Kurt;<br />
Kamps, Bernd Sebastian (Hrsg.): HIV.NET 2007. Wuppertal-Beyenburg, 2007. S. 27–46.<br />
http://www.hiv.net/hivnet2007.<strong>pdf</strong> (Abrufdatum: 09.04.2008).<br />
Kitzinger, Jenny: The role of the mass media in the prevention of AIDS. In: Friedrich, Dorothee;<br />
Heckmann, Wolfgang (Hrsg.): Aids in Europe. The Behavioural Aspect. Band 1, General<br />
Aspects. Berlin, 1995. S. 103–113.<br />
Mayer, Alexander: Prävention. Definition, Entwicklung, Organisation. Regensburg, 1995.<br />
Robert Koch Institut (Hrsg.): Epidemiologisches Bulletin. Diverse Ausgaben. http://www.rki.<br />
de/ Menüabfrage: Infektionskrankheiten A–Z > HIV/AIDS > Veröffentlichungen > Epidemiologisches<br />
Bulletin (Abrufdatum: 03.04.2008).<br />
Signitzer, Benno: ‚Health Communication‘. Ansätze und Forschungsfelder einer neueren<br />
kommunikationswissenschaftlichen Teildisziplin. In: Bentele, Günter; Hesse, Kurt R. (Hrsg.):<br />
Publizistik in der Gesellschaft. Konstanz, 1994. S. 287–302.<br />
25 Alp, Olaf (Hrsg.): blu. Berlin. Vol. 12, Nr. 129, 2008. S. 1.<br />
46 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
Bürgerethos und Amtsverantwortung <strong>als</strong> Lebenselixier<br />
einer republikanischen Ordnung<br />
Karl-Heinz Breier<br />
Hochschule Vechta (IBS), Vechta<br />
E-Mail: karl-heinz.breier@uni-vechta.de<br />
Schlüsselwörter:<br />
Republik, Herrschaft, Repräsentation<br />
Jede Republik – Ernst Vollrath nennt eine Republik „die Institution der Institutionen“ 1<br />
– ist nur so machtvoll, wie sie intellektuell, emotional und habituell verankert ist,<br />
sprich wie sie in den Köpfen, Herzen und Gewohnheiten präsent ist. Eine Republik,<br />
in der die Bürger den Anspruch erheben, sich selbst zu regieren – und Selbstregierung<br />
kann selbstverständlich auch in repräsentativ verfassten Ordnungen praktiziert<br />
werden –, ist die bei weitem anspruchsvollste politische Ordnung. Während Willkürherrschaften,<br />
die sich Herrschaft anmaßen, in ihrem Kern unpolitisch sind, muss eine<br />
machtvolle Freiheitsordnung in den Denk- und Handlungsgewohnheiten möglichst<br />
vieler Bürger verankert sein. Nur so wird die politische Ordnung mächtig. Und wohlgemerkt,<br />
machtvoll zu sein, bedeutet nicht, gewalttätig zu sein. Das gerade Gegenteil<br />
ist der Fall: „Das Maß der Gewaltanwendung ist ein Maßstab für das Schwinden einer<br />
Autorität.“ 2 Je machtvoller eine politische Ordnung ist, desto weniger muss sie auf<br />
Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zurückgreifen. Gerade Regime, die ihre<br />
1 Ernst Vollrath: Revolution und Konstitution <strong>als</strong> republikanische Grundmotive bei Hannah<br />
Arendt, in: Baule, B. (Hrsg.): Hannah Arendt und die Berliner Republik. Fragen an das<br />
vereinigte Deutschland, Berlin 1996, S. 137.<br />
2 Karl Jaspers: Wahrheit und Bewährung, München 1983, S. 31.<br />
Dis | kurs 47
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Ohnmacht erfahren, die <strong>als</strong>o an Zustimmung verlieren und die keine Unterstützung<br />
erfahren, stehen in der Versuchung, die ihnen entzogene Macht durch Gewaltmittel<br />
ersetzen zu wollen. Doch innere Annahme lässt sich nicht erprügeln.<br />
Macht bildet sich, wenn die politischen Institutionen intakt sind, und intakt sind<br />
sie in einer freiheitlichen Ämterordnung, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger in<br />
den Institutionen zum politischen Handeln gleichsam einladen. Eben hierin liegt das<br />
Betriebsgeheimnis jeder föderal verfassten politischen Ordnung. Macht konstituiert<br />
sich durch die Teilhabe möglichst Vieler, und zwar mit der wundersamen Folge, dass<br />
das politische Handeln einzelner Amtsinhaber eingehegt, begrenzt, ja genau genommen<br />
entsouveränisiert wird. Sich <strong>als</strong> Einzelner etwa zum Souverän zu erheben, ist<br />
höchst unpolitisch. Denn der Souverän einer jeden Freiheitsordnung ist ein Plural;<br />
es sind die Bürgerinnen und Bürger, die all den unterschiedlichen Amtsinhabern<br />
Macht überhaupt erst anvertrauen. Und die Anvertrauung der Macht geschieht nicht<br />
willkürlich, sondern geordnet, nämlich nach den Grundsätzen und Regeln der gemeinsamen<br />
Verfassung.<br />
Mit Aristoteles gesprochen heißt dies: Die Verfassung, sprich die Ordnung der Ämter<br />
hinsichtlich der unterschiedlichen Kompetenzen, ist das heilige Buch einer wohlgeordneten<br />
Polis. 3 Und Bürger kann nur sein, wer nicht in einer Tyrannis lebt. Denn<br />
unter angemaßter Herrschaft zu leben und Bürger zu sein, ist nicht miteinander vereinbar.<br />
„Angemaßte Herrschaft und anvertraute Macht“ 4 schließen sich kategorisch<br />
aus. Eine republikanische Ämterordnung lebt von anvertrauter Macht, und jede angemaßte<br />
Herrschaft, die eine Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte spaltet, negiert<br />
das gemeinsame Gut einer auf dem Recht beruhenden Bürgerordnung. 5<br />
Der Herrschaftssoziologe Max Weber hingegen stellt den Herrschaftsbegriff ins Zentrum<br />
seines politischen Denkens: „Der Staat ist […] ein auf das Mittel der legitimen<br />
Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.“ 6 Max<br />
Weber denkt in den Bahnen von Thomas Hobbes, dessen Leviathan den prägnantesten<br />
Ausdruck eines durch Gewalt gesicherten Herrschaftsverhältnisses darstellt.<br />
Dem Staat <strong>als</strong> dem Gewaltmonopol kommt die Aufgabe zu, all diejenigen Mittel in<br />
Anwendung zu bringen, die dazu dienen, den Herrschaftsunterworfenen ihren individuellen<br />
Sicherheitsraum zu gewähren. Folgt man dem Denken von Leo Strauss, so<br />
3 Vgl. Aristoteles: Politik, 1278 b 9 ff.<br />
4 Karl-Heinz Breier: Leitbilder der Freiheit. Politische Bildung <strong>als</strong> Bürgerbildung, Schwalbach/Ts.<br />
2003, S. 11 ff.<br />
5 Vgl. ebd., S. 145 ff.<br />
6 Max Weber: Politik <strong>als</strong> Beruf, in: ders.: Gesammelte Schriften zur Politik, hrsg. von<br />
Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 507.<br />
48 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
basiert dieses neuzeitliche Sekuritätsdenken auf einer Umdeutung des Naturbegriffs. 7<br />
Natur beinhaltet nicht mehr das telos, auf das hin sich zu ordnen humane Existenz in<br />
der Lage ist. Vielmehr wird mit dem Naturbegriff jener Naturzustand umschrieben,<br />
der Ausdruck von Anarchie und Ordnungslosigkeit ist. Der Mensch ist nach Hobbes<br />
eine matter in motion, die hauptsächlich von den beiden Grundantrieben fear and<br />
desire bewegt wird. Damit ist nicht mehr die Vernunft das Ordnungszentrum des<br />
Menschen und seiner Existenz in Gesellschaft, sondern es ist die Leidenschaftsdynamik<br />
der Gesellschaft, die sich aus den rivalisierenden Interessen speist. 8<br />
Die Konsequenzen sind gravierend. Denn mit diesem begrifflichen Inventar ändert<br />
sich der kategoriale Zugang, und politische Phänomene werden in anderer Bedeutung<br />
zu Bewusstsein gebracht. Während das Politische bei Platon und Aristoteles in<br />
seiner wesentlichen, die Menschen in ihrer gesamten Existenz ansprechenden Qualität<br />
gedacht wird, so wird Politik im neuzeitlichen Denken lediglich <strong>als</strong> ein Subsystem<br />
verortet –neben anderen Subsystemen wie etwa Wirtschaft, Gesellschaft und<br />
Kultur. 9 Den antiken Denkern würde es nicht in den Sinn kommen, den Menschen<br />
ausschließlich <strong>als</strong> technisch versierten homo faber zu denken, der gleich einem Ingenieur<br />
einen künstlichen Leviathan herstellt und damit die Ordnungslosigkeit zu<br />
ordnen versucht. Ganz im Gegenteil, der Mensch ist zur Aktualisierung seiner humanen<br />
Natur wesentlich auf die Polis verwiesen. Insofern kann menschliche Existenz<br />
gar nicht ohne politische Ordnung gedacht werden. Politische Ordnung kommt<br />
– so sehen es die Antiken – nicht künstlich und damit nachträglich dem menschlichen<br />
Leben hinzu, sondern sie ist immer schon verknüpft mit der konkreten Existenz<br />
von Menschen in Gesellschaft. Isoliertes Menschsein entspräche einer Existenz<br />
auf animalischem Niveau. Wer aufwächst, muss in einer wie auch immer gearteten<br />
Ordnung menschlichen Zusammenlebens aufwachsen. Das heißt, die Frage nach der<br />
Ordnung ist unserem Menschsein inhärent. 10<br />
Es ist in der Tat nicht beliebig, in welchen Lebenszusammenhängen und in welcher<br />
politischen Ordnung wir leben. Die Sinnhorizonte, in den wir Menschen leben, und<br />
die Ziele, um deren willen Menschen Ordnung etablieren, sollten vergegenwärtigt<br />
und im Bewusstsein präsent gehalten werden. Wird demgegenüber politische Ordnung<br />
mit Staatlichkeit gleichgesetzt und damit auf ihr Gewaltmonopol reduziert, so<br />
bewegt man sich allein auf der Ebene der Mittel. Die Frage nach den Zielen und der<br />
7 Vgl. Leo Strauss: Hobbes' politische Wissenschaft, Neuwied am Rhein/Berlin 1965,<br />
S. 154 ff.<br />
8 Vgl. Karl-Heinz Breier: Leitbilder der Freiheit, S. 162 ff.<br />
9 Vgl. Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, 4. Aufl. Weinheim/München<br />
1996.<br />
10 Vgl. Karl-Heinz Breier/Alexander Gantschow: Einführung in die Politische Theorie,<br />
Berlin 2006, S. 26 ff.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
damit verbundenen Qualität der politischen Ordnung wird konsequent ausgeblendet.<br />
Max Weber folgt in der auf Durchsetzung ausgelegten Herrschaftszentrierung<br />
nicht nur dem Denken von Thomas Hobbes, sondern darüber hinaus teilt er jene<br />
nietzscheanische Auffassung, der zufolge hinter allen Erscheinungen nichts Wesentliches<br />
sei. Für Weber ist klar: Eine rationalisierte Welt ist eine durch und durch<br />
entzauberte Welt, in der das Faktische dominiert. Das Faktische sind die Machtverhältnisse.<br />
Sie allein können in ihrer Wirkkraft erfahren und in ihrem empirischen<br />
Gehalt wissenschaftlich abgebildet werden. Aus Metaphysik wird Physik, und die<br />
Metaphysik der Sitten mutiert zu einer Physik der Sitten 11 . Das Politische reduziert<br />
sich demnach auf das „Streben nach Macht“ 12 , und Politik zu betreiben, bedeutet<br />
folgerichtig: „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung,<br />
sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen,<br />
die er umschließt.“ 13 Macht heißt daher „jede Chance, innerhalb einer sozialen<br />
Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf<br />
diese Chance beruht.“ 14 So plausibel es ist, dass Menschen danach streben sich<br />
durchzusetzen und andere zu dominieren, so einleuchtend ist es zugleich, dass eine<br />
allein auf Überwältigungsmacht basierende Ordnung auf tönernen Füßen steht. Dieses<br />
hat Max Weber im Sinn, wenn er die Kategorie der Herrschaft einführt. Um das<br />
menschliche Zusammenleben nicht der Beliebigkeit faktischer Machtverhältnisse zu<br />
überantworten, geht der Herrschaftssoziologe den institutionellen Zusammenhängen<br />
nach, die das Zusammenleben auf Dauer stellen. Und da ist es klar: Je mehr<br />
es der politischen Ordnung gelingt, Loyalität und Gehorsam zu organisieren, desto<br />
stabiler und tragender ist ihr Fundament.<br />
Ganz empirisch möchte Weber aufweisen, wie die Ressource Gehorsam gehoben und<br />
zutage gefördert werden kann: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten<br />
Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden […].“ 15 Im Gegensatz<br />
zur kruden Macht, die sich <strong>als</strong> pure Überwältigung manifestiert, zeigt sich Herrschaft<br />
geradezu <strong>als</strong> Kunst. Es ist die Kunst, Gefolgschaft zu organisieren. So lautet Webers<br />
Frage daher: „Auf welche inneren Rechtfertigungsgründe und auf welche äußeren Mit-<br />
11 Vgl. Emile Durkheim: Die Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie<br />
der Moral, hrsg. von Hans-Peter Müller, Frankfurt am Main 1991. Diesen Hinweis sowie<br />
weitere hilfreiche Anregungen verdanke ich meinem akademischen Freund Alexander<br />
Gantschow.<br />
12 Max Weber: Politik <strong>als</strong> Beruf, S. 546.<br />
13 Ebd., S. 506.<br />
14 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg.<br />
von Johannes Winckelmann, 1. Halbband, 5. Aufl. Tübingen 1976, S. 28.<br />
15 Ebd.<br />
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Thema: Patient Demokratie<br />
tel stützt sich diese Herrschaft?“ 16 Was sind die Gründe für Loyalität und Gehorsam?<br />
Als Antwort gibt er drei idealtypische Legitimitätsgründe von Herrschaftsordnung<br />
an: die traditionale Herrschaft, die charismatische Herrschaft und die legale Herrschaft.<br />
Während die einen Gehorsam leisten, weil sie sich einer Tradition zugehörig fühlen,<br />
folgen andere der außeralltäglichen Gnadengabe eines Führers, und wiederum andere<br />
gehorchen den <strong>als</strong> verbindlich erachteten Regeln einer gegebenen Satzung. Als<br />
Soziologe beschreibt Weber die empirischen Beweggründe, die Menschen veranlassen,<br />
Loyalität einzufordern und Gehorsam zu leisten. Entscheidend dabei ist, dass es<br />
ihm nicht um den normativen Gehalt der Gehorsamsgründe geht. Welcher Tradition,<br />
welchem Charismatiker oder welcher Satzung Menschen Folge leisten sollen,<br />
erörtert der Soziologe nicht.<br />
Dolf Sternberger, der <strong>als</strong> Heidelberger Politikwissenschaftler den geistigen Spuren<br />
des Heidelberger Soziologen folgt, denkt in entscheidender Hinsicht weiter. Für Dolf<br />
Sternberger verengt sich die Frage nach der politischen Ordnung nicht auf ihre herrschaftssoziologische<br />
Perspektive. Denn wo Weber die politische Ordnung allein <strong>als</strong><br />
Herrschaftsverhältnis sieht, das sich über die Mittel der legitimen Gewaltsamkeit definiert,<br />
da erweitert Sternberger die Frage nach der politischen Ordnung. Die Frage<br />
nach der politischen Ordnung lässt sich für ihn nicht hinreichend über die Mittel<br />
erörtern, sondern sie muss zurückgebunden werden an die Ziele, für die die Mittel<br />
eingesetzt werden. Nicht das Organisieren von Herrschaftsverhältnissen, <strong>als</strong>o Staatlichkeit<br />
an sich, steht im Vordergrund seiner Betrachtung, sondern es ist die Frage<br />
nach den Zielen der Herrschaftsorganisation, d. h. die Frage nach der Verfassung. So<br />
hebt Sternberger in seiner Antrittsvorlesung hervor, dass ein Verfassungsstaat nicht<br />
um der Herrschaft oder Beherrschung willen existiert. Vielmehr ist es die spezifische,<br />
ihn auszeichnende, Eigenart, aus der er seine Existenzberechtigung bezieht. „Auch<br />
eine Regierung des bürgerlichen Einverständnisses und der bürgerlichen Anvertrauung<br />
erteilt Befehle und übt Zwang aus, aber sie tut es vermöge einer fundamentalen Vereinbarung<br />
– wir nennen sie die Verfassung. Sie herrscht nicht über Menschen. Regierung<br />
ist nicht Herrschaft.“ 17 Im Unterschied zu bloßer Herrschaft, in der „sich <strong>als</strong>o die beherrschten<br />
Menschen der beanspruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen“ 18 ,<br />
beruht die bürgerliche Rechtmäßigkeit von Regierung darauf, dass die Regierungsbefugnisse,<br />
sprich die Ämter und deren Kompetenzen, den Regierenden und Amtsinhabern<br />
von den Regierten für eine festgelegte Zeit übertragen und – im wahrsten<br />
Sinne des Wortes – anvertraut werden. Die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns<br />
16 Ders.: Politik <strong>als</strong> Beruf, S. 507.<br />
17 Dolf Sternberger: Herrschaft und Vereinbarung. Über bürgerliche Legitimität, in: ders.:<br />
„Ich wünschte ein Bürger zu sein“. Neun Versuche über den Staat, Frankfurt/Main 1967,<br />
S. 67.<br />
18 Max Weber: Politik <strong>als</strong> Beruf, S. 507.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
ist stets daran gebunden, dass die Repräsentanten die anvertraute Macht verfassungsgemäß<br />
ausüben und die mit dem Amt verbundene politische Weisungsbefugnis<br />
nicht missbrauchen. Indem Sternberger die Existenzberechtigung einer Ordnung auf<br />
ihre verfassungsmäßigen Qualitäten zurückführt, republikanisiert er gleichsam den<br />
Herrschaftsanspruch der Ordnung. Er erklärt die Bürgervereinbarung zum unabdingbaren<br />
Legitimitätsfundament der politischen Ordnung, die darüber erst zu einer<br />
originär politischen wird. So wird jede bloß herrschaftszentrierte Engführung aufgebrochen.<br />
Damit knüpft Sternberger an das aristotelische Politikverständnis an. Denn<br />
auch für Aristoteles kommt es entscheidend auf die Qualität politischer Institutionen<br />
und Einrichtungen an. Eine gelungene politische Ordnung, die die Gesellschaft nicht<br />
von vornherein in Herrscher und Beherrschte spaltet, ist nach Aristoteles die Regierungsform,<br />
in der „Freie und Gleichgestellte“ 19 sich wechselseitig regieren. Allein wo<br />
das Zusammenleben in einer freiheitlichen Ordnung organisiert ist und wo die gemeinsame<br />
Sache der Bürger im Zentrum der Politik steht, lässt sich sinnvoll von polis<br />
und im römischen Sprachgebrauch später von res publica sprechen. 20 Der Begriff<br />
res publica weist auf das gemeinsame öffentliche Gut hin, das das Zusammenleben<br />
prägt. Im Gegensatz dazu verweist der neuzeitliche Staatsbegriff auf einen Zustand,<br />
auf einen status. „Für den praktischen Ordnungsdenker Hennis“ 21 ist darin die begriffliche<br />
Normativität, welche der res publica noch eingeschrieben ist, definitiv verloren<br />
gegangen. 22 Demgegenüber steht im Zentrum von Aristoteles' Überlegungen gerade<br />
die Qualität der politischen Ordnung. Sie steht auf dem Prüfstand und sie muss sich<br />
vor den Bürgern <strong>als</strong> Bürgerordnung ausweisen. 23 Es ist nach Aristoteles die Verfassung<br />
einer politischen Ordnung, die <strong>als</strong> gemeinsames Gut das Verbindende unter<br />
den in ihrer Freiheit gleichen Bürgern ausdrückt. Als verbindliche Bürgerordnung<br />
schützt sie die Bürger vor den Anmaßungen rechtloser Willkürherrschaft. „Denn im<br />
Gehorsam gegen die Verfassung zu leben, darf man nicht <strong>als</strong> Knechtschaft auffassen,<br />
sondern <strong>als</strong> Rettung der Verfassung.“ 24 Die Diskrepanz zwischen dem antiken und<br />
dem modernen Ansatz tritt deutlich hervor. Während die politischen Denker der<br />
Antike die Frage nach dem guten Leben stellen und damit die Tyrannis <strong>als</strong> größte<br />
Bedrohung ansehen, so versuchen die modernen, in der liberalen Denktradition<br />
19 Vgl. Aristoteles: Politik, 1255 b 19.<br />
20 Vgl. Giovanni Sartori: Demokratietheorie, Darmstadt 1997, S. 285.<br />
21 Stephan Schlack: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik,<br />
München 2008, S. 10.<br />
22 Vgl. Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion<br />
der politischen Wissenschaft, in: ders.: Politikwissenschaft und politisches Denken.<br />
Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 1 ff.<br />
23 Aristoteles: Politik, 1278 b 9 ff.<br />
24 Ebd., 1310 a 34 ff.<br />
52 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
stehenden Theoretiker, Vorkehrungen gegen die Anarchie zu treffen. Die Frage nach<br />
der Qualität der regierenden wie auch der regierten Bürger ist aus dieser Perspektive<br />
zweitrangig. Hier geht es in der Hauptsache um die Aufrechterhaltung des Frieden<br />
und Sicherheit gewährenden Gewaltmonopols.<br />
Der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper verleiht dieser neuzeitlichen Sichtweise<br />
deutlichen Ausdruck, wenn er das F<strong>als</strong>ifikationsprinzip des Kritischen Rationalismus<br />
auf die Politische Theorie anwendet: „Es ist daher f<strong>als</strong>ch, wenn man die Betonung<br />
auf die Frage legt (wie es von Platon bis Marx und auch später immer wieder getan<br />
wurde): ‚Wer soll regieren? Das Volk (der Pöbel) oder die wenigsten Besten? Die (guten)<br />
Arbeiter oder die (bösen) Kapitalisten? Die Mehrheit oder die Minderheit? Die Partei<br />
von links oder die Partei von rechts oder eine Partei der Mitte?' Alle diese Fragen sind<br />
f<strong>als</strong>ch gestellt. Denn es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung<br />
ohne Blutvergießen loswerden kann.“ 25 Jede Regierung kann nach Popper wie eine<br />
Theorie widerlegt werden. Man wählt sie einfach ab und man erteilt einer neuen<br />
Exekutive das Mandat. So wie in der Wissenschaftstheorie jeder theoretische Absolutheitsanspruch<br />
vermieden werden kann, so wird in der Demokratie jeder praktische<br />
Absolutheitsanspruch ausgebremst. Die Frage nach der Qualität und den Fähigkeiten<br />
der Amtsinhaber jedoch wird nicht gestellt. Gemäß der<br />
Stückwerk-Sozialtechnologie reicht es vollkommen aus, die Bedingungen, unter denen<br />
ein System angemessen funktioniert, anzugeben. Das Politische wird nicht „<strong>als</strong><br />
Reflexionsform eines sittlichen Lebenszusammenhangs begriffen“ 26 , sondern <strong>als</strong> ein purer<br />
Funktionszusammenhang, der einen reibungslosen Regierungswechsel – wie<br />
Popper es nennt – „ohne Blutvergießen“ ermöglichen soll. Ganz anders sieht dies Wilhelm<br />
Hennis. In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung zum Thema Amtsgedanke und<br />
Demokratiebegriff 27 betont er die große Bedeutung des Amtsbegriffs für ein angemessenes<br />
Verständnis politischer Praxis. Wer demgegenüber etwa das Problem der so<br />
genannten Willensbildung ins Zentrum seiner Überlegungen rückt und wer gleichsam<br />
schablonenhaft politische Repräsentanten zu exekutierenden Funktionären des<br />
Wählerwillens degradiert, versperrt sich nach Hennis den originären Zugang zum<br />
Verständnis einer repräsentativen Demokratie. 28 Als mehrstufig verfasste Ämterordnung,<br />
die in der Vielzahl der öffentlichen Ämter die Vielzahl politischer Verantwort-<br />
25 Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen, 3. Aufl. München 1997, S. 208.<br />
26 Jürgen Habermas: Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders.: Die Einbeziehung<br />
des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1999, S. 277.<br />
27 Vgl. Wilhelm Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders.: Politikwissenschaft<br />
und politisches Denken, S. 127 ff.<br />
28 Vgl. Wilhelm Hennis: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik<br />
politischer Umfragen, in: ders.: Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche<br />
Abhandlungen I, Tübingen 1999, S. 64 ff.<br />
Dis | kurs 53
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
lichkeiten und Kompetenzen widerspiegelt, kann die politische Ordnung erst in den<br />
Blick kommen, wenn das Amt die Mitte des politischen Denkens ausmacht und die<br />
Amtsführung im Zentrum des politischen Urteilens steht. In Artikel 39 der Federalist<br />
Papers erläutert James Madison die mit einer Ämterordnung verbundenen „charakteristischen<br />
Züge der republikanischen Regierungsform“ 29 : „Wenn wir bei der Suche<br />
nach einem Kriterium auf die verschiedenen Prinzipien zurückgreifen, auf denen die<br />
verschiedenen Regierungsformen basieren, können wir die Regierung <strong>als</strong> Republik definieren<br />
oder zumindest mit dem Namen versehen, die all ihre Befugnisse direkt oder<br />
indirekt vom gesamten Volk herleitet und von Personen geführt wird, welche ihre Ämter<br />
nach Ermessen für begrenzte Zeit innehaben oder solange sie ihr Amt korrekt ausüben.“ 30<br />
Entscheidend ist offensichtlich, dass die verfassungsmäßig gebundene Macht der Repräsentanten<br />
sich aus der gesamten Bürgerschaft herleitet und nicht etwa aus einer in<br />
sich abgeschlossenen, privilegierten Schicht. 31 Darüber hinaus ist es für die republikanische<br />
Form von Selbstregierung kennzeichnend, dass die Bürger ihre Macht nicht<br />
basisdemokratisch und direkt ausüben, sondern dass sie ihre Macht ausgewählten<br />
Mitbürgern, d. h. Amtsinhabern übertragen. „Die beiden großen Unterschiede zwischen<br />
einer Demokratie und einer Republik sind erstens: die Übertragung der Regierungsverantwortung<br />
in der Republik auf eine kleine Anzahl von Bürgern, die von den<br />
übrigen gewählt werden, zweitens: die größere Anzahl von Bürgern und das größere<br />
Gebiet, über die die republikanische Regierung ausgeübt werden kann.“ 32 Indem das in<br />
den Federalist Papers verfochtene Paradigma einer föderalen Republik „die Idee der<br />
Repräsentation zum Leitprinzip der republikanischen Ordnung erhebt“ 33 , treten die<br />
Autoren der Federalist der überlieferten – noch von Montesquieu vertretenen – Auffassung<br />
entgegen, wonach eine Republik sich allein auf ein kleines Territorium erstrecken<br />
und die Zahl der Bürger ein überschaubares Maß nicht überschreiten dürfe.<br />
34 Im Gegenteil, die amerikanischen Verfassungsinterpreten preisen geradezu die<br />
Vorzüge einer großen Bürgerschaft und insbesondere die im Verfassungsentwurf<br />
„angelegte Konzeption der künftigen amerikanischen Republik: ein großräumiges, an<br />
ökonomischem Fortschritt orientiertes, geopolitisch mächtiges System.“ 35 Es mag selt-<br />
29 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers.<br />
von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Art. 39, S. 244.<br />
30 Ebd.<br />
31 Vgl. ebd., Art. 22, S. 163.<br />
32 Ebd., Art. 10, S. 98.<br />
33 Jürgen Gebhardt: Selbstregulierung und republikanische Ordnung in der politischen<br />
Wissenschaft der Federalist Papers, S. 327.<br />
34 Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, Art. 14,<br />
S. 114 ff.<br />
35 Barbara Zehnpfennig: Die Federalists zwischen Gemeinwohl und Partikularinteresse, in:<br />
Münkler, H. (Hrsg.): Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen<br />
54 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
sam erscheinen, dass die Autoren der Federalist gerade in der Großflächigkeit einer<br />
Republik, in dem – wie sie es nennen – „Experiment einer Großrepublik“ 36 den günstigsten<br />
Nährboden für das Gedeihen von Bürgertugend und Amtsgesinnung ausmachen.<br />
Und doch spricht Einiges dafür: „Die Gründerväter propagieren gewiß kein radikaldemokratisches<br />
Bild vom ‚Bürger‘. Sie wissen um die komplexe Natur des Menschen,<br />
werten politische Betätigung nicht <strong>als</strong> conditio sine qua non eines voll entwickelten<br />
Menschseins, sie glauben, daß ‚Bürgertugend‘ nicht gleichmäßig gestreut, sondern in<br />
der Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist, manche mehr davon, manche weniger<br />
besitzen.“ 37 Die Verfassungsbefürworter sind Realisten. Sie wissen, dass jede Gesellschaft<br />
hinsichtlich der Qualitäten und Tugenden der einzelnen Menschen in sich<br />
geschichtet ist. Denn die Erfahrung zeigt, dass wir Menschen weder in unseren Begabungen<br />
noch in der Aktualisierung unserer Tüchtigkeiten gleich sind. Eben deshalb<br />
steht ja seit Platon die politische Frage nach der Gerechtigkeit auf der Tagesordnung:<br />
Wie werden sich die Wesensgleichen, die aber in ihren Qualitäten so<br />
unterschiedlich sind, in ihrem Zusammenleben wechselseitig gerecht? In Bezug auf<br />
die Ämterordnung gesprochen heißt dies: Wer gelangt in die Ämter, und wie ist es zu<br />
gewährleisten, dass nur geeignete Amtsinhaber Zugang zur Vertretung ihrer Mitbürger<br />
finden und ihnen gegenüber politisch weisungsbefugt sind? Denn darauf scheint<br />
doch der berühmte Philosophen-Königssatz Platons 38 hinauszulaufen, dass nicht<br />
eher Gerechtigkeit in der Polis herrschen werde, bevor nicht diejenigen die Ämter<br />
innehaben, denen aufgrund ihrer maßstäblichen Einsicht die Ämter angetragen werden<br />
sollten. „Dieser Satz meint nicht: die Philosophieprofessoren sollen die Staatsgeschäfte<br />
leiten, sondern: die Grundverhaltensweisen, die das Gemeinwesen tragen und<br />
bestimmen, müssen auf das wesentliche Wissen gegründet sein.“ 39 Allein in dem Maße,<br />
in dem die Ämterbesetzung <strong>als</strong> gerecht erfahren wird, besteht begründete Aussicht<br />
darauf, dass die gemeinsame Ordnung anerkannt wird und dass die Zustimmung zur<br />
eigenen politischen Ordnung wächst. Denn gerade darin besteht nach Platon die<br />
höchst schwierige Herausforderung, nämlich jedermann mit seinen Qualitäten zu<br />
würdigen und aufgrund seiner Würdigkeit einen Ort in der Gesellschaft einzuräumen.<br />
Diese politische Kunst, uns wechselseitig gerecht zu werden, besteht offensichtlich<br />
darin, Ungleiche ungleich und Gleiche gleich zu behandeln. Allein so werden<br />
Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden 1996, S. 304.<br />
36 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers.<br />
von Barbara Zehnpfennig, Art. 14, S. 118.<br />
37 Hartmut Wasser: Das Leitbild vom ‚Bürger‘ in den USA. Anmerkungen zum politischen<br />
Diskurs der amerikanischen Revolution, in: Hepp, G./Schiele, S./Uffelmann, U. (Hrsg.):<br />
Die schwierigen Bürger, Schwalbach/Ts. 1994, S. 25.<br />
38 Vgl. Platon: Politeia, 473 D ff.<br />
39 Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 194.<br />
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wir uns gerecht ist. Während wir uns unter dem Maß der numerischen, gleichsam<br />
demokratischen Gleichheit gleich behandeln, berücksichtigt die proportionale<br />
Gleichheit die Unterschiede, die zwischen uns bestehen. Proportional zu unserer<br />
Ungleichheit versuchen wir uns demnach gleich zu behandeln. „Von der proportionalen<br />
Gleichheit, auf der diese Gerechtigkeit beruht, sagt Platon, sie sei ‚die Scheidung des<br />
Zeus, und den Menschen steht sie immer nur in geringem Maß zu Gebote, alles aber,<br />
was davon etwa den Staaten oder auch einzelnen erreichbar ist, bewirkt alles Gute‘.“ 40<br />
Das heißt: Wer sich im Zusammenleben stets um „die Scheidung des Zeus“ bemüht,<br />
strebt nach Gerechtigkeit, und wenn viele und insbesondere die führenden politischen<br />
Menschen danach streben, ihren Mitbürgern möglichst gerecht zu werden, so<br />
erwächst daraus die Stabilität einer politischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund<br />
ist es einsehbar, dass insbesondere diejenigen Menschen mit führenden Ämtern betraut<br />
werden sollten, die gleichsam die innere Republik voll in sich entwickelt haben.<br />
Wer den gemeinsamen Geist der politischen Ordnung in seinem Sprechen und Handeln<br />
verkörpert, repräsentiert im wörtlichen Sinne. Er bringt in die Präsenz, was <strong>als</strong><br />
Gehalt der politischen Ordnung zu Grunde liegt. So leuchtet es ein, dass Repräsentation<br />
in ihrer originären Bedeutung nicht „im heutigen Sinne einer Stellvertretung des<br />
Volkes, sondern im Sinne der Vergegenwärtigung des Allgemeinen in Personen“ 41 zu<br />
verstehen ist.<br />
In seinem Aufsatz Der politische Begriff der Repräsentation 42 hebt Siegfried Landshut<br />
diesen Sachverhalt deutlich hervor. Er führt aus, dass politische Repräsentanten keine<br />
Ableger des Souveräns im verkleinerten Maßstab darstellen, sondern dass sie in<br />
ihrem Sprechen und Handeln die öffentlichen Angelegenheiten sichtbar machen und<br />
dass sie zur Erscheinung bringen, was die Sache aller ist. „Das Aktualisieren, das Wirksamwerden<br />
der für die politische Lebensgemeinschaft verbindlichen Idee der Gemeinsamkeit<br />
erfordert Personen, Repräsentanten, deren Verhalten, Denken und Gesinnung<br />
von sich aus auf das Allgemeine und Gemeinsame gerichtet ist. Der Repräsentant kann<br />
kein Privatmann sein.“ 43 Repräsentanten bringen nicht zuletzt in ihrer öffentlichen<br />
Selbstauslegung zur Erscheinung, was <strong>als</strong> Gehalt, ja <strong>als</strong> geistig verbindende Idee gemeinsamer<br />
Lebensführung der politischen Ordnung zu Grunde liegt. „Niem<strong>als</strong> können<br />
Personen repräsentiert werden, aber nur Personen können repräsentieren.“ 44 Und<br />
da liegt es auf der Hand, dass im Unterschied zu einer plebiszitären Demokratie ein<br />
40 Reinhart Maurer: Platons ‚Staat‘ und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen<br />
zur politischen Ethik, Berlin 1970, S. 78.<br />
41 Siegfried Landshut: Politik <strong>als</strong> Wissenschaft – Grundbegriffe der Politik, in: ders.: Politik.<br />
Grundbegriffe und Analysen, Bd. I, hrsg. von Rainer Nicolaysen, Berlin 2004, S. 295 f.<br />
42 Ebd., S. 421 ff.<br />
43 Ebd., S. 434.<br />
44 Ebd., S. 433.<br />
56 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
mehrstufig organisiertes Auswahlverfahren von Repräsentanten eine bessere Vorkehrung<br />
gegenüber allen Versuchungen privater Vereinnahmung und borniertesten Interessenverfolgs<br />
darstellt. Jenseits aller plebiszitären Ansprüche auf Willensidentität,<br />
wo die Repräsentanten den Repräsentierten zu Willen sein sollen, ermöglichen erst<br />
die Begriffe der politischen Repräsentation und des Amtes, von vertrauenswürdiger<br />
Behandlung und verantwortlicher Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu<br />
sprechen. „In der plebiszitären, mit sich in allen Stufen identischen Demokratie gibt es<br />
keine Distanz, folglich auch keine Verantwortung, denn Verantwortung ist immer nur<br />
möglich vor einem anderen, in der politischen Welt vor dem, der in ein Amt beruft. Der<br />
Abgeordnete ist dem Wähler verantwortlich und der Regierungschef dem Parlament,<br />
das ihn berufen hat. Nur wo eine klare Differenzierung zwischen denen, die ‚berufen‘<br />
sind, und eine objektive Festlegung der Pflichten durch das Amt gegeben ist, ist Verantwortung,<br />
‚responsible governmen‘, möglich.“ 45 In der Identität eines kollektiven Willens<br />
hingegen, die in den Beherrschten ihren Ausgang nehmen soll, ist alle Pluralität<br />
verschwunden. Wo Herrscher und Beherrschte in der Einheit ihres Willens identisch<br />
sein sollen, kann nicht von politischer Verantwortung gesprochen werden. Denn wer<br />
soll wem gegenüber wofür Verantwortung übernehmen, wenn Regierende und Regierte<br />
in ihrer Willensbekundung stets deckungsgleich sind? „In dem Begriff der Verantwortung<br />
liegt eine doppelte Verweisung: man ist verantwortlich für eine Sache oder<br />
für andere Menschen, und man ist verantwortlich vor einer Instanz, welche den Auftrag<br />
erteilt, der die Verantwortung begründet.“ 46 Amtsinhaber in einer Republik, denen<br />
mit ihrem Amt von ihren Mitbürgern Amtskompetenzen sowie damit verbundene<br />
Rechte und Pflichten übertragen worden sind, sind ihren Mitbürgern gegenüber für<br />
die Art und Weise ihrer Amtsführung verantwortlich. So hängt es entscheidend von<br />
den Qualitäten der Amtsinhaber ab, ob sie das Vertrauen in die gemeinsamen Institutionen<br />
stärken oder ob sie zu Misstrauen gegenüber „denen da oben“ Anlass geben.<br />
In den Federalist Papers wird daher auf den Punkt gebracht, welch hoher Stellenwert<br />
dem Amtsethos in einer intakten Republik zukommt. „Die Annahme, alle Menschen<br />
seien käuflich, ist in der Politik kein sehr viel kleinerer Irrtum <strong>als</strong> die Annahme, alle<br />
Menschen seien redlich. Das Prinzip der Delegation von Macht setzt voraus, daß unter<br />
den Menschen ein gewisses Maß an Tugend und Ehre zu finden ist, das eine vernünftige<br />
Grundlage für Vertrauen bildet.“ 47 Versuchen die Repräsentanten über sachbezogene<br />
und aufrichtige Debatten ihren Mitbürgern die politischen Kontroversen vor Augen<br />
zu führen oder aber versuchen sie durch unernstes Gerede, durch Bemäntelung oder<br />
gar Täuschung das Publikum hinter das Licht zu führen? Laden sie in aufklärender<br />
45 Wilhelm Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 134 f.<br />
46 Georg Picht: Der Begriff der Verantwortung, in: ders.: Wahrheit – Vernunft – Verantwortung.<br />
Philosophische Studien, 2. Aufl. Stuttgart 1996, S. 319.<br />
47 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, Art. 76, S. 448 f.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Rede und Gegenrede zum Nachvollzug der politischen Alternativen ein oder ergehen<br />
sie sich in Allgemeinplätzen und reden in ihrer Sorge um Machterwerb und<br />
Machterhalt gar die drängendsten Probleme herunter? Karl Jaspers spricht in diesem<br />
Zusammenhang von „zwei Grundgesinnungen in der Politik“ 48 : Die eine erzeugt jene<br />
„Politik aus Verachtung“, die wie auf einem Thron sitzend sich „vermeintlich zum<br />
Herrschen berufen“ sieht, während allein die andere Grundgesinnung, der zufolge<br />
Bürger ihre Mitbürger in allem Ernst in die Politik und die in ihr ausgetragene Auseinandersetzung<br />
einzubeziehen suchen, der Festigung von Bürgerfreiheit dient.<br />
Aus diesem Grund hält Walter Bagehot in seiner klassischen Studie über The English<br />
Constitution die „informing function“ 49 für die nach der Wahlfunktion zweitwichtigste<br />
Aufgabe des britischen Unterhauses. Noch vor der Gesetzgebungsfunktion weist<br />
er dem Parlament die Aufgabe zu, stellvertretend für die gesamte Bürgerschaft jene<br />
Debatten zu führen, die erforderlich sind, damit „die Bürgerschaft sich in der Politik<br />
wiederfindet oder aller erst mit ihr ‚mitkommt‘.“ 50 Dem öffentlichen Austausch und<br />
der pointierten Debatte von Rede und Gegenrede wird in diesem herausgehobenen<br />
Forum der Politik eine das politische Bewusstsein bildende Bedeutung beigemessen.<br />
51 „Die Regierenden umwittert keine Art von Heiligkeit. Es ist umgekehrt erwünscht,<br />
daß sie der schärfsten Kritik ausgesetzt werden. Wer es wagt, solche Stellungen<br />
zu übernehmen, muß sich bewußt sein, daß hohe politische und sittliche Anforderungen<br />
an ihn gestellt werden, daß er sich der hellen Belichtung all seines Tuns aussetzt und<br />
darin bestehen muß, daß von ihm mehr verlangt wird <strong>als</strong> von anderen, nicht aber daß<br />
er in einen geschützten Raum eintritt.“ 52 Als Urheber öffentlichen Handelns stehen<br />
Amtsinhaber der Öffentlichkeit gegenüber in der Antwortpflicht. Amtsinhaber müssen<br />
Rechenschaft ablegen und sie müssen Auskunft darüber geben, warum sie so<br />
und nicht anders handeln. Aufgrund dieser menschlichen Qualität, nämlich Urheber<br />
des eigenen Handelns zu sein 53 , ist das „Rechenschaft-Ablegen“ aufs Engste mit<br />
dem Politischen verbunden. Denn wer in der Ausübung seines Amtes stets handelnd<br />
Neuanfänge in das zwischenmenschliche Bezugsgewebe einwebt, muss in der Tat für<br />
dieses Vermögen einstehen. Als Repräsentant muss er sich für sein öffentliches Tun,<br />
sprich für die Art und Weise seiner Amtsausübung, gegenüber den Repräsentierten<br />
48 Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch, München 1981, S. 254.<br />
49 Walter Bagehot: The English Constitution, (first published 1867) London 1968, S. 118 ff.<br />
50 Christian Meier: Die parlamentarische Demokratie, München 2001, S. 162.<br />
51 Vgl. Karl-Heinz Breier/Alexander Gantschow: Das Volumen der Freiheit. Zur symbolischen<br />
Dimension der Reichstagskuppel, in: Parlamentarismus in der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Grundlagen und aktuelle Probleme, hrsg. von Gotthard Breit und Peter<br />
Massing, Schwalbach/Ts. 2002, S. 93 ff.<br />
52 Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik?, 10. Aufl. München 1988, S. 147.<br />
53 Vgl. Aristoteles: NE, 1139 a 20 ff.<br />
58 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
verantworten. 54 „Der ‚consensus‘, die Zustimmung der Beherrschten, ist das, was in<br />
der alten Theorie wesentlich die guten von den tyrannischen Herrschaftsformen unterscheidet.<br />
[…] Dabei ist der Konsens in der repräsentativen Demokratie auf die Ausübung<br />
von Ämtern bezogen, und zwar in einer Art und Weise, daß sie das durch die<br />
Berufung in das Amt bekundete Vertrauen – unter ständiger Kontrolle – rechtfertigt.“ 55<br />
Wer hingegen auf die absurde Idee käme, der Wählerschaft zu versprechen, in all<br />
seinem öffentlichen Handeln den Willen der Wähler auszuführen, entledigte sich<br />
damit jeglicher Verantwortung für sein Tun. Allenfalls kann er um Vertrauen für<br />
seine eigene Vorgehensweise werben. Und darüber hinaus ist er klug beraten, seine<br />
Mitbürger zu bitten, die von ihm ausgehenden Handlungsinitiativen doch wohlwollend<br />
aufzugreifen, mitzutragen und im besten Falle durch tätige Unterstützung zum<br />
– dann auch gemeinsamen – Erfolg zu führen. „Vertrauen ist die seelische Grundlage<br />
der repräsentativen Demokratie, und alle politischen Auseinandersetzungen in ihr<br />
sind weniger Kampf um Willen und Macht <strong>als</strong> um Vertrauen. Jeder Wahlkampf geht<br />
darum, Vertrauen zu erwerben, das Vertrauen in den Gegner in Frage zu stellen.“ 56<br />
Dabei ist es insbesondere die Aufgabe der Opposition, die Regierungsmehrheit zur<br />
öffentlichen Darlegung ihrer Politik zu bewegen. In diesem Sinne stellt das Plenum<br />
den herausgehobenen Ort der stellvertretenden Auseinandersetzung, des Streits der<br />
Worte, des Wettbewerbs der Meinungen und des Ausweisens der Gründe dar. Im<br />
Angelsächsischen wird der Begriff Grund mit reason wiedergegeben, und reason lässt<br />
sich zugleich <strong>als</strong> Vernunft übersetzen. Politisch gesprochen heißt dies, dass all dasjenige<br />
eher einsehbar ist, was die besseren Gründe ausweist.<br />
So wenig es sich bei einer parlamentarischen Debatte um philosophische Wahrheitssuche<br />
handelt und sosehr um Machtpositionen gestritten und gerungen wird, in Parlamenten<br />
wird Macht nicht gewaltsam durchgesetzt – denn Gewalt ist sprachlos. Was<br />
eine verfasste Ämterordnung leisten kann, ist die Offenlegung der Gründe. Und je<br />
einsehbarer und transparenter die Begründungen vermittelt werden, desto weniger<br />
können Vertrauensverlust und die in Politikverdrossenheit zum Ausdruck gebrachte<br />
Distanz der Bürger zu ihrer politischen Ordnung um sich greifen.<br />
Vertrauen und der darauf gründende Zusammenhalt der Bürger machen offensichtlich<br />
das Fundament eines freien Gemeinwesens aus. Denn „[…] wo eines regiert und<br />
das andere regiert wird, gibt es eine gemeinsame Leistung beider.“ 57 In modernen Worten<br />
heißt dies: Leadership und citizenship gehören zusammen.<br />
54 Vgl. Hella Mandt: „Responsible Government“ und kontinentale Demokratietheorie, in:<br />
dies.: Politik in der Demokratie. Aufsätze zu ihrer Theorie und Ideengeschichte, Baden-<br />
Baden 1998, S. 9 ff.<br />
55 Wilhelm Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 137.<br />
56 Ebd., S. 132 f.<br />
57 Aristoteles: Politik, 1254 a 27 f.<br />
Dis | kurs 59
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Sind Demokratien noch zeitgemäß?<br />
Eine einführende Analyse republikanischer und liberaler<br />
Ideen<br />
Ines Weber<br />
Hochschule Vechta, IBS<br />
E-Mail: ines.weber@uni-vechta.de<br />
Schlüsselwörter:<br />
Demokratie, Liberalismus, Republikanismus, Deliberation<br />
Angesichts der immer komplexer werdenden staatlichen Aufgaben von Steuerung<br />
und Integration sowie der zunehmenden bürgerlichen Unkenntnis und sogar Apathie<br />
gegenüber dem politischen System stellt sich die Frage, ob die Demokratie noch die<br />
angemessene Regierungsform ist, um auf diese Probleme zu reagieren. Die Lösung<br />
dieser Probleme ist nicht ohne weiteres anzugeben, denn natürlich muss zunächst<br />
das Verständnis und die Definitionen von Demokratie näher betrachtet werden. Allein<br />
dabei stößt man auf eine lange und uneinheitliche Historie des Begriffs, denn<br />
die Geschichte der Demokratie reicht bis in die Antike zurück und erfuhr während<br />
ihrer Entwicklung ganz unterschiedliche (theoretische) Ausdifferenzierungen und<br />
Konnotationen.<br />
Bereits im antiken Griechenland ist der Begriff Demokratie in den politischen und<br />
philosophischen Schriften zu finden. So besteht Demokratie nach Aristoteles' Ansicht<br />
darin, „dass alle über jeden herrschen und jeder wechselweise über alle“ 1 . Aber<br />
zeitgleich wurde diese Regierungsform zum Beispiel von Platon kritisiert, da sie der<br />
1 Vorländer, Hans: Demokratie, S. 9.<br />
60 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Ausdruck des Verfalls paradigmatischer Gerechtigkeit und vollendeten Glücks sei. 2<br />
Sie hatte über Jahrhunderte nur eine negative Konnotation – die Demokratie galt<br />
<strong>als</strong> instabil, <strong>als</strong> „Herrschaft des Pöbels“ und der Armen. Im Mittelalter und in der<br />
italienischen Renaissance tauchte dann der Begriff der Republik auf, unter dem man<br />
bürgerschaftliche Selbstregierung, Konsens und Zustimmung zu Herrschaft und politischer<br />
Regierung verstand. Hingegen beinhaltet das heutige Demokratieverständnis<br />
3 in vielen Staaten insbesondere liberale Züge. Individuelle Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte<br />
gelten in den Industriestaaten <strong>als</strong> selbstverständlich und werden<br />
mit Demokratie verknüpft. 4<br />
Die republikanische und die liberale Demokratie prägten und prägen die theoretische<br />
Idee von Demokratie. Diese sich mittlerweile konträr gegenüberstehenden<br />
Denkströmungen 5 haben ein vollkommen unterschiedliches Verständnis von Anthropologie,<br />
Freiheit, Partizipation und Zivilgesellschaft sowie Funktion und Aufgabe<br />
von Staatlichkeit, die zunächst eingehender beleuchtet werden sollen. Anschließend<br />
soll ein Lösungsvorschlag für die eingangs angerissenen sozialen Probleme aufgezeigt<br />
und damit eine Antwort auf die Frage nach der (noch) bestehenden Aktualität<br />
von Demokratien gegeben werden.<br />
Republikanismus und Liberalismus – ein Überblick<br />
Die Wurzeln des Republikanismus reichen bis in die Antike zurück. Schon Aristoteles<br />
und Cicero werden von den heutigen Republikanern <strong>als</strong> „Ideen-Gründer“ angesehen.<br />
6 Der Republikanismus vereinigt sehr unterschiedliche Ansätze und kann<br />
deshalb nicht <strong>als</strong> einheitliche Strömung innerhalb der politischen Ideengeschichte<br />
betrachtet werden. Die republikanischen Anknüpfungspunkte erstrecken sich vom<br />
antiken Ideal der athenischen Polis über die römische Res publica, die elitäre Adelsde-<br />
2 Hüttinger, Daniela: Platon (427–347 v. Chr.). In: Maier, Hans/Denzer, Horst (Hrsg.):<br />
Klassiker des politischen Denkens Band 1. Von Plato bis Hobbes, München 2004, S. 25.<br />
3 Seit den ersten antiken Erwähnungen des Demokratiebegriffs lassen sich drei Transformationsebenen<br />
erkennen: die Positivierung, die Futurisierung und die Rationalisierung.<br />
Gemeint ist die Aufwertung des einst negativ besetzten Begriffs, eine politische Zukunftsvision<br />
der möglichen Weiterentwicklung der Demokratie und die Verschiebung von<br />
der „Input“ zur „Output“-Orientierung (Buchstein, Hubertus: Demokratie. In: Göhler,<br />
Gerhard/ Iser, Matthias/Kerner, Ina (Hrsg.): Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe<br />
zur Einführung, Wiesbaden, 2004, S. 57–59). Zur genaueren Erläuterung dieser drei<br />
Transformationsebenen siehe Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk: Das Unbehagen an der<br />
Demokratietheorie. In: Leviathan 31/2003, S. 470–495.<br />
4 So etwa ist eine deutliche Steigerung der Zahl liberal-demokratischer Länder festzustellen.<br />
Pickel, Susanne/Pickel, Gert: Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe,<br />
Theorien, Methoden. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 152.<br />
5 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 210.<br />
6 Terchek, Ronald J./Conte, Thomas C.: Theories of Democracy, S. 51.<br />
Dis | kurs 61
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
mokratie Venedigs und der konservativen Gentry in England bis hin zu den sozialen<br />
Bewegungen in den USA nach 1788. 7 Alle Republikaner vertreten die Idee, dass ein<br />
stabiles politisches Gemeinwesen nur durch den Zusammenhalt der Gemeinschaft<br />
existieren kann. Dieser wird durch die Ausbildung von Moralität unter den Bürgern<br />
hervorgebracht. Diese „Tugend“, wie Republikaner jene System stabilisierende Moral<br />
auch oft bezeichnen, ist der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Individuum<br />
und Gemeinschaft: tugendhafte Individuen arbeiten dem Wohl aller entgegen<br />
und schränken dafür auch ihre Privatinteressen ein. Tugendhaftes Handeln ist die<br />
„Bereitschaft zur freiwilligen, durch niemanden erzwungenen Subsumtion der eigenen<br />
Interessen unter das Wohl und die Funktionsimperative des Gemeinwesens“. 8<br />
Durch die Identifikation mit der Gemeinschaft hat auch das partizipatorische Element<br />
einen hohen Stellenwert: Politische Teilhabe ist ein gesamtgesellschaftlicher<br />
Handlungsprozess und der Schlüssel zur Selbstverwirklichung des Menschen. Neben<br />
staatlicher Hoheitsgewalt und dezentralisierter Regelung des Marktes tritt im<br />
republikanischen Verständnis die Solidarität <strong>als</strong> dritte und wichtigste Quelle gesellschaftlicher<br />
Integration. Damit kann der politische Prozess <strong>als</strong> Reflexionsform eines<br />
sittlichen Zusammenlebens begriffen werden. 9<br />
Klassisches liberales Denken entwickelte sich erst im 19.Jahrhundert und damit im<br />
Vergleich zum Republikanismus verhältnismäßig spät. Diese Denkströmung ist jedoch,<br />
genau wie der Republikanismus, sehr vielschichtig – sie wird heute zwischen<br />
Konservatismus auf der Rechten und den Demokraten auf der Linken angesiedelt.<br />
Alle Liberalen verbindet dabei stets der Leitgedanke, die Menschen von unnötigen<br />
Bindungen zu emanzipieren und soviel Freiheit wie möglich im staatlichen und gesellschaftlichen<br />
Leben zu erreichen. 10 Erste liberale Gedanken entstanden in den<br />
USA von den Autoren der Federalist- Papers. 11 Die Anhänger liberaler Ideen schließen,<br />
anders <strong>als</strong> die Republikaner, einen schon vorgegebenen Gesamtwillen, ein<br />
sittliches Gemeinwohl, an dem die Politik oder die Volksvertreter sich orientieren<br />
können, aus. Erst in einem rationalen Diskussions- und Entscheidungsprozess der<br />
Repräsentanten muss ermittelt werden, was <strong>als</strong> allgemein verbindliches Wohl ange-<br />
7 Buchstein, Hubertus/Schmalz-Bruns, Rainer: Nachwort. In: Barber, Benjamin: Starke<br />
Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994.<br />
8 Münkler, Herfried: Politische Tugend, S. 25.<br />
9 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 277 f.<br />
10 Fenske, Hans: Politisches Denken von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart.<br />
In: Fenske, Hans/Mertens, Dieter/Reinhard, Wolfgang/Rosen, Klaus (Hrsg.): Geschichte<br />
der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 2003, S. 380.<br />
11 Döhn, Lothar: Liberalismus, S. 216 f. Die Autoren der Federalist-Papers argumentieren<br />
auch mit dem starken republikanischen Moment des Tugend<strong>diskurs</strong>es für die Herausbildung<br />
des amerikanischen Verfassungsverständnisses.<br />
62 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
sehen wird. Diese Debatte und ihre Abstimmung werden völlig unabhängig getroffen<br />
und dürfen nicht durch ein imperatives Mandat oder direkte Einwirkung der Wähler<br />
beeinflusst werden. Die Parlamentarier, die Elite des Volkes, stehen stellvertretend<br />
für das ganze Volk und treffen rational und frei Entscheidungen, die allgemein verbindlich<br />
sind. 12 Der Kern der liberalen Gedanken liegt dabei auf dem Verständnis,<br />
dass jedes Individuum frei vor ungewünschten Übergriffen von Seiten des Staates<br />
oder anderer Mitmenschen ist. Die Erklärung der Menschenrechte, eine der Säulen<br />
der heutigen Demokratien, lässt sich somit auf Liberale wie John Locke zurückführen.<br />
Aus dem Schutz individueller Freiheitsrechte resultiert die Vorstellung, dass es<br />
rechtlich festgeschriebene Autonomiesphären gibt, die neutral, <strong>als</strong>o dem politischen<br />
Willensbildungs- und Entscheidungsprozess entzogen sind. Der Staat wird „<strong>als</strong> Apparat<br />
öffentlicher Verwaltung, die Gesellschaft <strong>als</strong> System marktwirtschaftlich strukturierten<br />
Verkehrs der Privatpersonen und ihrer gesellschaftlichen Arbeit“ verstanden. 13<br />
Anthropologie<br />
Republikaner vertreten kein homogenes anthropologisches Verständnis. Trotzdem<br />
rekurrieren viele republikanische und heute auch kommunitaristische Auffassungen<br />
auf Aristoteles' anthropologischem Konzept. Er ist einer der ersten und bis heute<br />
wichtigsten Vertreter des Republikanismus. Seiner Ansicht nach gibt es ein objektives<br />
Gut, das der Mensch zunächst <strong>als</strong> Mensch durch Sprache (zoon echon) und durch<br />
Handeln in der politischen Gemeinschaft (zoon politikon) verwirklichen kann. Erst<br />
dadurch kann er sich zu etwas „Übermenschlichem“, „Göttlichem“ entwickeln. 14<br />
Die „Verwandlung“ wird durch die Analyse der menschlichen Seele begründet: sie besteht<br />
für Aristoteles aus einem irrationalen und einem rationalen Teil. Das Irrationale<br />
lässt sich teilweise durch das Rationale kontrollieren. Eine „Anlage“ zur Kontrolle ist<br />
in jedem Menschen. Wenn diese Anlage durch Gewöhnung dem zweiten, rationalen<br />
Teil zugänglich gemacht wird, nennt Aristoteles dieses „Tätigsein der Seele“ 15 ethische<br />
Tugend. 16 Der rationale Teil wird durch Vernunft ausgebildet. Er wird bestimmt<br />
12 Döhn, Lothar: Liberalismus, S. 215–216.<br />
13 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 277.<br />
14 Capurro, Rafael: Menschenbilder. Einführung in die philosophische Anthropologie. In:<br />
Capurro, Rafael/Grimm, Petra (Hrsg.): Medienethik. Menschenbilder in den Medien:<br />
ethische Vorbilder? Stuttgart 2002, Schriftenreihe Medien-Ethik, Bd. 1.<br />
15 Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 29.<br />
16 Die ethischen Tugenden <strong>als</strong> gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen können <strong>als</strong> ein Habitus<br />
bestimmt werden, der uns ermöglicht die Mitte zwischen „Zuviel und Zuwenig“ zu<br />
finden. „Wenn <strong>als</strong>o jede ‚Kunst‘ ihr Werk zur Vollendung dadurch bringt, dass sie auf das<br />
Mittlere blickt und ihr Werk diesem annähert – man pflegt daher beim Anblick vollendeter<br />
Kunstwerke zu urteilen: ‚hier ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen‘,<br />
erkennt <strong>als</strong>o an, dass ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört, die richtige Mit-<br />
Dis | kurs 63
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
durch die dianoёtischen Tugenden. 17 Beide Tugenden müssen ausgebildet sein und<br />
über das gesamte Leben verfolgt werden, um zum objektiv wahren, höchsten Gut,<br />
zur vollendeten Glückseligkeit, der Eudaimonia zu gelangen. Nur innerhalb der politischen<br />
Gemeinschaft lassen sich diese ethischen und intellektuellen Fähigkeiten und<br />
Fertigkeiten vervollkommnen. Das Gute für die politische Gemeinschaft ist besser<br />
und vollkommener <strong>als</strong> das Gute eines Einzelnen.<br />
Die tugendhafte Lebensführung ist keinesfalls für jeden Menschen konstatierbar<br />
oder gar <strong>als</strong> ein Automatismus zu betrachten, sondern kann nur von Bürgern der<br />
Polis, <strong>als</strong>o Besitzenden, hervorgebracht werden. Sie haben die Möglichkeit sich der<br />
Kontemplation zu widmen, da sie durch ihren Reichtum von der Erwirtschaftung<br />
des Lebensnotwendigen befreit sind.<br />
Besitzt ein Bürger zuviel Reichtum, so sind der Sittenzerfall und damit die Zerstörung<br />
der Tugend vorherbestimmt. Deshalb ist es wichtig nach dem „Optimum des politischen<br />
Zustandes unterhalb des Maximums“ zu suchen. 18 Anders <strong>als</strong> bei Aristoteles ist<br />
zum Beispiel Rousseaus republikanisches Sozialverständnis nicht natürlich angelegt,<br />
sondern wird durch den contrat social begründet. Trotzdem dient ihm einerseits die<br />
griechische Polisverfassung <strong>als</strong> sinnvolles Ordnungsmodell sowie andererseits die<br />
Bürgertugenden der Römischen Republik. 19 Die Stabilität der Rousseauschen Gesellschaft<br />
bemisst sich an der Veredelung des Menschen durch die in der Gemeinschaft<br />
hervorgebrachten Tugenden. Hierbei ist, genau wie bei Aristoteles, eine Formung<br />
und Erziehung vonnöten, die geistig-sittliche Staatsbürger hervorbringt. Da der Bereich<br />
des Politischen in allen Lebensformen verwirklicht ist, hat der „Erzieher“ in der<br />
radik<strong>als</strong>ten Lesart des Republikanismus folglich auch das Recht in sämtliche Lebensbereiche<br />
eines Jeden einzudringen um den Menschen „formen“ zu können.<br />
Der republikanische Ausgangspunkt für das anthropologische Verständnis ist <strong>als</strong>o<br />
te dagegen sie erhält. […] sittliche Tüchtigkeit zielt wesenhaft auf jenes Mittlere ab. Ich<br />
meine natürlich die Tüchtigkeit des Charakters. Denn diese entfaltet sich im Bereiche der<br />
irrationalen Regungen und des Handelns und da gibt es das Zuviel, das Zuwenig und das<br />
Mittlere.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 44). Aristoteles gibt auf den anschließenden<br />
Seiten bestimmte Beispiele: so ist die Tapferkeit die Mitte zwischen Angst und<br />
Verwegenheit (S. 46), Großzügigkeit ist die Mitte zwischen Knausern und Verschwendungssucht<br />
(S. 47), Hochsinnigkeit die Mitte zwischen dummem Stolz und Engsinnigkeit<br />
(S. 47).<br />
17 Sie sind Handlungen, die um ihrer selbst Willen getan werden. Aristoteles nennt folgende<br />
Tugenden: die wissenschaftliche Erkenntnis (Aristoteles: Nikomachische Ethik:<br />
S. 156 f.), das praktische Können (S. 157 f.), die sittliche Einsicht (S. 158 f.), intuitiver<br />
Verstand (S. 160) und philosophische Weisheit (S. 161 f.). Für genauere Erklärungen<br />
siehe Buch IV.<br />
18 Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 282.<br />
19 Braun, Eberhard/Heine, Felix/Opolka, Uwe: Politische Philosophie. Ein Lesebuch. Texte,<br />
Analysen, Kommentare, Reinbek 2002, S. 170.<br />
64 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
immer die Gemeinschaft, durch die die eigentliche „Menschwerdung“ erst vollzogen<br />
werden kann. Die Pflichten des Einzelnen gegenüber seiner Gemeinschaft sind vorrangig.<br />
Erst aus den Pflichten heraus leiten sich auch bestimmte Rechte ab. Das anthropologische<br />
Verständnis der Liberalen setzt nicht das Wohl aller vor das des Bürgers,<br />
sondern betont die höherwertige Stellung des Einzelnen. Viele singuläre Individuen<br />
bilden (durch einen Vertrag, wie etwa in der liberalen Idee von John Locke) einen<br />
gemeinsamen politischen Verbund. Durch vorhandene institutionelle Vorkehrungen<br />
und durch staatliche Macht werden die einzelnen Mitglieder an der prinzipiell<br />
schrankenlosen individuellen Nutzenmaximierung gehemmt. Durch die Schaffung<br />
eines privaten Raumes, ermöglicht durch die Trennung von Staat und Gesellschaft,<br />
wird der Bürger moralisch entlastet. Anstelle der allumfassenden politischen und<br />
moralischen Tugend tritt im Liberalismus eine Trennung von Legalität (im Bereich<br />
des Staates) und Moralität (vorbehalten für den gesellschaftlichen Bereich). 20 Liberale<br />
gehen <strong>als</strong>o bei ihren theoretischen Betrachtungen stets vom Individuum und<br />
seinen Rechten (zum Beispiel das Recht auf Eigentum, individuelle Freiheit und Nutzenmaximierung)<br />
aus und erst untergeordnet ergeben sich daraus Pflichten. 21<br />
Aus vielen liberalen Schriften kann ein geschichtsphilosophischer Verlauf abgeleitet<br />
werden, der sich geradlinig auf einen evolutionären Fortschritt der rationalen Menschen<br />
zu bewegt und damit einhergehend auch die Maximierbarkeit der individuellen<br />
Interessen ermöglicht. Liberale unterscheiden sich jedoch zum Beispiel in Bezug<br />
auf die eingeräumte Einsichtsfähigkeit der Menschen in ihre Interessen. Prinzipiell<br />
ist aber erkennbar, dass selbst der Interessen<strong>diskurs</strong> gezwungen ist eine Auswahl der<br />
Interessen vorzunehmen. Das Ausmaß dieser Selektion ist strittig. Insgesamt sind<br />
aber „wohlverstandene“ und langfristig rationale Interessen entscheidend. Dies bedeutet,<br />
dass nicht jeder egoistische Nutzenmaximierer zugelassen wird, sondern nur<br />
jene, die sich auf lange Sicht ihrer angelegten Interessenrationalität erwiesen haben<br />
und so lange engagiert waren, dass die Sanktionsmechanismen von Markt und Verfassung<br />
sie zu dieser Rationalität „erziehen“ konnten. 22 Bildung und Erziehung werden<br />
<strong>als</strong>o hauptsächlich <strong>als</strong> Aufgabe der staatlichen Institutionen und Organisationen<br />
verstanden.<br />
Freiheit<br />
Die normativ hohen republikanischen Ansprüche setzen voraus, dass der Mensch<br />
nicht seinen Launen oder Leidenschaften unterliegen darf, sondern allein den Geboten<br />
der Vernunft und des Verstandes gehorcht. Der Mensch muss sein „höheres Selbst<br />
20 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 282–84.<br />
21 Münkler, Herfried: Politische Tugend. S. 33.<br />
22 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 283 f.<br />
Dis | kurs 65
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
<strong>als</strong> Geistwesen“ zur Geltung bringen und damit frei werden für eine selbst bestimmte<br />
Lebensform. 23 Für diese Entwicklung müssen Leidenschaften und egoistische Interessen<br />
kontrolliert und unterdrückt und das kollektiv „höhere Selbst“ mithilfe von<br />
Erziehung entwickelt werden. Positive Freiheit beinhaltet dementsprechend auch einen<br />
bestimmten, je nach Theorieansatz variierenden Zwang oder wird von Kritikern<br />
gar <strong>als</strong> Tyrannei bezeichnet. Denn jedem Einzelnen darf der gesellschaftliche Wille<br />
aufoktroyiert werden um die eigene, höhere Freiheit zu erlangen. 24<br />
Diese Idee, Freiheit bedeute Gehorsam gegenüber einem höherem Gesetz ist so alt<br />
wie die ersten Demokratien selbst. „In Europa wurde seit der griechischen Antike –<br />
anderswo möglicherweise früher – von der ‚Versklavung durch die Leidenschaften‘ und<br />
von Freiheit <strong>als</strong> Form der Selbstdisziplin gesprochen. Von Freiheit wurde <strong>als</strong>o auch so<br />
gesprochen, <strong>als</strong> beinhalte sie Gehorsam gegenüber einem höheren Gesetz, einem Gesetz<br />
Gottes oder der Natur.“ 25 Rousseau 26 etwa hat die positive Freiheit <strong>als</strong> Quelle, Maß<br />
und Zweck des Rechts und der politischen Ordnung angesehen. Sobald der Mensch<br />
auf seine Freiheit verzichte, verzichte er gleichzeitig auf seine Eigenschaft <strong>als</strong> Mensch.<br />
Jedoch stellt sich die Frage, wie die Menschen, die voneinander abhängig sind und<br />
die gegenseitig Forderungen aneinander stellen können, frei sind. Es ist nur möglich,<br />
indem die Verpflichtungen, die sie haben, ihrem eigenen (höheren) Willen entsprechen.<br />
Jedoch werden die Verbindlichkeiten nicht von den einzelnen Menschen<br />
bestimmt, sondern von der Gesellschaft auferlegt. Die Lösung des Problems ist die<br />
Kongruenz von eigenem Willen (volonté particulière) und Allgemeinwillen (volonté<br />
générale). Er erstreckt sich auf sämtliche Gemeinschaftsmitglieder, die alle in den<br />
Kreis der gegenseitigen Abhängigkeit eingeschlossen sind. Freiheit kann demnach<br />
nur verwirklicht sein, wenn alle an der Gesetzgebung Anteil hatten.<br />
Partizipation und Freiheit vereinen sich im liberalen Verständnis nicht. Vielmehr<br />
wird das liberale Freiheitsverständnis bestimmt durch den Schutz vor Nichteinmischung<br />
und die Befreiung von Zwang oder einer Behinderung und ist somit das notwendige<br />
konstituierende Element der liberalen Demokratie. Es definiert sich durch<br />
23 Ladwig, Bernd: Freiheit. In: Göhler, Gerhard/ Iser, Matthias/Kerner, Ina (Hrsg.): Politische<br />
Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004, S. 84.<br />
24 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 212–215.<br />
25 Plamenatz, John: „Was nichts anderes heißt, <strong>als</strong> daß man ihn zwingen wird, frei zu<br />
sein.“ In: Brandt, Reinhard/Herb, Karlfriedrich (Hrsg.): Vom Gesellschaftsvertrag oder<br />
Prinzipien des Staatsrechts, Berlin 2000, S. 70.<br />
26 Jean-Jaques Rousseau wird von heutigen Politikwissenschaftlern zu den Republikanern<br />
gezählt. Seine Schriften enthalten aber auch Züge von liberalen Ansätzen. Siehe dazu<br />
Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 215–221; Kersting, Wolfgang: Die Vertragsidee des Contrat<br />
social und die Tradition des neuzeitlichen Kontraktualismus. In: Brandt, Reinhard/Herb,<br />
Karlfriedrich (Hrsg.): Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin<br />
2000, S. 48.<br />
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Thema: Patient Demokratie<br />
das Fehlen von Hindernissen für mögliche Wahlentscheidungen oder Betätigungen,<br />
nicht durch die reale Wahl oder die Durchführung selbst.27 Der Bereich der Nicht-<br />
Überwachung und der Ungestörtheit ist begrenzt durch Sicherheits-, Gerechtigkeitsund<br />
sogar durch gewisse Grade von Gleichheitsinteressen.<br />
Die einzelnen liberalen Vertreter hatten jedoch unterschiedliche Vorstellungen über<br />
die Weite der Freiheit, die den Menschen gewährt werden sollte. Benjamin Constant<br />
beispielsweise sprach sich ausdrücklich für die Freiheit der Religion, der Meinungsäußerung<br />
und des Eigentums gegenüber willkürlichen Eingriffen aus. Auch John Locke,<br />
John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville forderten einen bestimmten, relativ<br />
großen persönlichen Freiraum, in dem die Menschen über das für sie Gute, Notwendige<br />
und Richtige reflektieren und es verfolgen können. 28 Diese Freiheit darf unter<br />
keinen Umständen verletzt werden. Eine enger gefasste Freiheitsdimension liefert<br />
John Rawls mit seiner Gerechtigkeitskonzeption, die je nach Auslegung sehr umfassende<br />
staatliche Eingriffe legitimiert. 29 Trotz dieser Unterschiede genießt nach liberaler<br />
Ansicht jeder Mensch ein Mindestmaß an negativer Freiheit, <strong>als</strong>o einen Schutz<br />
vor den Übergriffen anderer. Die Abwehrfunktion fällt in den Aufgabenbereich des<br />
Staates. Das bedeutet jedoch zwangsläufig, dass ein Mensch, und sei der Grund noch<br />
so vernünftig und gut gemeint, zu nichts gezwungen oder bewegt werden darf, was<br />
seinem egoistischen Interesse und Willen zuwiderläuft.<br />
Partizipation und Zivilgesellschaft<br />
Im republikanischen Verständnis ist Partizipation Ziel und Wert an sich. Da die Mitwirkung<br />
und die Entfaltung innerhalb der Gemeinschaft angestrebt wird, ist die politische<br />
Teilhabe Bedingung und Schlüssel für die tugendhafte Veredelung der Bürger.<br />
Partizipation wird verstanden <strong>als</strong> politisch-soziale Anteilnahme in möglichst vielen<br />
Bereichen der Gesellschaft und intendiert die Integration in die Gemeinschaft sowie<br />
die Identifikation mit ihr. Somit ist die republikanische Partizipation konsensorientiert,<br />
kommunitär und expressiv 30 sowie stark auf aktives Handeln ausgerichtet, wie<br />
etwa bei Hannah Arendt.<br />
Gesetze sind nur dann legitim, wenn sie durch ein direktdemokratisches Verfahren<br />
unter der Teilhabe aller ratifiziert wurden. Damit entsteht ein Zusammenhang zwischen<br />
der Selbstbestimmungspraxis des Volkes und der unpersönlichen Herrschaft<br />
27 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 42.<br />
28 Ebd., S. 203–206.<br />
29 Kritisch dazu vgl. Kersting, Wolfgang: Probleme der politischen Philosophie des Sozi<strong>als</strong>taats.<br />
In: ebd. (Hrsg): Politische Philosophie des Sozi<strong>als</strong>taates, Weilerswist 2000.<br />
30 Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik.<br />
Band 1: Politische Theorien, München 1995, S. 398.<br />
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der Gesetze. 31 Die Zivilgesellschaft wird vom Staat nicht unterschieden, sondern sie<br />
ist zugleich politische Macht und Gemeinschaft der Bürger. Sie ist sowohl im Lebenskreis<br />
der Menschen <strong>als</strong> auch in ihrer Herrschaftsform anzutreffen.<br />
Die negativen Rechte der Liberalen beinhalten nicht zwangsläufig Partizipationsrechte.<br />
In einer liberalen Volksherrschaft ist die Mitwirkung der Bürger am politischen<br />
Geschehen aber eine Bedingung zur Aufrechterhaltung der demokratischen<br />
Strukturen. Die eben schon beschriebenen Ausbildungen des liberalen Demokratieverständnisses<br />
sind auf die Emanzipation der Bürger und die Entfaltung der<br />
ökonomischen Tätigkeit zurückzuführen. Damit geht aber auch die Auflösung der<br />
bürgerlichen Gesellschaft, so wie sie noch im Bürgerhumanismus verstanden wurde,<br />
einher. Nun tritt die Zivilgesellschaft dem Staat gegenüber. Sie reflektiert zum einen<br />
die Entfaltung einer marktförmigen Ökonomie und zum anderen die Entwicklung<br />
einer bürgerlichen Öffentlichkeit für die Legitimation der politischen Herrschaft. 32<br />
Die individuellen Rechte der Bürger werden <strong>als</strong> Gewährleistung für Optionsspielräume<br />
betrachtet. Genauso verhält es sich mit den politischen Rechten: Sie ermöglichen<br />
jedem Staatsbürger seine privaten Interessen so zu präsentieren, dass am Ende mit<br />
Hilfe von Wahlen ein politischer Wille gebildet werden kann, der dann auf die Administration<br />
einwirkt. Dadurch wird den Bürgern eine Art Kontrollfunktion gegeben,<br />
die periodisch die Arbeit der Staatsmacht überprüft. Falls diese nicht im Interesse<br />
der Gesellschaftsbürger ausgeübt wird, haben die Individuen die Möglichkeit der<br />
Abwahl des Parlaments.<br />
Partizipation bedeutet <strong>als</strong>o zielgerichtetes, instrumentelles, auf das politische System<br />
hin ausgerichtetes Handeln. Die individuellen Bedürfnisse und Interessen des<br />
homo oeconomicus sollen von den Entscheidungsträgern in Regierung, Parlament<br />
und Parteien durchgesetzt werden. Hierfür wird oftm<strong>als</strong> eine vom Volk allgemein<br />
gewählte, auf Repräsentation beruhende Elitenherrschaft angesetzt. 33<br />
Funktion und Aufgabe von Staatlichkeit<br />
Die Mitglieder einer Gemeinschaft können vom republikanischen Selbstverständnis<br />
heraus keine eigenen Zwecke verfolgen, sondern nur gemeinschaftliche Teilzwecke<br />
verwirklichen. Das übergeordnete, höherwertige Ziel ist objektiv, bemisst sich am<br />
Wohl der gesamten Polis bzw. des Staates und wird durch tugendhaftes Gemeinschaftsleben<br />
erreicht. Die Gemeinschaft und ihr Wohl sind Anlass und Ziel jeglicher<br />
31 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 281.<br />
32 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 294.<br />
33 Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Politik.<br />
Band 1: Politische Theorien, München 1995, S. 397–398.<br />
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politischer Handlungen. Demnach fällt die Erziehung der Menschen hin zu tugendhaften<br />
Bürgern in den Verantwortungsbereich des Staates. Institutionen, die diese<br />
Aufgabe auch praktisch umsetzen, sind mithilfe von Gesetzen, die durch unpersönlichen<br />
Druck dem vorbildlichen Verhalten zu Hilfe kommen sollen, mit Zwangsmitteln<br />
ausgestattet, die nichttugendhaftes Handeln sanktionieren können. 34 Der Gesetzgeber,<br />
<strong>als</strong>o das am Gesamtwohl orientierte Volk, kann die Institutionen kreieren<br />
um die „menschliche Vortrefflichkeit“ hervorzubringen. 35<br />
Da das Gemeinwohl und das Gute für die Polis der Zweck aller politikwissenschaftlichen<br />
Tätigkeit ist und sich aus der republikanischen Anthropologie die Gemeinschaft<br />
<strong>als</strong> das Höhere ergibt, darf der Staat in sämtliche politisch-sozialen Bereiche<br />
eindringen. Bei Rousseau etwa erstreckt sich die Wichtigkeit des Gemeinwohls soweit,<br />
dass ein Einzelner zum Wohle aller sein Leben lassen muss. Das Ziel der liberalen<br />
Repräsentativdemokratie ist die Verantwortungszuweisung von Entscheidungen<br />
und weniger die Partizipation. Die Parlamentarier sind den Wählern rechenschaftspflichtig,<br />
verantwortlich und in ihrer politischen Herrschaft durch Gesetze limitiert.<br />
Die unterschiedlichen Volksinteressen werden durch die Repräsentanten vermittelt,<br />
interpretiert und antizipiert. 36 Dabei werden individuelle Interessen durch Gegeninteressen<br />
ausbalanciert („checks and balances“). Um eine gute politische Ordnung<br />
zu ermöglichen, benötigt man nach Ansicht der Liberalen keine Tugend, sondern<br />
institutionelle Organisationen, die die Einzelinteressen ausgleichen. Der Staat hat die<br />
Aufgabe diesen Ausgleich mithilfe institutioneller Prozeduren einer demokratischen<br />
Rechtsetzung, die fair im Sinne allgemeiner Zugänglichkeit und egalitärer Partizipationschancen<br />
ist, umzusetzen.<br />
Demzufolge ist die minimalistische Form von staatlich zu schützendem Wohl die<br />
Summe aller Einzelinteressen, die die Verfolgung des individuellen Glücks teilen.<br />
Um dies zu gewährleisten, muss der Einzelne vor moralischen Übergriffen der Gemeinschaft<br />
durch entsprechende Gesetze geschützt werden. 37 Adam Smith etwa<br />
benutzt die Metapher der unsichtbaren Hand um zu verdeutlichen, dass durch das<br />
Streben nach maximalem Eigennutz das Gemeinwohl automatisch ausgebildet wird.<br />
Auch die Autoren der Federalist-Papers sahen durch das individuelle Streben nach<br />
eigenen Interessen, durch welche Verschiedenheit und Freiheit gefördert werden, ein<br />
gemeinwohlorientiertes Gleichgewicht erreicht. Die weitergehenden Staatsaufgaben<br />
sind umstritten. So plädiert Robert Nozick für die Beschränkung der Staatsfunkti-<br />
34 Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie, Stuttgart 2003, S. 370.<br />
35 Voegelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Band VII. Aristoteles, München 2003, S. 51.<br />
36 Guggenberger, Bernd: Demokratie/Demokratietheorie. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon<br />
der Politik, Band 1: Politische Theorien, München 1995, S. 41.<br />
37 Seubert, Sandra: Gemeinwohl. In: Göhler, Gerhard/Iser, Matthias/Kerner, Ina (Hrsg.):<br />
Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004, S. 104 f.<br />
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onen auf die Durchsetzung von Verträgen sowie den Schutz vor Gewalt, Diebstahl<br />
und Betrug. Der Smith'sche Staat hingegen umfasst die Gewährleistung von innerer<br />
und äußerer Ordnung und Sicherheit, die Bereitstellung von Transport- und Kommunikationswegen<br />
sowie die Mitwirkung an der Ausbildung. Neuere liberale Denker<br />
wie etwa John Rawls sehen <strong>als</strong> das staatlich zu gewährleistende Gemeinwohl die<br />
Sicherstellung von Gerechtigkeit an. Seiner Ansicht nach haben die Bürger nicht nur<br />
ein instrumentelles Verhältnis zur politischen Ordnung, sondern sind <strong>als</strong> moralische<br />
Wesen mit einem Gerechtigkeitssinn ausgestattet. Dieses Gespür sorgt dafür, dass die<br />
Menschen die Vernünftigkeit einer Gerechtigkeitskonzeption verstehen und akzeptieren<br />
werden. Die Gerechtigkeit besteht darin, dass jedem Bürger möglichst viele<br />
Freiheiten und Grundgüter eingeräumt werden können.<br />
Weder Liberalismus noch Republikanismus…<br />
Die Analyse dieser ideengeschichtlichen Demokratieströmungen lässt nun auch die<br />
Schwächen eines jeden Modells erkennen, die zunächst kurz aufgezeigt werden, damit<br />
eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Demokratie <strong>als</strong> zeitgemäße<br />
Regierungsform möglich ist.<br />
Die republikanische Direktdemokratie wurde im antiken Griechenland und auch<br />
in Florenz durch die Volksversammlungen umgesetzt. Eine Direktdemokratie allein<br />
macht aber noch keine wirkliche Republik, wie sie Aristoteles, Rousseau oder auch<br />
Machiavelli formuliert haben, aus. Hinzu kommt die Ausbildung der Tugend, durch<br />
die der Gemeinwille erst erzeugt werden kann. Das Problem hierbei ist offensichtlich:<br />
Durch die Institution der Volksversammlung allein kann kein Allgemeinwille<br />
im Sinne eines höheren Ganzen, dem Besten für die Gemeinschaft, ermittelt werden.<br />
Jeder Bürger muss dieses höhere Selbst, diese innere Überzeugung, allein und doch<br />
mit Hilfe der Gemeinschaft verwirklichen.<br />
Die praktische Umsetzung bei allen Bürgern, insbesondere bei Menschen unterschiedlicher<br />
kultureller und religiöser Hintergründe, ist unmöglich. Eine Garantie<br />
auf das Vorhandensein des Allgemeinwillens kann von niemandem gegeben werden.<br />
Die Geschichte zeigte auch, dass das höhere Selbst mit Institutionen wie Kirchen,<br />
Nationen, Rassen, Staaten, Klassen, Kulturen oder auch Parteien gleichgesetzt wurde<br />
und die Doktrin der Freiheit zu einer Doktrin der Autorität wurde, zum Teil sogar<br />
bis hin zur Unterdrückung. 38 Die positive Freiheit, das höhere Selbst, die „Erziehung“<br />
der Tugend wurden von vielen Despoten und Tyrannen <strong>als</strong> Rechtfertigung der eigenen<br />
Macht genutzt. So wie auch schon Aristoteles meinte, dass durch Sittenverfall<br />
und Tugendverlust die Demokratie untergeht, so war auch Montesquieu der Ansicht,<br />
dass ohne die Tugend der Bürger eine Republik keinen Bestand hat. Sie ist die Regie-<br />
38 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 46 f.<br />
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rungsform, die die höchsten sozio-moralischen Anforderungen überhaupt stelle. Die<br />
völlige Aufgabe der eigenen Interessen zum Wohle der Gemeinschaft ist schon zu<br />
Zeiten Montesquieus utopisch gewesen, weshalb er der Errichtung von republikanischen<br />
Demokratien skeptisch gegenüberstand. Die Mehrzahl der Menschen würden<br />
den Anforderungen, die eine Demokratie an sie stellt, nicht mehr gerecht werden<br />
können. 39 Und auch Rousseau musste sich eingestehen, dass eine Republik eigentlich<br />
nur von Göttern gemacht werden könne und der gesellschaftliche Geist schon die<br />
Verfassung diktieren müsse, obwohl er erst das Werk der Verfassung sein kann. Die<br />
Menschen müssten schon vor dem Vertragsschluss das sein, was die Republik erst<br />
aus ihnen machen wird, damit das Volk Gefallen an der Verfassung findet und ihre<br />
Grundregeln befolgt. 40<br />
Der gesamte demokratische Prozess hängt <strong>als</strong>o von den tugendhaften Bürgern ab. In<br />
einer heterogenen, sich stets weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft existieren aber<br />
faktische Interessen und Wertorientierungen, die keine Aussicht auf Konsens innerhalb<br />
eines ethischen Diskurses haben und auch nicht für die Identität des Gemeinwesens<br />
konstitutiv sind. Der Interessenausgleich vollzieht sich heute nicht mehr direktdemokratisch<br />
in der Volksversammlung, sondern <strong>als</strong> Kompromissbildung zwischen<br />
Parteien, die über Macht- und Sanktionspotentiale verfügen. 41 Eine Rückkehr zur<br />
Definition eines durch Jeden mithilfe der Tugenden zu erzielenden objektiv Guten<br />
a priori ist utopisch und würde Despotismen und auch Diktaturen wieder möglich<br />
machen. Des Weiteren würde die zum Selbstverständnis gehörende partizipatorische<br />
Freiheit eines jeden Bürgers einen Nation<strong>als</strong>taat schnell an die bürokratischen und<br />
institutionellen Grenzen bringen.<br />
Die negativen Freiheiten des demokratischen Liberalismus sind wesentlich leichter zu<br />
gewährleisten, in den westlichen Demokratien faktische Realität und in vielen anderen<br />
Ländern zumindest formal festgeschrieben. So ist die Charta der Menschenrechte<br />
das klassische Beispiel liberaler Ideen und gilt vielen Bürgern <strong>als</strong> ein wichtiges demokratisches<br />
Element. Die mögliche Gefahr, die aus einem zu hohen Maß an negativer<br />
Freiheit und Eigennutzenmaximierung resultieren kann, liegt im Zusammenbruch<br />
der Gesellschaft <strong>als</strong> Gemeinschaft, der politischen Unkenntnis und der Nichtpartizipation<br />
der Bürger. Die heutige, immer kleiner werdende, liberale Zivilgesellschaft,<br />
die aus homini oeconomici mit kulturell und religiös differierenden Interessen besteht,<br />
lässt kaum einen für alle Individuen akzeptablen Konsens zu, der den sozialen<br />
Zusammenhalt sichern könnte. Somit benötigt auch eine liberale Volksherrschaft<br />
ein Mindestmaß an Gemeinwohl, Bildung und Partizipation um die demokratische<br />
39 Münkler, Herfried: Politische Tugend, S. 30.<br />
40 Rousseau, Jean-Jaques: Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1988, S. 72 f.<br />
41 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 283 f.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese Voraussetzungen sind theoretisch jedoch nicht<br />
begründet, sondern werden von Liberalen stillschweigend unterstellt. Der für keinen<br />
Bürger verbindliche Wahlakt wäre im radikalliberalen Sinne schon ausreichende politische<br />
Partizipation. Das Wissen der Bürger über politische Geschehnisse sowie die<br />
Rekrutierung der Abgeordneten werden so immer schwieriger, die Identifikation der<br />
Bürger mit und die Nähe zu ihren Repräsentanten geht verloren.<br />
So stellt denn auch Ansgar Klein das Partizipations- und damit das Demokratieproblem<br />
für beide Modelle treffend heraus: „Der republikanische Begriff positiver Freiheit,<br />
der die politische Partizipation und das Ziel der demokratischen Selbstregierung in den<br />
Mittelpunkt stellt, ist zwar anfällig für Illiberalität und die Tyrannei der Mehrheit, doch<br />
macht er auf die Motivationsprobleme liberaler Demokratien aufmerksam und zusätzlich<br />
darauf, dass bürgerschaftliche Kompetenz <strong>als</strong> ‚unerlässliche Größe politischer Systeme‘<br />
nicht vollständig substituierbar ist.“ 42<br />
Trotz dieser Probleme leben heute etwa 4 Milliarden Menschen in einer Demokratie.<br />
43 Auch die Idee pluralistischer Demokratien westlichen Typs (funktionierendes<br />
Mehrparteiensystem, periodische Wahlen, politische Öffentlichkeit) erhält weltweit<br />
die meiste Wertschätzung und ist keinesfalls in Frage gestellt. 44 Diese grundsätzliche<br />
Zustimmung ist übrigens auch in islamischen Staaten gemessen worden! Somit ist<br />
weniger die polity Demokratie denn der Mangel an demokratischer Praxis das Problem<br />
der Herrschaftsform. Dass Demokratie an sich aber kurz- und wenigstens auch<br />
mittelfristig weiter die dominierende Regierungsform bleiben wird, ist aufgrund der<br />
allgemeinen Zustimmung anzunehmen. Das Argument für die Demokratie, egal ob<br />
republikanisch (/kommunitaristisch) oder liberal konzipiert, liegt denn auch auf der<br />
Hand: die Mitbestimmung und -entscheidung über die eigenen Belange sind von<br />
keinem anderen System eingeräumte Möglichkeiten der Teilhabe am politischen und<br />
sozialen Prozess. Nur in einer Demokratie können anstehende Aufgaben von den<br />
Bürgern selbst durch eine faire Abstimmung und nach ihren Vorstellungen bewältigt<br />
werden. Trotzdem bleiben die Integrations- und Partizipationsprobleme und damit<br />
die Frage des Aufsatzes bisher unbeantwortet.<br />
… sondern Deliberation<br />
Der Ausweg aus der Krise der heutigen westlichen Staaten kann die Zusammenführung<br />
beider Demokratiemodelle sein.<br />
42 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 285.<br />
43 Vgl. Bertelsmann Transformations Index 2008.<br />
44 Leggewie, Claus/Bieber, Christoph: Demokratie 2.0. Wie tragen neue Medien zur demokratischen<br />
Erneuerung bei? In: Offe, Claus (Hrsg.): Demokratisierung der Demokratie.<br />
Diagnosen und Reformvorschläge, Frankfurt/Main / New York 2003, S. 127.<br />
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Thema: Patient Demokratie<br />
Dabei ist nicht wie noch in republikanischer Vorstellung von einer Direktdemokratie<br />
auszugehen, sondern mit Bezug auf die Größe eines Staates von einer Repräsentativdemokratie.<br />
Parteien fungieren <strong>als</strong> Mittler zwischen Bürger und politischem System,<br />
Medien sorgen für den notwendigen Informationsaustausch und für die Bildung von<br />
autonomen Öffentlichkeiten. Der gemeinschaftliche Konsens ist nicht a priori durch<br />
die völlige Selbstaufgabe des Bürgers vorgegeben oder wird durch die Befriedigung<br />
der privaten Glückserwartungen unpolitisch erzeugt, sondern muss in einer Gesellschaft,<br />
insbesondere wenn sie heterogen ist, erst durch ein Verfahren der kommunikativen<br />
Rationalität hergestellt werden.<br />
Die Überwindung der f<strong>als</strong>chen Alternative von republikanischer Gemeinschaft oder<br />
liberaler Gesellschaft liegt im Respekt aller <strong>als</strong> Andere in ihrer Andersartigkeit. Das<br />
solidarische Einstehen für den Anderen „<strong>als</strong> einen von uns“ 45 verbindet sich mit dem<br />
flexiblen „Wir“ einer Gemeinschaft, die sich über die negative Idee der Abschaffung<br />
von Diskriminierung und Leid sowie der Einbeziehung und der wechselseitigen<br />
Rücksichtnahme auf andere definiert. Subjektive Rechte sind <strong>als</strong>o nicht ihrem Begriff<br />
nach nur auf „atomistische und entfremdete Individuen“ bezogen, sondern stehen<br />
in einem internen Zusammenhang. 46 Sie setzen die Zusammenarbeit von Subjekten<br />
voraus, die sich durch ihre gegenseitig anerkannten Rechte und Pflichten <strong>als</strong> freie<br />
und gleiche Rechtsgenossen verstehen. So können sich nur Bürger, die private Freiheit<br />
genießen, aus freien Stücken gegenseitig politische Teilhaberechte zusprechen.<br />
Andererseits sind nur diejenigen, die zu politischer Partizipation berechtigt sind, in<br />
der Lage sich private Räume zuzusichern, auf das das Politische nicht einwirken darf.<br />
Private und politische Freiheit setzen sich <strong>als</strong>o wechselseitig voraus und sind gleichursprünglich.<br />
Der gemeinschaftliche Konsens wird demnach empirisch durch die<br />
ethische Selbstverständigung, durch einen Interessenausgleich, Kompromiss, eine<br />
zweckrationale Mittelwahl, moralische Begründung und durch rechtliche Kohärenz<br />
erwirkt. 47 Das kommunikativ erzeugte „Einverständnis“ transformiert in administrative<br />
Macht ist die Ergänzung beider sich eigentlich ausschließender Modelle zur<br />
deliberativen Demokratie.<br />
Durch die Einhaltung der <strong>diskurs</strong>theoretischen Regeln in den inklusiven politischen<br />
Öffentlichkeiten, die die gesellschaftlichen Problemlagen der Zivilgesellschaft aufnehmen<br />
und weiterleiten, ist eine demokratische Meinungs- und Willensbildung<br />
sowie Entscheidung gesichert und somit das Problem der Zuviel-Partizipation im<br />
republikanischen sowie der Zuwenig-Partizipation und der Unwissenheit über Be-<br />
45 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 7.<br />
46 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und<br />
des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/Main 1998, S. 117.<br />
47 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 284.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
lange des politischen Systems im liberalen Modell gelöst. Grundrechte und Rechtsstaatsprinzipien<br />
institutionalisieren den Kommunikationsprozess und sind seine Voraussetzungen.<br />
48 Die Kommunikation verläuft nicht mehr nur über Einzelindividuen<br />
wie im Republikanismus oder nur über sich blind vollziehende Machtverhältnisse<br />
wie im Liberalismus, sondern über eine „höherstufige Intersubjektivität“ von Verständigungsprozessen<br />
in politischen Öffentlichkeiten und in Parlamenten. 49 Der Diskurs<br />
ist die Arena zur Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung der sozialen<br />
Gesamtprobleme. 50 Die Kommunikationsvoraussetzungen und -verfahren sind die<br />
wichtigsten „Schleusen“ für die Rationalisierung der Regierungs- und Verwaltungsentscheidungen.<br />
Das bedeutet, dass die administrative Macht stets rückgekoppelt an<br />
die Meinungs- und Willensbildung innerhalb der politischen Öffentlichkeiten bleibt.<br />
Die dem liberalen Demokratiemodell nahe stehende, verfassungsmäßige Institutionalisierung<br />
der Entscheidungsprozesse hängt in der deliberativen Demokratie nicht<br />
mehr von den hinreichend aktiven und kollektiv handelnden Bürgern ab. Trotzdem<br />
orientiert sich das politische System in Habermas' Modell an den Meinungs- und<br />
Willensbildungsprozessen in einer diskutierenden Öffentlichkeit. Die öffentliche<br />
Meinung selbst kann dabei nicht „herrschen“, sondern nur durch ihren zivilgesellschaftlichen<br />
Einfluss „lenken“. 51<br />
Von der Volkssouveränität des Republikanismus ist in diesem Demokratiemodell<br />
eine „Intuition“ geblieben, die sich mit der Ursprungsidee verbindet und jetzt nur<br />
noch „intersubjektivistisch“ gedeutet wird. Die Kommunikation zwischen öffentlicher<br />
Meinungsbildung, institutionalisierten Wahlentscheidungen und legislativen<br />
Beschlüssen gewährleistet, dass die kommunikativ erzeugte Macht in den politischen<br />
Öffentlichkeiten über die Gesetzgebung in administrativ verwendbare Macht umgesetzt<br />
werden kann. Damit gewinnt die deliberative Demokratie die praktische Umsetzbarkeit<br />
aus dem liberalen Modell und zugleich die benötigte demokratische Legitimität.<br />
Die „Rationalisierung“, <strong>als</strong>o der Kompromiss aus bloßer Legitimation und zu<br />
hoher Konstituierung der Macht wird durch die „Programmierung“ und die Kontrolle<br />
der administrativen Macht durch das Volk sichergestellt. Es ergibt sich insgesamt<br />
eine Trennung von Staat und Gesellschaft, in der die Gesellschaft lenkt und der Staat<br />
handelt. Im Vordergrund steht jedoch nicht der blanke Akt der Volksabstimmung,<br />
sondern das Teilhaben und Mitwirken an politischen Entscheidungen – <strong>als</strong>o das eine<br />
Volksherrschaft konstituierende Merkmal. Sind Demokratien <strong>als</strong>o noch zeitgemäß?<br />
Ja! Aber sie müssen sich den Herausforderungen heterogener Gesellschaften stellen<br />
48 Ebd., S. 287.<br />
49 Ebd., S. 288.<br />
50 Ebd., S. 291.<br />
51 Ebd., S. 290.<br />
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Thema: Patient Demokratie<br />
und möglichst viele Bürger partizipatorisch in den Integrationsprozess einbinden.<br />
Deliberation hat gute Voraussetzungen diesen Anforderungen gewachsen zu sein.<br />
Literatur (Auswahl)<br />
Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 2004.<br />
Berlin, Isaiah: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/Main 1995.<br />
Döhn, Lothar: Liberalismus. Spannungsverhältnis von Freiheit, Gleichheit und Eigentum. In:<br />
Neumann, Franz (Hrsg.): Handbuch Politische Theorien und Ideologien, Bd. 1, Opladen 1998,<br />
S. 159–234.<br />
Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main<br />
1996.<br />
Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demokratische<br />
Bezüge der neueren Begriffsverwendung, Opladen 2001.<br />
Münkler, Herfried: Politische Tugend. Bedarf die Demokratie einer sozio-moralischen<br />
Grundlegung? In: Ebd. (Hrsg.) Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie,<br />
München 1992, S. 25–46.<br />
Terchek, Ronald J./Conte, Thomas C.: Theories of Democracy. A Reader, Maryland 2001.<br />
Vorländer, Hans: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien, München 2003.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Geschlechterdemokratie lernen – Politische Partizipation<br />
und „gender“ in didaktischer Perspektive<br />
Martin Lücke<br />
Freie Universität Berlin<br />
E-Mail: martin.luecke@fu-berlin.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Politische Partizipation, gender, Politikdidaktik, Genderkompetenz<br />
Eine gesunde Demokratie – zumindest eine, die sich das Label „Patient“ nicht anheften<br />
möchte – lebt von der aktiven Beteiligung der Menschen, deren Lebensgrundlagen<br />
sie bestimmt. Sie legt Wert darauf, durch politische Bildungsarbeit möglichst<br />
viele ihrer Bürgerinnen und Bürger dazu zu befähigen, am politischen Prozess teilzuhaben.<br />
Wer sich jedoch auf welche Weise beteiligt – und überhaupt erst beteiligen<br />
kann – hängt in modernen Gesellschaften vor allem von den Kategieren „race“,<br />
„class“ und „gender“ ab. Sie durchziehen <strong>als</strong> „Achsen der Ungleichheit“ 1 unsere Gesellschaft<br />
und entfalten eine nachhaltige Wirkung auch auf die Ausgestaltung demokratischer<br />
Prozesse und auf Möglichkeiten politischer Partizipation.<br />
„Unser Staat ist männlichen Geschlechts“, schrieb noch 1855 der Kulturhistoriker<br />
und Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) im dritten Band seiner Na-<br />
1 So der Titel eines im Jahr 2007 erschienenen Bandes von Cornelia Klinger, Gudrun-<br />
Axeli Knapp und Birgit Sauer, die das Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität<br />
in politischen und ökonomischen Ordnungen untersuchen, s. Klinger, Cornelia/ Knapp,<br />
Gudrun-Axeli/ Sauer, Birgit (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse,<br />
Geschlecht und Ethnizität (Politik der Geschlechterverhältnisse Bd. 36), Frankfurt<br />
(Main) 2007.<br />
76 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
turgeschichte des Volkes. Riehl erklärte in diesem Werk die Ungleichheit zwischen<br />
Mann und Frau zu einem Naturgesetz und machte in seiner Schrift eine grundsätzliche<br />
Differenz zwischen Männern und Frauen aus. Der Staat, so konnte er auf Basis<br />
eines solchen Natürlichkeitspostulats feststellen, sei „ein rein männliches Wesen“, er<br />
habe es nur und ausschließlich mit Männern zu tun. 2 Auf diese Weise entwarf der<br />
Volkskundler in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine „politische[…] Topographie der<br />
Geschlechter“, 3 die eine Arena der Politik entstehen ließ, in der sich nur Männer bewegten.<br />
An diesem historischen Beispiel zeigt sich, dass insbesondere die Kategorie<br />
Geschlecht unmittelbar zusammenhing mit den Möglichkeiten politischer Partizipation.<br />
Sie brachte Mechanismen hervor, mit denen Exklusionen und Inklusionen<br />
einhergingen: Nähert man sich dem Partizipationsbegriff von seiner lateinischen<br />
Doppelbedeutung <strong>als</strong> Teilhabe und Teilnahme, 4 so ging es dem Volkskundler Riehl<br />
darum, Frauen qua Ordnung der Natur die Teilhabe am politischen Raum abzusprechen<br />
und ihnen auf diese Weise eine aktive Teilnahme an der Politik nachhaltig<br />
unmöglich zu machen.<br />
Das Postulat von Riehl erscheint heute <strong>als</strong> ein reaktionäres Traktat aus längst vergangenen<br />
Zeiten, zeigt jedoch auf besonders deutliche Weise, wie Geschlecht die Möglichkeiten<br />
politischer Partizipation beeinflussen kann. In diesem Beitrag soll der Frage<br />
nachgegangen werden, auf welche Weise der enge Zusammenhang von politischer<br />
Partizipation und „gender“, der in Riehls Thesen auf überspitze Art zum Ausdruck<br />
kommt, auch heute noch andauert. Es soll gefragt werden, wie ein Wissen um diesen<br />
Zusammenhang für Prozesse politischen und demokratischen Lernens nutzbar<br />
gemacht werden kann. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst werden mit<br />
gender und politische Partizipation die zentralen Begriffe geklärt, im Anschluss wird<br />
ein von der Politikwissenschaftlerin Gesine Fuchs entwickeltes Modell zum Verhältnis<br />
von Geschlecht und politischer Partizipation vorgestellt. Drittens schließlich<br />
wird die Frage diskutiert, welches didaktische Potenzial diesem Modellvon Fuchs<br />
und dem Zusammenhang von politischer Partizipation und „gender“ insgesamt innewohnt.<br />
2 Riehl, Wilhelm Heinrich: Naturgeschichte des deutschen Volkes <strong>als</strong> Grundlage einer<br />
deutschen Socialpolitik, 1851–1869, Bd. 3: Die Familie, zit. n. Frevert, Ute: „Unser Staat<br />
ist männlichen Geschlechts“. Zur politischen Topographie der Geschlechter vom 18. bis<br />
frühen 20. Jahrhundert, in: dies.: „Mann und Weib und Weib und Mann“. Geschlechterdifferenzen<br />
in der Moderne, München 1995, S. 61–132, hier. S. 61.<br />
3 Frevert, Ute: Staat, S. 61.<br />
4 Auf die lateinische Doppelbedeutung von „participio“ verweist vor allem die Politikwissenschaftlerin<br />
Beate Hoecker in ihrer systematischen Einführung zum Begriff der<br />
politischen Partizipation, vgl. Hoecker, Beate: Politische Partizipation: systematische<br />
Einführung, in: dies.: Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine<br />
studienorientierte Einführung, Opladen 2006, S. 3–20, hier S. 3.<br />
Dis | kurs 77
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Begriffe: Gender und politische Partizipation<br />
Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind sich darin einig, Geschlecht nicht mehr,<br />
wie noch Wilhelm Heinrich Riehl, <strong>als</strong> eine unverrückbare natürliche und biologisch<br />
determinierte Kategorie anzusehen. Nicht <strong>als</strong> natürliche Tatsache, sondern <strong>als</strong> primär<br />
soziale und kulturelle Konstruktion wird Geschlecht in der heutigen Forschungslandschaft<br />
aufgefasst. Hier hat sich das Begriffspaar „sex“ und „gender“ zur analytischen<br />
Fassung dieses Zusammenhangs etabliert. Unter „sex“ wird dabei das biologische<br />
Geschlecht verstanden. Es bezieht sich auf die körperlich-biologische Differenz<br />
zwischen Frauen und Männern <strong>als</strong> den normgebenden Polen einer <strong>als</strong> dichotomisch<br />
gedachten Geschlechterordnung. Eine solche biologisch attestierbare Differenz wird<br />
jedoch mit sozialen und kulturellen Deutungsmustern aufgeladen, so dass nun „gender“<br />
<strong>als</strong> soziales bzw. kulturelles Geschlecht entsteht. Dass auch die „Natur“ bzw. „das<br />
Natürliche“ sozial und kulturell konstruierte Kategorien sind – immerhin wird die<br />
Biologie <strong>als</strong> interessengeleitete Wissenschaft benötigt, um „sex“ zu definieren – hat<br />
insbesondere die Historische Anthropologie gezeigt. In diesem Beitrag soll es jedoch<br />
darum gehen, gerade Mechanismen der sozialen und kulturellen Herstellung von<br />
Geschlecht in den Blick zu nehmen. Die Konstruktion der nur vermeintlich ahistorischen<br />
Kategorie „sex“ ist ein sehr spannendes Thema, jedoch hier nicht zielführend<br />
im Hinblick auf das Thema der politischen Partizipation. 5<br />
Die Art und Weise, wie „gender“ in kulturellen und sozialen Interaktionen hergestellt<br />
wird, beschreibt der Begriff des „doing gender“. Er stammt aus der Ethnologie,<br />
wurde anhand des Phänomens der Transsexualität entwickelt und schnell von den<br />
Sozialwissenschaften übernommen. „Doing gender“ bedeutet, dass Geschlecht sowohl<br />
in alltäglichen Situationen hergestellt wird <strong>als</strong> auch solche alltäglichen Situationen<br />
strukturiert. Das heißt, Individuen sind beim Aushandeln von Geschlecht zum<br />
einen an kulturelle und soziale Vorgaben gebunden, haben aber zum anderen auch<br />
die Handlungsfähigkeit („agency“), selbst und eigenwillig an diesen Aushandlungsprozessen<br />
teilzunehmen. Aushandlung von Geschlecht ist <strong>als</strong>o ein wechselseitiger<br />
Prozess zwischen uns <strong>als</strong> Individuen und dem <strong>diskurs</strong>iven Bett, in dem wir liegen. 6<br />
Prozesse der Herstellung von Geschlecht <strong>als</strong> „doing gender“ zu begreifen, bietet<br />
bereits großes didaktisches Potenzial, da hier Chancen und gleichzeitig Grenzen<br />
menschlichen Handelns im Hinblick auf die vermeintlich natürliche Kategorie Ge-<br />
5 Die Begriffsbildungen „sex“ und „gender“ gehören mittlerweile zum festen Kanon der<br />
in den Kultur- und Sozialwissenschaften verwendeten Begriffe. Vgl. hierzu im Überblick:<br />
Degele, Nina: gender/Queer Studies. Eine Einführung, Paderborn 2008, insb. S. 57–118.<br />
6 Zum Konzept des „doing gender“ dies., S. 78–83; Holzleithner, Elisabeth: Doing gender,<br />
in: Kroll, Renate (Hg.): Lexikon gender Studies / Geschlechterforschung, Stuttgart 2002,<br />
S. 72–73.<br />
78 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
schlecht in den Blick geraten. So kann im Rahmen von Vermittlungs- und Lernprozessen,<br />
die den „doing gender“-Begriff aufgreifen, von Lernenden erkannt werden,<br />
dass Geschlecht eben nicht die unverrückbare biologische Kategorie ist, <strong>als</strong> die sie so<br />
oft erscheint. Es kann gefragt werden, warum es sich überhaupt lohnt, aktiv an der<br />
Umgestaltung von Geschlechterkonzepten mitzuwirken.<br />
Politische Partizipation, der zweite hier grundlegend zu klärende Begriff, ist ein Standardbegriff<br />
der Politikwissenschaft, der in nahezu allen Handbüchern und Politiklexika<br />
auftaucht, oft auch unter dem Stichwort „politische Beteiligung“. Hier nutzbar<br />
gemacht werden sollen die Begriffsbildungen, die zuletzt die Politikwissenschaftlerin<br />
Beate Hoecker vorgelegt hat. Hoecker geht davon aus, dass jede Demokratie unmittelbar<br />
von der Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger lebt und dass politische<br />
Partizipation „neben Freiheit und Gleichheit konstitutiv für eine Demokratie ist“. Sie<br />
stellt „einen Schlüsselbegriff politikwissenschaftlicher Theorie wie politischer Praxis<br />
dar.“ 7 Hoecker benennt zwei Ansätze für politische Partizipation, zunächst ein instrumentelles<br />
bzw. so genanntes „realistisches“ Verständnis. Kennzeichen hiervon ist<br />
ihr zu Folge der Umstand, dass die Beteiligung des Volkes an der Demokratie in erster<br />
Linie durch Wahlen zustande kommt. Politische Partizipation hat dabei in erster<br />
Linie den Zweck, eine stabile Regierung hervorzubringen. Hoecker präzisiert: „Demokratie<br />
ist nach diesem Verständnis somit nicht Herrschaft des Volkes, sondern<br />
Herrschaft der Politiker mit Zustimmung des Volkes.“ 8 Demokratie wird einem solchen<br />
Demokratieverständnis zu Folge in erster Linie auf eine Methode, eben auf ein<br />
Instrument, reduziert. Vielversprechender und gerade auch in didaktischer Hinsicht<br />
anknüpfungsfähiger ist jedoch ein Partizipationsverständnis, das in der politischen<br />
Teilnahme einen Wert an sich erkennt. Politische Partizipation ist hier „zugleich ein<br />
Wert und ein Ziel“. Hoecker definiert ein solches „normatives Politikverständnis“ in<br />
Anlehnung an den Politikwissenschaftler Rainer-Olaf Schultze:<br />
„Die aktive Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess stellt den Schlüssel zur<br />
Selbstverwirklichung des Menschen dar. Es setzt auf den Prozess des Zusammenhandelns,<br />
geht über die Sphäre des Politischen hinaus und zielt auf politisch-soziale<br />
Teilhabe in möglichst vielen Teilen der Gesellschaft.“ 9<br />
Politische Partizipation wird hier eng verknüpft mit sozialer Partizipation. Ein solches<br />
normatives Partizipationsverständnis verlangt anspruchsvolle politische Kompetenzen<br />
der Bürgerinnen und Bürger. Am politischen Prozess teilnehmen zu kön-<br />
7 Hoecker, Beate: Politische Partizipation, S. 3.<br />
8 Ebd., S. 4.<br />
9 Ebd., S. 6. Hoecker bezieht sich auf Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation, in: Nohlen,<br />
Dieter/Schulze, Rainer Olaf (Hg.): Politische Theorien (Lexikon der Politik Bd. 1). München<br />
1995, S. 396–406.<br />
Dis | kurs 79
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
nen (und zu wollen) ist einem solchen Modell zu Folge auch das Ergebnis politischer<br />
Bildung. Es manifestiert sich jedoch erst durch partizipatorische Praxis, <strong>als</strong>o durch<br />
das konkrete Tun. Ähnlich wie beim „doing gender“ zeigt sich hier ein wechselseitiges<br />
Verhältnis: Partizipation muss nicht nur ganz abstrakt gelernt werden, etwa<br />
durch strenge Lektionen zu Wahlrecht oder Parteiensystem, sondern entfaltet sich<br />
vor allem ganz konkret durch aktive Teilhabe an der sozialen und politischen Realität<br />
einer Gesellschaft.<br />
Greift man einen solchen normativen Ansatz auf, so gerät politische Partizipation<br />
sowohl zum Gegenstand von politischem <strong>als</strong> auch von demokratischem Lernen. Unter<br />
politischem Lernen versteht die Politikdidaktik in erster Linie die Kenntnis der<br />
politischen Strukturen, in denen Partizipation stattfinden kann. „Es hat“, wie der Politikdidaktiker<br />
Georg Weißeno zusammenfasst, „das Zusammenleben der Menschen<br />
<strong>als</strong> Bürger/innen zum Gegenstand. Es ist gerichtet auf die Frage, wie dieses Leben<br />
unter institutionellen (polity), prozeduralen (politics) und sachlich-materiellen Gesichtspunkten<br />
(policy) allgemein verbindlich geregelt ist.“ 10 Demokratisches Lernen<br />
hingegen befasst sich mit der subjektiven Ebene von politischer Partizipation. Der<br />
Politikdidaktiker Horst Biedermann präzisiert:<br />
„Kinder und Jugendliche sollen nicht nur darüber informiert werden, wie das Leben<br />
in einer parlamentarischen Demokratie funktioniert, sondern insbesondere<br />
lernen, den Prinzipien der westlichen Demokratie zuzustimmen, die Demokratie<br />
wirklich <strong>als</strong> ihre eigene Sache und sich selbst <strong>als</strong> Subjekte des politischen Prozesses<br />
zu begreifen“ 11<br />
Politische Partizipation und „gender“ in politikwissenschaftlicher<br />
Perspektive<br />
Die Politikwissenschaft hat zum engen Zusammenhang von politischer Partizipation<br />
und „gender“ zahlreiche Studien vorgelegt. In didaktischer Hinsicht überaus<br />
anschlussfähig sind dabei die eine Systematisierung, die Gesine Fuchs unter der<br />
Überschrift „Politische Partizipation von Frauen in Deutschland“ 12 präsentiert hat.<br />
Zwar fasst sie das große Thema „gender“ sehr eng, indem sie sich primär mit Frauen<br />
10 Weißeno, Georg: Politisches Lernen, in: Reinhardt, Volker (Hg.): Inhaltsfelder der<br />
Politischen Bildung (Basiswissen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Bd. 3),<br />
Baltmannsweiler 2007, S. 13–19, hier S. 13.<br />
11 Biedermann, Horst: Demokratisches Lernen, in: Reinhardt, Volker (Hg.): Inhaltsfelder<br />
der Politischen Bildung (Basiswissen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Bd. 3),<br />
Baltmannsweiler 2007, S. 20–31, hier S.<br />
12 Fuchs, Gesine: Politische Partizipation von Frauen in Deutschland, in: Hoecker, Beate<br />
(Hg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte<br />
Einführung, Opladen 2006, S. 235–260.<br />
80 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
und nicht mit der Wirkungsmächtigkeit von Geschlecht <strong>als</strong> solchem befasst. Sie geht<br />
insgesamt davon aus, dass Partizipation an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen<br />
eine zentrale Voraussetzung für die Legitimität demokratischer Herrschaft ist<br />
und ordnet ihre Konzeptionalisierung auf diese Weise einem normativen Partizipationsverständnis<br />
zu.<br />
Fuchs arbeitet heraus, dass die Trennung in Öffentlichkeit und Privatsphäre und die<br />
geschlechtliche Kodierung dieser beiden Sphären auch heute noch ein Herrschaftsmechanismus<br />
ist, der nachhaltig dazu beiträgt, politische Partizipation von Frauen<br />
zu begrenzen. Politikwissenschaftliche Analysen zu politischer Partizipation müssen<br />
sich Fuchs zu Folge deshalb immer auch mit der geschlechtsspezifischen Strukturierung<br />
dieser beiden Sphären beschäftigen. 13 Fuchs entwirft ein so genanntes „magisches<br />
Dreieck“, mit dessen Hilfe sie den interdependenten Zusammenhang von<br />
Geschlecht und politischer Partizipation beschreibt. Sie entwickelt auf diese Weise<br />
eine geeignete Analysefolie, mit dessen Hilfe die komplexen Inklusions- und Exklusionsmechanismen,<br />
die die Kategorie Geschlecht generiert, erfasst und in ihrer<br />
Wechselwirkung verstanden werden können.<br />
Als erste der drei Ecken ihres „magischen Dreiecks“ nimmt sie sozioökonomische<br />
Faktoren wie Bildung, Erwerbsarbeit und Einkommen in den Blick. Die politische<br />
Partizipationsforschung ist sich darin einig, dass diejenigen, die viel von diesen Ressourcen<br />
besitzen, auch über einen hohen Grad an Teilhabe und Teilnahme am politischen<br />
System verfügen. Frauen – so hebt Fuchs hervor – verfügen immer noch<br />
über weniger dieser Ressourcen <strong>als</strong> Männer, so dass hier einer geschlechtergerechten<br />
politischen Partizipation ein Riegel vorgeschoben wird. 14<br />
Ähnliche Mechanismen zeigen sich an der zweiten Ecke des Dreiecks, dem Bereich<br />
der politischen Kultur: Zu Beginn dieses Beitrags war bereits die Rede davon, dass<br />
der politische Raum in seiner historischen Genese ein männlich konnotierter Raum<br />
war. Hier galten männlich konnotierte Verhaltensweisen <strong>als</strong> vorbildlich. Dementsprechend<br />
konnte und kann das Bewegen im politischen Raum <strong>als</strong> eine Form von „doing<br />
gender“ begriffen werden, in dem in erster Linie vorbildliche Männlichkeit generiert<br />
wird und ein vorbildlich-männliches Verhalten mit einem Mehr an Partizipation belohnt<br />
werden kann. 15 Zum Bereich der politischen Kultur gehört in einer modernen<br />
Mediendemokratie zudem die massenmediale Inszenierung von Geschlechterbildern.<br />
Dass gerade solche massenmedial produzierten Geschlechterbilder ein ganzes<br />
Bündel an Ein- und Ausschlussmechanismen bereit halten, die nicht nur in der<br />
Arena der Politik, sondern insbesondere in den Etagen des Top-Managements ihre<br />
13 Vgl. ebd., S. 236–237.<br />
14 Ebd., S. 240–241.<br />
15 Ebd., S. 241–243.<br />
Dis | kurs 81
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Wirkung entfalten, hat zuletzt die Geschichtsdidaktikerin Bärbel Völkel aufgezeigt. 16<br />
Drittens schließlich ist der Bereich der institutionellen Faktoren von Relevanz. Zwar<br />
weisen heute fast alle großen demokratischen Staaten die gleichen rechtlich verbürgten<br />
institutionellen Partizipationsmöglichkeiten für Männer und Frauen auf, gerade<br />
die Praxis der Rekrutierung politischen Person<strong>als</strong> etwa durch Parteien, mit Hilfe von<br />
Geschlechterquoten oder so genannten Reißverschlussverfahren bei der Bildung von<br />
Listen für Wahlen können jedoch Mechanismen entstehen lassen, die es schwierig<br />
oder einfach machen, geschlechtergerecht politisch partizipieren zu können. 17<br />
Gerade durch das Ineinanderwirken der drei von Fuchs benannten Faktoren entsteht<br />
hier ein Netz, das auch heute noch dafür verantwortlich ist, dass Frauen weniger und<br />
anders politisch partizipieren <strong>als</strong> Männer. Führt man sich die Ausgangsthese von<br />
Fuchs vor Augen, dass Partizipation zentrale Voraussetzung für die Legitimität einer<br />
demokratischen Ordnung ist, so deckt sie hier <strong>als</strong>o ein Faktorenbündel auf, durch<br />
das Partizipation in geschlechtlicher Hinsicht begrenzt wird.<br />
Politikdidaktische Perspektiven<br />
Was haben die bisherigen Überlegungen mit dem didaktischen Potenzial von gender<br />
und politischer Partizipation zu tun?<br />
In Anlehnung an den Politikdidaktiker Georg Weißeno kann <strong>als</strong> die zentrale Aufgabe<br />
von Politikdidaktik gelten, „inhaltsbezogene Kompetenzen und Wissensstrukturen<br />
zu beschreiben, mit denen die Schüler/-innen die grundlegenden Handlungsanforderungen<br />
künftiger Bürger/-innen bewältigen können.“ 18 Der Themenkomplex<br />
von politischer Partizipation und gender lässt sich dabei sowohl im Bereich des politischen<br />
Lernens, das eher institutionenorientiert ist, <strong>als</strong> auch im Bereich des demokratischen<br />
Lernens – eher handlungsorientiert – verorten. Geschlechtergerecht<br />
politisch partizipieren zu können (und zu wollen) und geschlechtergerecht Politik<br />
und Demokratie zu lernen, ist dann vor allem Kennzeichen von Gender-Kompetenz.<br />
Eine an die bisherigen Überlegungen zu politischer Partizipation überaus anschlussfähige<br />
Definition von Gender-Kompetenz hat zuletzt die Erziehungswissenschaftlerin<br />
Margitta Kunert-Zier vorgelegt:<br />
„Genderkompetenz meint das Wissen und die Erfahrung über die Entstehung von<br />
Geschlechterdifferenzen, über komplexe Strukturen der Geschlechterverhältnisse<br />
und ihrer Konstruktion. Durch dieses Wissen werden differenzierte Analysen z. B.<br />
16 Völkel, Bärbel: Der glass ceiling effect und das „subversive Gelächter“ aus der Geschichte<br />
– oder: Was gehen die Probleme der Managerinnen die historischen genderforscher/<br />
innen an? in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2008.<br />
17 Fuchs, Gesine: Politische Partizipation, S. 243–244<br />
18 Weißeno, Georg: Politisches Lernen, S. 15.<br />
82 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
der gesellschaftlichen und persönlichen Machtzugänge, der Ressourcenverteilung,<br />
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung u. a. möglich.“ 19<br />
Insbesondere die Ergebnisse von Gesine Fuchs zeigen, dass eine Beschäftigung mit<br />
Gender und politischer Partizipation zunächst politisches Lernen fördern können.<br />
Der Blick auf ihr so genantes „magische Dreieck“ hat gezeigt, dass gerade die Möglichkeiten<br />
von Machtzugängen auch auf ihre geschlechtliche Dimension hin untersucht<br />
werden müssen, um eine viel präzisere Vorstellung davon zu bekommen, wie<br />
genau das politische Zusammenwirken von Männern und Frauen funktioniert. Unterrichtspraktisch<br />
bieten sich hier sehr viele Anknüpfungspunkte an, etwa die Analyse<br />
von rein statistischen Daten zu Gender-Aspekten, die Analyse von institutionellen<br />
Mechanismen wie Quotenregelungen, insbesondere aber auch die mediale Wahrnehmung<br />
von Männern und Frauen im politischen Raum.<br />
Anknüpfungspunkte ergeben sich aber auch für den Bereich des demokratischen<br />
Lernens. Demokratisches Lernen in Bezug auf „gender“ und politische Partizipation<br />
muss in diesem Zusammenhang insbesondere heißen, dass sich Schülerinnen<br />
und Schüler im Rahmen eines handlungsorientierten Unterrichts eben auch <strong>als</strong> geschlechtliche<br />
Subjekte wahrnehmen und erkennen, dass auch die politische Kultur<br />
moderner westlicher Gesellschaften geschlechterbezogene Mechanismen bereit hält,<br />
die zu wirkungsmächtigen Ein- und Ausschlussmechanismen führen können.<br />
Literatur<br />
Frevert, Ute: „Unser Staat ist männlichen Geschlechts“. Zur politischen Topographie der<br />
Geschlechter vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert, in: dies.: „Mann und Weib und Weib und<br />
Mann“. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995, S. 61–132.<br />
Fuchs, Gesine: Politische Partizipation von Frauen in Deutschland, in: Hoecker, Beate (Hg.):<br />
Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte Einführung,<br />
Opladen 2006, S. 235–260.<br />
Hoecker, Beate (Hg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte<br />
Einführung, Opladen 2006.<br />
Klinger, Cornelia/ Knapp, Gudrun-Axeli/ Sauer, Birgit (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum<br />
Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität (Politik der Geschlechterverhältnisse Bd.<br />
36), Frankfurt (Main) 2007.<br />
Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation, in: Nohlen, Dieter/Schulze, Rainer Olaf (Hg.): Politische<br />
Theorien (Lexikon der Politik Bd. 1). München 1995, S. 396–406.<br />
Weißeno, Georg: Politisches Lernen, in: Reinhardt, Volker (Hg.): Inhaltsfelder der Politischen<br />
Bildung (Basiswissen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Bd. 3), Baltmannsweiler<br />
2007, S. 13–19.<br />
19 Kunert-Zier, Margitta: Erziehung der Geschlechter. Entwicklungen, Konzepte und genderkompetenz<br />
in sozialpädagogischen Feldern, Wiesbaden 2005, S. 283.<br />
Dis | kurs 83
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Problematizing Pluralism<br />
Chris O`Kane<br />
University of Sussex<br />
E-Mail: theresonlyonrchrisokane@gmail.com<br />
Keywords<br />
Pluralism, Citizenship, Marx<br />
I<br />
The importance of Karl Marx's On the Jewish Question has re-emerged in light of the<br />
myriad of recent scholarship on what is variously termed pluralism or the politics of<br />
difference. 1 Marx's early polemic against Bruno Bauer addresses the question of how<br />
to integrate the Jews into German society. In marked contrast to Bauer's argument<br />
that political incorporation and the renunciation of religion will solve the matter,<br />
Marx draws a distinction between political and human emancipation and argues that<br />
political emancipation does not fully resolve the oppression of Jewish identity. Marx<br />
argues this is because political emancipation does not account for the mediating influence<br />
of the historic conditions of civil society, which creates the antagonistic identities<br />
of the German and the Jew. 2 For Marx, it is only human emancipation that will<br />
1 See for instance the work of Darrow Schecter: Sovereign State or Political Communities?<br />
And Beyond Hegemony Towards a New Philosophy of Political Legitimacy. Machester<br />
2000. My reading of „On The Jewish Question“ follows Schecter, Andrew Chitty and<br />
others in asserting that while Marx does focus on religious identity, his argument can<br />
broadened to encompass other identities and contexts.<br />
2 Crucially, in this early work Marx's notion of civil society is Hegelian and encompasses<br />
84 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
do away with this antagonism;<br />
All emancipation is a reduction of the human world and relationships to man<br />
himself. Political emancipation is the reduction of man, on the one hand, to a member<br />
of civil society, to an egoistic, independent individual, and, on the other hand,<br />
to a citizen, a juridical person. Only when the real, individual man re-absorbs in<br />
himself the abstract citizen, and as an individual human being has become a species-being<br />
in his everyday life, in his particular work, and in his particular situation,<br />
only when man has recognized and organized his „own powers“ as social powers,<br />
and, consequently, no longer separates social power from himself in the shape of<br />
political power, only then will human emancipation have been accomplished. 3<br />
In his lecture on „Negative Universal History,“ Theodor W Adorno makes a parenthetical<br />
critique of pluralism that I will try to show has a devastating impact on pluralist<br />
democratic theory. This is because despite the fact that many pluralists utilize<br />
Adorno's notion of the particular to advocate their politics of difference, Adorno<br />
critiques pluralism as ideological. Following Marx, Adorno asserts that instead of<br />
addressing the conditions in civil society that oppress these divergent and antagonistic<br />
identities, pluralism operates ideologically because it taking these conditions as<br />
a given and f<strong>als</strong>ely reconciles them with the very conditions that oppress them. Here<br />
Marx's notion of the inadequacy of political emancipation absorbs pluralism;<br />
The term ‚pluralism‘ is acquiring increasing currency in our own time. It is presumably<br />
the ideology describing the centrifugal tendencies of a society that threatens<br />
to disintegrate into unreconciled groups under the pressure of its own principles…<br />
As a minor by-product of these lectures I would like to recommend that you adopt<br />
an extremely wary attitude towards the concept of pluralism, which like the similar<br />
concept of ‚social partners,‘ is preached at us on every street corner. To transfigure<br />
and ideologize the elements of discontinuity or of social antagonisms in this way is a<br />
part of the general ideological trend. In the same way, it is very characteristic of our<br />
age that the very factors that threaten to blow up the entire world are represented as<br />
the peaceful coexistence of human beings who have become reconciled and have outgrown<br />
their conflicts. This is a tendency which barely conce<strong>als</strong> the fact that mankind<br />
is beginning to despair of finding a solution to its disagreements. 4<br />
the social and economic sphere.<br />
3 Marx, Karl: On the Jewish Question. Available at www.marxists.org as well as McClellan,<br />
David (ed.): Karl Marx Selected Writings. London 2000. pg. 64. For an illuminating<br />
discussion of Marx's concept of species-being cf. Chitty, Andrew: Species-Being and<br />
Capital. Paper delivered to the ‚Studies of Modern Capitalism‘ Conference, Changshu<br />
Institute of Technology, 9–10 November 2006, subsequently published in Social Sciences<br />
in Nanjing 2, 2007, pp. 1–10.<br />
4 Marx, Karl: On the Jewish Question. p. 93.<br />
Dis | kurs 85
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
This paper examines how Adorno's critique problematizes the new pluralist democratic<br />
theory. It will utilize the distinguished work of Iris Marion Young and Will<br />
Kymlicka as examples of this scholarship. By updating Adorno's critique to address<br />
the new pluralist democratic theory, I will argue that Young and Kymlicka reify the<br />
repression of pluralist identities created by the historical conditions in civil society by<br />
treating them as a given and incorporating them into the democratic political sphere.<br />
But, this political emancipation is not human emancipation. For under Young and<br />
Kymlikca's democratic model, oppressed groups are still subject to the historical, social<br />
and economic conditions that created the antagonisms that led to their oppression.<br />
In other words, a political pluralism that allows for the heterogeneity that diverse<br />
groups demand is inadequate because by arguing for a democratic solution in the political<br />
sphere, it masks the root cause of oppression, forcing the oppressed groups to<br />
be reconciled with the historical social and economic conditions that oppress them.<br />
Following Adorno's use of Marx's concepts of use-value and exchange-value as normative<br />
concepts, I will argue that these democratic models meets Adorno's definition<br />
of ideology because Young and Kymlicka's reified arguments for incorporation conflate<br />
use-value with exchange-value, ultimately perpetuating the problem they are<br />
trying to solve. 5<br />
This is because Kymlicka and Young's models modify the liberal democratic sphere<br />
to include oppressed group identities. In doing so they assume that participation<br />
in a modified liberal democratic model has an inherent use-value for these groups.<br />
(Democracy will meet the needs of the oppressed groups because it is democracy.)<br />
But, on the basis of my prior distinctions between political and human emancipation<br />
and the political and civil sphere, I contend that this is actually exchange-value. This<br />
is because instead of identity functioning qualitatively as a use-value to meet the<br />
needs of the individual's identity, it is absorbed into the political realm where it functions<br />
as a quantity; it becomes one vote. 6 But, for reasons already explained this vote<br />
does nothing to satisfy the needs of oppressed people with these identities. Therefore,<br />
following Adorno and in contrast to Young and Kymlicka, these oppressed groups<br />
should actually demonstrate the f<strong>als</strong>e reconciliation of the capitalist totality and the<br />
impossibility of the argument for a political solution. They should serve as the basis<br />
for an argument for human emancipation. But, due to the ideological nature of the<br />
5 Marx's definition of use-value-something that consists in its fitness to supply the necessities,<br />
or serve the conveniences of human life – can be read as a continuation of his<br />
concept of species-being. This gives it a normative and humanist concept rather like<br />
Adorno's. For examples of Adorno's use of exchange-value (sometimes called exchangerelation)<br />
and use-value see for instance Baby with the Bath Water.In: Adorno, Theodor<br />
W.: Minima Moralia. New York 2005. pp. 44 ff.<br />
6 Incidentally this can be observed all the time when they breakdown the exit polls about<br />
how Obama, Clinton et al did among black or Hispanic voters.<br />
86 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
new pluralism, they are bartered for a stake in pre-existing conditions. Pre-existing<br />
conditions that do not entail the creation of a society that instead of oppressing these<br />
groups (in the civil sphere) and treating them as any other (in the political sphere)<br />
will provide for them and treat them as they desire.<br />
But, this critique is not meant to dismiss the problem of heterogeneity. It is obviously<br />
an important contemporary issue that must be adequately addressed by including a<br />
critique of civil society in arguments for human not political emancipation. In briefly<br />
turning to the works of Žižek, Angela Davis and Said I hope to demonstrate that this<br />
is possible.<br />
II<br />
In Polity and Group Difference 7 , Iris Marion Young's pluralist democratic theory is<br />
fundamentally ambiguous. This ambiguity results in (a) a model that undercuts itself<br />
by failing to examine the logical repercussions of some of its own premises, leading<br />
to (b) the failure to use some of her premises to examine what she posits as a given,<br />
which (c) results in a model that advocates the self acknowledged futile effort of<br />
incorporating these givens into the democratic sphere, despite the fact that for her<br />
oppression is inevitable. Here, I will try to demonstrate that by failing to examine<br />
the logical repercussions of some of her assumptions, Young reifies the oppression of<br />
group difference and ultimately advocates a model that fails to resolve this problem.<br />
This is because rather then argue for human emancipation, her pluralist democratic<br />
model settles on a form of political emancipation, which functions as an ideological<br />
abdication of the logical extension of her own argument. The result is a model that<br />
forsakes quality for quantity while undercutting her argument for particularity by<br />
advocating its absorption into the negative universal totality.<br />
Young's model is fundamentally ambiguous because she equivocates on the question<br />
of what is responsible for the continued oppression of different identities and what<br />
should be done to stop this oppression. In her brief introduction, Young frames her<br />
core issue; why when „citizenship rights have been formally extended to all groups in<br />
liberal capitalist societies“ do „some groups still find themselves treated as secondclass<br />
citizens“ 8 by stating that „part of the answer is straightforwardly Marxist.“ But,<br />
in the course of her argument she fails to examine the ramifications of the „important<br />
and correct Marxist diagnosis“ to focus on a reason more „intrinsic to the meaning of<br />
7 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. A Critique of Universal Citizenship. In:<br />
Ronald Beiner (ed.): Theorizing Citizenship. New York 1995. This ambiguity can <strong>als</strong>o be<br />
seen in her treatment of universal citizenship through out the essay. On one hand she<br />
critiques the concept, but on the other uses it as the basis for her argument.<br />
8 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 176.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
politics and citizenship as expressed in modern thought.“ 9 Yet, when Young defines<br />
this intrinsic factor – how the homogenous concept of universality does not allow<br />
for difference – it is posited as a historical development. In this model of historical<br />
development there is much discussion of how the history of gender relations, cultural<br />
relations and „the moral division of labour“ led to the creation of the concept of<br />
universal citizenship, but the Marxist part of the answer has been dropped. No consideration<br />
is given to the mediating effects of civil society. Furthermore, in contrast to<br />
the historical definition of universality, group difference is treated as an a-historical<br />
given which possesses the ontological nature of Heideggarian thrownness.<br />
The neglected Marxist part of the answer is then turned against when Young lays out<br />
her model of group representation. This is because Young contends that Marxism is<br />
a utopian viewpoint that does not account for contemporary reality. In doing so, she<br />
conflates the Marxist viewpoint that a utopian possibility exists within the existing<br />
conditions, with her the contention that it operates from a utopian viewpoint;<br />
Perhaps in some utopian future there will be a society without group oppression and<br />
disadvantage. We cannot develop political principles by starting with the assumption<br />
of a completely just society, however, but we must begin from within the general<br />
historical and social conditions in which we exist. The means that we must develop<br />
participatory democracy…on the assumption that there are group differences and<br />
that some groups are actually or potentially oppressed or disadvantaged. 10<br />
The result of these attitudes to the Marxist part of the answer is that rather then operating<br />
in the historical and social conditions and treating them as historical, Young<br />
treats them as a given just like her a-historical notion of the permanence of group<br />
difference.<br />
These givens then serve as the basis of Young's democratic model of differentiated<br />
citizenship. The model is three-point program that is meant to implement the general<br />
principle of specific representation for oppressed groups. It does this, essentially, by<br />
amending the liberal political sphere to include different opinions through guarantees<br />
of self-organization, „voicing a group's analysis of how social policy affects them“<br />
and veto power. Yet, Young even acknowledges this model as „academic […] since<br />
we live in a society with deep group oppressions the complete elimination of which<br />
is only a remote possibility.“ 11<br />
The question then, is why and how Young settled on the „academic“ model she undercuts?<br />
I believe the answer lies in her failure to incorporate the ramifications of<br />
9 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 176<br />
10 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 188.<br />
11 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 189.<br />
88 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
the Marxist part of the answer she neglected. For, if she had utilized Marxism in her<br />
part of the answer, the historical development of the oppressive concept of universal<br />
citizenship would be examined from the viewpoint of a historical totality. This would<br />
account for the cultural and gendered influence of the concept of universal citizenship,<br />
as well as the mediating influence civil society had on the creation of the subject.<br />
It would <strong>als</strong>o give a historical context to the creation of oppressed identities, rather<br />
then treating them as an a-historical given. Lastly, by utilizing the above and choosing<br />
the Marxist utopian viewpoint – rather then the ersatz „academic“ utopia Young<br />
settles on – Young would not see oppression as an inevitable given to be remedied<br />
in the democratic sphere. Rather, she would side with Marx and Adorno in seeing<br />
democratic pluralism as an inadequate solution because of its failure to address the<br />
mediating influence of civil society. Instead, by failing to integrate the two parts of<br />
her answer, and treating the concept of universal citizenship and group oppression<br />
a-historically, Young reifies them.<br />
This results in a democratic model that fits Adorno's notion of ideology. For, rather<br />
then addressing the totality of historical conditions that created the problems Young<br />
is addressing, Young focuses solely on the democratic sphere. The consequence is<br />
an argument for political rather then human emancipation, which on the basis of<br />
its own givens attempts to reconcile oppressed groups with the very conditions that<br />
created their oppression. Here, the qualitative use-value that the utopia of human<br />
emancipation could provide these oppressed groups is sacrificed for the lesser quantitative<br />
model of political integration where oppressed groups are assured of their<br />
status as exchange-value, in a model even the author sees as an inevitably flawed<br />
lesser utopia.<br />
III<br />
Kymlikca's Multicultural Citizenship argues for a liberal basis for multicultural citizenship.<br />
This puts his liberal assumptions at odds with Marx and Adorno's assumptions<br />
and the assumptions of this paper. This is because Kymlicka's liberal basis attempts<br />
to „manage“ the problem of multiculturalism by absorbing suitable cases into his<br />
liberal framework. His argument for „toleration and its limits“ is a straightforward<br />
argument for liberal democratic reconciliation. For, while certain civil and political<br />
exceptions are made for different cultures, like allowing Sikh police officers to wear<br />
their traditional head dress instead of a helmet, no room is allowed for ill-liberal, let<br />
alone radical egalitarian social demands. 12<br />
Kymlicka's liberal assumptions give precedence to the individual and individual<br />
12 In the beginning of the book he does assert that social justice is inherently liberal. But<br />
this is not defined and does not reappear in the remainder of the work.<br />
Dis | kurs 89
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
choice. For him the state and the political sphere exist to protect and represent these<br />
choices as rights. But, these assumptions fail to address social and economic factors.<br />
In other words, Kymlicka operates from a framework that can address political<br />
emancipation but cannot consider human emancipation. This results in a contention<br />
similar to Young's; that the concept of political rights – and what he calls „majoritarian<br />
decision-making“ – have rendered „cultural minorities vulnerable to significant<br />
injustice at the hands of the majority“ 13 and must be modified to incorporate these<br />
groups.<br />
But, in what some may see as irony, Kymlicka uses the liberal idea of freedom of individual<br />
choice and equality to modify these rights. He does so by arguing that that<br />
the cultural context of a nation or culture are „cultural preconditions“ for the „liberal<br />
value of freedom of choice.“ 14 Culture is seen as a prerequisite for choice „because<br />
it provides options and makes them meaningful to us.“ Here culture is liberalised.<br />
It is conceived as something that helps you choose „the good“, provided this choice<br />
meets standards available within the liberal framework. But, the problem with this<br />
argument is that on one had it raises the question of how multi-cultural and pluralist<br />
Kymlicka's model is and on the other how effective it is in resolving the difficult circumstances<br />
that lead to theorizing about politics of difference in the first place.<br />
This is evident when Kymlicka moves to using his liberal basis to deal with empirical<br />
instances of multiculturalism. Here, he creates neat analytical distinctions to<br />
define different forms of multi-culturalism, such as „multi-national“ and „polyethnic“<br />
states. For the former, such as Quebec, Kymlicka offers a set of propos<strong>als</strong> for<br />
self-government. For the later, he offers a set of group rights similar to Young's. In<br />
addition to choice, these measures are justified because they ensure equality in what<br />
Kymlicka calls „the cultural marketplace“ and where they „promot[e] cultural diversity<br />
within the mainstream culture.“ 15 But here, and elsewhere, Kymlicka's theory<br />
comes up against „hard cases“ where his liberal model does not work.<br />
These hard cases fall into two categories. The first stem from cultures that are not<br />
liberal. Here Kymlicka's solution is to talk of „toleration and its limits.“ His solutions<br />
to this dilemma are rather opaque and restrictive. In the case of non-liberal nations<br />
„the aim of liber<strong>als</strong> should not be to dissolve non-liberal nations, but rather to seek to<br />
liberalize them.“ 16 In the case of internal non-liberal minority cultures, they must be<br />
13 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship: A Liberal Theory of Minority Rights. Oxford<br />
1995. p. 5.<br />
14 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 76.<br />
15 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 6.<br />
16 Cf. Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 94. What he means by this is not made<br />
clear.<br />
90 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
forced to meet his liberal standards. In these hard cases Kymlikca's liberal multiculturalism<br />
is not multicultural. The second category of hard cases stem from demands<br />
that do not fit into Kymlicka's liberal model or his neat analytical categories. Here, in<br />
the case of involuntary immigrants who had no choice in immigration, Kymlicka is<br />
forced to relegate his liberal model to an „ideal theory.“ 17 In this instance, Kymlicka<br />
leaves the political sphere to state that „the only long-term solution is to remedy the<br />
unjust international distribution of resources.“ 18 Yet, in doing so he has undercut his<br />
own argument by demonstrating the inapplicability of his liberal model to cases that<br />
make the question of pluralism necessary.<br />
What then is there to conclude about a model that cannot meet its own standards<br />
and how does it relate to this papers critique? I believe the answers coincide. For in<br />
resting on liberal assumptions that fail to take the mediating influence of the historical<br />
social and economic considerations into consideration, Kymlicka settles on his<br />
liberal multicultural political answer. But, as we have seen, the consequence of this<br />
is a model that is not multicultural and which is forced to resort to an extra-liberal<br />
answer when faced with hard cases created by the factors that mediate political life,<br />
such as the socio economic sphere. In failing to adapt his model to the logical conclusions<br />
of these two failings Kymlicka treats his other cases in bad faith.<br />
This result then meets Adorno's criteria as an ideological model because the attempted<br />
forced reconciliation, of liberal pluralist incorporation into the liberal democratic<br />
state, does not address the external factors that created these demands, nor does it<br />
assure that political representation will meet these demands or end these injustices.<br />
Instead, the quality of an individu<strong>als</strong> cultural identity is truly transformed into the<br />
quantitative liberal individual where, on the nature of its own assumptions, the only<br />
answer to what a liberal multicultural politics will be can be through the avenue of a<br />
multicultural liberal politics that fails to meet its own weak aspirations.<br />
IV<br />
So how do we approach the politics of pluralism while accounting for its mediating<br />
factors? Here it seems, Jameson was partially right. 19 Not only is Adorno relevant<br />
now, but the proof of this is actualized in Žižek and Angela Davis's work on the politics<br />
of difference.<br />
This is evident in the newest manifestation of Žižek's critique of multiculturalism/<br />
17 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 99.<br />
18 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 99.<br />
19 Jameson, Frederic: Late Marxism: Adorno or the Persistence of the Dialectic. London<br />
2007.<br />
Dis | kurs 91
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
tolerance/pluralism. 20 In these recent articles and talks, Žižek critiques multiculturalism/tolerance/pluralism<br />
from the perspective of the lost cause of the universal<br />
critique of capitalism. He argues that calls for pluralism and tolerance alleviate the<br />
symptoms of racism, sexism etc. without addressing the structure that creates these<br />
symptoms. In The Liberal Utopia, for instance, he identifies this structure as the neoliberal<br />
capitalist totality. He further argues that this totality functions as a negative<br />
universality. This makes heterogeneous individu<strong>als</strong> – interpreted as givens by the<br />
liberal politics of difference – a fragment or particular aspect of this universality; it<br />
makes the politics of difference an expression of capitalism's antagonisms.<br />
Parallels with Adorno and Žižek can <strong>als</strong>o be drawn in the work of Angela Davis.<br />
In her classic works such as Women and Capitalism: Dialectics of Oppression and<br />
Liberation and Race and Criminalization 21 Davis extends a Marxian analysis to the<br />
oppression of women, the creation of institutional racism etc. In tying the oppression<br />
of these disparate identities to historical circumstances and arguing that only human<br />
emancipation can lead to reconciliation, Davis extends the critique of her former<br />
teacher, Adorno, to the plural politics of today.<br />
Here, Žižek, and Davis meet Said's humanism, which can be summed up in his frequent<br />
use of CLR James famous quote. 22 For contra the pluralist democratic theory<br />
of Kymlicka and Young, Žižek, Davis, Said and James argue that it is imperative to<br />
realize that you can't have a rendezvous without the victory.<br />
the work of man is only just beginning and it remains to conquer all the violence<br />
entrenched in the recess of our passion and no race possesses the monopoly of beauty,<br />
of intelligence, of force, and there's a place for all at the rendezvous of victory. 23<br />
V<br />
This paper has utilized Marx's On the Jewish Question and Adorno's critique of pluralism<br />
to interrogate modern pluralist democratic theory. Following Marx and Adorno,<br />
I have argued that Young and Kymlicka reify the repression of pluralist identities<br />
created by the historical conditions in the Hegelian conception of civil society.<br />
I have argued Young and Kymlicka have done this by treating the conditions that<br />
20 As seen in his recent articles such as Žižek, Slavoj: Resistance is Surrender. London<br />
Review of Books. Available at www.lrb.co.uk and lectures such as Žižek, Slavoj: The<br />
Euthanasia of Tolerant Reason. Talk given May 1, 2006 – Tilton Gallery, NYC; and Žižek,<br />
Slavoj: The Liberal Utopia. Talk given at the University of Athens on 4 Oct 2007.<br />
21 Both in James, Joy (ed.): The Angela Y. Davis Reader. Mass. 1998; see <strong>als</strong>o Women,<br />
Politics and Culture and Race, Woman, Race and Class by the same author.<br />
22 For a detailed examination of Said's humanism and it relation to pluralism see O'Kane,<br />
Chris: Edward Said's Humanism. MA dissertation, University of Sussex, 2005.<br />
23 Said, Edward W.: Culture and Imperialism. London 1994.<br />
92 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
create the oppression of these disparate identities as a given by constructing theoretical<br />
models that incorporate these givens into the democratic political sphere. The<br />
consequence for these democratic theories is that they argue for political emancipation<br />
and not human emancipation. For under Young and Kymlikca's democratic<br />
models, oppressed groups will still be subject to the historical, social and economic<br />
conditions that created the antagonisms that oppressed them in the first place. In<br />
other words, their political pluralism – which allows for a heterogeneity that diverse<br />
groups demand – is inadequate because by arguing for a democratic solution in the<br />
political sphere, it ideologically masks the root cause of oppression, forcing the oppressed<br />
groups to be reconciled with the historical social and economic conditions<br />
that oppress them. In Young's case I argued that by failing to examine the logical<br />
repercussions of what she calls the Marxist part of the answer, Young ends up reifying<br />
the oppressive historical grounds of group difference, ultimately advocating a model<br />
that even she acknowledges fails to resolve this problem. This is because rather then<br />
argue for human emancipation, her pluralist democratic model has settled on a form<br />
of political emancipation, which functions as an ideological abdication of the logical<br />
extension of her own argument. This results in a model that has forsaken the qualitative<br />
needs her politics of difference is trying to address for a quantitative form of<br />
assured political participation, but a political participation with almost nothing in<br />
the way of guarantees that will address the needs of disparate groups let alone rectify<br />
the factors that have created the conditions that have led to their oppression.<br />
In Kymlicka's case I argued that his liberal form of multicultural citizenship failed to<br />
meet its go<strong>als</strong> of being (a) multicultural and (b) addressing the problems of pluralism<br />
through liberalism. I tried to show that this is because of the inherent nature of his<br />
liberal assumptions, which (a) fail to address the mediating influence of the historical<br />
social and economic considerations and (b) believe liberal democracies normative<br />
value is self-evident. We have seen the repercussions of how these assumptions<br />
played out in the inability of Kymlicka's model to solve the hard cases where disparate<br />
groups hold ill-liberal values or the nature of a group's circumstances cannot be<br />
solved by liberalism. For, in these cases – which seem to be the cases that create the<br />
question of the politics of pluralism – Kymlicka's privileging of liberal values, his<br />
advocacy of converting non-liber<strong>als</strong> to liberalism and refusal to tolerate their cultural<br />
practices are the anti-thesis of a fully realized multi-culturalism. Additionally, his<br />
move to address the extra-liberal aspects of social-economic factors and regulation of<br />
his model to an ideal model when confronted with the problem of forced immigration<br />
completely undermines the ability of liberalism to address the problem of group<br />
oppression. The consequence of this is a model that is not multicultural and which<br />
is forced to resort to an extra-liberal answer when faced with hard cases created by<br />
the factors that mediate political life, such as the socio economic sphere. The result<br />
Dis | kurs 93
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
is ideological because Kymlicka's model obscures the problems that ultimately undermine<br />
it. This attempted forced reconciliation does not address the external factors<br />
that created these demands, nor does it assure that political representation will meet<br />
these demands or end these injustices. Instead, the quality of an individu<strong>als</strong> cultural<br />
identity is truly transformed into the quantitative liberal individual where, on the<br />
nature of its own assumptions, the only answer can be through the avenue of a multicultural<br />
liberal politics that fails to meet its own weak aspirations.<br />
Utilizing Adorno's use of Marx's concepts of use-value and exchange-value as normative<br />
concepts, I further argued that Young and Kymlicka's democratic models have<br />
met the definition of ideology Adorno lays out in his critique of pluralism. I have<br />
sought to demonstrate this by arguing that Young and Kymlicka's reified arguments<br />
for incorporation have conflated use-value with exchange-value, which ultimately<br />
perpetuates the problem they are trying to solve.<br />
This is because in (1) modifying the liberal democratic sphere to include oppressed<br />
group identities, Young and Kymlicka, assume that participation in a modified liberal<br />
democratic model has an inherent use-value for these groups. But, (2) through<br />
the utilization of the distinction between political and human emancipation and the<br />
political and civil sphere, I contended that this was actually exchange-value, with (3)<br />
the consequence that identity is absorbed into the political realm where it functions<br />
as a quantity rather functioning as a qualitative use-value that meet the needs of<br />
the individu<strong>als</strong> identity. But, as I have hopefully demonstrated, this form of political<br />
emancipation is not sufficient for satisfying the needs of oppressed people with<br />
these identities. Instead, I hope, the oppressed groups in Young and Kymlicka's models<br />
have demonstrated the impossibility of the argument for a solely political solution.<br />
This being the case, they should serve as the basis for an argument for human<br />
emancipation. But, instead, due to what I have designated as the ideological nature of<br />
Young and Kymlicka's pluralist democratic theory, these groups have been bartered<br />
for a stake in pre-existing conditions. Pre-existing conditions that do not entail the<br />
creation of a society that instead of oppressing these groups (in the civil sphere) and<br />
treating them as any other (in the political sphere) will provide for them and treat<br />
them as they desire.<br />
Thus, rather then addressing the capitalist antagonism that creates these groups,<br />
Young and Kymlicka have reconciled these groups with their conditions. Exchangevalue<br />
has been substituted for use-value further perpetuating negative universality.<br />
What then for the politics of difference? I hope this paper has not minimized the problem<br />
of heterogeneity that confronts the modern world. But, I do hope I have shown<br />
that in the case of oppressed groups, addressing the issue from a strictly political<br />
framework is ineffective. This why I believe the work of Žižek and Davis is invaluable.<br />
94 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
For them a reformed democracy does not automatically serve needs because it bears<br />
the name democracy. Instead social and political movements and theories must create<br />
a politics that serves these needs. Only then will the rendezvous and the victory<br />
coincide and meet the utopia of non-identity Adorno advocates over and against the<br />
pluralists who utilize him;<br />
To sum up in a rather bolder way, an achieved identity, in other words, the elimination<br />
of conflict, the reconciliation of all those who are opposed to one another<br />
because their interests are irreconcilable, an achieved identity does not mean the<br />
identity of all subsumed beneath a totality, a concept, an integrated society. A truly<br />
achieved identity would have to be the consciousness of a non-identity, or, more<br />
accurately perhaps, it would have to be the creation of a reconciled non-identity. 24<br />
Bibliography<br />
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. New York 2005.<br />
Adorno, Theodor W.: History and Freedom. MA 2006.<br />
Chitty, Andrew: Species-Being and Capital. Paper delivered to the ‚Studies of Modern Capitalism‘<br />
Conference, Changshu Institute of Technology, 9–10 November, 2006, subsequently<br />
published in Social Sciences in Nanjing 2, 2007, pp. 1–10.<br />
James. C.L.R.: C.L.R. James On the Negro Question. MI 1996.<br />
James, Joy (ed.); Davis, Angela Y.: The Angela Y. Davis Reader. MA 1998.<br />
Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship: A Liberal Theory of Minority Rights. Oxford 1995.<br />
Mcllelan, David (ed.); Marx, Karl: Karl Marx Selected Writings. Oxford 2005.<br />
Marx, Karl: Capital Volume 1. New York 1997.<br />
O'Kane, Chris: Edward Said's Humanism. MA dissertation University of Sussex, 2006.<br />
Said, Edward W.: Culture and Imperialism. New York 1994.<br />
Schecter, Darrow: Beyond Hegemony: Towards a new Philosophy of Political Legitimacy.<br />
Manchester 2005.<br />
Schecter, Darrow: History of the Left from Marx to the Present: Theoretical Perspectives.<br />
New York 2007.<br />
Schecter, Darrow: Sovereign States or Political Communities? Civil Society and Contemporary<br />
Politics. Manchester 2000.<br />
Young, Iris Marion: Polity and Group Difference; a Critique of Universal Citizenship. In Ronald<br />
Beiner Ed. Theorizing Citizenship. New York 1995.<br />
Žižek, Slavoj (ed.): Mapping Ideology. New York 1995.<br />
Žižek, Slavoj: The Euthanasia of Tolerant Reason. Talk given May 1, 2006 – Tilton Gallery,<br />
NYC. Available at http://video.google.com/videosearch?q=zizek+euthanasia+of+tolerant+reas<br />
on&hl=en&sitesearch=.<br />
Žižek, Slavoj: The Liberal Utopia. Talk given at the University of Athens on 4 Oct 2007.<br />
Available at http://video.google.com/videosearch?q=zizek+liberal+utopia&hl=en&sitesearch=<br />
Žižek, Slavoj: Resistance is Surrender. London Review of Books. Available at www.lrb.co.uk.<br />
24 Adorno, Theodor W.: History and Freedom. Mass. 2006. p. 55.<br />
Dis | kurs 95
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Fortwährende Banalität des Bösen und<br />
sozialpsychologische Entschuldigung<br />
Nadine Niemann<br />
Hochschule Vechta, IBS<br />
E-Mail: nadine_niemann@arcor.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Gehorsam, Verantwortung, Autorität, Demokratie<br />
Heinar Kipphardt, <strong>als</strong> gesellschaftskritischer Autor durch In der Sache J. Robert Oppenheimer<br />
(1964) bekannt, schrieb ein Buch über „ein[en] ziemlich durchschnittliche[n]<br />
junge[n] Mann“ 1 , der „wie viele andere“ 2 gewesen sei. Dieser Mann, Adolf Otto Eichmann,<br />
wurde 1961 wegen aktiver Beihilfe zum Völkermord in Jerusalem angeklagt<br />
und vor Gericht gestellt. Er plädierte auf „nicht schuldig“, da er eine „reine Weste“<br />
und kein Blut an den Fingern habe. Schließlich sei er nur ein befehlsempfangendes<br />
Opfer gewesen und da er nur ein kleines Rädchen im Getriebe (Hannah Arendt) der<br />
nation<strong>als</strong>ozialistischen Vernichtungsmaschinerie gewesen sei, wäre seine Aufgabe<br />
im Falle seiner Weigerung, die sogenannte Endlösung der Judenfrage, von jemand<br />
anderem übernommen worden.<br />
Wegen dieser exemplarischen Gefährlichkeit von Eichmann und <strong>als</strong> Warnung vor<br />
seinen Verwandten im Geiste, die ähnlich grausam, realitätsfern, eifrig und gewissenhaft<br />
handeln könnten, schrieb Kipphardt das Drama Bruder Eichmann. Denn „nicht<br />
die Kläglichkeit [d]es durchschnittlichen Lebens, sondern das Exemplarische dieser<br />
1 Kipphardt, 1984, S. 141.<br />
2 Wucher, 1961, S. 9.<br />
96 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Durchschnittlichkeit“, die „funktionale Haltung des durchschnittlichen Bürgers“, der<br />
das „Gewissen […] an den Gesetzgeber oder an die Befehlsgeber delegiert“ 3 hat, macht<br />
das Böse banal.<br />
Die Öffentlichkeit sah Eichmann, nicht <strong>als</strong> Opfer, sondern <strong>als</strong> „Monster“. Seine Taten<br />
seien grausam und unmenschlich, ein normaler Mensch würde so nicht agieren.<br />
Diese Meinung ist noch immer weit verbreitet, aber laut Stanley Milgram ist diese<br />
moralisch richtige Entscheidung empirisch nicht haltbar.<br />
Eine sozialpsychologische Entschuldigung?<br />
Milgram führte von 1960 bis 1963 ein Experiment zum Thema Gehorsam durch und<br />
erhob vor dem Experiment die erwarteten Resultate bezogen auf die Gehorsamsbereitschaft<br />
und Abbrecherquote, von Personen aus den unterschiedlichsten Milieus<br />
eingeschätzt.<br />
Das Ergebnis dieser Erhebung prophezeite eine hohe Abbrecherquote, welche im<br />
Experiment nicht annähernd erreicht wurde. 4 Milgrams Schlussfolgerung aus dem<br />
erschreckenden Resultat ist, dass „ganz gewöhnliche Menschen, […] nur schlicht ihre<br />
Aufgabe erfüllen, selbst wenn ihnen die zerstörerischen Folgen ihres Handelns vor Augen<br />
geführt […] und klar bewusst gemacht“ werden. 5 Demnach würden Personen wie<br />
du und ich mit großer Wahrscheinlichkeit ähnlich handeln, ähnlich einem Eichmann<br />
oder Jonathan Littells SS-Offizier, Dr. Max Aue. Warum ist aber diese Haltung so<br />
schwer nachzuvollziehen? Unsere Erziehung lässt uns von außen die richtige Entscheidung<br />
treffen, während wir in der Situation ähnlich handeln würden. Die Situation<br />
ist demnach von großer Bedeutung, nicht aber der gute oder schlechte Charakter<br />
einer Personen. So können zum Beispiel Familienväter im Krieg (auf Befehl) Säuglinge,<br />
Kinder und Frauen töten, wie beim Massaker von My Lai 6 . Doch was macht<br />
solche Situationen aus, was unterscheidet sie von anderen?<br />
Stehen wir im Zusammenhang mit einem System hierarchischer Ordnung und somit<br />
unter einer Autorität, sind wir erst einmal Befehlsempfänger. In Milgrams Experiment<br />
waren die Versuchspersonen ebenfalls Befehlsempfänger und befanden sich<br />
deshalb in einem Dilemma. Sie waren den gegensätzlichen Kräften ausgesetzt, sich<br />
entweder der Autorität zu beugen oder der Besorgnis um den schockempfangenden<br />
„Schüler“ nachzugeben. „Dilemma“ ist gleichbedeutend mit einer (körperlichen)<br />
3 Kipphardt, 1984, S. 142.<br />
4 Die Befragten äußerten sich, dass sie alle oder bis auf ca. 2 % (eine pathologische Randgruppe)<br />
alle an einem bestimmten Punkt abbrechen würden (Milgram, 1974, S. 43–47),<br />
doch benahe die Hälfte der Versuchspersonen folgte der Autorität zu wider ihrer Grundsätze<br />
(ebd. S. 56).<br />
5 Milgram, 1974, Einband.<br />
6 Ebd. S. 211–214.<br />
Dis | kurs 97
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Spannungssituation, wodurch kein ruhiger und entspannter Blick auf die Situation<br />
gewährleistet ist. Das Augenmerk ist nicht mehr so leicht, wie in der von außen betrachteten<br />
Situation, auf den Schüler gerichtet. Die Abbrüche des Experiments fallen<br />
geringer aus, <strong>als</strong> es sozial erwünscht ist. Milgrams Versuchspersonen erscheinen<br />
nach außen, <strong>als</strong>o für den neutralen Beobachter, in ihrem Feld-Wald-und-Wiesen-<br />
Verständnis (Stanley Milgram) wie Bestien.<br />
Für die scheinbaren Monster ist das Experiment eine ziemlich reale Situation. Das<br />
Dilemma, die Entscheidung zwischen den gegensätzlichen Polen zu treffen, wird in<br />
physische Prozesse, zum Beispiel Schwitzen und Zittern, umgewandelt. Dieser Aspekt<br />
der physischen Umwandlung der Spannung spricht auch für die Glaubhaftigkeit<br />
des Experiments. Die Versuchspersonen gehen davon aus, dass sie, wenn sie der Autorität<br />
nicht gehorchen, das Experiment vereiteln und die Wissenschaft behindern.<br />
Von großer Bedeutung sind demnach der Gehorsam, die institutionelle Einbindung<br />
(Yale University) und die Erziehung, die Erwartungen zu erfüllen (das Experiment<br />
beenden), ebenso wie die Aspekte der Verantwortung(sverschiebung) und der Autorität<br />
(ihrer Präsenz und ihrer Position). „Er handelt so, weil das Gewissen, das triebhafte<br />
Aggressionshandlungen reguliert, beim Eintritt in eine hierarchische Struktur<br />
durch Unterdrückung abnimmt.“ 7<br />
Autorität – Verantwortung – Gehorsam<br />
Gehorsam ist dann gegeben, wenn ein Untergebener die Befehle der entsprechenden<br />
Autorität befolgt, wobei Personen grundsätzlich ruhiger werden, wenn ihnen eine<br />
Autorität übergeordnet ist. Sie geben die Verantwortung ab und nach Blaise Pascal<br />
tue man „[n]iem<strong>als</strong> […] so vollständig und gut das Böse, <strong>als</strong> wenn man es mit gutem<br />
Gewissen tut.“ 8 Die abgegebene Verantwortung sorgt für ein verschobenes moralisches<br />
Urteil. 9 Es ist nicht mehr entscheidend, ob meine Handlungen Glück oder Leid<br />
bringen, sondern ob man der Autorität gehorcht. „Im Leben lernt der Mensch zuerst<br />
gehen und sprechen. Später lernt er dann, still zu sitzen und den Mund zu halten.“ 10<br />
So lernen die Menschen in Schule und Militär, dass, wenn man sich konform der<br />
entsprechenden Gruppe verhält und der Autorität gehorcht, man überlebt oder andernfalls<br />
(schwer) bestraft wird. Milgrams Experiment zeigte, dass gehorsame Personen<br />
ruhiger leben. Nicht dass für Personen, die den Gehorsam verweigerten, dieser<br />
Schritt nicht ohnehin schon schwer genug war, sie haben auch noch Gewissensbisse.<br />
7 Milgram, 1974, S. 155.<br />
8 Kipphardt, 1984, S. 5.<br />
9 Vgl. mit einer Tiefschlafsphase, in der die Hör- und Sehfähigkeit herabgesetzt ist und<br />
durch einen Reiz. mit entsprechender Intensität (z. B. Wecker), wieder voll funktionsfähig<br />
wird (Milgram, 1974, S. 181).<br />
10 Marcel Pagnol. In: Zitate.net URL: http://zitate.net/zitat_1786.html vom 06.07.2008.<br />
98 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Sie tragen eine Bürde, da sie mit der Autorität gebrochen haben. Sie haben die vorher<br />
(unbewusst) vereinbarten Aufgaben und Anforderungen nicht erfüllt (Ziele des<br />
Experiments beziehungsweise der Wissenschaft). Widerstand oder Verweigerung ist<br />
somit, nach Milgram und Arendt, nicht von vielen zu erwarten oder zu leisten. Es<br />
existiert noch kein Unterdrückungsmechanismus, bezogen auf die Gehorsamsbereitschaft,<br />
wenn diese ein solch grausames Ausmaß annimmt oder anzunehmen droht.<br />
Tritt der Mensch in eine hierarchische Struktur ein, gibt er zum einen Verantwortung<br />
ab, zum anderen wird sein moralisches Urteil auf einen anderen Fokus gerichtet. Aus<br />
seiner Sicht handelt das Individuum dennoch moralisch. Einen ähnlichen Zustand<br />
beischreibt Hannah Arendt.<br />
Arendts Machtpyramide<br />
In der Machtpyramide ist eine zunehmende Realitätsferne zu verzeichnen, je höher<br />
die Personen in der hierarchischen Struktur stehen. Ein Adolf Eichmann, fleißig und<br />
diszipliniert, ging vollkommen in seiner bürokratischen Arbeit auf, musste er jedoch<br />
das Leid in den Konzentrationslagern sehen, wurde ihm buchstäblich übel. Dieser<br />
Schreibtischtäter (routinierter Verwaltungsmassenmord) handelte, ähnlich wie die<br />
Versuchspersonen in Milgrams Experiment: Wenn diese das Leid des Schülers nicht<br />
mehr sehen konnten, sahen sie einfach weg, lasen lauter und betonter (eventuell mit<br />
Hilfestellungen) oder vertieften sich in das Drücken der Knöpfe oder in die Technik.<br />
Psychologisch gesehen eine Art der Verdrängung und Leugnung, ebenso wie das<br />
„Schönreden“ 11 des Experiments und seines Ziels, auch im Nachhinein.<br />
Der Bruch mit der Autorität ist zum einen auch deshalb so schwierig, weil man sich<br />
eingestehen müsste, dass die vorherigen Taten f<strong>als</strong>ch waren. Zum anderen muss<br />
die Beziehung zur Autorität neu definiert werden, was das wohlgeordnete System<br />
(kurzfristig) zerstören würde. Alles hat den Hauch von „Gesetzlosigkeit“ und drastisch<br />
formuliert, handeln gehorsame Menschen „unmenschlich“, weil sie versuchen<br />
entsprechend der Gesellschaft und ihrer Normen zu handeln (Gehorsam). „Warum<br />
jemand tut oder lässt, warum er etwas tut und anderes lässt, das hängt damit zusammen,<br />
wie erlebt. Wie er aufgewachsen ist und wer ihn begleitet hat.“ 12 Nach dem Verständnis,<br />
solch gefolgsamer Personen, wäre Widerstand von der gesellschaftlichen<br />
Norm abweichendes Verhalten, weswegen sie Angst vor Sanktionen haben und sich<br />
vor Vergeltung, in Form von Rache oder einem Gerichtsprozess, fürchten. Es passt<br />
außerdem nicht in ihr Selbstbild, festzustellen bzw. zuzugeben eine grausame Person<br />
zu sein. Es stellt sich <strong>als</strong>o die Frage, inwieweit solch Kadavergehorsam unabhängig<br />
11 „Lieber Gott, jetzt ist er tot; <strong>als</strong>o schön, bringen wir ihn ganz um.“ (Milgram, 1974,<br />
S. 107).<br />
12 Bertold/Grüber: Erzieherinnen sind doof, Berlin, 1998, S. 15.<br />
Dis | kurs 99
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
vom Experiment oder dem Nation<strong>als</strong>ozialismus geschehen kann oder ob eine Demokratie<br />
gegen Missbrauch geschützt ist?<br />
Bietet die Demokratie einen Schutz vor „blindem Gehorsam“?<br />
Die repräsentative Demokratie ist eine Regierungsform, in der das Volk seine souveräne<br />
Macht auf Abgeordnete überträgt, damit die Interessen des Einzelnen in der<br />
Gesellschaft besser umgesetzt werden können. Jeder Einzelne mag zwar zählen, doch<br />
sind die Bürger nur gemeinsam stark. 13 Sie seien der „Humus“ des politischen Systems<br />
und ersetzen dieses nicht. 14 In der Praxis sieht das folgendermaßen aus: Einerseits<br />
initiieren Politiker zum Beispiel Hürden für Volksentscheide oder setzen<br />
Mindestzahlen bei Unterschriften-Aktionen, die teilweise unerreichbar scheinen<br />
und abschrecken sollen. Der Schutz der Demokratie und der Gesellschaft, dass nicht<br />
jeder alles jederzeit durchsetzen kann, hält auch andere, die es gut meinen, von ihren<br />
Taten ab. Andererseits ist das Volk „geplagt“ von politischer Faulheit. So hält sich<br />
zum Beispiel die Wahlbeteiligung meist sehr gering (an Hochschule Vechta 2008 bei<br />
26,24 %), denn es ist einfacher zu folgen und sich der Mehrheit anzupassen. Gerade<br />
für den Menschen <strong>als</strong> Herdentier ist es bequemer zu folgen und sich an der<br />
möglichen, meist ungenutzten, Partizipation zu freuen. Es schleicht sich die besagte<br />
politische Faulheit ein, und so kann Demokratie schnell ins Gegenteil umschlagen 15 ,<br />
besonders wenn der Diktator charismatisch und mit der richtigen Ideologie bewappnet<br />
ist. Selbst „die Idee der Diktatur basiert auf der Vorstellung vom Glück der größten<br />
Zahl, es gibt quer durch die Weltgeschichte keinen einzigen Diktator, der behauptet<br />
hätte, seine Diktatur sei errichtet worden, um die Untertanen zu unterdrücken oder<br />
sogar unglücklich zu machen.“ 16<br />
Doch irgendwie muss man ja dafür sorgen können, dass die angestrebten, guten Taten<br />
gut bleiben, unabhängig davon, was gut ist. Die Menschenrechte zum Beispiel,<br />
was jedoch auf eine andere Debatte verweist. Wie können nun aber die demokratischen<br />
Werte geschützt werden? Setzt man Wahlen und Partizipation mit Zwang<br />
nach, wird Demokratie absurd, nimmt totalitäre Züge an und steht dem Grundrecht<br />
der Freiheit entgegen. Was lässt sich daraus ableiten? Dass die Möglichkeiten gegeben<br />
sein müssen, das Volk auch über seine Möglichkeiten aufgeklärt ist und weiß, wo<br />
solche Informationen zu Rechten und Pflichten zu finden sind. Es wird somit vom<br />
Volk verlangt sich zu informieren und seine Möglichkeiten (zum Beispiel auf Widerstand)<br />
auszuschöpfen. Doch der Mensch <strong>als</strong> „Herdentier“ folgt lieber der Masse und<br />
13 Vgl. Limbach: Die Demokratie und ihre Bürger, München, 2003, S. 113.<br />
14 Ebd. S. 150.<br />
15 Demokratie zwischen den Extremen: Anarchie & Diktatur.<br />
16 Slaweski, 2001, S. 33.<br />
100 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
verhält sich gruppenkonform, denn Widerstand ist oder scheint schwerer. Deshalb<br />
sprechen so viele, wie auch Jonathan Littells SS-Offizier, davon, dass sie keine Reue<br />
spüren. Wofür auch, denn sie handelten entsprechend des Systems und so plädierte<br />
Eichmann auf „nicht schuldig“. 17<br />
Warum lässt sich das für uns so schwer akzeptieren? Macht es denn die sozialpsychologische<br />
Entschuldigung nicht verständlicher? Unabhängig von den subjektiven Antworten<br />
auf diese Fragen, lässt sich festhalten, dass die Situation den Menschen gut<br />
oder böse macht. Die Sozialpsychologie zeigt, dass Eichmann nicht <strong>als</strong> Totengräber<br />
der Demokratie oder Monster verstanden werden kann und sich das „Böse“ generell<br />
einfacher und bequemer durchsetzen lässt. Arendt und Milgram beschönigen diese<br />
Problematik nicht, wonach das Böse banal ist und wie Milgrams Experiment zeigt,<br />
die Mehrheit nicht die psychische Kraft hat, den Gehorsam zu verweigern. Was lässt<br />
sich daraus, unter anderem für die Pädagogen, <strong>als</strong>o für Menschen, die mit der Erziehung<br />
und Sozialisation beauftragt sind, ableiten? Da das „Phänomen“ immer noch<br />
aktuell ist (zum Beispiel Neuauflage durch Galileo und andere Wissenschaftler in<br />
anderen Ländern 18 ; „Das Experiment“ / „Stanford Prison“), scheinen (pädagogische)<br />
Konsequenzen notwendig. 19 Zivilcourage, Mut zur Aufmüpfigkeit und Selbstvertrauen<br />
müssen gestärkt werden, denn nur stabile und gefestigte Persönlichkeiten können<br />
die notwendige emotionale Kraft aufbringen, Widerstand zu leisten. Außerdem muss<br />
der Grundsatz vermittelt werden, dass sich jeder jederzeit für etwas entscheiden und<br />
das Beste aus einer Situation machen kann. Es ist nie zu spät für Veränderungen.<br />
Sollten mir die Gesetze in meinem Land nicht gefallen und ich gehöre eventuell der<br />
Minderheit an, habe keine „Chancen“ etwas zu ändern, weil die Sanktionen zu gefährlich<br />
sind oder ich fühle mich einfach nicht in der Lage, dann steht es mir frei, zu<br />
emigrieren. Ich kann ebenso vor den (negativen) Konsequenzen meiner Gehorsamsverweigerung<br />
fliehen.<br />
Kipphardt appelliert <strong>als</strong>o aus gutem Grund an jeden Einzelnen, auf „Eichmänner“<br />
und seine Verwandten zu achten bzw. so selbstreflektierend und selbstverantwortlich<br />
zu sein, um keiner von ihnen zu werden. Milgram zeigte mit seinem Experiment<br />
auch, dass das Böse nicht typisch deutsch ist.<br />
17 Aus dem Plädoyer von Eichmanns Anwalt: „im Auftrag des Staates, dessen Ordnung verbrecherisch<br />
war. Das Verbrechen war [somit] legal, die menschliche Handlung illegal.“<br />
(Kipphardt, 1984, S. 119).<br />
18 Z. B. David Mark Mantell (1971); Sheridan und King (1972).<br />
19 Eine immer noch aktuelle Debatte ist der Umgang mit Rechtsextremisten und Neonazis,<br />
die sich in der Tradition der Nation<strong>als</strong>ozialisten sehen. Hier gibt es derzeit auch einige<br />
Kampagnen, die sich unter anderem mit diesem Thema beschäftigen: „Hingucken“;<br />
„Bunt statt braun“; „Hingucken – Denken – Einmischen“; „Sport gegen Gewalt“; „FCM:<br />
Fairness Courage Mut“ und andere.<br />
Dis | kurs 101
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Nicht zu vergessen ist, dass Widerstand notwendig für die Entwicklung der Gesellschaft<br />
ist und nur dadurch Veränderungen stattfinden können. Wenn Minderheiten<br />
beharrlich genug sind, in sich geschlossen und über längere Zeit aktiv, können sie<br />
ihre Forderungen durchsetzen. Ein gutes Beispiel sind die feministischen Bewegungen<br />
der 50er und 60er Jahre. Die Rechte der Frauen werden seitdem ganz anders<br />
gehandhabt, auch wenn sie noch nicht vollends gleichgestellt sind, was jedoch eine<br />
andere Debatte eröffnet.<br />
Literaturauswahl<br />
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München.<br />
1992.<br />
Kipphardt, Heinar: Bruder Eichmann. Rowohlt Henschelverlag. Kunst und Gesellschaft.<br />
Berlin. 1984.<br />
Milgram, Stanley: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten.<br />
Hamburg. 1974.<br />
Salewski, Michael: Diktatur zum Paradies. In: Timmermann/ Gruner (Hrsg.): Demokratie<br />
und Diktatur in Europa. Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen.<br />
Band 95. Berlin. 2001.<br />
Wucher, Albert: Eichmanns gab es viele. Ein Dokumentarbericht über die Endlösung der<br />
Judenfrage. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München. 1961.<br />
102 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
Russland: Demokratie „auf russische Art“<br />
oder Autoritarismus?<br />
Christoph Krakowiak<br />
Eberhard-Karls Universität Tübingen<br />
E-Mail: ckrakowiak@gmx.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Russland, Demokratiebegriff, Autoritarismus, Klassifizierung politischer<br />
Systeme<br />
Seit Mai 2008 sind die zwei Amtszeiten Präsident Wladimir Putins abgelaufen. Sein<br />
gewählter Nachfolger und politischer Weggefährte Dimitri Medwedew ist nun der<br />
Herr im Kreml, während er selbst das Weiße Haus, den Sitz des Premierministers,<br />
bezogen hat. Über die Bilanz der vergangenen acht Jahre ist viel geschrieben worden,<br />
auch und vor allem über das politische System Russlands. Bemerkenswert dabei ist,<br />
dass es eine enorme Anzahl verschiedener Begriffe gibt, die benutzt werden, um es zu<br />
charakterisieren: defekte Demokratie, unvollkommene Demokratie, imitation democracy,<br />
gelenkte Demokratie, Demokratie auf russische Art und schließlich Diktatur<br />
oder Autoritarismus. Während mehr und mehr Forscher in der Literatur Russland<br />
ein autoritäres Regime konstatieren 1 , sind noch immer einige der Ansicht, es genüge,<br />
der Demokratie ein Adjektiv hinzuzufügen oder eine Klasse „hybrider Systeme“ 2<br />
zu erfinden, um das politische System Russlands adäquat zu beschreiben. All diese<br />
Begriffe suggerieren, dass Demokratie in einem Staat, der zwischen Autokratie und<br />
1 Vorbei sind die Zeiten, in denen es bei den meisten noch hieß: „Russia still avoids black<br />
or white answers.“ Aus: Shevstova, Lilia: Putin's Russia, Washington 2003, S. 275.<br />
2 Knobloch, Jörn: Hybride Systeme – Politische Praxis und Theorie am Beispiel Rußlands,<br />
Hamburg 2006.<br />
Dis | kurs 103
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Oligarchie dahinschwelt, überhaupt existieren kann. Dies scheint mir nicht richtig zu<br />
sein. Denn Demokratie muss <strong>als</strong> Gegenpol zur „Selbstherrschaft“ durch eine zentrale<br />
Kraft oder der „Herrschaft weniger“ verstanden werden. Auch wenn es in unterschiedlichen<br />
Demokratien Abstufungen in der Intensität der Beteiligung der Bürger<br />
an der Politik gibt, so kann Demokratie nicht mit Autokratie und Oligarchie in einem<br />
politischen System koexistieren. Daher soll hier dargelegt werden, dass Begriffe<br />
wie „Demokratie auf russische Art“ 3 eine unangebrachte Überdehnung des Begriffs<br />
Demokratie sind und ihn sinnlos machen. Denn genauso gut könnte man von „Demokratie<br />
auf chinesische Art“, „Demokratie auf iranische Art“ oder „Demokratie auf<br />
zimbabwer Art“ sprechen, nur weil diese Staaten gewisse, meist sehr schwach entwickelte<br />
Elemente einer Demokratie haben – obwohl von vornherein klar sein sollte,<br />
dass es sich dabei um autoritäre politische Systeme handelt.<br />
Im Falle Russlands mag die Klassifizierung auf den ersten Blick schwieriger sein: Die<br />
Russische Föderation ist laut Verfassung ein „demokratischer föderativer Rechtsstaat<br />
mit republikanischer Regierungsform“ 4 mit Gewaltenteilung, freien Wahlen, Pluralismus<br />
und allen Freiheiten, die die demokratischen Staaten Europas auch haben.<br />
Jedoch kann die Wirklichkeit bei einem solchen Mangel an „public contestation“ 5 der<br />
Regierungsmacht, wie ihn Kozyrev korrekt beschreibt, von der Verfassungsnorm<br />
abweichen und so gilt es, das Land nach spezifischen, für alle Demokratien gleich<br />
bleibenden, Kriterien zu untersuchen. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung<br />
zunächst einmal zu klären, welche elementaren Eigenschaften eine de facto (d.h.<br />
nicht nur de jure!) Demokratie aufweisen muss. Dies soll im ersten Teil des Artikels<br />
herausgearbeitet werden, um eine solide Untersuchungsgrundlage zu schaffen. Im<br />
zweiten Teil werden diese an das politische System Russlands angelegt um zu erfahren,<br />
ob sie vorhanden sind oder nicht. Schließlich werden die Ergebnisse im dritten<br />
Teil der Arbeit zu einem abschließenden Urteil zusammengefügt.<br />
Klassifizierung politischer Systeme<br />
Natürlich gibt es verschiedene Arten von Demokratien und autoritären Systemen,<br />
die sich untereinander in vielen Merkmalen nicht nur unterscheiden, sondern auch<br />
überschneiden können. Doch letztendlich wird man um eine zwar simplifizierende,<br />
aber klare Antwort nicht herumkommen. Denn da es in der Geschichte und Gegenwart<br />
unzählige verschiedene Realtypen politischer Systeme gab und gibt, müssen<br />
sie zur Reduktion dieser empirischen Komplexität in möglichst wenigen Idealtypen<br />
klassifiziert werden. Dadurch werden einerseits unzählige willkürliche Neologismen<br />
3 Kozyrev, Illya: Demokratie ohne Demokraten in „Putins Russland“, S. 56–60.<br />
4 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Artikel 1.1.<br />
5 Nach Dahl, Robert: Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971.<br />
104 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
vermieden, andererseits kardinale Unterschiede im Systemcharakter begrifflich abgebildet,<br />
bewusste oder unbewusste Verfälschungen <strong>als</strong>o vermieden. Die Trias politischer<br />
Systeme von Demokratie, Autoritarismus und Totalitarismus scheint mir die<br />
sinnvollste Einteilung zu sein. Doch sind die Grenzen nicht leicht zu definieren; viele<br />
politische Systeme weisen Merkmale verschiedener Klassen auf, so auch Russland. Es<br />
bedarf erst genauer Kriterien, deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung eine eindeutige<br />
Zuordnung ermöglicht.<br />
Was macht Autoritarismus aus?<br />
Das Wesen eines autoritären Regimes wird auf verschiedene Weise aufgefasst: Während<br />
Freedom House 6 das fehlen von Freiheiten und Rechten ins Auge fasst, stellen<br />
andere die Organisation und das Verhalten des Regimes in den Mittelpunkt. 7 Doch<br />
die heutzutage meistverwendete Definition stammt von Juan J. Linz und besagt, dass<br />
Autoritäre Regime politische Systeme seien, die einen begrenzten, nicht verantwortlichen<br />
politischen Pluralismus haben, die keine ausgearbeitete und leitende Ideologie,<br />
dafür aber ausgeprägte Mentalitäten besitzen und in denen keine extensive oder<br />
intensive Mobilisierung, von einigen Momenten in ihrer Entwicklung abgesehen,<br />
stattfinde und in denen ein Führer oder manchmal eine kleine Gruppe die Macht<br />
innerhalb formal kaum definierter, aber tatsächlich recht vorhersagbarer Grenzen<br />
ausübe. 8 Man sieht dieser Definition deutlich an, dass sie <strong>als</strong> Abgrenzung zu den<br />
anderen beiden Regimetypen entwickelt wurde. Dabei ist ihr zentrales Kriterium,<br />
nämlich der begrenzte (aber dennoch vorhandene!), nicht verantwortliche politische<br />
Pluralismus, auch gleichzeitig der wichtigste Unterschied zur Demokratie mit ihrem<br />
schier unbegrenzten Pluralismus. 9 Folglich müssen ihm auch die nachfolgend<br />
herausgearbeiteten Untersuchungskriterien entsprechen. Würden diese dann nicht<br />
erfüllt, wäre das Hauptmerkmal der Linz'schen Definition gegeben und damit der<br />
Typ des politischen Systems Russlands bestimmt.<br />
Was macht Demokratie aus?<br />
Eine ebenso gleichzeitig weite und präzise Definition von Demokratie zu finden ist<br />
weitaus schwieriger. Im Laufe der Geschichte wurde eine Vielzahl von Demokratietheorien<br />
entwickelt und jede von ihnen „vermittelt wichtige Einsichten in den ideen-<br />
6 Vgl. http://www.freedomhouse.org.<br />
7 Meloen, Jos D.: Die Ursprünge des Staatsautoritarismus. In: Rippl/Seipel/Kindervater<br />
(Hrsg.): Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung,<br />
Opladen 2000, S. 220.<br />
8 Vgl. Linz, Juan J.: Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000, S. 192.<br />
9 Ders.: Autoritäre Regime, in: Nohlen, Dieter; Schulze, Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politik,<br />
Band 1, München 2004, S. 55.<br />
Dis | kurs 105
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
geschichtlichen Hintergrund, die Struktur, Funktionsvoraussetzungen und die Auswirkungen<br />
der Demokratie.“ 10 Doch können meines Erachtens – um nur zwei Beispiele<br />
zu nennen – weder Dahls Polyarchie-theorie in ihren Dimensionen der „inclusiveness“<br />
und „public contestation“ 11 noch die von Huntington vorgeschlagene Definition<br />
der Demokratie <strong>als</strong> „a political system, in which it's most powerful collective decision<br />
makers are selected through fair, honest and periodic elections in which candidates freely<br />
compete for votes and in which virtually all the adult population is eligible to vote“ 12<br />
diesen Typus politischer Systeme befriedigend abbilden. Daher wird hier das Regime<br />
der Russischen Föderation nicht auf seine Übereinstimmung mit einer der Demokratietheorien<br />
untersucht. Stattdessen werden an dieser Stelle die wichtigsten Kernkriterien<br />
für eine Demokratie, die in den einzelnen Theorien mehr oder weniger<br />
stark ausgeprägt sind, herangezogen. Dies sind natürlich längst nicht alle Merkmale<br />
einer Demokratie; es gibt noch unzählige weitere. Aber die folgenden stellen notwendige<br />
Bedingungen dar, die ein politisches System erfüllen muss, um in die Kategorie<br />
der Demokratien aufgenommen werden zu können. Ist auch nur eine nicht erfüllt,<br />
so werden auch die anderen beeinträchtigt, was die Demokratie <strong>als</strong> Ganzes gefährdet<br />
bzw. unmöglich macht:<br />
(1) Bürgerrechte und Rechtsstaat: „Citizens are the most distinctive element in democraties.“,<br />
bemerken Schmitter und Karl zu Recht. „All regimes have rulers and a public<br />
realm, but only to the extent that they are democratic do they have citizens“ 13 Die<br />
Demokratie <strong>als</strong> „Regierungsform bürgerschaftlicher Selbstregierung“ 14 kann nur funktionieren,<br />
wenn die Menschen über freiheitliche Rechte verfügen (und von ihnen<br />
ungehindert Gebrauch machen können), die sie zu Bürgern machen. Dazu zählen<br />
Meinungs-, Versammlungs-, Glaubensfreiheiten, etc. und in erster Linie das Recht<br />
auf Leben, Würde und Freiheit des Einzelnen. Die Garantie dafür, dass alle Bürger<br />
diese Rechte auch wahrnehmen können, gibt ein funktionierender Rechtsstaat. Er<br />
schützt den Einzelnen vor staatlicher Willkür oder dem unrechtmäßigen Verhalten<br />
anderer. Doch ohne das tatsächliche Primat des Rechts vor der Macht existieren die<br />
Bürgerrechte nur auf dem Papier.<br />
(2) Freie Wahlen und Parteien: Wenn die Menschen ihre Überzeugungen ohne<br />
Angst in die Öffentlichkeit tragen können, dann erst machen Wahlen einen Sinn.<br />
10 Schmidt, Manfred G.: Demokratietheorien. Eine Einführung, 3. überarbeitete Auflage,<br />
Opladen 2000, S. 540.<br />
11 Dahl, Robert: Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971, S. 4.<br />
12 Huntington, Samuel P.: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century,<br />
London 1993, S. 7.<br />
13 Karl, Terry Linn/Schmitter, Philippe C.: What Democracy Is … And Is Not, in: Journal<br />
Of Democracy, Nr. 2 1991, S. 77.<br />
14 Informationen zur politischen Bildung Nr. 283 (2003): Demokratie, Bonn, S. 38.<br />
106 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Doch müssen die Bürger nicht nur in freien, fairen und geheimen Wahlen ihre politische<br />
Führung bestimmen und damit zwischen Ideen- und Handlungsalternativen<br />
entscheiden können, sondern auch die Möglichkeit haben, selbst gewählt zu werden<br />
und sich am politischen Prozess aktiv zu beteiligen. „Politische Parteien wirken <strong>als</strong><br />
Bindeglied zwischen Gesellschaft und Staat und sind die wichtigsten Vehikel der politischen<br />
Willensbildung, die sie im Parlament wie in der Regierung zur Ausdruck und<br />
zur Durchsetzung bringen und damit wiederum der Identifikation der Bürger mit den<br />
von ihnen gewählten Abgeordneten respektive Regierungsmitgliedern dienen.“ 15 Daher<br />
ist ein funktionierendes Mehrparteiensystem eine wichtige Voraussetzung für den<br />
durch die Bürgerrechte ermöglichten politischen Pluralismus. 16<br />
(3) Machtverteilung und Verantwortlichkeit: Doch auch eine frei und fair gewählte<br />
Führung darf nicht tun und lassen können, was sie will. Eine übermäßig große<br />
Machtkonzentration kann den demokratischen Prozess verzerren. Daher sollte<br />
die Macht innerhalb des politischen Systems auf verschiedene Institutionen verteilt<br />
sein (checks and balances). 17 In diesem Zusammenhang ist es auch besonders<br />
wichtig, dass die, die tatsächlich entscheiden, vor den Bürgern Verantwortung für<br />
ihr Handeln übernehmen müssen. Informelle oder nicht demokratisch legitimierte<br />
Entscheidungszentren haben in einer Demokratie keinen Platz. Letztendlich muss<br />
jede politische Führung „be held accountable for their actions through fair and regular<br />
process.“ 18<br />
Bürgerrechte und Rechtsstaat in der russischen Realität<br />
Nun gilt es, die herausgearbeiteten definierenden Merkmale einer Demokratie an<br />
das heutige politische System der Russischen Föderation anzulegen: Im zweiten Kapitel<br />
der russischen Verfassung werden die „Rechte und Freiheiten des Menschen und<br />
Bürgers“ 19 der Russischen Föderation benannt. Sie entsprechen auch allen nominellen<br />
Voraussetzungen, die für eine Bürgergesellschaft vonnöten sind. Besonders elementar<br />
sind die in Artikel 29 und 30 festgehaltene Meinungs- und Versammlungsfreiheit;<br />
sie erst ermöglichen es, die Rechte und Freiheiten aktiv zu nutzen und sind<br />
für den Pluralismus unverzichtbar. Daher kann ihr Status gute Rückschlüsse über die<br />
tatsächliche Lage einer Demokratie geben und so ist zu untersuchen, ob der Staat sie<br />
vielleicht einzuschränken versucht.<br />
15 Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />
in Putins Russland, S. 189.<br />
16 In der Tat gibt es keine moderne Demokratie auf der Welt, die ohne Parteien auskäme.<br />
17 Informationen zur politischen Bildung Nr. 283 (2003): Demokratie, Bonn, S. 37 f.,<br />
Punkt 3.<br />
18 Karl, Terry Linn / Schmitter, Philippe C.: What Democracy Is …, S. 84.<br />
19 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Überschrift Kapitel 2.<br />
Dis | kurs 107
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Die Meinungsfreiheit in Massendemokratien lebt in der heutigen Zeit der vielen verschiedenen<br />
Kommunikationstechnologien vor allem von dem ungehinderten Zugang<br />
und der ungehinderten Verbreitung von vielen verschiedenen freien (d.h. politisch<br />
und wirtschaftlich unabhängigen) Massenmedien, vor allem Fernsehen, Presse und<br />
Internet. Nur diese können mit ihrer freien Berichterstattung einer Manipulation der<br />
öffentlichen Meinung vorbeugen, damit sich die Bürger ihr eigenes Urteil über einen<br />
bestimmten Sachverhalt bilden können. In Russland gibt es hinsichtlich des Zugangs<br />
zum Internet und seines Inhalts keinerlei Beschränkungen. Die volle Unabhängigkeit<br />
von Fernsehen und Presse muss jedoch in Zweifel gezogen werden. „Der Staat<br />
und der mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche Gaskonzern Gasprom kontrollieren<br />
inzwischen die großen Fernsehkanäle und Radiosender sowie Nachrichtenagenturen,<br />
mehrere zentrale und unzählige lokale Printmedien. Was übrig bleibt, haben Großgeschäftemacher,<br />
Oligarchen, unter sich aufgeteilt.“ 20 Auch wenn dies nicht gleich eine<br />
echte Zensur bedeuten muss, so ist es zumindest für eine Selbstzensur förderlich,<br />
da ein Abhängigkeitsverhältnis der Journalisten zu mächtigen Gruppierungen besteht,<br />
denen das Wohlwollen der öffentlichen Meinung sehr wichtig ist. Zudem wird<br />
die staatliche Kontrolle über regierungskritische Medien weiter ausgebaut, wie die<br />
Übernahmen des „Kommersant“, der „Komsomolskaja Prawda“ und vor allem der<br />
Traditionszeitung „Iswestija“ durch Gasprom zeigen. 21 Da fast alle Russen fernsehen<br />
22 , Zeitung lesen und ein Drittel auch eine Zeitung abonniert hat 23 , ergibt sich<br />
ein mächtiges Beeinflussungspotential der öffentlichen Meinung. Dies mag kritische<br />
Ansichten zwar nicht direkt unterdrücken 24 , sie aber aus dem öffentlichen Leben<br />
ausschließen oder zumindest beschränken. Für die Meinungsfreiheit sind das keine<br />
förderlichen Bedingungen.<br />
Die Versammlungsfreiheit, ein weiteres Merkmal der Bürgergesellschaft, manifestiert<br />
sich vor allen in vielen verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs),<br />
die sich in unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens betätigen<br />
und so für eine aktive Ausgestaltung der Demokratie durch ihre Bürger sorgen. Ihre<br />
Arbeit (sofern sie denn friedfertig ist), sollte vom Staat nicht beeinträchtigt werden.<br />
Der russische Staat ist an einem Dialog mit diesen Organisationen und deren Arbeit<br />
interessiert, wie die Organisation eines „Bürgerforums“ 25 oder die Unterstützung von<br />
20 Siegl, Elfie: Zwischen staatlicher Kontrolle und Selbstzensur. Zur Lage der Massenmedien<br />
im heutigen Russland, Russlandanalysen Nr. 58, Bremen 2005, S. 58.<br />
21 Vgl. http://www.n-tv.de/735679.html.<br />
22 Statistik in: Russlandanalysen Nr. 58, S. 9.<br />
23 Statistik in: Russlandanalysen Nr. 79, S. 14.<br />
24 Solche Versuche werden von Präsident Medwedew abgelehnt, Vgl.: http://www.russland.<br />
ru/mainmore.php? tpl=Medien+%26+Netzwelt&iditem=999.<br />
25 Vgl. Mommsen, Margareta: Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der<br />
108 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
„Stiftungen der örtlichen Gemeinschaft“ 26 zeigen. Gleichzeitig jedoch hegt er ihnen<br />
gegenüber Misstrauen; besonders wenn sie vom Ausland finanziert werden. Dies ist<br />
auch nicht ganz ungerechtfertigt, da russische NGOs tatsächlich zu Spionagezwecken<br />
missbraucht. 27 Auch dürfte die derzeitige Machtelite nicht vergessen haben, dass die<br />
Elitenwechsel in Georgien und der Ukraine zu großen Teilen durch Spenden aus<br />
dem westlichen Ausland finanziert wurden, deren Empfänger auch NGOs waren,<br />
die an diesen „farbigen Revolutionen“ großen Anteil hatten. 28 Daher wird die Arbeit<br />
der NGOs zwar toleriert, doch werden ihnen auch Steine in den Weg gelegt, wie<br />
das NGO-Gesetz von 2006 zeigt. 29 Letzten Endes bleibt unklar, ob die verschiedenen<br />
Gruppen dabei nun für die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen unterstützt<br />
werden – falls sie überhaupt unterstützt oder zumindest toleriert werden – oder auch<br />
ins Machtgefüge des Staates eingebunden und instrumentalisiert werden sollen. 30 .<br />
Die gewalttätigen Auflösungen kleiner Demonstrationen in vergangener Zeit lassen<br />
jedoch darauf schließen, dass NGOs zunehmend <strong>als</strong> Feinde des Regimes angesehen<br />
werden. Wie oben beschrieben, bildet ein funktionierender Rechtsstaat die Grundlage<br />
für alle bürgerlichen Rechte und Freiheiten. Die aus der Sowjetunion, in der die<br />
Unabhängigkeit des Gerichtswesens unbekannt war, hervorgegangene Russische Föderation,<br />
erfüllt auch hier alle formalen Kriterien. 31 Aber ebenfalls hier unterscheiden<br />
sich Norm und Wirklichkeit noch voneinander, denn die Gerichte sind nicht immer<br />
in der Lage, unparteiisch und effizient Recht zu sprechen. Zwar „unternimmt die politische<br />
Führung Anstrengungen, die Situation durch Kodifizierungen, Umbau der Juristenausbildung<br />
und Einbindung in eine gemeineuropäische Rechtskultur zu verändern.<br />
Allerdings tragen in sich widersprüchliche rechtliche Regelungen, Scheinargumentationen,<br />
eine zum Teil mehr quantitativ <strong>als</strong> qualitativ ausgerichtete Rechtsproduktion und<br />
nach wie vor bestehende Vollzugsdefizite dazu bei, dass das Erbe des Rechtsnihilismus<br />
so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird.“ 32 Konterkariert werden diese Bemühungen<br />
jedoch vom Bestreben, zumindest die höheren Gerichte vollends in die „vertikale<br />
der Macht“ einzugliedern, allen voran das Verfassungsgericht, welches dazu<br />
Macht, München 2003, S. 124.<br />
26 Ehlers, Kai: Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung.<br />
Gespräche und Impressionen, Dornach 2005, S. 77.<br />
27 Vgl. http://www.moscowtimes.ru/article/850/49/223321.htm.<br />
28 Dazu Siegert, Jens: Spezoperazija. Das neue NGO-Gesetz, in: Russlandanalysen Nr. 82,<br />
Bremen 2005, S. 7.<br />
29 Vgl. http://www.russland.ru/ngo/morenews.php?iditem=12.<br />
30 Vgl. Schröder, Hans-Henning: Putin <strong>als</strong> demokratischer Reformer?, S. 61. Oder Mommsen,<br />
Margareta: Putins „gelenkte Demokratie“, S. 240 f.<br />
31 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Kapitel 7.<br />
32 Nußberger, Angelika: Zur Entwicklung der Rechtskultur in Russland, in: Russlandanalysen<br />
Nr. 32, Bremen 2004, S. 1.<br />
Dis | kurs 109
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
degradiert wurde, die Rezentralisierung der Macht im Kreml zu legitimieren – was<br />
sogar das Entgegenhandeln zu seinen eigenen früheren Entscheidungen beinhaltet. 33<br />
So kann im Falle Russlands das erstaunliche Phänomen einer Professionalisierung<br />
der Akteure des Rechtssystems bei gleichzeitiger Rückentwicklung hin zur alten Tradition<br />
des Primats der Macht vor dem Recht beobachtet werden. Unter solchen Bedingungen<br />
ist das Entstehen eines echten Rechtstaats natürlich sehr zweifelhaft.<br />
Freie Wahlen und Parteien in der russischen Realität<br />
Das russische politische System ist dem französischen Modell des Semipräsidentialismus<br />
nachempfunden. 34 Damit hat das Russische Volk auf Föderationsebene alle<br />
vier Jahre sowohl den Staatspräsidenten <strong>als</strong> auch die Staatsduma 35 zu wählen. Das<br />
russische Wahlgesetz entspricht den formalen Anforderungen jedes demokratischen<br />
Landes 36 , doch muss auch an dieser Stelle ein kritischer Blick auf Wahlen in Russland<br />
– hier: auf die Duma- 2007 und den Präsidentschaftswahlen 2008 – geworfen werden<br />
um zu gucken, ob es auch eingehalten wurde:<br />
Die Dumawahlen endeten bei einer rund 64 %-igen Wahlbeteiligung mit einem beeindruckenden<br />
Sieg der Kreml-Partei „Einiges Russland“, die 64 % der Stimmen erhalten<br />
hat. Die zweite Kreml-Partei „Gerechtes Russland“ landete mit 8 % auf Platz<br />
3; genau wie die rechtspopulistische „Liberal-Demokratische Partei Russlands“. Die<br />
einzige ernstzunehmende Konkurrentin der Kreml-Parteien, die „Kommunistische<br />
Partei der Russischen Föderation“ lag mit 12 % auf Platz zwei, während die sozialliberale<br />
„Jabloko“-Partei und die liberal-konservative „Union der rechten Kräfte“ nicht<br />
einmal über 2 % kamen und damit sowohl ihr Ergebnis der letzten Wahlen mehr<br />
<strong>als</strong> halbierten, <strong>als</strong> auch erneut an der 7 %-Hürde scheiterten. 37 Die Wahlen verliefen<br />
zwar frei, doch ob sie auch fair waren, muss angezweifelt werden. Denn mit der erdrückenden<br />
Medienmacht in Staatshand konnte „Einiges Russland“ (und in geringerem<br />
Maße auch „Gerechtes Russland“) erhebliche Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten<br />
gewinnen. 38 Gleiches gilt für den Präsidentschaftswahlkampf, den Putins<br />
33 Dazu ausführlich: dies.: Das Russische Verfasungsgericht zwischen Recht und Politik,<br />
in: Buhbe, Matthes / Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute – Rezentralisierung des<br />
Staates unter Putin, Wiesbaden 2007.<br />
34 Vgl. Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />
in Putins Russland, S. 179.<br />
35 Diese ist Teil der Bundesversammlung, deren andere Hälfte der Föderationsrat ist, in<br />
denen je zwei Mitglieder durch die 88 Subjekte der Russischen Föderation entsandt<br />
werden. Duma und Rat sind zusammen für die Gesetzgebung zuständig.<br />
36 Auszüge davon in: Pleines, Heiko/Schröder, Hans-Henning: Putin auf dem Weg in die<br />
zweite Amtszeit. Nachwirkung und Politikgestaltung, Bremen 2004, S. 47.<br />
37 Vorm<strong>als</strong> 5 %-Hürde. Alle Ergebnisse in: Russlandanalysen Nr. 153, S. 16 ff.<br />
38 Schröder, Hans-Henning: Genügend Legitimation für einen „Schattenpräsidenten“?, in:<br />
110 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Wunschkandidat Medwedew mit noch beeindruckenderen 70,3 % 39 gewann – und<br />
damit nur knapp ein Prozent hinter Putins Rekordergebnis von 2004 zurückblieb.<br />
Solch hohe Zahlen ließen schon dam<strong>als</strong> den Vorwurf der Manipulation laut werden,<br />
doch ist dieser (bis auf die Problematik mit den Medien) wahrscheinlich gegenstandslos.<br />
„Mit seiner jugendlich-sportlichen Erscheinung, seiner Spontaneität und<br />
Durchsetzungsfähigkeit symbolisiert W. Putin Dynamik und Effizienz, er signalisiert<br />
der Öffentlichkeit, mit energischer Hand Ruhe und Ordnung ins Haus Russland zu<br />
bringen, mit neuen Gesetzen das Wirtschaftsleben zu regeln und die Weichen für eine<br />
Modernisierung des Landes zu stellen sowie international Russlands verlorene Stärke<br />
wiederzuerlangen.“ 40 Da Putin zweifelsohne auch nach acht Jahren Amtszeit noch<br />
immer <strong>als</strong> Garant von Ordnung und Stabilität des Landes gesehen wird, ist es kein<br />
Wunder, dass sein Wunschnachfolger Medwedew von seinen Wählern problemlos<br />
akzeptiert wurde, erhoffen diese sich davon ja eine Beibehaltung des bisherigen Kurses.<br />
Problematisch dabei ist jedoch, dass die hohe Zustimmung der Bevölkerung zu<br />
Putins und Medwedews hartem Kurs, gepaart mit den beträchtlichen Machtbefugnissen<br />
der Exekutive und der Ohnmacht der parlamentarischen Opposition (von der<br />
außerparlamentarischen ganz zu Schweigen), zu einer Art „gelenkten demokratischen<br />
Wettbewerb“ 41 geführt hat: Die ganz kremlkritischen Parteien (Jabloko, Union der<br />
Rechten Kräfte, Kommunisten) werden durch die Medienmacht des Staates marginalisiert,<br />
während „Einiges Russland“ und ihr linkskonservatives Pendant „Gerechtes<br />
Russland“, beides Pro-Präsidiale Parteien, in Scheingegensatz zueinander<br />
gebracht und <strong>als</strong> einzige „wählbare“ Parteien dargestellt werden, um die Herrschaft<br />
der jetzigen politischen Elite für Jahrzehnte zu sichern. Denn egal, welche der beiden<br />
Parteien die Mehrheit hätte, an den realen Machtverhältnissen würde sich nichts ändern.<br />
42 Zudem steht die russische postsowjetische Gesellschaft politischen Parteien<br />
sehr kritisch gegenüber (keine 10 % der Bevölkerung vertrauen ihnen! 43 )und zweifelt<br />
daran, dass sie tatsächlich in der Lage sind, die Interessen der Gesellschaft auszudrücken.<br />
44 Zusammen mit wenig vorhandener Bereitschaft, sich politisch zu engagieren,<br />
Russlandanalysen Nr. 152, Bremen 2007, S. 2 f.<br />
39 Statistik in: Russlandanalysen Nr. 160, S. 15 ff.<br />
40 Gorzka, Gabriele: Einführung. In: Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter W. (Hrsg.): Russlands<br />
Perspektive. Ein starker Staat <strong>als</strong> Garant von Stabilität und offener Gesellschaft?, Bremen<br />
2002, S. 9.<br />
41 Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />
in Putins Russland, S. 188. Wobei eigentlich nur der Wahlakt selbst das Prädikat<br />
„demokratisch“ verdient hat.<br />
42 Schulze, Peter W.: Souveräne Demokratie, S. 306 ff.<br />
43 Vgl. Statistik in: Russlandanalysen Nr. 84, S. 7.<br />
44 Dazu Makarenko, Boris I.: Gesetzmäßigkeiten der Krise des russischen Parteiensystems,<br />
in: Gorzka, Gabriele; Schulze, Peter W. (Hrsg.): Wohin steuert Russland unter Putin? Der<br />
Dis | kurs 111
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
ergibt das ein geringes Maß an „public contestation“. Zwar sind die Möglichkeiten<br />
vorhanden, doch sie werden wenig genutzt; stattdessen wird ganz auf das Können<br />
der neuen Doppelspitze vertraut. Diese macht seine Sache in den Augen der Bevölkerungsmehrheit<br />
zwar gut, doch letztendlich „lebt die politische und demokratische<br />
Entwicklung eines Landes aber vom Widerspruch, von der gestaltenden kritischen<br />
Mitwirkung politischer Opposition.“ 45 Von daher ist es durchaus berechtigt, von einer<br />
Krise des russischen Parteiensystems zu sprechen, wie es Makarenko tut.<br />
Machtverteilung und Verantwortlichkeit in der<br />
russischen Realität<br />
Die Verfassung der russischen Föderation räumt dem Staatspräsidenten eine sehr<br />
starke Stellung ein. Er legt die Grundlagen der Politik fest, leitet die Außenpolitik,<br />
ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, kann Dekrete und Verfügungen erlassen<br />
und ernennt den Ministerpräsidenten, der in erster Linie ihm verantwortlich ist, da<br />
nur er – und nicht die Staatsduma – ihn entlassen kann. Zudem kann der Präsident<br />
diese auflösen oder ein Veto gegen Gesetze einlegen. 46 Auch werden die Richter des<br />
Verfassungsgerichtes vom Föderationsrat 47 auf Vorschlag des Präsidenten ernannt. 48<br />
Manche Kommentatoren gehen deswegen sogar so weit, das russische politische System<br />
<strong>als</strong> eine Art „elected monarchy“ 49 oder „hyperpresidency“ 50 zu bezeichnen. Doch<br />
war Präsident Putin <strong>als</strong> bislang zweifelsohne stärkster Präsident Russlands weder ein<br />
Monarch noch ein Diktator; seine starke Stellung innerhalb des Systems war eher<br />
auf das Fehlen anderer ernsthafter politischer Gegenspieler zurückzuführen. Wie<br />
Mommsen schon 2004 richtig bemerkte, kamen die in der Verfassung enthaltenen<br />
Potentiale für eine größere Rolle der Regierung und des Parlaments in der Regierungszeit<br />
Jewgenij Primakows 1998/99 zur Geltung 51 ; gleiches sieht man jetzt – in<br />
noch verstärktem Maße – unter Premier Putin. Dies zeigt, dass die Auslegung der<br />
autoritäre Weg zur Demokratie, Frankfurt am Main 2004, S. 220 ff.<br />
45 Schulze, Peter W.: Demokratiedefizit <strong>als</strong> Legitimationsproblem im Neuen Russland,<br />
S. 35.<br />
46 Vgl. Schaubild in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 281 (2003): Russland, Bonn,<br />
S. 17.<br />
47 Der (neben der Staatsduma) zweiten Kammer der Bundesversammlung, in die je zwei<br />
Mitglieder der 88 Subjekte der russischen Föderation entsandt werden.<br />
48 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Artikel 128.1.<br />
49 Shevstova, Lilia: Putin's Russia, Washington 2003, S. 272.<br />
50 Shevstova, Lilia: Russia – Lost in Transition, S. 52. Wobei Shevstova diese „hyperpresidency“<br />
von inneren Machtkämpfen in der Handlungsfreiheit des Präsidenten stark<br />
beschränkt sieht, <strong>als</strong>o nur nach Außen omnipotent.<br />
51 Vgl. Mommsen, Margareta: Präsident Putins prekäre Allmacht, in den Russlandanalysen<br />
Nr. 13, Bremen 2004, S. 2.<br />
112 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Verfassung stark von den Persönlichkeiten der Amtsinhaber abhängig ist. Wie die<br />
reale Machtverteilung innerhalb des Tandems Medwedew-Putin ist, kann allerdings<br />
niemand von Außen abschätzen, daher kann hier nicht näher darauf eingegangen<br />
werden.<br />
Wesentlich ist vielmehr der Faktor, dass es dem – trotz aller Kritik am Wahlgang eindeutig<br />
durch die Entscheidung des Volkes legitimierten – Präsidenten und seinem<br />
starken Premiers wegen der Dominanz von „Einiges Russland“ und „Gerechtes Russland“<br />
sowohl in der Staatsduma, <strong>als</strong> auch in den einzelnen Föderationssubjekten 52<br />
(die auch über die Zusammensetzung des Föderationsrates, der zweiten Kammer<br />
der Bundesversammlung, bestimmen) an realen Gegengewichten fehlt. Von einzelnen<br />
konkurrenzfähigen Persönlichkeiten ganz zu schweigen. Dieser Errichtung<br />
einer „Vertikale der Macht“, bei der alle politischen Entscheidungsinstanzen direkt<br />
vom Staatspräsidenten, Premierminister und der Präsidialverwaltung abhängig sind,<br />
diente sowohl die Einführung eines neuen, viel stärker auf die Wahl über Parteilisten<br />
<strong>als</strong> Direktkandidaten ausgerichteten Wahlgesetzes 53 <strong>als</strong> auch die Abschaffung der<br />
Gouverneurswahlen, so dass diese nun direkt vom Präsidenten eingesetzt werden. 54<br />
Bedenklich ist in dieser Hinsicht auch die Rolle der Präsidialverwaltung, die keine<br />
Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk besitzt, aber großen Einfluss auf die Politik<br />
des Landes nehmen kann. Unter dem vorherigen Präsidenten Boris Jelzin war dies<br />
besonders ersichtlich. 55 In ihr hatten die sog. „Oligarchen“ eine sehr starke Stellung<br />
und konnten so ihren Partikularinteressen gegenüber dem gesundheitlich angeschlagenen<br />
Präsidenten viel Gehör verschaffen. Wladimir Putin hat diese Gruppierungen<br />
zwar aus dem Machtzentrum erfolgreich verdrängt 56 , doch sind an ihre Stelle neue<br />
Strukturen aus Vertretern der Staatsanwaltschaft, des Geheimdienstes und Militärs<br />
entstanden. Für sie hat sich der Begriff der „Silowiki“ (die Kräftigen, Mächtigen) eingebürgert<br />
57 , der viel über die Bedeutung der Hausmacht des Premiers im politischen<br />
System der russischen Föderation aussagt. Inwiefern Medwedew, der <strong>als</strong> „Liberaler“<br />
gilt, sich gegen diese Strukturen durchsetzen kann und will, bleibt abzuwarten.<br />
52 Vgl. Statistiken in: Russlandanalysen Nr. 149, S. 4 ff.<br />
53 Dazu Makarenko, Boris I.: Gesetzmäßigkeiten der Krise des russischen Parteiensystems,<br />
S. 223 ff. Das neue Wahlgesetz soll vor allem eine weitere Dominanz von „Einiges Russland“<br />
gewährleisten – und dies höchst erfolgreich, wie die letzten Wahlen bewiesen.<br />
54 Vgl. Golosov, Grigorii V.: Die Abschaffung der Gouverneurswahlen, in: Russlandanalysen<br />
Nr. 74, Bremen 2005, S. 2 ff.<br />
55 Andreeva, Andrea: Russlands langer Weg in den Rechtsstaat. Verfassung und Gesetzgebung,<br />
Opladen 2002, S. 265.<br />
56 Schröder, Hans-Henning: Machtverschiebung im Kreml, in: Russlandanalysen Nr. 4,<br />
Bremen 2003, S. 2 ff.<br />
57 Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />
in Putins Russland, S. 187.<br />
Dis | kurs 113
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Fazit: Demokratie „auf russische Art“ oder Autoritarismus?<br />
Formell gesehen existieren in Russland alle für eine Demokratie wichtigen Bürgerrechte<br />
und auch ihr Schutz ist durch den Rechtsstaat gewährleistet. Doch in Wirklichkeit<br />
kommt es immer wieder – und immer häufiger – zu indirekten Einschränkungen<br />
der bürgerlichen Freiheiten, indem ein Großteil des Informationsflüsse in<br />
Rundfunk, Fernsehen und Presse unter staatliche Kontrolle geraten sind. Gleichzeitig<br />
zeigt der Staat eine ambivalente bis misstrauische Haltung gegenüber den aktiven<br />
Ausdrucksformen einer Zivilgesellschaft, da über diese Kanäle eine Einflussnahme<br />
des Auslands auf die inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation gefürchtet<br />
wird. Der Rechtsstaat, der diese Eingriffe des Staates ins gesellschaftliche Leben<br />
reglementieren könnte, wurde fest in die „Vertikale der Macht“ integriert, ist aber<br />
immerhin wieder funktionsfähig. Letzteres kann zwar <strong>als</strong> Fortschritt im Vergleich<br />
zur „rechtlosen“ Jelzin-Ära, in der es faktisch „keinen Schutz der Rechte und Freiheiten<br />
des Bürgers gegen die tonangebenden Interessen der Machteliten, der Bürokratie<br />
und des organisierten Verbrechens“ 58 gab, gewertet werden. Doch da das Widererstarken<br />
staatlicher Ordnungsmacht mit der zunehmenden Beeinträchtigung von Bürgerrechten<br />
einhergeht, muss das erste Kriterium, Bürgerrechte und Rechtsstaat, <strong>als</strong><br />
nicht erfüllt betrachtet werden.<br />
Freie Wahlen und Parteien gibt es in der Russischen Föderation, doch haben sie nicht<br />
die Bedeutung, die sie in einer Demokratie haben sollten: Während die beiden letzten<br />
Duma- und Präsidentschaftswahlen mangels ernsthafter Konkurrenz und Nutzung<br />
der „administrativen Ressource“ zu einem Plebiszit über die Politik Wladimir<br />
Putins geworden sind, haben die politischen Parteien, ein Hauptmerkmal moderner<br />
Demokratien, weiter an Bedeutung verloren. Sie dienen weder <strong>als</strong> Mechanismus zur<br />
Regierungsbildung noch <strong>als</strong> Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft, welche sich<br />
ihnen abgewandt hat und ganz auf die Integrationsfigur des Präsidenten bzw. Premierministers<br />
setzt. Daran konnte auch die Neugestaltung der Parteienlandschaft „von<br />
oben“ nichts ändern. Das zweite Kriterium, freie Wahlen und Parteien, kann hier<br />
zwar formell <strong>als</strong> erfüllt angesehen werden. Doch wird es in der Wirklichkeit verzerrt<br />
und seiner Bedeutung <strong>als</strong> Ausdrucksform des politischen Pluralismus nicht gerecht.<br />
Im Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander hat sich eine Art autoritärer Präsidialherrschaft<br />
etabliert 59 , in der die größte Macht beim Staatsoberhaupt und in der<br />
Präsidialadministration liegt, von der Teile inzwischen einfach in die Premiersadministration<br />
„umgezogen“ sind. Damit einhergehend, kam es zu einer Rezentralisie-<br />
58 Schulze, Peter W.: Demokratiedefizit <strong>als</strong> Legitimationsproblem im Neuen Russland,<br />
S. 36.<br />
59 Vgl. Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />
in Putins Russland, S. 177.<br />
114 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
rung des Staates auf Kosten der vertikalen Gewaltenteilung. Die Verantwortlichkeit<br />
gegenüber dem Bürgern wiederum konzentriert sich zunehmend in der Person des<br />
direkt gewählten Präsidenten, über den andere politische Institutionen, wie Regierung<br />
und Gouverneure, nur noch indirekt vom Volk legitimiert sind und sich diesem<br />
gegenüber nicht direkt verantworten müssen. Somit muss insbesondere das dritte<br />
Kriterium einer Demokratie, Machtverteilung und Verantwortlichkeit, <strong>als</strong> nicht erfüllt<br />
gewertet werden.<br />
Alle drei Kernkriterien einer Demokratie sind, wenn man von der Verfassung der<br />
Russischen Föderation ausgeht, <strong>als</strong> formal gegeben zu sehen. Doch müssen sie in der<br />
Realität <strong>als</strong> nicht erfüllt betrachtet werden: Das Primat des Rechts vor der Macht hat<br />
sich nicht etabliert; die öffentliche Meinung wird vom Staat manipuliert, die Parteien<br />
stecken in einer Krise und die Gewaltenteilung existiert de facto nur auf dem Papier.<br />
All dies bedeutet natürlich Einschränkungen für den politischen Pluralismus, der<br />
unter solchen Bedingungen nur sehr beschränkt zur Geltung kommen kann. Deswegen<br />
kann Russland nicht <strong>als</strong> Demokratie gewertet werden. Es kann keine der hier<br />
vorgestellten notwendigen Bedingungen erfüllen, weist aber das Hauptmerkmal des<br />
Autoritarismus auf. Daher kann im Falle der Russischen Föderation auch nicht von<br />
„Demokratie auf russische Art“ oder ähnlichem gesprochen werden; es ist bei näherer<br />
Betrachtung eindeutig ein autoritäres politisches System.<br />
Das „System Putin“, jetzt mit Doppelspitze, legitimiert sich weiterhin nur über die Personen<br />
des Präsidenten und Premierministers. Alle anderen, für eine funktionierende<br />
Demokratie unerlässlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen treten in<br />
den Hintergrund und genießen nur sehr wenig Vertrauen der Bevölkerung. 60 Medwedew<br />
und Putin gelingt es zwar, das Wirtschaftswachstum aufrecht zu erhalten, die<br />
Kriminalität und Armut zu bekämpfen, die Sozi<strong>als</strong>ysteme einigermaßen am Laufen<br />
zu halten und Russlands Bedeutung in der Welt zu vergrößern. 61 Doch der Aufbau eines<br />
demokratischen politischen Systems und einer gereiften Bürgergesellschaft, den<br />
sich beide zumindest offiziell verschrieben haben 62 , kommt seit Jahren nicht voran.<br />
Stattdessen sind mehr und mehr Rückschritte zu verzeichnen. Bei einem solchen<br />
System von einer Sonderform der Demokratie zu schreiben, wie dies einige tun, ist<br />
wirklichkeitsverzerrend und gefährlich. Denn erstens wird der Begriff der Demokra-<br />
60 Schröder, Hans-Henning: Akzeptanz, Protest, Legitimität? Die russische Gesellschaft<br />
und das System Putin, in: Russlandanalysen Nr. 20, Bremen 2005, S. 2 ff.<br />
61 Ob Letzteres in positiver oder negativer Hinsicht, ist natürlich umstritten.<br />
62 Dazu ein Auszug aus Putins Botschaft an die Föderalversammlung „Gleichzeitig müssen<br />
wir den Zustand unserer Demokratie auch kritisch bewerten. Ist das politische System<br />
in seiner heutigen Form ein Instrument der echten Macht des Volkes? Wie produktiv ist<br />
der Dialog zwischen der Macht und der Gesellschaft? […] Wir müssen zugeben, dass<br />
wir ganz am Anfang des Weges stehen.“ (in: Russlandanalysen Nr. 29, S. 11). Vgl. auch<br />
Medwedew unter http://www.russland.ru/mainmore.php?tpl=Politik&iditem=20208.<br />
Dis | kurs 115
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
tie ausgedehnt und ausgehöhlt, was ihn unbrauchbar macht. Zweitens verschleiern<br />
solche Begriffe die eigentlichen Herrschaftsstrukturen und helfen so, sie zu festigen.<br />
Oder wie Giovanni Sartori schreibt: „Die Demokratie hat immer noch ihre Feinde;<br />
doch heute umgeht man Demokratie am besten in ihrem eigenen Namen oder mit<br />
Hilfe ihres eigenen Namens.“ 63<br />
Literatur (Auswahl)<br />
Dahl, Robert: Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971.<br />
Karl, Terry Linn / Schmitter, Philippe C.: What Democracy Is … And Is Not, in: Journal Of<br />
Democracy, Nr. 2 1991, S. 75–88.<br />
Kozyrev, Illya: Demokratie ohne Demokraten in „Putins Russland“, in: Internationale Beziehungen<br />
– Studentische Beiträge, Nr. 1 2007, S. 56–60.<br />
Lauth, Hans J.: Vergleichende Regierungslehre. Regimetypen: Demokratie – Autoritarismus<br />
– Totalitarismus, Wiesbaden 2002.<br />
Linz, Juan J.: Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000.<br />
Makarenko, Boris I.: Gesetzmäßigkeiten der Krise des russischen Parteiensystems, in:<br />
Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter W.: Wohin steuert Russland unter Putin? Der autoritäre Weg<br />
zur Demokratie, Frankfurt am Main 2004, S. 215–242.<br />
Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />
in Putins Russland, in: Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter W. [Hrsg.]: Wohin steuert Russland<br />
unter Putin? Der autoritäre Weg zur Demokratie, Frankfurt am Main 2004, S. 177–189.<br />
Mommsen, Margareta: Putins „gelenkte Demokratie“: „Vertikale der Macht“ statt Gewaltenteilung,<br />
in: Buhbe, Matthes/Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute – Rezentralisierung des<br />
Staates unter Putin, Wiesbaden 2007, S. 235–252.<br />
Schröder, Hans-Henning: Putin <strong>als</strong> demokratischer Reformer?, in: Gorzka, Gabriele/Schulze,<br />
Peter W. (Hrsg.): Russlands Perspektive. Ein starker Staat <strong>als</strong> Garant von Stabilität und<br />
offener Gesellschaft?, Bremen 2002, S. 39–66.<br />
Schulze, Peter W.: Demokratiedefizit <strong>als</strong> Legitimationsproblem im Neuen Russland, in: Gorzka,<br />
Gabriele/Schulze, Peter W. (Hrsg.): Russlands Perspektive. Ein starker Staat <strong>als</strong> Garant<br />
von Stabilität und offener Gesellschaft?, Bremen 2002, S. 15–38.<br />
Schulze, Peter W.: Souveräne Demokratie: Kampfbegriff oder Hilfskonstruktion für einen<br />
eigenständigen Entwicklungsweg? – Die ideologische Offensive des Vladislav Surkov, in:<br />
Buhbe, Matthes/Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute – Rezentralisierung des Staates<br />
unter Putin, Wiesbaden 2007, S. 293–311.<br />
Shevstova, Lilia: Russia – Lost in Transition. The Yeltsin and Putin Legacies, Washington<br />
2007.<br />
Russlandanalysen .<br />
Verfassung der Russischen Föderation < http://www.constitution.ru/de>.<br />
63 Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, Darmstadt 1997, S. 12.<br />
116 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
Demokratische Staatsbürgerschaft ohne<br />
nationale Identität?<br />
Betrachtungen zu möglichen Ursachen<br />
interkultureller Konflikte in Estland<br />
Julia Shestakova<br />
Humboldt-Universität Berlin<br />
E-Mail: Julia.shestakova@gmail.com<br />
Schlüsselwörter<br />
Estland, Europa, Nation, Minderheitenrechte, interkulturelle Konflikte<br />
Die Verfassungen der modernen Nation<strong>als</strong>taaten Europas setzen die Gleichheit beziehungsweise<br />
die Gleichberechtigung aller ihrer Staatsbürger voraus: Eine Gleichberechtigung<br />
unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat<br />
und Herkunft, Glauben, religiöser Anschauung und politischen Ansichten. 1 Diese<br />
Gleichberechtigung bildet die scheinbar sichere Grundlage moderner liberaler Staaten.<br />
Eine auf diese Weise verstandene Gleichberechtigung soll eine ‚freie Entfaltung‘<br />
der Persönlichkeit eines jeden Bürgers garantieren. 2 Das liberale Prinzip der Gleichberechtigung<br />
birgt jedoch eine Gefahr, und zwar die Gefahr eines ‚differenz-blinden‘<br />
(Taylor) Verhaltens. Denn der Liberalismus der allgemeinen Menschenwürde, auf<br />
die sich die Gleichberechtigung eines jeden Staatsbürgers gründet, vermag nicht aus-<br />
1 Eine erste Fassung dieses Aufsatzes wurde vorgestellt im Rahmen des 7. Workshops<br />
Ethik „Partikulare Kulturen – universelle Moral – positives Recht. Die moralische und<br />
rechtliche Regelung interkultureller Konflikte“ (18.–20. Februar 2008 in Arnoldhain/<br />
Taunus). Der Aufsatz wurde während meiner Stipendiumszeit am Forschungsinstitut für<br />
Philosophie in Hannover verfasst. Mein Dank gilt für Informationen Dmitri Platonov und<br />
für kritische Hinweise Mirko Wischke sowie Christian Möckel.<br />
2 Vgl. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 2.<br />
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zuräumen, dass die „faire Gesellschaft auf eine subtile, ihr selbst nicht bewusste Weise<br />
diskriminierend ist“ 3 , obgleich sie „aufgeschlossen gegenüber der nationalen und kulturellen<br />
Differenz“ ist. Denn sie kann nicht gewährleisten, „was die Angehörigen von Gesellschaften<br />
mit besonderem Charakter in Wirklichkeit anstreben: ihren Fortbestand“. 4<br />
Die neu- beziehungsweise wiedergegründeten Nation<strong>als</strong>taaten Ost-Europas sind mit<br />
dem Problem einer ‚verspäteten Nation‘ konfrontiert: sie streben nicht nur nach Erhalt<br />
ihres Fortbestandes, sondern wollen ihn auch gesetzlich verankern und sichern.<br />
Auf diese Weise glaubt man, sich vor einem Trauma befreien zu können: dem der<br />
Verlierer. Einerseits will man sich in der Galerie der geschichtlichen Sieger einreihen;<br />
andererseits will man auch ein Musterschüler der modernen europäisch-liberalen<br />
Gesellschaft sein; die Fortschritte des europäischen Liberalismus sollen sich in den<br />
Verfassungen der jungen Nation<strong>als</strong>taaten Ost-Europas widerspiegeln.<br />
Diese Ambivalenz illustriert die Verfassung der Republik Estland: zum einen sind<br />
alle Bürger vor dem estnischen Gesetz gleichberechtigt (§ 12), zum anderen dient<br />
die Verfassung primär <strong>als</strong> Garantie zur „Erhaltung des estnischen Volkes und der estnischen<br />
Kultur durch alle Zeiten“ 5 hindurch. Diese beiden Aspekte der estnischen<br />
Verfassung scheinen auf den ersten Blick einander nicht auszuschließen, es sei denn,<br />
man übersieht, dass Estland kein mononationaler, sondern ein multinationaler Staat<br />
ist: fast ein Drittel seiner Bevölkerung gehören nämlich unterschiedlichen nationalen<br />
Minderheiten an. 6<br />
Diese Minderheiten wollen nicht lediglich toleriert, das heißt geduldet, sondern auch<br />
in ihrer kulturellen, sprachlichen und religiösen Unterschiedlichkeit (Differenz) anerkennt<br />
werden: „Die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen anerkennen schließt<br />
ein, das wir sie nicht nur leben lassen, sondern auch ihren Wert anerkennen sollen.“ 7<br />
Angesichts des estnischen Grundgesetzes ist das Problem der Anerkennung von<br />
Minderheiten nicht ohne Komplikationen: Einerseits werden nationalen Minderheiten<br />
zwar das Recht zugesprochen, „im Interesse ihrer Volkskultur […] Selbstverwaltungseinrichtungen<br />
zu gründen“ 8 , andererseits kann dies jedoch für die Erhaltung des<br />
estnischen Volkes und der estnischen Kultur Gefahren heraufbeschwören.<br />
3 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993,<br />
S. 34.<br />
4 Ebd., S. 55.<br />
5 Vgl. Präambel zum Grundgesetz der Republik Estland.<br />
6 Laut aktuellen Angaben des Bevölkerungsregisters leben in Estland 1,361 Millionen Menschen,<br />
davon bilden 68,5 % Esten, 25,5 % Russen, 2,1 % Ukrainer, 1,2 % Belorussen<br />
und 0,8 % Finnen.<br />
7 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993,<br />
S. 59.<br />
8 S. § 50 des Grundgesetzes der Republik Estland.<br />
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Thema: Patient Demokratie<br />
Kompliziert ist das Problem der Bevölkerung Estlands, weil zu einer Minderheit laut<br />
dem Gesetz über kulturelle Autonomie der Minderheiten ausschließlich (Staats-)Bürger<br />
der Republik Estland zählen, und das Ausländergesetz teilt die Bevölkerung Estlands<br />
mehr oder minder in zwei Gruppen. Zu der einen gehören die Bürger der ersten<br />
Republik Estland (1918–1940) samt ihrer Nachkommen, zu der anderen Gruppe<br />
zählen die Einwanderer aus der Zeit ab 1940 beziehungsweise 1944, <strong>als</strong> Estland Teil<br />
der Sowjetunion wurde. Während die erste Gruppe automatisch einen Anspruch auf<br />
die Staatsbürgerschaft der zweiten Republik Estland hat, fallen die Angehörigen der<br />
zweiten Gruppe in die Rubrik der „Ausländer“ beziehungsweise Staatenlosen, die das<br />
Recht haben, <strong>als</strong> staatenlose Bürger einen Pass mit Wohn- und Arbeitserlaubnis in<br />
Estland zu beantragen –, es sei denn, sie entscheiden sich für die Staatsbürgerschaft<br />
der Russischen Föderation. Der russischsprachige Teil der Bevölkerung wurde somit<br />
in Bürger geteilt, die zur eigentlichen rechtmäßigen Minderheit gehören, und in<br />
Staatenlose beziehungsweise Bürger der Russischen Föderation, wobei im offiziellen<br />
Sprachgebrauch die Unterscheidung nicht zutrifft. Alle diejenigen, die zur russischen<br />
Nationalität gehören beziehungsweise Russisch zur Muttersprache haben, gelten <strong>als</strong><br />
Russen. Ferner wird deshalb das Wort Minderheit im Sinne von der nationalen kulturellen<br />
Minderheit, zu denen eigentlich alle Russen beziehungsweise russischsprachigen<br />
Einwohner unabhängig von ihrem staatlichen Status gehören, gebraucht.<br />
Geschichtlicher Hintergrund des Minderheitenproblems<br />
in Estland<br />
Um die Rechtsmäßigkeit der Rede von einer kulturellen statt einer staatlichen Minderheit<br />
zu verstehen, sowie die in den oben genannten Gesetzen verborgene Möglichkeit<br />
der Spaltung der estnischen Gesellschaft nach der ethnischen Zugehörigkeit<br />
zu erläutern, ist es notwendig, die Geschichte Estlands kurz zu skizzieren, weil dies<br />
die geschichtlichen Wurzeln des sogenannten Minderheitenproblems in Estland aufzuzeigen<br />
vermag.<br />
Die moderne Republik Estland umfasst knapp das Territorium Niedersachsens, hat<br />
jedoch nur 1,3 Mio. Einwohner. Knapp 30 % der Bevölkerung bildet die russische<br />
Minderheit, die aus Russen (25,7 %), Ukrainer, Weißrussen, Tataren und anderen<br />
besteht. Die Geschichte der Minderheiten Estlands ist nicht von der Geschichte Estlands<br />
zu trennen. Die Geschichte des Territoriums, an dem seit Jahrhunderten Esten<br />
gelebt haben, ist reich an Kriegen und Machtkämpfen, die es seiner hervorragenden<br />
Lage an der Ostseeküste, der Wegkreuzung von Ost nach West und von Süden nach<br />
Norden, verdankt. Die verschiedenen Teile Estlands gehörten seit dem 13. Jahrhundert<br />
dem Deutschen Orden, Dänemark, sodann Schweden und dem Großreich Polens<br />
und Litauens an, bis das gesamte Territorium des modernen Estlands nach dem<br />
Nordischen Krieg (1700–1721) an das Russische Reich fiel. Erst in Folge des Ersten<br />
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Weltkriegs und des bolschewistischen Machtwechsels in Russland wurde 1918 die<br />
Republik Estland ausgerufen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen war Estland kein<br />
mononationaler Staat, die Minderheiten machten knapp 12 % der Bevölkerung aus.<br />
Die drei größten ethnischen Minderheiten Estlands – Russen, Deutsche und Schweden<br />
– konnten (unabhängig von ihrer geringen Anzahl) dank der Verfassung von<br />
1920 (die bis 1938 galt) uneingeschränkt ihre verbrieften Rechte in Anspruch nehmen.<br />
Sie hatten zum Beispiel „das Recht, sich schriftlich in ihrer Sprache an die staatlichen<br />
Zentralinstitutionen zu wenden“. 9 1939 fiel Estland im Geheimprotokoll des<br />
Stalin-Hitler-Paktes in die sowjetische Interessensphäre. Es folgte im Juni 1940 die<br />
militärische Besatzung und Annexion der Republik Estland durch die Sowjetunion.<br />
Im Juni 1941 erfolgte die erste Massendeportation von Esten nach Sibirien. Während<br />
des zweiten Weltkrieges wurde Estland durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Nicht<br />
nur zahlreiche Balten-Deutsche, sondern auch viele Esten sind in die deutsche Wehrmacht,<br />
insbesondere in SS-Einheiten, eingetreten, weil sie entweder an die Befreiung<br />
Estlands von der sowjetischen Macht und an eine erneute Unabhängigkeit glaubten<br />
oder den Kommunismus <strong>als</strong> das „größte Übel“ ansahen. Dies führte zur Spaltung der<br />
estnischen Bevölkerung, da ein Teil an der Seite der Roten Armee und der andere an<br />
der Seite der deutschen Wehrmacht kämpfte. Als 1944 Estland durch die Rote Armee<br />
von der deutschen Wehrmacht befreit wurde, verlor Estland (wie Lettland und Litauen)<br />
seine Souveränität, im Unterschied zu anderen Staaten Osteuropas, die ebenso<br />
wie Estland vor dem Zweiten Weltkrieg unabhängig waren.<br />
Die niedrige Geburtenrate der Nachkriegsjahre, eine zweite Massendeportation 1949<br />
und die Politik der sowjetischen Regierung in Richtung eines einheitlichen, starken<br />
Staates veränderte das ethnische Bild Estlands. Zahlreiche Einwohner anderer sowjetischer<br />
Republiken, vor allem aus Russland, der Ukraine und Weißrussland wurden<br />
ermutigt, ganz oft auch gezwungen, nach Estland umzusiedeln. Während der folgenden,<br />
sowjetisch geprägten Jahrzehnte war Estland eine der ökonomisch erfolgreichsten<br />
sowjetischen Republiken. Weil mit der raschen industriellen Entwicklung<br />
Estlands der Bedarf an Arbeitskräften wuchs, kamen viele Arbeiter aus anderen sowjetischen<br />
Republiken beziehungsweise wurden nach dem Abschluss des Studiums<br />
zur Arbeit in estnischen Betrieben verpflichtet. Das betraf vor allem das Gebiet von<br />
Nord-Ostestlands, wo die wichtigsten industriellen Betriebe entstanden. Die Anzahl<br />
der „russischsprachigen“ Minderheiten wuchs von gut 8 % im Jahre 1934 auf<br />
knapp 30 % im Jahre 1989 in Gesamtestland, wobei im Nord-Osten die Anzahl der<br />
Nicht-Esten oft fast bis zu 90 % der Bevölkerung anstieg. Zum Beispiel gehören in<br />
der drittgrößten Stadt Estlands, nämlich der Stadt Narva, die zurzeit die Grenzstadt<br />
der Europäischen Union ist, ca. 95 % der Bevölkerung zur russischsprachigen Min-<br />
9 Vgl. Grundgesetz der Republik Estland vom 15. Juni 1920, § 23.<br />
120 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
derheit. Im Jahre 1989 wurde die letzte sowjetische Bevölkerungszählung in Estland<br />
durchgeführt. Danach zählte die Bevölkerung Estlands fast 1,6 Millionen Einwohner,<br />
wovon gut 0,5 Millionen Nicht-Esten waren.<br />
Mit dem Prozess der „Perestrojka“ (1986–1991) und der „Singenden Revolution“<br />
(1987–1992) kam die Frage nach dem Verständnis des Beitritts Estlands zur Sowjetunion<br />
am Ende des Zweiten Weltkrieges auf. Die nach und nach in der öffentlichen<br />
Meinung überwiegende Interpretation dieses Ereignisses <strong>als</strong> Okkupation versteht<br />
die Anwesenheit und die wachsende Anzahl der russischsprachigen Bevölkerung in<br />
Estland <strong>als</strong> eine der Folgen dieser Okkupation, das heißt, dass dieser Teil der Bevölkerung<br />
aus Sicht einiger estnischer Politiker kein Recht hat über die Zukunft (eines<br />
freien) Estlands zu urteilen und zu entscheiden. 10<br />
Minderheitenpolitik im modernen Estland und der<br />
‚Denkmalkrieg‘<br />
Im Jahre 1991 erlangte Estland erneut die Unabhängigkeit. Die am 20. August 1991<br />
ins Leben gerufene Republik Estland knüpfte an die Traditionen der ersten Republik<br />
Estland (1918–1940). Es wurden die wichtigsten Gesetze Estlands beziehungsweise<br />
Teile von Gesetzen aus der Zeit der 30er Jahre kopiert, und zwar ohne Rücksicht auf<br />
die Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und demografischen Situation in<br />
den fast 50 vergangenen Jahren. Das Grundgesetz der neugegründeten Republik Estland<br />
hebt formal das Grundgesetz der ersten Republik Estland vom 1938 auf. 11 Die<br />
ethnozentrische Präambel von 1938, die „die Erhaltung des estnischen Volkes und der<br />
estnischen Kultur“ durch das Grundgesetz garantiert, erhält bei der Anzahl der Nicht-<br />
Esten von fast einem Drittel der Bevölkerung eine ganz andere Bedeutung <strong>als</strong> bei dem<br />
Verhältnis von 88 % zu 12 %. Das Gesetz über Staatsbürgerschaft ist die Version, die<br />
bis zum 16. Juni 1940 gültig war. 12 Laut diesem Gesetz bekommt ein Kind die Staatsangehörigkeit<br />
Estlands nach seiner Geburt, und zwar in dem Fall, wenn ein Elternteil<br />
dieses Kindes bereits Staatsbürger Estlands ist. Die Kinder der Einwanderer, die in<br />
der sowjetischen Ära geboren worden waren, hatten demnach keinen Anspruch auf<br />
die vererbte estnische Staatsbürgerschaft, da ihre Eltern (rechtsmäßig) keine Bürger<br />
der Republik Estland waren. Die Einwanderer aus sowjetischer Zeit mussten eine<br />
10 Astrov, Alexander: Selbsterschaffene Gemeinschaft: Minderheitenpolitik oder kleine<br />
Politik. Russische Ausgabe. Tallin 2007, S. 52.<br />
11 Vgl. die Präambel des Grundgesetzes der Republik Estland vom 28. Juni 1992: „In unerschütterlichem<br />
Glauben und standhaften Willen, den Staat zu entwickeln […] hat das<br />
estnische Volk aufgrund § 1 des 1938 in Kraft getretenen Grundgesetzes […] folgendes<br />
Grundgesetz angenommen.“<br />
12 Dazu § 1 des Erlasses über Einführung der Gesetz über Staatsbürgerschaft vom 26. Februar<br />
1992.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Niederlassungs- und Arbeitserlaubnis beantragen. Um die Einbürgerung zu bekommen,<br />
müssen sie Sprachkenntnisse sowie Kenntnisse des Grundgesetzes in Form<br />
einer Prüfung nachweisen. Nicht nur Prüfungen, sondern auch umfangreiche Fragebogen<br />
zur Niederlassungserlaubnis, und zwar ausschließlich auf estnischer Sprache,<br />
stellen für viele ältere Leute ein unlösbares Problem dar. Deshalb wurden sie zu Besitzern<br />
eines staatenlosen Passes (es sei denn, sie entscheiden sich für die Staatsbürgerschaft<br />
der Russischen Föderation), ohne die politischen und sozialen Rechte eines<br />
Staatsbürgers. Sprachkenntnisse normieren auch das Arbeitsleben. Für bestimmte<br />
Berufe muss man bestimmten Sprachprüfungen nachweisen. Das bedeutet, dass ein<br />
Arbeitsplatz nicht für immer gesichert ist, weil die ‚Sprachpolizei‘ die Benutzung<br />
der Amtssprache am Arbeitsplatz sehr streng kontrolliert. Die Kandidaturen für<br />
führende politische und wirtschaftliche Positionen wurden ebenso an die estnische<br />
Sprachkenntnis gebunden. Der letzte Schritt der staatlichen Integrationspolitik war<br />
2007 die Einführung der estnischen Sprache im Unterricht an russischsprachigen<br />
Schulen, ungeachtet des § 37 des Grundgesetzes, laut dem „die Unterrichtssprache in<br />
Bildungseinrichtungen der Minderheiten die Lehreinrichtung“ selbst auswählt. Die<br />
Anzahl des Unterrichtstunden soll sich jedes Jahr steigern, so dass absehbar ist, wie<br />
lange es noch russischsprachige Schulen in Estland geben wird.<br />
Nicht nur wurden gesetzliche Maßnahmen gegen Einwanderer aus der sowjetischen<br />
Ära und deren Nachkommenden durchgeführt, es wurde auch das alltägliche Leben<br />
durch die öffentliche Meinung erschwert. Während derzeit manche restriktive Gesetze<br />
dank der Bemühungen internationaler Organisationen, wie der Organisation<br />
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, abgemildert wurden, sind Russen<br />
– unabhängig davon, ob sie alt oder jung sind, ob sie in der Roten Armee waren<br />
oder schon in unabhängigen Estland aufgewachsen sind –, einer starken Verurteilung<br />
ausgesetzt, hauptsächlich in der Form, dass man sie für die gesamte sowjetische<br />
Zeit schuldig und verantwortlich für die schrecklichen Jahre der Okkupation macht.<br />
Diese Zeit wird allgemein <strong>als</strong> Okkupation bezeichnet. Demzufolge sind alle Russen<br />
Besatzer. Solche rechtextremistischen Meinungen erfreuen sich in Estland großer<br />
Popularität. Oft kann man in angesehenen Zeitungen und Zeitschriften Artikel finden,<br />
die sich gegenüber den in Estland lebenden Russen verachtend beziehungsweise<br />
missachtend äußern und in ihnen allein die alten Feinde von 1944 sehen. Die<br />
russische Minderheit ist praktisch aus dem öffentlichen Leben ausgestoßen: es gibt<br />
nur einzelne russische Abgeordnete, einen russischen Minister gab es nur ein einziges<br />
Mal. Führende Positionen in Politik, Wirtschaft, Kultur sind für Angehörige der<br />
Minderheiten eher die Ausnahme. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Integrationspolitik<br />
zu keiner öffentlichen Diskussion geführt hat: Verabschiedete Gesetzte oder<br />
Maßnahmen hatten keine Resonanz in der Gesellschaft gefunden, sie sind eine partikulare<br />
Angelegenheit der russischen Minderheit geblieben. Die wenigen russischen<br />
122 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Politiker haben in den letzten Jahren das Vertrauen der Minderheit eher verloren,<br />
weil sie keine Kraft für den Schutz von deren Interessen waren.<br />
Die staatliche Politik der Integration war und ist im Grunde genommen eine offensive<br />
Politik der Assimilation, da sie nicht die „Zustimmung zu den Prinzipien der<br />
Verfassung innerhalb des Interpretationsspielraumes, der durch das ethisch-politische<br />
Selbstverständnis der Bürger und die politische Kultur der Bürger bestimmt“ ist,<br />
sondern die „Einübung in die Lebensweise, in die Praktiken und Gewohnheiten der<br />
einheimischen Kultur“ fordert. 13 In philosophischer Hinsicht ist mit Matthias Kaufmann<br />
festzuhalten, dass bei der Politik der Assimilation eine ‚Erlaubnis-Version‘ der<br />
Toleranz in Spiel kommt, „bei der ein Fürst oder eine in ihrer Dominanz ungefährdete<br />
Mehrheit einer Minderheit Toleranz gewähren, sei dies aus prinzipiellen oder pragmatischen<br />
Gründen, das heißt aus moralischer Überzeugung oder um der Friedenssicherung<br />
willen“. 14 Diese Auffassung von Toleranz läuft darauf hinaus, dass die Mehrheit der<br />
Bevölkerung mit einer „völligen Assimilation belohnt zu werden beansprucht“, hingegen<br />
von der Minderheit „die Forderung nach Akzeptanz erhoben wird“. 15<br />
In Estland gab und gibt es deshalb nach 1991 keinen Dialog der Bevölkerungsgruppen<br />
und keine Integration, sondern eine systematisch betriebene Unterdrückung<br />
einer Bevölkerungsgruppe durch eine andere. Da die Identität der Gemeinwesen in<br />
Estland seit 1991 stets „in den ethischen Grundorientierungen einer im Lande vorherrschenden<br />
kulturellen Lebensform festgemacht wurde“ 16 , konnte die estnische Gesellschaft<br />
nicht der Gefahr der eigenen Segmentierung entgehen. Die estnischen Russen<br />
haben sich marginalisiert beziehungsweise wurden zwangsläufig infolge der Politik<br />
der Assimilation de jure und de facto aus dem öffentlichen Raum ausgestoßen. 17 Der<br />
13 Habermas, Jürgen: Annerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles<br />
Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993, S. 183.<br />
14 Kaufmann, Matthias: Toleranz ohne Indifferenz – Integration und die Rückseite der<br />
Akzeptanz. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie vol. 91 (2005) <strong>Heft</strong> 1, S. 40.<br />
15 Ebd.<br />
16 Habermas, Jürgen: Annerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles<br />
Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993, S. 184.<br />
17 Das Mitglied des Europäischen Parlaments, Sahra Wagenknecht, hat die Minderheitenpolitik<br />
der Republik Estland <strong>als</strong> hochproblematisch charakterisiert. Laut Wagenknecht<br />
ist das eine „Politik, die auf die Spaltung der Gesellschaft setzt und alles dafür tut, die<br />
russischsprachige Bevölkerung, […] zu entrechten und marginalisieren“. Ferner schreibt<br />
sie: „Es ist ein Skandal, dass sich die Europäische Union im Fall von Estland bislang auf<br />
die Position zurückzieht, es handele sich um innere Angelegenheiten des Landes. Die<br />
eklatanten Verstöße Estlands gegen grundlegende Normen, u. a. was den Schutz und die<br />
Rechte von Minderheiten betrifft, die rechtsstaatlichen Mängel, die im Prozess gegen die<br />
vier Angeklagten zum Ausdruck kommen, der offene Einfluss der Politik auf die Justiz –<br />
all dies widerspricht elementaren Prinzipien der Europäischen Union, zumindest soweit<br />
sie in den Europäischen Verträgen verankert sind. Es ist höchste Zeit, von Estland das<br />
einzufordern, wozu es sich beim Beitritt zur EU verpflichtet hat: die Einhaltung demokra-<br />
Dis | kurs 123
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
letzte Schritt dieser Spaltung der Gesellschaft waren die Ereignisse im April 2007, die<br />
den so genannten Denkmalkrieg zu einem dramatischen Ende gebracht haben. Der<br />
Ablauf des Denkmalkrieges lässt sich wie folgt skizzieren. Im Sommer 2002 wurde<br />
in der Kurort-Stadt Pärnu ein Denkmal zu Ehren der estnischen Soldaten, die im<br />
zweiten Weltkrieg für das freie Europa gekämpft hatten, wenige Tage nach der Einweihung<br />
infolge einer Entscheidung der Regierung der Republik demontiert. Die<br />
Regierung Estlands hatte dieses Denkmal <strong>als</strong> schädlich für das internationale Image<br />
des Landes empfunden. Dennoch wurde das gleiche Denkmal, das einen Soldaten<br />
im Uniform der Waffen-SS mit dem Eisernen Kreuz mitsamt dem Kreuz der Freiheit<br />
Estlands sowie mit einer deutschen Maschinenpistole zeigt, zwei Jahre später in der<br />
kleinen west-estnischen Stadt Lihula zum Jahrestag der erneuten Unabhängigkeit<br />
Estlands eingeweiht. Die Inschrift des Denkm<strong>als</strong> lautete: „Für die estnischen Männer,<br />
die in den Jahren 1940 bis 1945 gegen den Bolschewismus und für die Unabhängigkeit<br />
Estlands gekämpft haben.“ Dieses Denkmal wurde trotz polizeilichem Verbot<br />
auf dem Friedhof gegenüber dem Massengrab und dem Denkmal für sowjetischen<br />
Soldaten enthüllt. Zu der Enthüllung kamen Veteranen der Waffen-SS sowie junge<br />
Neonazis. In knapp zwei Wochen wurde dieses Kriegsdenkmal erneut durch die Entscheidung<br />
der Regierung demontiert, da man Kritik der EU befürchtete. Die ethnische<br />
Mehrheit und die ethnische Minderheit der Bevölkerung haben die Demontage<br />
unterschiedlich betrachtet: Während 58 % der Esten die Entscheidung der Regierung<br />
<strong>als</strong> ungerecht einschätzten, haben 64 % der Russen sie für richtig gehalten.<br />
Die Enthüllung und die Demontage des Denkm<strong>als</strong> haben die ethnischen Spannungen<br />
in der estnischen Gesellschaft vertieft. Die Gesellschaft wurde von nun an in die<br />
Gegner des „Denkmalkrieges“ gespalten, wobei sich die Neonationalisten gewaltsam<br />
betätigt haben. Während eine Seite die Denkmäler für die sowjetischen Soldaten aus<br />
dem zweiten Weltkrieg massenhaft beschädigten, bewachten russische Aktivisten die<br />
Denkmäler, besonderes das Hauptdenkmal des sogenannten Bronzenen Soldaten im<br />
Zentrum der Hauptstadt. Zahlreiche nationalistisch geprägte Aktionen haben die<br />
Politiker in den folgenden Jahren nicht zum Nachdenken über mögliche Auswege<br />
aus diesen Krisen und zu Versuchen der Konsolidierung der Gesellschaft angeregt.<br />
Stattdessen hat man sich entschlossen, den Bronzenen Soldaten aus dem Stadtzentrum<br />
Tallinns auf den Militärfriedhof am Stadtrand umzusiedeln. Die Demontage des<br />
Denkm<strong>als</strong> führte zu Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Menschen,<br />
die das Denkmal schützen wollten; es kam zu Krawallen im Zentrum von Tallinn,<br />
wobei die Polizei brutal vorging, da sie Demonstranten, unabhängig davon, ob sie getischer<br />
und rechtsstaatlicher Standards!“ Wagenknecht, Sahra: Estland: Prozess beenden<br />
– rechtsstaatliche Standarts durchsetzen! Presseerklärung vom 31.01.2008, http://www.<br />
sahra-wagenknecht.de/de/article/240.estland_prozess_beenden_rechtsstaatliche_standards_durchsetzen.html<br />
vom 12.02.2008.<br />
124 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
walttätig waren oder einfache Passanten, willkürlich verhaftete und brutal misshandelte.<br />
Nach Angaben von Zeugen ist die Eskalation der Ereignisse „durch unmäßige<br />
und brutale Vorgehensweise der Polizei und weiterer estnischer Sicherheitsorgane, vor<br />
allem der Geheimpolizei, provoziert worden“. 18<br />
Mythologisierung der Geschichte und Nichtverarbeitung der Vergangenheit<br />
<strong>als</strong> Ursachen der interkulturellen Konflikte<br />
Dieser Krieg hat nicht erst mit der Enthüllung des Soldaten-Denkm<strong>als</strong> in Pärnu<br />
2002 angefangen, vielmehr wurde die neu gegründete Republik Estland regelrecht<br />
in diesem ‚Krieg‘ geboren. Durch das Verbot des totalitären sowjetischen Staates, die<br />
Geschichte der ersten Republik Estland sowie die Geschichte des Zweiten Weltkriegs<br />
und die Rolle Estlands in dieser Ära wissenschaftlich historisch zu untersuchen und<br />
aufzuarbeiten, sind diese Bereiche in das private kollektive Gedächtnis der Esten<br />
abgedrängt worden. Fast nur mündlich gesprochen, ist diese Geschichte zu einem<br />
Mythos geworden, den man sorgfältig aufbewahrt und der, wie jeder Mythos, auf<br />
einer deutlichen Unterscheidung von Gut und Böse basiert. Ein solches partikulares<br />
kollektives Gedächtnisbild der Esten wurde dann 1991 zur offiziellen Geschichte des<br />
neuen Staates erhoben. Der Mythos bedeutet hier mit Aleida Assmann gesprochen<br />
„die affektive Aneignung der eigenen Geschichte […], die nicht durch Historisierung<br />
vergeht, sondern mit einer andauernden Bedeutung ausgestattet wird, die die Vergangenheit<br />
in der Gegenwart einer Gesellschaft präsent hält und ihr eine Orientierungskraft<br />
für die Zukunft abgewinnt.“ 19 Der Mythos ist im modernen Estland mit der offiziellen<br />
Geschichtsdeutung so verschmolzen, dass nicht mehr unterschieden wird, wo eine<br />
private und kollektive Erinnerung aufhört und die Geschichte anfängt. Die Mythologisierung<br />
ist sicherlich einer der Wege der Bildung einer Nation 20 , kann jedoch zu<br />
den populistischen Nationalismusansichten führen, die für die Teile der Bevölkerung,<br />
die nicht zur herrschenden Nation gehören beziehungsweise kein Anteil an der<br />
mythisch fundierten Vergangenheit haben, schädlich sein kann.<br />
Die mythologisierende Anknüpfung der zweiten beziehungsweise der – wie man<br />
es im offiziellen Sprachgebrauch nennt – wiederhergestellten Republik Estlands an<br />
die Geschichte der ersten Republik ist symptomatisch für die gesamte Periode nach<br />
1991. Diese Anknüpfung spielt eine entscheidende und problematische Rolle auch<br />
in der Minderheitenpolitik, insbesondere für die Umgangsweise mit den Einwanderern<br />
aus der sowjetischen Zeit und ihren Nachkommen. Die Jüngsten unter deren<br />
18 Wagenknecht, Sahra: Estland: Prozess beenden – rechtsstaatliche Standards durchsetzen!<br />
Presseerklärung vom 31.01.2008.<br />
19 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.<br />
München 2006, S. 40.<br />
20 Ebd., S. 41.<br />
Dis | kurs 125
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Nachkommen sind im unabhängigen Estland aufgewachsen und ausgebildet. Das<br />
ändert jedoch nichts an ihrem rechtlichen staatsbürgerlichen Status. Während die<br />
Zeit vor dem zweiten Weltkrieg sowie die Zeit des Wehrdienstes von Esten in der<br />
deutschen Wehrmacht – die laut der offiziell-staatlichen Version ein Befreiungskrieg<br />
gegen die sowjetische Besatzung Estlands geführt hat –, <strong>als</strong> die eigentliche und die<br />
wahrhaft nationale estnische Geschichte angesehen werden, gilt die Geschichte der<br />
Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik <strong>als</strong> die Zeit der dunklen und tragischen<br />
Jahre der Okkupation, mit denen die wahren Bürger Estlands nichts gemein haben.<br />
Die Einwanderer aus dieser Zeit, einschließlich ihrer Nachkommen, verkörpern den<br />
ganzen Schrecken des totalitären Sowjetregimes.<br />
In diesem spannungsvollen Verhältnis zwischen der ersten Republik Estland und der<br />
Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik ist eine Betrachtung der Vergangenheit<br />
aktiv, die Friedrich Nietzsche <strong>als</strong> kritisch charakterisiert hat. Man zieht die sowjetische<br />
Vergangenheit vor Gericht, „peinlich inquirirt, und endlich verutheilt“. 21 Dieser<br />
Prozess hat zwei Seiten: Während eine Vergangenheit kritisch betrachtet und verurteilt<br />
wird, wird zugleich der Versuch unternommen, sich eine andere Vergangenheit<br />
zu geben, „aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt“. 22<br />
Die offizielle neue Republik Estland möchte nur aus einer Vergangenheit stammen,<br />
und zwar aus der Vergangenheit der ersten Republik Estland. Es wird vergessen, dass<br />
zur Vergangenheit der neuen Republik auch die Sowjetische Sozialistische Republik<br />
Estland gehört. Denn nicht nur Russen tragen die Verantwortung für die totalitäre<br />
sowjetische Zeit, sondern auch Esten, die all die Jahre nicht bloß ‚Opfer‘, sondern<br />
auch ‚Täter‘ waren. Nietzsche betont zu Recht, dass „es nicht möglich [ist,] sich ganz<br />
von dieser Kette zu lösen“, von der Kette der eigenen Vergangenheit und „ihrer Verirrungen,<br />
Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen“. 23<br />
Diese Anknüpfung an die „gute“ Vergangenheit und deren mythologische Angliederung<br />
ist meines Erachtens von Bedeutung nicht nur für Estland, sondern auch für<br />
andere postkommunistische Staaten Osteuropas. Der Nationalismus tritt <strong>als</strong> einer<br />
der Erben des Kommunismus auf, in dessen Namen versucht wurde, brüderliche<br />
und einheitliche Staaten aufzubauen. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die Estland<br />
in der unblutigen ‚Singenden Revolution‘, in den Massenprotesten der Arbeiter der<br />
Großbetriebe, in den schweigenden Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes durch eine<br />
das ganze Baltikum durchziehende Menschenkette erlangt hat, sind für dieselben<br />
Menschen aus dieser Kette – für Esten und Russen – zu einer schwierigen Prüfung<br />
21 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: ders.<br />
Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. III/1. Berlin/<br />
New York 1972, S. 265.<br />
22 Ebd., hier: S. 266.<br />
23 Ebd.<br />
126 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
des Zusammenlebens und gegenseitigen Verstehens geworden. Für die Politiker, die<br />
zum großen Teil selbst noch ihre Wurzeln in der sowjetischen Vergangenheit haben,<br />
war es leichter, sich in der Zeit der wirtschaftlichen Umwälzungen und der Suche<br />
eigener Wege ins neue Europa mit der Hexenjagd zu beschäftigen und eine bequeme<br />
Vergangenheit auszudenken, <strong>als</strong> sich mit der aufwandreichen „Aufarbeitung der<br />
Vergangenheit“ zu konfrontieren, zumal man auf diese Weise über die eigene historische<br />
Verantwortung nicht nachdenken musste. Die Kinder der sowjetischen Propaganda<br />
haben einer ihrer wichtigsten Unterrichtsstunden gut im Gedächtnis behalten:<br />
Nichts anderes konsolidiert die Gesellschaft so gut, wie die ruhmreiche Geschichte<br />
und der Feind dieser Gesellschaft und ihrer Geschichte. Hinzu kommt die Dialektik<br />
des Erinnerns und Vergessens, wobei nur das erinnert wird, was bequem und nützlich<br />
ist, vergessen hingegen wird alles Schmerzhafte und Unangenehme. Das Erinnerungswürdige<br />
wird vergegenwärtigt und mythologisiert.<br />
Der Denkmalkrieg in Estland hat eine gespaltete Gesellschaft offenbart und die Minderheitenpolitik<br />
der 90er Jahre in Frage gestellt. Die Minderheitenpolitik, die offiziell<br />
Integrationspolitik genannt wurde, konnte nicht die Russen in die estnische Gesellschaft<br />
integrieren, für die sie laut der Geschichtskonzeption einen feindlichen Fremdkörper<br />
darstellten. Durch Sprachkenntnisse und die erworbene Staatsbürgerschaft<br />
konnten die russischsprachigen estnischen Bürger sich ihren estnischen Nachbahren<br />
nähern: die Gedächtniskluft, der durch die politische Öffentlichkeit zur Geschichtskluft<br />
wurde, hat sie wieder getrennt. Die estnischen Russen, die in sowjetischen Zeiten<br />
entweder areligiös oder mäßig religiös waren, haben sich, nachdem sie aus der<br />
öffentlichen Kultur des modernen Estland ausgestoßen wurden, an die alten Werte<br />
erinnert. Einer dieser Werte ist der Sieg im zweiten Weltkrieg. Im modernen Estland<br />
wurde dieser Sieg zu einem der tragischen Ereignisse des estnischen Volkes gezählt.<br />
Die offizielle Geschichte sieht im Siegesfest eine unangemessene Feier von Leuten,<br />
die Estland erneut okkupierten. Der Soldat, der Europa vom Faschismus befreit hat,<br />
ist nur ein Besatzer – ohne wenn und aber. Das Denkmal dieses Soldaten kann nicht<br />
im Herzen des Landes stehen. Für die russische Minderheit kommt die Demontage<br />
dieses Denkm<strong>als</strong> einer Demontage ihrer Rechte <strong>als</strong> Minderheit gleich. Konkret heißt<br />
das: die strikte Ablehnung des Dialoges und die weitere Spaltung der Gesellschaft<br />
durch eine Marginalisierung der Minderheiten. Die Befreiung und die Okkupation<br />
sind für Russen wie Esten zwei Seiten der Medaille des modernen estnischen Staats.<br />
Das nationalistisch geprägte und mythologisierte Gedächtnisbild soll wissenschaftlich<br />
<strong>als</strong> Geschichte aufarbeitet werden. Zu dieser Geschichte gehört auch die der russischen<br />
Minderheit, wenn man frei in die Zukunft blicken will und nicht gekränkt<br />
an eigenen traumatischen Erinnerungen hängen will. Sonst kann man die immer<br />
näher rückende Frage nach einer möglichen zukünftigen Zuwanderung in Estland<br />
nicht lösen. Mit dem Wirtschaftswachstum bis zu 10 % in den letzten Jahren und der<br />
Dis | kurs 127
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
hohen Anzahl von Auswanderern ist Estland bereits jetzt mit dem Problem fehlender<br />
Arbeitskräfte konfrontiert. Fremdenfeindlichkeit ist keine Lösung für dieses Problem.<br />
Die unaufgearbeitete Vergangenheit, die Neigung der estnischen Gesellschaft,<br />
sich eine „gute“ Vergangenheit zu erschaffen und die ‚schlechte‘ Vergangenheit zu<br />
verurteilen und abzuweisen, spiegelt sich auch in der Gesetzgebung der Republik<br />
Estland wider. Die Prämisse der schon erwähnten Gesetze – das Grundgesetz der Republik<br />
Estland und das Ausländergesetz – ist nicht ‚liberal‘, sondern ‚republikanisch‘.<br />
Die Staatsbürgerschaft wird nämlich nach der Zugehörigkeit zu einer sich selbst bestimmenden<br />
ethisch-kulturellen Gemeinschaft konzipiert. Die Bürger bilden „ihre<br />
persönliche und soziale Identität […] im Horizont gemeinsamer Überlieferungen und<br />
anerkannter politische Institutionen“ 24 aus. Daraus folgt, dass Gesetze in der republikanischen<br />
Tradition eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit kulturell-sprachlicher<br />
Identität gegenüber anderen privilegieren. Das führt nicht nur zu interkulturellen<br />
Konflikten, sondern auch, wie das Beispiel von Estland zeigt, zu sozialen Spannungen,<br />
weil das Prinzip der nationalen Differenzierung das liberale Gleichheitsprinzip<br />
unterläuft, und zwar im Zeichen des liberalen Prinzips der (scheinbaren) Nichtdiskriminierung.<br />
Wie solche interkulturellen Konflikte und sozialen Spannungen bereits<br />
im Vorfeld entschärft werden könnten, wird deutlich, wenn man die Auffassung<br />
von Jürgen Habermas ernst nimmt, dass die „demokratische Staatsbürgerschaft nicht<br />
in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein“ braucht, jedoch ungeachtet<br />
„der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen“ die „Sozialisation aller Staatsbürger<br />
in einer gemeinsamen politischen Kultur“ verlangt. 25 Arbeitet eine politische Partei<br />
(im Sinne des von ihr verkündeten Programms) darauf hin, bestimmten Gruppen<br />
(anderer Nationalitäten) Grundrechte und Grundfreiheiten abzusprechen, so ist mit<br />
John Rawls zu ergänzen, 26 wird bestimmten Staatsbürgern aufgrund ihrer nationalen<br />
und sprachlichen Differenz die Sozialisierung in einer gemeinsamen politischen Kultur<br />
(und Sprache) durch besondere Gesetze verwehrt oder eingeschränkt.<br />
Ausblick ins neue Europa<br />
Das Problem der Benachteiligung der Staatsbürger durch rechtliche Regelungen in<br />
der Sozialisation und Teilhabe an einer ‚gemeinsamen‘ politischen Kultur ist nicht<br />
allein nur für Estland, sondern für Europa insgesamt von Bedeutung. Populistische<br />
Fundamentalismen, Fremdenfeindlichkeit, Mythisierung der Vergangenheit der<br />
herrschenden Nation auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen und Homophobie<br />
24 Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: ders. Faktizität und<br />
Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats.<br />
Frankfurt/M. 1992, S. 640.<br />
25 Ebd., S. 643. Hervorhebung von mir.<br />
26 Ralws, John: Fairneß <strong>als</strong> Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 2006, S. 26.<br />
128 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
kann man in Lettland, Ungarn, Rumänien, Serbien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina,<br />
Griechenland und in der Türkei, die nach Europa strebt, beobachten. Diese<br />
Phänomene gehören längst zum „neuen“ Europa, ob es das will oder nicht, und die<br />
sich daraus ergebenen Probleme zu bewältigen, heißt einen neuen Weg für ein gemeinsames<br />
Europa zu finden: einen neuen Weg, und zwar angesichts von Amerika<br />
und China, der aufgehenden Supermacht des 21. Jahrhunderts. Wie Slavoj Žižek mit<br />
gutem Grund betont, hat man „‚Europa‘ neu zu definieren, damit es für das stehen<br />
kann, was sowohl der amerikanische <strong>als</strong> auch chinesische Weg verwerfen, nämlich für<br />
das emanzipatorische Potenzial der Aufklärung mit seinem Grundgedanke egalitäruniversalistischer<br />
Gerechtigkeit […]. Einer Gerechtigkeit, die auch politische Rechte,<br />
das heißt die Rechte jedes Einzelnen, sich in öffentliche Belange einzumischen, zu den<br />
Menschenrechten zählt. Eine Gerechtigkeit, die Freiheit <strong>als</strong> die Freiheit versteht, an dem<br />
teilhaben zu können, woran das Schicksal unserer Art hängen wird: an unserer gemeinsamen<br />
natürlichen Substanz (Ökologie, Genetik) und unserer geteilten kulturellen<br />
Substanz.“ 27 Man kann es minimalistisch mit Goethe auch so formulieren: „Toleranz<br />
sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung<br />
führen. Dulden heißt Beleidigen.“ 28<br />
Literatur<br />
Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.<br />
München 2006.<br />
Astrov, Alexander: Selbsterschaffene Gemeinschaft: Minderheitenpolitik oder kleine Politik.<br />
Russische Ausgabe. Tallin 2007.<br />
Goethe, Johann Wolfgang v.: Maximen und Reflexionen, Nr. 875.<br />
Habermas, Jürgen: Annerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles Taylor,<br />
Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993, S. 147–196.<br />
Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: ders. Faktizität und<br />
Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats.<br />
Frankfurt/M. 1992, S. 632–660.<br />
Kaufmann, Matthias: Toleranz ohne Indifferenz – Integration und die Rückseite der Akzeptanz.<br />
In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie vol. 91 (2005) <strong>Heft</strong> 1, S. 36–48.<br />
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: ders. Werke.<br />
Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. III/1. Berlin/New York<br />
1972, S. 239–330.<br />
Ralws, John: Fairneß <strong>als</strong> Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 2006.<br />
Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993.<br />
Wagenknecht, Sahra: Estland: Prozess beenden – rechtsstaatliche Standarts durchsetzen!<br />
Presseerklärung vom 31.01.2008, http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/240.estland_<br />
prozess_beenden_rechtsstaatliche_standards_durchsetzen.html, 12.02.2008.<br />
Žižek, Slavoj: Im Takt des türkischen Marsches. In: Die Zeit, Nr. 2, 3. Januar 2008, S. 37.<br />
27 Žižek, Slavoj: Im Takt des türkischen Marsches. In: Die Zeit, Nr. 2, 3. Januar 2008, S. 37.<br />
28 Goethe, J. W. v.: Maximen und Reflexionen, Nr. 875.<br />
Dis | kurs 129
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Rechtsextremismus in Deutschland<br />
Wurzeln und aktuelle Erscheinungen vor dem Hintergrund<br />
des gesellschaftlichen Wandels und der Multikulturalität<br />
Sonja Meyer<br />
Hochschule Vechta, IBS<br />
E-Mail: sonja.meyer@mail.uni-vechta.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Rechtsextremismus, Multikulturalität, gesellschaftlicher Wandel<br />
„Ich betrachte das Nachleben des Nation<strong>als</strong>ozialismus in der Demokratie <strong>als</strong> potenziell<br />
bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Unterwanderung<br />
bezeichnet ein Objektives; nur darum machen zwielichtige Figuren ihr<br />
Comeback in Machtpositionen, weil die Verhältnisse sie begünstigen.“ 1<br />
Diese Ende der fünfziger Jahre von Theodor Wiesengrund Adorno (1903–1969) formulierte<br />
Warnung beschreibt in eindrücklicher Weise die Gefährdung der Demokratie<br />
durch den Nation<strong>als</strong>ozialismus und den Zusammenhang zwischen den sozialen<br />
Verhältnissen in einer Demokratie und der Begünstigung faschistischer Tendenzen<br />
durch die in der Gesellschaft herrschenden Verhältnisse. Welche Ursachen hat aber<br />
der in der Gegenwart existierende Rechtsextremismus, mit ihm der Hass auf das Unbekannte<br />
und in welchen Formen tritt er in der deutschen Gesellschaft auf? Welche<br />
Rolle spielen in diesem Zusammenhang die in Deutschland gegenwärtig zu konstatierenden<br />
sozialen Verhältnisse? An dieser Stelle sollen einige Zahlen erwähnt werden,<br />
welche die gegenwärtige Einstellung der Deutschen zum Antisemitismus widerspiegeln<br />
und keiner Kommentierung bedürfen: Laut einer Umfrage im August 2006<br />
1 Adorno, bei: Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 19.<br />
130 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
sind 21 % der Deutschen der Auffassung, dass Juden einen zu großen Einfluss haben,<br />
19,4 % meinen, dass Juden eine Mitverantwortung an ihrer Verfolgung tragen 2 .<br />
Extremismus<br />
Die sprachliche Herkunft des Wortes „Extremismus“ liegt in den lateinischen Begriffen<br />
extremus (dt. äußerst, entferntest, der ärgste, gefährlichste, schlechteste, verächtlichste)<br />
und extremitas (dt. der äußerste Punkt, Rand).<br />
Aus dieser normativen Sicht leitet sich der Extremismusbegriff ab, der alle Einstellungen,<br />
Verhaltensweisen, Institutionen und Ziele, die sich gegen den demokratischen<br />
Verfassungsstaat richten, umfasst 3 .<br />
In diesem Zusammenhang ist der Entstehungskontext des Grundgesetzes der Bundesrepublik<br />
Deutschland, welches am 23. Mai 1949 verabschiedet wurde, zu skizzieren:<br />
Aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Republik (1918–1933), in welcher antidemokratische<br />
Kräfte im Schutz der Verfassung die Republik zerstörten, entschied<br />
sich der Parlamentarische Rat dazu, Vorschriften in die Verfassung aufzunehmen, die<br />
ihren Wesenskern, die freiheitlich-demokratische Grundordnung 4 , vor Übergriffen<br />
schützt 5 . Der politische Extremismus hat immer die Destabilisierung des liberalen<br />
Verfassungssystems zum Ziel. Dabei hat er ein Interesse an der Eskalation der gesellschaftlichen<br />
Konflikte und der Gewalt, da diese Eskalation Wege zur Abschaffung<br />
des verhassten Systems eröffnen. Die Instrumentalisierung der verschiedenen gesellschaftlichen<br />
Konfliktfelder und Konfliktthemen stellt somit ein wesentliches Element<br />
2 Vgl. Zick, Andreas/Küpper, Beate: Antisemitismus in Deutschland und Europa. In:<br />
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte (31/2007),<br />
S. 12–19, S. 16.<br />
3 Vgl. Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus. Einige<br />
Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen,<br />
2000, S. 14.<br />
4 Die Definition des Begriffes der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch das<br />
Bundesverfassungsgericht im Jahr 1952: „So lässt sich die freiheitlich-demokratische<br />
Grundordnung <strong>als</strong> eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und<br />
Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung<br />
des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und<br />
Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens<br />
zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor<br />
allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität,<br />
die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der<br />
Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit<br />
für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung<br />
und Ausübung einer Opposition“ Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus<br />
– Linksextremismus 2000, S. 14 f.<br />
5 Vgl. ebd., S. 14.<br />
Dis | kurs 131
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
des politischen Extremismus dar 6 . Gemeinsame Charakteristika aller Extremisten<br />
stellen ihr Alleinvertretungsanspruch, ihre Ablehnung pluralistisch-demokratischer<br />
Systeme, ihr Dogmatismus, ihr Freund-Feind-Denken und ihr Fanatismus dar 7 .<br />
Als Rechtsextremismus gilt diejenige Form des Extremismus, die „das Prinzip<br />
menschlicher Fundamentalgleichheit negiert“ 8 . Dabei werden diejenigen extremistischen<br />
Bestrebungen, die ihre Wurzeln in nationalistischem und rassistischem Gedankengut<br />
haben, <strong>als</strong> rechtsextremistisch bezeichnet 9 . Nationalismus, die Überhöhung<br />
der eigenen Nation über andere, in aggressiver Form, verbunden mit Feindschaft<br />
gegen Ausländer, Hass gegen Minderheiten, fremde Völker und Staaten, militantdeutschnationalem,<br />
deutschvölkischem oder alldeutschem Gedankengut, sind dabei<br />
charakteristisch 10 .<br />
Ursprünge des Rechtsextremismus in Deutschland<br />
Der Ausdruck Antisemitismus wurde zeitlich kurz nach der Weltwirtschaftskrise von<br />
1873 durch den deutschen Schriftsteller Wilhelm Marr geprägt und ist ein Ausdruck<br />
für eine feindselige Einstellung gegenüber Menschen jüdischen Glaubens. Ferner<br />
kann der Begriff Antisemitismus <strong>als</strong> eine „verbindende Ideologie, welche die Welt <strong>als</strong><br />
von Juden dominiert und manipuliert erklärt“ bezeichnet werden 11 .<br />
Aus der deutschen Sprache fand der Ausdruck schnell Eingang in andere europäische<br />
Sprachen. Auch entstanden in Frankreich und Österreich zeitweilig antisemitische<br />
Massenorganisationen. Dennoch kann man sagen, dass antisemitische Tendenzen,<br />
Stimmungen und Argumente insgesamt überall verteilt waren. Es gab nur wenige<br />
entschiedene Gegner des Antisemitismus. Hintergründe dieser Einstellung sind von<br />
jeher religiöse, wirtschaftliche und fremdenfeindliche Motive. Im Laufe des 19. Jahrhunderts<br />
wurden die Juden zunehmend nicht mehr nur <strong>als</strong> Händler, Spekulanten<br />
oder Geldverleiher abgelehnt, sondern viele Menschen begriffen sie <strong>als</strong> „unheilvolle<br />
Schwungkräfte der Modernisierung und des Kapitalismus“ 12 . Als Hauptanklage-<br />
6 Vgl. Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche<br />
Straftaten in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe, 2002, S. 155.<br />
7 Vgl. Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus, S. 14.<br />
8 Vgl. ebd.<br />
9 Vgl. ebd., S. 15.<br />
10 Vgl. Benz, Wolfgang: Gewalt und Ideologie. Tradition und Strukturen rechtsextremen<br />
Denkens. In: Reinalter, Helmut/Petri, Franko/Kaufmann, Rüdiger (Hrsg.): Das Weltbild<br />
des Rechtsextremismus. Die Strukturen der Entsolidarisierung. Innsbruck/Wien 1998,<br />
S. 35–50, S. 40.<br />
11 Vgl. Maegerle, Anton: Rechtsextremistische Gewalt und Terror, 2002, S. 162.<br />
12 Vgl. Fenske, Hans/Mertens, Dieter/Reinhard, Wolfgang/Rosen, Klaus: Geschichte der<br />
politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1996, S. 488 f.<br />
132 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
punkte wurde ihnen vorgeworfen, die europäischen Völker kulturell zu überfremden<br />
und ein zu großes wirtschaftliches Gewicht zu besitzen. In Deutschland existierten<br />
antisemitische Tendenzen schon vor beziehungsweise während der Kaiserzeit, insbesondere<br />
während der Wilhelminischen Ära (1890–1918). Seinen grausamen Höhepunkt<br />
fand der deutsche Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus im<br />
Nation<strong>als</strong>ozialismus des „Dritten Reiches“ (1933–1945). Der Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
war eine seit 1919 bestehende politische Bewegung, die nach dem von Deutschland<br />
verlorenen Ersten Weltkrieg von revanchistischen und biologistischen Vorstellungen<br />
(wie dem Sozialdarwinismus, dem Rassismus und dem Antisemitismus) ausging 13 .<br />
Der Nation<strong>als</strong>ozialismus setzte sich zum Ziel, alles Fremde, „Nicht-Arische“ und<br />
„Schwache“, sowie alle Andersdenkenden, zum Beispiel Sozialdemokraten, zu vernichten.<br />
So lebte der Nation<strong>als</strong>ozialismus von Anfang an vom Feind-Prinzip (und<br />
der Identifizierung des jeweiligen Feindes mit bestimmten Wesenszügen) und der<br />
nationalistischen Ideologie. Diese Umstände führten schließlich zur Ermordung von<br />
zehntausenden von Geisteskranken, hunderttausenden von Sinti und Roma, sechs<br />
Millionen europäischer Juden sowie Millionen sowjetischer Kriegsgefangener 14 .<br />
Im Nation<strong>als</strong>ozialismus stand von Anfang an die kollektive Identität, im Sinne einer<br />
nationalistischen Ideologie, im Vordergrund. Die kollektive Identität wurde über<br />
die persönliche Identität gestellt. Dieser Umstand kommt unter anderem in dem im<br />
„Dritten Reich“ allgemeingültigen Grundsatz und Ausspruch „Du bist nichts, dein<br />
Volk ist alles“ zum Tragen. Ein weiteres Charakteristikum des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
stellten von Anfang an Mythen dar, welche <strong>als</strong> „nicht logisch nachvollziehbare Argumente“<br />
die „typischen Kommunikationsformen in rechtsextremen Diskursen“<br />
darstellen 15 . So kann an dieser Stelle beispielhaft der Mythos der „deutschen Mutter“<br />
im „Dritten Reich“ angeführt werden, welcher die Mutter im Sinne der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Ideologie mit ganz bestimmten Attributen <strong>als</strong> positiv besetzte 16 .<br />
Rechtsextremismus im Allgemeinen zeichnet sich durch das Zusammentreffen von<br />
bestimmten Charaktereigenschaften, wie Akzeptanz und Bereitschaft zu extremer<br />
Gewalt, Fremdenhass und Nationalismus und dem Bedürfnis nach einem Führer<br />
13 Vgl. Rüger, Felicia: Rechtsextremismus, 2001, S. 143.<br />
14 Vgl. Brumlik, Micha: Nation<strong>als</strong>ozialismus. In: Greiffenhagen, Martin/Greiffenhagen,<br />
Sylvia (Hrsg.): Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.<br />
Wiesbaden 2002, S. 286–289, S. 287. vgl. Schubert, Klaus/Klein, Martina: Das Politiklexikon.<br />
In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Schriftenreihe (Band 497). Bonn<br />
2006, S. 204.<br />
15 Vgl. Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 19.<br />
16 So galt es für die „deutsche Mutter“ im Nation<strong>als</strong>ozialismus beispielsweise <strong>als</strong> erstrebenswert,<br />
dem „Führer“ viele Kinder zu gebären und ein Gefühl des Stolzes zu empfinden,<br />
wenn ihr Sohn <strong>als</strong> Soldat für das Vaterland sein Leben lässt.<br />
Dis | kurs 133
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
und bedingungsloser Unterordnung aus 17 . Mit dem Führerprinzip in einem totalitären<br />
Staat wie dem Dritten Reich ist auch das Prinzip der Masse zu erwähnen, welches<br />
ein wesentliches Moment totalitärer Systeme darstellt.<br />
Heutige Erscheinungsformen und Elemente<br />
Heute existiert in Deutschland ein ausdifferenzierter Neonazismus, welcher seinen<br />
politischen Ausdruck in Form unterschiedlicher rechtsextremer Parteien, wie der<br />
Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), der Deutschen Volksunion<br />
(DVU) oder der Republikaner findet.<br />
Seit dem Jahr 1946 existieren rechtsradikale Parteien in Deutschland. Die erste war<br />
die Deutsche Reichspartei (DRP), von welcher sich im Jahr 1949 die Sozialistische<br />
Reichspartei (SRP) abspaltete. Im Jahr 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei<br />
vom Bundesverfassungsgericht <strong>als</strong> Nachfolgeorganisation der NSDAP verboten. Im<br />
Jahr 1964 entstand in Hannover aus dem Zusammenschluss der Deutschen Reichspartei<br />
mit verschiedenen Rechtsgruppen die NPD, welche zum Sammelbecken für<br />
rechtsextreme, neofaschistische Kräfte wurde. Die politischen Leitbilder der NPD<br />
können <strong>als</strong> Mischung aus Nationalismus, Rassismus und autoritär-romantischem<br />
Staatsdenken des 19. Jahrhundert bezeichnet werden. Ihre Ziele, Forderungen waren<br />
zu Beginn ihres Bestehens unter anderem die Rückgabe der Ostgebiete und die Beendigung<br />
der NS-Prozesse. Seit den 70er Jahren treten wieder verstärkt Gewaltaktionen<br />
seitens der Gruppierungen der NPD, der DVU und der Republikaner zu Tage. Auch<br />
ist der Umstand anzumerken, dass seit Ende der 80er Jahre wieder große Erfolge<br />
dieser Parteien bei Landtags- und Kommunalwahlen, vor allem in den von einer<br />
besonders hohen Arbeitslosigkeit geprägten Neuen Bundesländern, zu verzeichnen<br />
sind 18 .<br />
Gründe für eine besonders starke Rechte in den Neuen Bundesländern ergeben sich<br />
aus der Geschichte des von 1949 bis 1989 zweigeteilten Deutschlands. So war die<br />
DDR – im Gegensatz zur BRD – von Anfang an von der Mentalität einer bedingungslosen<br />
Treue zum Vaterland geprägt, da der Osten Deutschlands kurz nach 1945<br />
erneut in eine Diktatur, eine sozialistische Diktatur, geriet 19 . So erzielte die NPD<br />
bei der Kommunalwahl in Mecklenburg-Vorpommern am 17. September 2006 ein<br />
Wahlergebnis von 7,3 % (59.674 Stimmen). Dieses Ergebnis erlaubte ihr den Einzug<br />
17 Vgl. Rüger, Felicia: Rechtsextremismus, 2001, S. 143.<br />
18 Vgl. Müller, Helmut M.: Schlaglichter der deutschen Geschichte. In: Bundeszentrale für<br />
politische Bildung (Hrsg.): Schriftenreihe (Band 402). Leipzig/Mannheim 2003, S. 376 f.<br />
(siehe gesamter Absatz).<br />
19 Vgl. Heitmeyer, Wilhelm: Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische<br />
Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation.<br />
Weinheim/München 1995, S. 230.<br />
134 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
in den Schweriner Landtag 20 . Der Neonazismus lebt nach wie vor stark vom Feind-<br />
Prinzip. So stellen Neonazis heute beispielsweise die soziale Gruppe der Einwanderer<br />
<strong>als</strong> Verursacher für gesellschaftliche Konflikte (wie zum Beispiel eine hohe Arbeitslosenquote)<br />
dar 21 . Starke kollektive Identität steht nach wie vor im Vordergrund.<br />
Man identifiziert sich über sein „Deutsch-Sein“ in einer Art und Weise, die diesen<br />
Wesenszug über alles andere stellt. Diese Denkrichtung im Sinne einer „Integration<br />
durch Ausschluss“ 22 , auch <strong>als</strong> „Ethnozentrismus“ 23 bezeichnet, kann <strong>als</strong> Überfremdungsrhetorik<br />
zu den „Kernelementen“ jeder rechtsextrem-ethnozentrischen Propaganda<br />
gezählt werden: „Sie ist gleichermaßen in antisemitischen Pamphleten seit<br />
dem 19. Jahrhundert wie in zahlreichen rechtspopulistischen Bekundungen von heute<br />
enthalten“. Auch die Argumentation mit Hilfe des Sozialdarwinismus stellt nach<br />
wie vor einen großen Teil rechtsextremen Gedankenguts dar 24 .<br />
Als weitere zentrale Elemente des Rechtsextremismus müssen Aggressivität und<br />
Gewalt genannt werden. Zum Gewalt-Begriff kann zunächst allgemein festgehalten<br />
werden, dass sie <strong>als</strong> ein „Handeln von Individuen oder Gruppen, das auf andere Individuen,<br />
Gruppen oder Gegenstände auf destruktive Weise einwirkt“ 25 verstanden wird.<br />
Gewalt umfasst <strong>als</strong>o sowohl die verbale <strong>als</strong> auch die körperliche beziehungsweise<br />
materielle Destruktion. Sie wird auch <strong>als</strong> „ultimatives Mittel der Machtausübung im<br />
Rahmen einseitiger Über- oder Unterordnungsverhältnisse“ 26 aufgefasst. Gewalt setzt<br />
folglich eine auf Unverhältnismäßigkeit aufbauende soziale Verbindung voraus. Im<br />
Rechtsextremismus gilt Gewalt <strong>als</strong> im vornherein positiv besetzt. So wird sie, <strong>als</strong> Mittel<br />
zur Durchsetzung politischer Ziele, beispielsweise in neonazistischen Publikationsorganen,<br />
offen gerechtfertigt 27 .<br />
20 Vgl. http://www.bpb.de/themen/ZMQY70.html vom 27.09.06.<br />
21 Vgl. Inowlocki, Lena: Aus Familiengeschichte lernen? Zur Bedeutung und Geltung von<br />
„Herkunftswissen“ bei rechtsextremen Jugendlichen und Kindern von Arbeitsmigranten.<br />
Zwei Fallstudien. In: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Lieberz-Groß, Till (Hrsg.): „Erziehung<br />
nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische<br />
Annäherungen. Weinheim/München 2000, S. 67–86, S. 69.<br />
22 Heitmeyer, Wilhelm: Entsicherungen, Desintegrationsprozesse und Gewalt. In: Beck,<br />
Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in<br />
modernen Gesellschaften. Frankfurt/Main 1994, S. 376–401, S. 398.<br />
23 Heitmeyer, Wilhelm: Das Desintegrations-Theorem. Ein Erklärungsansatz zu fremdenfeindlich<br />
motivierter, rechtsextremer Gewalt und zur Lähmung gesellschaftlicher Institutionen.<br />
In: Ders. (Hrsg.): Das Gewalt-Dilemma. Frankfurt/Main 1994, S. 29–72, S. 31.<br />
24 Vgl. Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 19.<br />
25 Vgl. Kühnel, Wolfgang: Entstehungszusammenhänge von Gewalt bei Jugendlichen im<br />
Osten Deutschlands, 1994, S. 404.<br />
26 Vogel, 1989, S. 252, bei: Kühnel, Wolfgang: Entstehungszusammenhänge von Gewalt<br />
bei Jugendlichen im Osten Deutschlands, 1994, S. 404.<br />
27 Vgl. Maegerle, 2002, S. 160. So kann ein starker Anstieg von durchschnittlich circa 1300<br />
Dis | kurs 135
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Als ein weiterer bedeutender Faktor im Auftreten rechtsextremistischer Gruppierungen<br />
in der Öffentlichkeit gilt heute das Internet. So stellt es für Rechtsextreme eine<br />
Plattform zur Verbreitung ihrer Behauptungen dar und fungiert <strong>als</strong> Informationsund<br />
Schaltstelle für die Neonazi-Szene 28 . Auch ermöglicht das Internet eine schnelle<br />
Verbreitung von rechtsextremen Inhalten, zum Beispiel in Form von Gewaltvideos,<br />
Gewalt verherrlichender Musik mit fremdenfeindlichen Inhalten und Aufrufen zu<br />
Gewalttaten gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen 29 .<br />
Lange Zeit galten insbesondere die Anhänger aus so genannten „bildungsfernen“<br />
Schichten <strong>als</strong> empfänglich für rechtsextremes Gedankengut 30 . Doch heute ist auch<br />
das Phänomen zu beobachten, dass nicht nur Mitglieder der so genannten „bildungsfernen“<br />
Schichten die typischen Anhänger rechtsextremen Gedankenguts bilden. So<br />
verzeichnen rechtsextreme Parteien einen verstärkten Zulauf von Mitgliedern aus<br />
sich durch hohe Bildung auszeichnenden gesellschaftlichen Schichten, die äußerlich<br />
häufig nicht mehr <strong>als</strong> Rechte zu erkennen sind. Diese – vom Verfassungsschutz <strong>als</strong><br />
solche bezeichneten – „Wölfe im Schafspelz“ 31 folgen dem Prinzip der „kulturellen<br />
Subversion“, mit der sie das Ziel verfolgen, auf dem Weg durch die Institutionen<br />
maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft und somit die Kultur zu nehmen 32 . Hierbei<br />
bedienen sie sich einer Taktik, die darin besteht, Bürgernähe (zum Beispiel durch<br />
das Angebot von Kinderfesten und Sportturnieren) zu vermitteln und nicht durch<br />
einschlägige Symbole aufzufallen 33 .<br />
Straftaten jährlich in den 1980er Jahren auf durchschnittlich circa 4000 jährlich in den<br />
1990er Jahren verzeichnet werden (vgl. Willems, 2002, S. 145). „Die Zahl der Gewalttaten<br />
mit rechtsextremistischem Hintergrund (<strong>als</strong>o sowohl Gewalttaten gegen Fremde <strong>als</strong><br />
auch gegen Linke, jüdische Mitbürger und sonstige politische Gegner) hat sich von 624<br />
im Jahre 1996 auf 998 im Jahre 2000 und 980 im Jahre 2001 erhöht“ (BMI, 1999, S. 21;<br />
BMI, 2000; BMI, 2001, S. 35, bei: Willems, 2002, S. 145).<br />
28 Vgl. Parker, Klaus: Rechtsextremismus im Internet, 2002, S. 130.<br />
29 Vgl. ebd., S. 131. Folgende Zahlen für abrufbare Homepages mit rechtsextremen Inhalten<br />
liegen vor: Im Jahr 1996 waren es noch 32. Im Jahr 2000 existieren schon über 800 (vgl.<br />
Parker, 2002, S. 130). Auf diesen Homepages mit rechtsextremen Inhalten werden, <strong>als</strong><br />
Propaganda-Mittel, Hakenkreuze und SS-Runen verwendet, aber auch Tondateien mit<br />
volksverhetzender Zielrichtung veröffentlicht. Des Weiteren werden auf diesen Seiten die<br />
Opfer der NS-Diktatur verhöhnt und verächtlich dargestellt. Als weiteres Element ist die<br />
Leugnung von Völkermordhandlungen Nazi-Deutschlands zu nennen (vgl. ebd.).<br />
30 Vgl. Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche<br />
Straftaten in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe, 2002, S. 141.<br />
31 Ebd., S. 5.<br />
32 Vgl. Ramelsberger, Annette: Erkundungen in Ostdeutschland, 2005, S. 4 f. So ruft<br />
beispielsweise das Internetforum „Störtebeker-Netz“ die Rechtsextremisten dazu auf,<br />
sich <strong>als</strong> Schöffen zur Verfügung zu stellen, um dem „individuellen Rechtsempfinden“ einzelner<br />
Bürger im Rahmen eines Gerichtsbeschlusses Raum zu verleihen (vgl. ebd., S. 5).<br />
33 Vgl. Decker, Oliver/Brähler, Elmar: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, 2005,<br />
S. 16; vgl. Ramelsberger, Annette: Erkundungen in Ostdeutschland, 2005, S. 3 ff. (siehe<br />
136 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Des Weiteren sind in diesem Zusammenhang Gruppierungen zu nennen, die von einer<br />
Weltverschwörung ausgehen und rechtsextremistisches Gedankengut propagieren.<br />
Beispielhaft sei an dieser Stelle Lyndon LaRouche erwähnt. Zunächst war er Mitglied<br />
einer trotzkistischen Partei, zog sich dann jedoch vollkommen ins rechte Lager<br />
zurück. Seit dem Jahr 1976 kandidierte er bei allen US-Präsidentschaftswahlen. Ihm<br />
untersteht ein regelrechtes Finanzimperium. Er verbreitet seine Ideen sowohl in den<br />
USA <strong>als</strong> auch in Australien und Europa über Zeitschriften und Bücher. In Deutschland<br />
gründete er des Weiteren die Europäische Arbeiterpartei (EAP) 34 , welche vom<br />
Bundesverfassungsschutz beobachtet wurde. Zudem schuf er weitere Tarnorganisationen<br />
unter zahlreichen unterschiedlichen Namen. Im Jahr 1988 wurde er wegen Betrugs<br />
und Steuerhinterziehung in den USA zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt,<br />
doch bereits im Jahr 1994 entlassen 35 . In seinem Weltbild geht er davon aus, dass eine<br />
Verschwörung dunkler Mächte existiert, die in erster Linie von den Juden und jüdischen<br />
Banken geführt würden. Hierbei bedient er sich antisemitischer Parolen, welche<br />
bereits von den Nation<strong>als</strong>ozialisten eingesetzt wurden, indem sie vom westlichen<br />
Kapitalismus und den Regierungen in London und Washington <strong>als</strong> „Marionetten der<br />
vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung“ 36 sprachen 37 .<br />
Rechtsextremismus im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels<br />
Laut einer Aussage des Politologen Kurt Lenk ist insgesamt ein erstaunlich hoher<br />
Grad an Kontinuität in rechtsextremistischen Argumentationsmustern zu konstatieren.<br />
Dieses Zitat umschreibt deutlich, wie sehr der Rechtsextremismus nach wie<br />
vor von ganz bestimmten Elementen lebt, welche sich wie ein roter Faden durch die<br />
Geschichte des Rechtsextremismus ausgehend vom Nation<strong>als</strong>ozialismus ziehen, wie<br />
zum Beispiel dem Feind-Prinzip, einem „Antimodernismus“, welcher sich vor allem<br />
gegen kulturelle Phänomene richtet, einem „Anti-Intellektualismus“, von „Feindbildern“<br />
oder dem „Sozialdarwinismus“ 38 .<br />
gesamter Absatz).<br />
34 Die EAP tritt gegenwärtig unter dem Namen „Bürgerrechtsbewegung Neue Solidarität“<br />
oder „Patrioten für Deutschland“ vor allem im politischen Geschehen auf http://www.<br />
religio.de/politik/eap/eap.html, Stand: August 2001).<br />
35 Vgl. Gugenberger, Eduard/Petri, Franko/Schweidlenka, Roman: Weltverschwörungstheorien.<br />
Die neue Gefahr von rechts. Wien/München 1998, S. 142 f. (siehe alle Angaben<br />
zur Person LaRouche, bis auf vorherige Literaturangabe).<br />
36 Vgl. Longerich, Peter: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung<br />
1933–1945. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Schriftenreihe<br />
(Band 557). Bonn 2006, S. 160.<br />
37 Vgl. ebd.<br />
38 Vgl. Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 21 (siehe gesamter<br />
Absatz).<br />
Dis | kurs 137
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Als heute hinzukommende neue Themen rechtsextremer Argumentation kann<br />
erstens die Krise des heutzutage in Deutschland (noch) bestehenden Sozi<strong>als</strong>taates<br />
genannt werden und ein sich hieraus ergebendes für rechtsextremes Gedankengut<br />
empfängliches Klima:<br />
„Die wirtschaftliche Krise und der strukturelle Umbau des Sozi<strong>als</strong>taats erfassen nun<br />
auch Schichten der Bevölkerung mit höherem Bildungsabschluss. Der bundesdeutsche<br />
Mittelstand ist von sozialen Deklassierungen bedroht, wie sie bisher in der Breite nur<br />
Angehörigen bildungsferner Schichten drohten.“ 39 Die aktuellen Umstrukturierungen,<br />
vor allem bezüglich des Sozi<strong>als</strong>taates, führen in ihren Augen zur zunehmenden „Deklassierung“<br />
vieler Angehöriger des deutschen Mittelstandes. Zum Ziel rechtsextremistischer<br />
Argumentation gehört es nun, diese „Modernisierungsverlierer“ 40 für sich<br />
zu gewinnen 41 .<br />
Als zweites für die rechtsextreme Argumentation relevantes Thema kann das Phänomen<br />
der Globalisierung und das aus ihr resultierende Spannungsfeld erwähnt werden:<br />
Die aus dem Prozess der Globalisierung folgende zunehmende internationale<br />
Konkurrenz und die sich hieraus bei vielen Menschen ergebende Angst bietet dem<br />
rechtsextremen Lager einen Raum zur Propagierung einer ihrer zentralen Forderungen:<br />
eine Begrenzung der Einwanderungsmöglichkeiten 42 . Als drittes (und eng mit<br />
dem Phänomen der Globalisierung zusammenhängendes) Thema kann die Erscheinung<br />
des Multikulturalismus genannt werden, welcher sich vor allem aus den Einwanderungsbewegungen<br />
in „reiche“ Industriestaaten (hier Deutschland) ergibt. Die<br />
von aus den unterschiedlichsten sozialen Bereichen stammenden Globalisierungsgegnern<br />
vorgenommene Kritik kann <strong>als</strong> viertes „neues Thema“ der Rechten genannt<br />
werden. Diese „antikapitalistische Globalisierungskritik und der Nahostkonflikt“<br />
stellen zusätzliche „Agitationsfelder und Bündnispartner“ für die rechtsextremistischen<br />
Gruppierungen dar, wobei der Antisemitismus die zentrale Rolle spielt. Das<br />
Judentum stellt folglich einen gemeinsamen Feind der Rechtsextremen und radikalen<br />
Moslems dar 43 . So stellen Rechtsextremisten die Globalisierung im Sinne eines<br />
„amerikanisch-israelitischen Weltherrschaftsanspruchs“ <strong>als</strong> „Amerikanisierung und<br />
Judaisierung“ dar.<br />
39 Decker, Oliver/Brähler, Elmar: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, 2005,<br />
S. 17.<br />
40 Loch, Dietmar: Die radikale Rechte in den westlichen Demokratien: „Geschlossen gegen<br />
die offene Gesellschaft“?, 2001, S. 467.<br />
41 Vgl. ebd.<br />
42 Vgl. Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche<br />
Straftaten in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe, 2002, S. 155.<br />
43 Vgl. Bergmann, Werner: Antisemitismus im Rechtsextremismus, 2005, S. 27 f.<br />
138 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands in den Augen der<br />
Rechtsextremen<br />
In den Augen Rechtsextremer existieren in einer multikulturellen Gesellschaft drei<br />
zentrale Gefahren: Erstens resultiert die rechtsextreme Argumentation aus der Überzeugung,<br />
dass sie die nationale Identität durch die pluralistische Demokratie und das<br />
westliche Werteverständnis, welches vor allem <strong>als</strong> durch „das Besatzungsregime aufoktroyiertes<br />
Werteverständnis“ aufgefasst wird, gefährdet sieht. Mit der Bezeichnung<br />
des „durch das Besatzungsregime aufoktroyierten Werteverständnisses“ spielen die<br />
Rechtsextremisten auf die Situation Deutschlands kurz nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
an. Die westlichen Alliierten initiierten zur Formulierung einer Verfassung für<br />
Deutschland schließlich die Zusammenkunft des Parlamentarischen Rates. Das vom<br />
Parlamentarischen Rat verabschiedete Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland<br />
legt die Prinzipien, allen voran das Demokratie- und mir ihr das Rechts- und<br />
Sozi<strong>als</strong>taatlichkeitsprinzip, ferner das Föderalismusprinzip, fest.<br />
Auch fassen sie, <strong>als</strong> zweiten Kritikpunkt, die Globalisierung insofern <strong>als</strong> negativ auf,<br />
<strong>als</strong> dass in ihren Augen Zuwanderung und ethnische Minderheiten eine Bedrohung<br />
für die angestrebte „ethnische Homogenität“ darstellen. In rechtsextremistischen<br />
Kreisen versteht man die „Einwanderung der vergangenen Jahrzehnte und die multikulturelle<br />
Gesellschaft <strong>als</strong> ein von ‚Hintergrundkräften‘ gesteuertes Vorhaben zur<br />
Schwächung der ethnischen Substanz Deutschlands“. Folglich ist festzuhalten, dass<br />
sich Rechtsextreme in ihrer Argumentation auch des Instrumentes der Verschwörungstheorie<br />
bedienen. Gleichzeitig schaffen sie sich durch die Bezeichnung „Hintergrundkräfte“<br />
für die Suche nach einem Feind den nötigen Raum.<br />
Die mit den Erscheinungen der multikulturellen Gesellschaft einhergehende kritische<br />
Aufarbeitung der Geschichte des „Dritten Reiches“ stellt für Rechtsextremisten<br />
die dritte zentrale Gefahr dar. Für sie bedeutet diese kritische Aufarbeitung vor allem<br />
eine Entwertung der NS-Ideologie und die Verhinderung eines „positiven Selbstbildes“<br />
der Deutschen 44 .<br />
Ausblick<br />
Moderne Gesellschaften sind durch zunehmende Komplexität in Folge von Prozessen<br />
wie der Individualisierung und der Globalisierung geprägt. Das mit diesen Prozessen<br />
einhergehende Phänomen der Multikulturalität (<strong>als</strong> Ausdruck von Migration)<br />
prägt moderne Gesellschaften, wie die deutsche in hohem Maße. Das sich aus diesen<br />
Prozessen und Phänomenen ergebende Spannungsfeld führt in der Bevölkerung nun<br />
zu Ängsten und Konflikten unterschiedlichster Art. Extremistischen Gruppierungen,<br />
44 Vgl. Bergmann, Werner: Antisemitismus im Rechtsextremismus, 2005, S. 23 ff. (siehe<br />
gesamter Absatz).<br />
Dis | kurs 139
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
wie der rechtsextremen, ist eigen, sich dieser Ängste zu bedienen und sie für ihre Ziele<br />
– allen voran: den Umbruch des bestehenden Staates – zu instrumentalisieren. So<br />
nehmen die Rechtsextremisten bewusst massenwirksame Themen, wie die hohe Arbeitslosigkeit,<br />
zum Anlass, ein für dieses Phänomen in ihren Augen verantwortliches<br />
Feindbild zu entwerfen und somit niedere menschliche Instinkte anzusprechen.<br />
Den Rechtsextremismus zeichnen sowohl Kontinuitäten <strong>als</strong> auch völlig neue Erscheinungen<br />
aus. So lebt er nach wie vor von ganz bestimmten Elementen wie dem<br />
Prinzip des Feindbildes, der Gewalt, dem Fremdenhass und dem Antisemitismus.<br />
Eine neue Erscheinung des Rechtsextremismus ist beispielsweise die zunehmende<br />
Kooperation dieses mit internationalen terroristischen Vereinigungen (wie islamistischer<br />
Terror-Vereinigungen), die ein gemeinsames Feindbild, wie das Judentum,<br />
eint. Der Rechtsextremismus hat <strong>als</strong>o, angesichts der sich durch die Globalisierung<br />
verändernden Situation, neue Ausmaße beziehungsweise Qualitäten angenommen.<br />
Hierbei muss insbesondere die Stellung der Rechtsextremisten gegenüber den Erscheinungen<br />
der Globalisierung ins Auge gefasst werden, wobei sie in erster Linie ein<br />
Agitationsfeld zum „Ausleben“ ihres Antisemitismus sehen. In diesem Zusammenhang<br />
ist ferner das durch Rechtsextreme verwandte Instrument der Verschwörungstheorie<br />
mit zumeist antisemitischem Charakter zu erwähnen.<br />
Heute existieren eine Reihe von Gegebenheiten, die den Rechtsextremismus auch<br />
zukünftig <strong>als</strong> gefährlich für eine multikulturelle Gesellschaft (hier am Beispiel der<br />
deutschen) einstufen lassen. Hierbei kann zum Beispiel die hohe Arbeitslosigkeit<br />
und der absehbare Zusammenbruch (beziehungsweise die Neu-Definition) des gegenwärtig<br />
– noch – existierenden Sozi<strong>als</strong>taats in Deutschland, und der mit dieser<br />
Situation des sozialen Umbruchs gegebene Nährboden für verstärkten Zulauf für<br />
rechtsextremistische Parteien genannt werden.<br />
Auch bedeutet der Rechtsextremismus für multikulturelle Gesellschaften insofern<br />
eine Gefahr, <strong>als</strong> dass deren Anhänger alle Formen von Pluralismus und jede Art von<br />
konstruktivem „Wir-Gefühl“ in einer Gesellschaft verneinen. Somit bedienen sie sich<br />
des Instruments der Unterwanderung, wie in der eingangs erwähnten Warnung Adornos<br />
formuliert, indem sie <strong>als</strong> „Wölfe im Schafspelz“ die Gesellschaft unterwandern<br />
und den Menschen Antworten und Feindbilder präsentieren.<br />
Literatur<br />
Bergmann, Werner: Antisemitismus im Rechtsextremismus. In: Bundeszentrale für<br />
politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus (42/2005),<br />
S. 23–30.<br />
Decker, Oliver / Brähler, Elmar: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. In: Bundeszentrale<br />
für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus<br />
(42/2005), S. 8–17.<br />
Kühnel, Wolfgang: Entstehungszusammenhänge von Gewalt bei Jugendlichen im Osten<br />
140 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Deutschlands. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung<br />
in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1994, S. 402–418.<br />
Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“. In: Bundeszentrale für politische Bildung<br />
(Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus (42/2005), S. 17–22.<br />
Loch, Dietmar: Die radikale Rechte in den westlichen Demokratien: „Geschlossen“ gegen<br />
die „offene Gesellschaft“? In: Loch, Dietmar/Heitmeyer, Wilhelm, (Hrsg.): Schattenseiten der<br />
Globalisierung, Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in<br />
westlichen Demokratien. Frankfurt am Main 2001, S. 463–496.<br />
Maegerle, Anton: Rechtsextremistische Gewalt und Terror. In: Grumke, Thomas/Wagner,<br />
Bernd (Hrsg.): Handbuch Rechtsradikalismus, Personen – Organisationen – Netzwerke vom<br />
Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen 2002, S. 159–172.<br />
Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus. Einige Anmerkungen<br />
zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen.<br />
In: Schubarth, Wilfried/Stöss, Richard (Hrsg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Eine Bilanz. Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe (Band 368).<br />
Bonn 2000, S. 13–37.<br />
Parker, Klaus: Rechtsextremismus im Internet. In: Grumke, Thomas/Wagner, Bernd (Hrsg.):<br />
Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus<br />
bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen 2002, S. 129–140.<br />
Ramelsberger, Annette: Erkundungen in Ostdeutschland. In: Bundeszentrale für politische<br />
Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus (42/2005), S. 3–8.<br />
Rüger, Felicia: Rechtsextremismus. Zusammenhänge mit der aktuellen Lebenssituation in<br />
Deutschland. Europäische Hochschulschriften. Frankfurt am Main 2001.<br />
Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten in<br />
Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe. In: Grumke, Thomas/Wagner, Bernd<br />
(Hrsg.): Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus<br />
bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen 2002, S. 141–158.<br />
Dis | kurs 141
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Öffentlicher Repräsentant – Repräsentant der<br />
Öffentlichkeit.<br />
Das Medium Herold in der ersten Hälfte des<br />
16. Jahrhunderts<br />
Nils Bock<br />
Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />
E-Mail: Nils-Bock@web.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Spätmittelalter, Symbolische Kommunikation, Herold, Öffentlichkeit<br />
Öffentlichkeit im Mittelalter war situationsabhängig. Im Gegensatz zur Öffentlichkeit<br />
der Moderne, bei der jedem einzelnen Bürger eine entscheidende Rolle zukommt,<br />
spricht man im Mittelalter von einer „okkasionellen Öffentlichkeit“. Dabei geht es<br />
um die situationsabhängige Präsenz bestimmter Personen, die durch „repräsentatives“<br />
Handeln die Öffentlichkeit bilden. Ihre Anwesenheit <strong>als</strong> „aktive“ Zeugen ermöglicht<br />
erst die politische Wirksamkeit des Vorgangs. 1 Man unterscheidet innerhalb<br />
der „okkasionellen Öffentlichkeit“ zwischen der „repräsentativen Öffentlichkeit“<br />
mit der exklusiven Partizipation der Herrschenden und der „repräsentierenden Öffentlichkeit“<br />
mit der Teilnahme größerer Kreise der Bevölkerung. Anlässe für das<br />
Zusammentreten von Öffentlichkeit waren vielfältig und erfolgten im Rahmen der<br />
kirchlichen Gemeinde, der Stadt oder der weltlichen Herrschaft. Innerhalb der „repräsentativen<br />
Öffentlichkeit“ der Herrschenden kam es dabei auf die Sichtbarmachung<br />
der Herrschaftsansprüche der Mächtigen an, wohingegen die Legitimation<br />
1 Thum, Bernd: Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von<br />
Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert, in:<br />
Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. von Hedda Ragotzky und<br />
Horste Wenzel, Tübingen 1990, S. 66–70.<br />
142 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
der sozialen Herrschaftsordnung innerhalb der „repräsentierenden Öffentlichkeit“<br />
im Mittelpunkt stand. 2 Das wichtigste Kommunikationsmittel waren in diesem Zusammenhang<br />
Rituale und Zeremonien. Sie wurden bewusst geplant und entworfen<br />
und dienten der symbolischen Kommunikation. Gesten, Handlungen oder Rangordnungen<br />
haben eine symbolische Funktion, durch die Werte und Ordnungen aufgezeigt<br />
bzw. propagiert werden sollten. 3<br />
Eine wichtige Rolle kam dabei den Medien zu, welche die Rolle des Vermittlers<br />
übernahmen. Sie konnten auf Grund ihres spezifischen Zeichenvorrats in den Zeremonien<br />
durch symbolische Kommunikation Bedeutung herstellen und sie der<br />
Wahrnehmung des Gegenübers darbieten. Ein solches Medium war der Herold. Er<br />
entstammt zwar der ritterlich-höfischen Gesellschaft, konnte aber auch neben modernen<br />
Elementen wirken. 4 Dabei darf man ihn allerdings nicht <strong>als</strong> sinnentleertes,<br />
hohles Relikt einer alten Zeit betrachten, das mitgeschleift wurde, sondern <strong>als</strong> semantische<br />
Veränderung des Ursprünglichen. Seine Interaktion mit den modernen<br />
Elementen ermöglicht daher Rückschlüsse auf seine eigene Vitalität. Eine entscheidende<br />
Bedeutung spielen dabei die Herrschaften ‚des letzten Ritters‘ Maxmilian I.<br />
und des ‚Weltenherrschers‘ Karl V., in denen der Wertewandel zwischen Mittelalter<br />
und Früher Neuzeit statt gefunden haben soll. 5 Welchen Einfluss hatte dieser auf den<br />
Einsatz der Herolde? In einem ersten Abschnitt werde ich zunächst einmal darstellen<br />
auf welche Weise die Herolde in der Öffentlichkeit wirkten bzw. eingesetzt wurden.<br />
Danach werde ich der Frage nachgehen, welche Inhalte über den Herold ausgedrückt<br />
wurden und schließlich wie das Medium Herold zu Gunsten seines Herrn in Szene<br />
gesetzt wurde.<br />
Abgesehen von dem reichhaltigen Material der Zeremonieberichte und historiographischen<br />
Quellen, die im zweiten Teil Quellengrundlage sein werden, bietet auch<br />
die Lyrik und Epik interessante Ansatzpunkte. Da Kaiser Maximilian I. selber auch<br />
literarisch tätig war, ist es interessant zu beobachten, welche Funktionen und Platz er<br />
den Herolden in seinen Werken zu kommen lässt. Im Zentrum seiner literarischen<br />
Vorhaben stand das gedechtnus. Dieses sollte unter anderem durch die panegyrische<br />
Darstellung der eigenen Taten in Text und Bild der Nachwelt vermittelt werden. In<br />
diesem Punkt fand sich eine Übereinstimmung mit der humanistischen Vorstellung<br />
2 Schenk, Gerrit Jasper: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen<br />
Reich, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 59–61.<br />
3 Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt<br />
2003.<br />
4 Zur ritterlich-höfischen Gesellschaft siehe: Paravicini, Werner: Die Ritterlich-höfische<br />
Kultur des Mittelalters, München 1994.<br />
5 Vgl. Grün, Anastasius: Der letzte Ritter, München 1830 (Bibliothek der deutschen Literatur).<br />
Zum Wertewandel siehe: Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1969 10 .<br />
Dis | kurs 143
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
vom ewigen Nachruhm in den Werken der Dichter und Künstler. Diese gemeinsame<br />
Wirkungsintention der gedechtnus ist es auch, die eine vergleichende Untersuchung<br />
von unterschiedlichen Gattungstraditionen verhafteten Werken wie Teuerdank, Ehrenpforte,<br />
Magnamimus, Triumphzug rechtfertigt. 6 Für die vorliegende Arbeit werde<br />
ich exemplarisch an Hand des „Triumphzug“ und „Teuerdank“ die Figur des Herolds<br />
in den Werken Maximilians behandeln.<br />
Der „Triumphzug“ ist eine überdimensionale Allegorisierung des kaiserlichen Lebens.<br />
Wie beim antiken Triumphzug auch, so bot dieser Zug viel Platz zur Repräsentation.<br />
Er sollte die Erinnerung an den Hofstaat, das adelige Gefolge und die Verwandten<br />
Maxmilians festhalten sowie seine Überlegenheit in allen höfischen Bereichen rühmen.<br />
Des Weitern sollten die Länder seines Hauses, die Dynastie, die Siege sowie die<br />
Staatsakte für die Ewigkeit festgehalten werden. Dabei prägte allerdings die antike<br />
Form herrscherlicher Selbstdarstellung weder die Kostüme der Personen noch die<br />
Inhalte. Der römische Triumph diente <strong>als</strong> Rahmen zur Darstellung des Herrscherhauses<br />
und der res gestae Maximilians. 7 Über die Position der Herolde, in der von<br />
Maxmilian entworfenen Zugordnung, geben die Aufzeichnungen des kaiserlichen<br />
Geheimschriebers Marx Treitzsaurwein Auskunft:<br />
Reichs Trumeter<br />
Item darnach sollen ai guet Antzal Trumeter vnd paugker reiten mit des Reichs<br />
vanen an Iren Trumeten vnnd die lobkrenntzle aufhaben.<br />
Erholden<br />
Darnach sollen ain Antzal Erholden Reiten mit Iren Erholddrücken, vnn die lobkrenntzle<br />
aufhaben.<br />
Reichspanner<br />
Item darnach des Reichs paner solle Cristof zu Ross fueren im harnasch vnnd das<br />
lob krenntzle aufhaben, vnn solle der Adler mit dem zway heupten sein.<br />
Reichsswert<br />
Item darnach solle der Reichsmarschalk das swert zu Ross fueren, vnd das lob<br />
krenntzle aufhaben vnd kostlichen geklaidt sein.<br />
6 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft Maxmilian I. München 1982<br />
(Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 2), S. 80–95. „Gedechtnus“<br />
meint erstens liturgische memoria in religiösen Stiftungen und Gebetsdienst, zweitens<br />
die überhöhende Darstellung der eigenen Taten in Text und Bild für die Nachwelt, drittens<br />
geht es dabei um die Sicherung und Ergänzung historischer Überlieferung aller Art<br />
und viertens wird auch das Mäzenatentum <strong>als</strong> Ausdruck von gedächtnus angesehen, weil<br />
von Maximilian angeregt, das Reich und Kaisertum, die Dynastie sowie sein eigenes Bild<br />
ins Zentrum ihm gewidmeter Dichtung, Geschichtswerke, Editionen und Übersetzungen<br />
gestellt wird.<br />
7 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 150–153.<br />
144 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Kaisers Tryumpf Wagen 8<br />
(Es folgt eine Beschreibung des Triumphwagens)<br />
In diesem Zug gehen die Ernholde, eine volksethymologische Umformung des Lehnworts<br />
Erald (französisch für Herold), direkt vor dem Reichsbanner, dem Reichsschwert<br />
und dem kaiserlichen Triumphwagen. Da es sich dabei um einen erdachten<br />
Zug aus der Hand des Kaisers handelt, ist der Triumphzug auf seinen Vorstellungen<br />
in Reinform aufgebaut. Diese basieren auf Werten und Ordnungen, die in Symbolen<br />
repräsentiert sind. Das Reichsbanner ist das Hoheitszeichen und das Reichsschwert<br />
ist die symbolische Verkörperung der Macht, Stärke sowie Wehrhaftigkeit der Monarchie.<br />
Dabei drängt sich die Frage auch wofür die Herolde stehen und welche Werte<br />
durch ihre unmittelbare Nähe zum Kaiser ausgedrückt wurden. Des Weiteren ist auf<br />
den Kontrast zwischen Alt und Neu zu achten, der vor allem in der bildlichen Umsetzung<br />
deutlich wird. Während die Herolde und die Reichsinsignien noch ganz in<br />
der Tradition des Mittelalters stehen, erscheint der Kaiser <strong>als</strong> Renaissancefürst in der<br />
Tradition Cäsars auf seinem Triumphwagen.<br />
Im Gegensatz dazu versuchte sich Maxmilian im „Teuerdank“ ganz in der Tradition<br />
der ritterlichen Abenteuerfahrten darzustellen. 9 Der 1517 erstm<strong>als</strong> gedruckte und<br />
1519 öffentlich erschiene „Teuerdank“ ist ein Versepos, das die sogenannten Heldenbücher<br />
der ritterlich-höfischen Epik imitiert. Das Epos erzählt die ritterliche Werbungsfahrt<br />
des Helden Teuerdank zu Erenreich, der Tochter Romreichs. Einzig von<br />
seinem Ernhold begleitet besteht er 88 geferlicheiten, welche die drei verräterischen<br />
Hauptleute der Königin – Fürwittig, Unfallo und Neydelhart – aufgestellt haben.<br />
Nach weitern Kämpfen am Hof erringt er die Hand der Königin. Die drei Hauptleute<br />
werden angeklagt und hingerichtet. Die Hochzeit wird wegen eines bevorstehenden<br />
Kreuzzugs zunächst noch verschoben. Der letzte Holzschnitt zeigt Teuerdank auf<br />
8 Schestag, Franz: Kaiser Maximilian I. Triumph, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen<br />
Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, 1883, Bd. 1, S. 170. Der Triumphzug ist<br />
vom Kaiser selbstständig erdacht und von Marx Treitzsaurwein 1512 schriftlich fixiert<br />
worden. MS k.und k. Hofbibliothek Nr. 2835. Der Triumphzug sollte <strong>als</strong> Holzschnitt<br />
von 57 m Länge ausgeführt werden. 1515 wurden die Arbeiten am Holzschnitt von H.<br />
Burgkmair, A. Altdorfer, H. Springinklee, A. Dürer u. a. zwar aufgenommen, blieben aber<br />
unvollständig. Die fertigen Holzschnitte können in der Edition von Appuhn, Horst: Der<br />
Triumphzug Kaiser Maxmilians I. 1516–1518. 147 Holzschnitte von Albrecht Altdorfer,<br />
Hans Burgkmair, Albrecht Dürer u. a. Mit dem vom Kaiser Maximilian diktierten Programm<br />
und einem Nachwort von Horst Appuhn, Dortmund 1979, betrachtet werden.<br />
9 Die Erstausgabe von 1517 mit ihren 118 Holzschnitten ist <strong>als</strong> Facsimile-Ausgabe 1888<br />
erschienen; Maximilian I.: Der Theuerdank, hg. v. Simon Laschitzer, Wien 1888 (Jahrbuch<br />
der Kunsthistorischen Sammlung in Wien, 8). Weitere Ausgaben: Maximilian I.:<br />
Der Teuerdank, hg. v. Helga Unger, München 1968 (Die Fundgrube, 40) und Maximilian<br />
I.: Der Theuerdank, hg. v. Horst Appuhn, Dortmund 1979 (Die bibliophilen Taschenbücher,<br />
121).<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
einem Rad oder Kranz aus Schwertern, was unter Einbezug des Titels des Kapitels<br />
<strong>als</strong> Bild für den Triumph des gluckhafftige Held über die Wechselfälle des Schicks<strong>als</strong><br />
steht. In Teuerdanks Ritterfahrt kommt letztlich die dignitas hominis zum Ausdruck,<br />
d.h. die Fähigkeit des Menschen mit Hilfe seiner ratio seine unvollkommende natürliche<br />
Ausstattung zu kompensieren und seine Platz an der Spitze der Schöpfung zu<br />
bewahren. 10 Begleitet wird der Held von seinem Ernhold, der auf fast allen der 118<br />
von Hans Schäufelein, Hans Burgkmair und Leonhard Beck gefertigten Holzschnitte<br />
am Rande zu sehen ist. Seine Aufgabe wird von Teuerdank am Anfang der Fahrt wie<br />
folgt definiert:<br />
Teuerdank sprach: Lieber Ernhold mein,<br />
Gueter und hochvertrauter Knecht,<br />
Vernimm diese meine Wort recht:<br />
Ein edle Künigin hat gesandt<br />
Iren Boten her in mein Land<br />
Und mich gar ser lassen bitten,<br />
Daß ich wöll kommen geritten<br />
Zů ir in ir Land an all Rast,<br />
Dann si von Herzen beger fast<br />
Mein zů der Ee dem Sakrament.<br />
Darumb so rüst dich zů behend,<br />
Wann du auf solcher Reis allein<br />
Mein getreuer Gefert můßt sein,<br />
Damit du künftig mügst darvon<br />
Ein wahrhaftig Kundschaft ton.<br />
Der Erenhold im Antwort gab:<br />
Herr, darumb ich den Namen hab,<br />
Daß ich eins jeden erlich Tat<br />
Soll offenwaren fru und spat,<br />
Und strafen seer in allen Land<br />
Laster, Untugend und die Schand;<br />
Dann alles in der Welt zergeet<br />
Ausgenommen die Eer beleibt steet. 11<br />
Ernhold soll <strong>als</strong> Augenzeuge die Fahrt begleiten und von den Taten berichten. Der<br />
Wahrheit durch seinen Namen verpflichtet, bürgt er öffentlich für die Richtigkeit der<br />
Ereignisse, welche den Ruhm des Helden steigern. Er nimmt an der Handlung teil<br />
10 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 129.<br />
11 Maximilian, Teuerdank, Kap. 11.<br />
146 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
und ist doch nicht aktiv handelnde Person. Der Herold ist Zeuge des Geschehens<br />
und stellt erst durch seine Anwesenheit die nötige Öffentlichkeit zur Anerkennung<br />
des ritterlichen Verhaltens Teuerdanks her. 12 Des Weiteren ist Ernhold <strong>als</strong> Repräsentant<br />
seines Herrn mit dem Wappenrock bekleidet, auf dem das Rad der Fortuna<br />
abgebildet ist, wodurch die Herrschaft Teuerdanks über das Glück <strong>als</strong> domitor fortunae<br />
zum Ausdruck kommt. Seine Auserwähltheit und das glückliche Ende seiner<br />
Fahrt wird dem Leser bzw. viel mehr dem Betrachter der Holzschnitte während des<br />
gesamten Abenteuers in der Person Ernholds illustriert. 13<br />
Der in beiden Werken zu beobachtende diametrale Gegensatz der Funktionen der<br />
Herolde – Akteur/Beobachter – ist dagegen weder der Gattung noch dem Stil des<br />
Arbeit geschuldet, sondern ist Resultat der Entwicklung des Heroldsamtes, auf die<br />
nun eingegangen werden soll.<br />
Der Ursprung des Heroldswesens liegt in der sich herausbildenden Turnierkultur des<br />
Hohen Mittelalters und den aufkommenden heraldischen Gewohnheiten. Diese bildeten<br />
den Ausgangspunkt für die Genese der Herolde aus der Gruppe der fahrenden<br />
Leute. Die Herolde konnten die einzelnen Kämpfer anhand ihrer Wappen und Zeichen<br />
erkennen. Ihr Spezialwissen erwarben sie durch Erfahrung der verschiedensten<br />
Turniere in Europa, die sie zum Bestreiten ihres Unterhaltes besuchten. Sie wurden<br />
im deutschsprachigen Bereich knappen von den wâpen genannt. Neben der Kenntnis<br />
der Wappen und Namen konnten die so Bezeichneten auch die bisherigen Taten und<br />
Erfolge der einzelnen Kämpfer zum Besten geben und ihre Ehre und Würde preisen.<br />
Doch auch die Vergehen und Bosheiten sollten dabei nicht vergessen werden und<br />
wurden in Schmähliedern bestraft. Vor allem auf die Sieger der Turniere dichteten<br />
sie Lobeshymnen und baten so mit den anderen Fahrenden um Geschenke, die diese<br />
wiederum in ihrer Freigiebigkeit gern gaben. 14<br />
Ab dem 14. Jahrhundert veränderte sich die Situation grundlegend, <strong>als</strong> ein Teil der<br />
Herolde in ein festes Dienstverhältnis an fürstlichen Höfen gelangten. Dies förderte<br />
ihre Integration in das höfische Leben. Ausdruck ihres Dienstverhältnisses waren<br />
ihre eigene Amtskleidung und ihre signifikanten Amtsnamen. Der Wappenrock<br />
ihres Herrn und ihr Dienstname dienen immer noch der Identifizierung des Herolds.<br />
Der Dienstname nahm meistens auf eine Herrschaft des Herrn (z. B. Gelre/<br />
Gueldre, Bretagne oder Teutschland), später aber auch auf den Ritterorden, dem sie<br />
12 Zur weiteren Funktion des Ernholds und der „clavis“, vgl. Strohschneider, Peter: Ritterromantische<br />
Versepik im ausgehenden Mittelalter, Frankfurt a. M. (u. a.) 1986 (Mikrokosmos.<br />
Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, 14), S. 411–413.<br />
13 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 129.<br />
14 Vgl. Conrad von Würzburg (1230–1287), Turnei von Nantheiz, in: Gustav A. Seyler,<br />
Geschichte der Heraldik (Wappenwesen, Wappenkunst, Wappenwissenschaft), Nürnberg<br />
1885/90 (ND 1970) (J. Siebmacher's großes Wappenbuch, Bd. A), S. 24.<br />
Dis | kurs 147
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
dienten (Garter, Toison d'Or), Bezug. Sie avancierten dadurch zu unbestreitbaren<br />
Repräsentanten ihrer Herren. Gleichzeitig kam es zu einer Erweiterung ihres Aufgabenspektrums.<br />
Während des Turniers nahmen der Wappenkönig, die Herolde und<br />
Presevanten zentrale Funktionen bei Zeremoniell und Ablauf, wie bei der Überwachung<br />
des regelhaften (und ehrenhaften) Verhaltens der Kämpfenden ein. Darüber<br />
hinaus erfuhr ihr Aufgabenspektrum eine Erweiterung <strong>als</strong> Boten bzw. später auch<br />
<strong>als</strong> Diplomaten sowie am Hof bei Zeremonien und Unterhaltungen. Des Weiteren<br />
begannen sie auch im Kriegswesen, verschieden Aufgaben zu übernehmen. Sie wurden<br />
eingesetzt, um feindliche Truppenteile anhand ihrer Zeichen zu erkennen, um<br />
Gefangene und Tote zu identifizieren oder um im Vorfeld oder Anschluss an kriegerische<br />
Handlungen <strong>als</strong> Boten und Unterhändler zu fungieren. Dazu waren sie durch<br />
die ihnen zustehende Immunität, d.h. die Unantastbarkeit ihrer Person, besonders<br />
geeignet, auf die ich am Beispiel von Caspar Sturm nochm<strong>als</strong> eingehen werde. Völlig<br />
losgelöst vom Krieg wurde auf ihre Botendienst auch in Friedenszeiten zurückgegriffen,<br />
die ganz ihrer hohen Reisetätigkeit, der Kenntnis der Höfe und des fremden<br />
Adels sowie ihrer Fremdsprachenkenntnisse entsprach.<br />
Ihre literarische Tätigkeit führten die Herolde auch im Folgenden in sogenannten<br />
Ehrenreden fort, welche die tugendhaften Taten und das ritterliche Verhalten verstorbener<br />
Herren priesen und anmahnten. Doch auch das verurteilenswürdige Verhalten<br />
wurde publik gemacht. Fast immer erwähnten sie hierbei auch in ausführlicher Weise<br />
die Wappen und Zeichen der genannten Personen. Die Beschreibung der Wappen<br />
darf jedoch nicht <strong>als</strong> Selbstzweck, sondern muss <strong>als</strong> Ausdruck für die Wahrung der<br />
Einheit von Herrn und Wappen verstanden werden, ohne die das Wappen <strong>als</strong> Repräsentant<br />
von Person und Familie seine Bedeutung verlieren würde. 15<br />
Im Laufe des 15. Jahrhunderts kennt man zur Bezeichnung der Herolde in Deutschland<br />
eine Reihe verschiedenster Begrifflichkeiten: kondiger der wapen, wapen genoiss,<br />
perssofandt, heralt, Ernholdt, Ernknecht, u.v.m. Der in deutschen Quellen häufig verwendete<br />
Begriff Ernhold ist eine am Anfang des 15. Jahrhunderts entstandene volksetymologische<br />
Umbildung des Lehnwortes Erald. Die erste Silbe Ern- steht für Ehre,<br />
15 Eine erste Materi<strong>als</strong>ammlung zur literarischen Tätigkeit der Herolde findet sich für den<br />
deutschsprachigen Raum bei Seyler, Gustav A.: Geschichte der Heraldik (Wappenwesen,<br />
Wappenkunst, Wappenwissenschaft), Nürnberg 1885/90 (ND 1970) (J. Siebmacher's<br />
großes Wappenbuch, Bd. A), S. 25–37 und Berchem, Egon v.: Die Herolde und ihre<br />
Beziehungen zum Wappenwesen. Eine vorläufige Materi<strong>als</strong>ammlung zur Geschichte<br />
des Heroldswesens, in: ders./D. L. Galbreath/Otto Hupp, Beiträge zur Geschichte der<br />
Heraldik, Berlin 1939 (ND Neustadt/Aisch 1972) (J. Siebmacher's großes Wappenbuch,<br />
Band D), S. 113–183. Siehe außerdem Hiltmann, Torsten: Zwischen Heroldsamt und<br />
Adel. Die Kompendien des office d'armes im französischen und burgundischen Spätmittelalter,<br />
München 2009 (Diss.), S. 19–20. Eine umfassende Sammlung der literarischen<br />
Werke der Herolde wird das Projekt „Heraudica“ bieten.<br />
148 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
wohingegen die zweite Silbe –hold für Freund oder Diener steht. 16 Der Ernhold/<br />
Erald ist <strong>als</strong>o ein Diener der Ehre, ein Ernknecht. Zusammenfassend lassen sich zwei<br />
Schlüsselwörtern aus den Heroldsbegriffen extrahieren: Ehre 17 und Wappen. Beide<br />
Begriffe sind für das Amt der Herolde von zentraler Bedeutung, was auch in der Forschung<br />
seinen Ausdruck findet.<br />
Lag der erste Schwerpunkt der Forschung auf den Wappen und der Heraldik, so hat<br />
die Forschung in letzter Zeit den Ehrbegriff ins Zentrum ihrer Arbeiten gesetzt. Ein<br />
Durchbruch im Verständnis der Herolde gelang Werner Paravicini und Gert Melville<br />
in ihren Arbeiten, in denen sie aufzeigen konnten, dass die „Essenz der Tätigkeit“ der<br />
Herolde und damit das verbindende Element zwischen ihren vielfältigen Aufgaben<br />
in der Zuweisung und Kommunikation von Ansehen und Ehre lag. 18 Darauf aufbauend<br />
entwickelte Torsten Hiltmann den Schlüssel zur Erfassung des Amtes, der nicht<br />
der Dienst an der adeligen Ehre, sondern die Verpflichtung zur Loyalität gegenüber<br />
dem Adel und zur Ehre bildet. Greifbar wird sie im Amtsschwur, den jeder Herold<br />
bei seiner Ernennung zu leisten hatte. 19 Wie bei vielen anderen Phänomenen auch<br />
tritt dieser Zusammenhang in der Spätphase der Entwicklung des Heroldsamts am<br />
deutlichsten hervor. Eine Vorstellung davon vermittelt die Bestallungsurkunde des<br />
Herolds Teutschland, Caspar Sturm von 1520. Nach der Auflistung der Herrschaftstitel<br />
Karls V. heißt es dort: 20<br />
Bekennen offentlich mit disem brieff/unnd thun kundt aller mengklich. Als weylandt<br />
unser vorfarn am Reich Römische Keyser unnd künig loblicher gedechtniß biß auff<br />
unß erber verstendig und geschickte personen zu Erenhold gehebt/und gebraucht<br />
die den Standt des adels und der wapens gnossen/so auß erberkeyten/tugend/guten<br />
wercken und thatten herfliessen underhalten und an dere reytzen und bewegen sich<br />
des selbigen standts auch wirdig und teylhafftig zumachen und daransein/das die<br />
16 Vgl. ‚Ernhold‘, in: Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Neubearbeitung<br />
hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie<br />
der Wissenschaften zu Göttingen, Band 7, Stuttgart/Leipzig 1993, Sp. 218 f.<br />
17 Zum Begriff der Ehre: Zunkel, Friedrich, Art.: Ehre, Reputation, in: GG, 2, S. 1–63.<br />
18 Siehe hierzu u. a. Paravicini, Werner: Kultur, S. 77–85; Melville, Gert: Hérauts et héros,<br />
in: Heinz Duchhardt (Hg.): European Monarchy. Its Evolution and Practice from Roman<br />
Antiquity to Modern Times, Stuttgart 1992, S. 81–97 und Melville, Gert: „Un bel office“.<br />
Zum Heroldswesen in der spätmittelalterlichen Welt des Adels, der Höfe und der Fürsten,<br />
in: P. Moraw (Hg.): Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter<br />
(Vorträge und Forschungen, Bd. XLVIII), Stuttgart 2002, S. 291–321.<br />
19 Hiltmann, Torsten: Vieux chevaliers, pucelles, anges, in: Revue du Nord 88, 2006,<br />
S. 503–525.<br />
20 Sturm, Caspar: Eyn kurtzer begriff, 1524. Erstm<strong>als</strong> veröffentlicht durch: Clemen, Otto:<br />
Eine unbekannte Schrift des Herolds Kaspar Strum, in: O. Clemen: Beiträge zur Reformationsgeschichte<br />
aus Büchern und Handschriften der Zwickauer Ratsschulbibliothek,<br />
3. <strong>Heft</strong>, Berlin 1903, S. 1–4.<br />
Dis | kurs 149
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
ere unnd zierd des Adels nit verletzt/sunder gemeret und die laster und mißbreuch<br />
außgereütet werden. […]<br />
Zusammenfassend lässt sich <strong>als</strong>o sagen, dass die Herolde sich dem Adel und der Ehre<br />
gegenüber loyal verhalten sollten, damit sie nicht verletzt, sondern gemehrt werde.<br />
Laster und Missbräuche sollten angezeigt werden, um ihnen zu begegnen und sie<br />
zu beheben. Das Loyalitätsbekenntnis der Herolde in ihren Amtseiden war die Eintrittskarte<br />
in die ritterlich-höfischen Gesellschaft und die Voraussetzung für die Erweiterung<br />
ihres Aufgabenspektrums. Der erwähnte Ernhold Caspar Sturm wächst<br />
zwar unter der Herrschaft Maximilians in der Kurpfalz auf, wird aber erst, wie oben<br />
gesehen, unter Maxmilians Nachfolger Karl V. 1520 zum Ernhold Teutschland erhoben.<br />
21 In seiner Arbeit bleibt er den von Maximilian geschaffenen Strukturen treu,<br />
was vor allem in seinen literarischen Werken deutlich hervortritt. Von sind so gut<br />
unterrichtet, weil er seine Werke mithilfe des Buchdrucks vervielfältigen ließ. Ganz<br />
in der Tradition des Amtes legte Caspar Sturm Zeugnis ab über die großen Taten<br />
seiner Zeit, wobei er sich sensibel für den Wertungswandel der berichtenswerten<br />
Ereignisse zeigte. Der Bericht über den Kriegszug Trier, Hessens und der Pfalz gegen<br />
Franz von Sickingen im Jahre 1523 gehört zwar dem gängigen Thema der Kriegszugsdarstellungen<br />
an, weist aber mit seinem einfachen annalistischen Stil kaum noch<br />
Ähnlichkeit mit jenen des Peter Suchenwirt, welcher der bekannteste Autor der oben<br />
erwähnten Ehrenreden des 14. Jahrhunderts war. Die in den Ehrenreden integrierten<br />
Wappenbeschreibungen fehlen. Dieses „klassische Feld“ der Heroldsliteratur handelte<br />
Caspar Sturm in seinem Wappenbuch ab, auf das er lange Zeit in der Forschung<br />
reduziert wurde. 22 Ein neues literarisches Betätigungsfeld stellten die Berichte der<br />
Reichstage dar. Diese in den Jahren nach 1470 entstandene Institution ordnete das<br />
Verhältnis von Fürsten und König neu und schuf ein weiteres Forum ‚öffentlichem<br />
Interesses‘. 23 Die Herolde nahmen <strong>als</strong> Zeugen teil und verfassten Berichte. Der erste<br />
bekannte Reichstagsbericht eines Herolds stammt von Jörg Brandenburg über die<br />
Versammlung von 1505 in Köln. 24 Caspar Sturm verfasst selber vier kleine Schriften<br />
21 Zu Caspar Sturm siehe: Kolde, Theodor: Der Reichsherold Caspar Sturm und seine<br />
literarische Tätigkeit, in: Archiv für Reformationsgeschichte 4, 1906/07, S. 117–160;<br />
Bartelmeß, Albert: Der Reichsherold Caspar Sturm und Nürnberg, in: Mitteilungen des<br />
Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 69 (1982), S. 185–195.<br />
22 Arndt, Jürgen (Hg.), Das Wappenbuch des Reichsherolds Caspar Sturm, bearb. v. J.<br />
Arndt, mit Beiträgen von H. Angermeier u. a., Neustadt a. d. Aisch 1984.<br />
23 Zum anachronistischen Gebrauch moderner Ausdrücke, siehe: Moos, Peter v.: ‚Öffentlich‘<br />
und ‚privat‘ im Mittelalter: zu einem Problem historischer Begriffsbildung, in: Gert<br />
Melville und Peter von Moos (Hg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln,<br />
Weimar, Wien 1998 (Norm und Struktur, 10), S. 1–83.<br />
24 Brandenburg, Jörg: Beschreibung des Reichstages zu Collen im Jahre 1505, in: D. H.<br />
Chr. Senckenberg: Sammlung ungedruckter=rarer Schriften, Frankfurt a. M. 1745, Bd. I,<br />
150 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
über den Augsburger Reichstag von 1530, 25 in denen es neben den Tätigkeiten Kaiser<br />
Karls V., auch um „klassische“ Themen wie Teilnehmerverzeichnisse, Zeremonien,<br />
Adelserhebungen und Belehnungen ging. 26 Und für den Fall, dass jenem diese Büchlein<br />
nicht zugekommen seien, hat er zusätzlich auf Befehl des Kaisers, zusammen<br />
mit einem weitern Herold, genannt Burgundia, und einem Persevanten aus Hispania<br />
sowie acht kaiserlichen Trompetern in der Stadt Augsburg ein kaiserliches Edikt verkündet.<br />
27 Obgleich sich die Herolde schon früh dem schriftlichen Medium und später<br />
dem Buchdruck zu eigenen gemacht haben, zeigt sich, dass die Herolde auch im<br />
16. Jahrhundert immer noch mit dem traditionellen mündlichen Ausruf das größte<br />
Publikum erreichten.<br />
Die Herolde und insbesondere Caspar Sturm verbindet in ihrer literarischen Tätigkeit<br />
ihr Anspruch auf eine wahrheitsgemäße Darstellung, so wie es ihr Amtseid<br />
von ihnen verlangt. Sie nehmen <strong>als</strong> Zeugen und Berichterstatter an Zeremonien teil<br />
und repräsentieren die „Öffentlichkeit“. Vorraussetzung für die mediale Funktion<br />
der Herolde bilden zum einen der Amtsschwur sowie das damit verbundenen Loyalitätsbekenntnis<br />
und zum anderen die Entpersonalisierung und ihre symbolische<br />
Aufladung durch Stab, Amtsnamen und Wappenrock. Diese Elemente kennzeichnen<br />
sie sowohl <strong>als</strong> Inhaber des Heroldsamts <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Repräsentanten ihres Herren und<br />
seiner Herrschaften. So mit einem Schlüssel für das Verständnis des Heroldsamts<br />
ausgestattet, komme ich nun auf die anfänglich gestellte Frage zurück, welche Inhalte<br />
durch den Herold ausgedrückt werden. Als erstes Beispiel hatte ich den Triumphzug<br />
Maximilians I. angeführt. Die oben erwähnte Textstelle beschreibt zwar die Position<br />
der Ernholde innerhalb des Zugs, ohne aber eine weitere Beschreibung ihrer zu<br />
geben. Dafür waren die Holzschnitte vorgesehen. Auf ihnen sieht man 6 Reihen à 5<br />
Herolde mit den Wappenröcken der habsburgischen Erbländer. 28 Sie bilden die Basis<br />
für die habsburgische Herrschaft im Reich, welche durch das nachfolgenden Reichsbanner<br />
und -schwert repräsentiert wird. Die Anordnung setzt die Herrschaftsgrund-<br />
S. 157 f. Zur offiziellen Reichstagspublizistik siehe, Müller, Jan-Dirk: Publizistik unter<br />
Maximilian I., in: Ute Frevert und Wolfgang Braungart: Sprachen des Politischen. Medien<br />
und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, S. 110–119.<br />
25 Aus der Widmung des Berichts über die Augsburger Tagung an Christoph Eschenfeller<br />
(Eschenfelder) vom 4. November 1530; vgl. Sturm, Caspar: Wiewol hieuor in dreyen<br />
vnderschidlichen buchlein beschriben, vnd im Truck ausgangen, Wie die Rö. Kai. Maie.<br />
Von Inszpruck ausz, zu Schwatz, München, vnd volgends auff angesetzten Reichstag,<br />
Anno etc. 1530. zu Augspurg eingeritten […], Augsburg 1530.<br />
26 Seine bekannteste Schrift ist aber wahrscheinlich eine Flugschrift über Luthers Verhör<br />
auf dem Reichstag zu Worms 1521.<br />
27 Kolde, Theodor: Kaspar Sturm, S. 136 f.<br />
28 Appuhn, Horst: Triumphzug, Nr. 118–120. Über die tatsächliche Zahl der Herolde im<br />
Dienste der Habsburger kann derzeit keine genaue Angabe gemacht werden. Auch hier<br />
müsse weitere Untersuchungen Klarheit bringen.<br />
Dis | kurs 151
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
lage des Königs im Reich anschaulich in Szene. Während der Herrschaft Maximilians<br />
mangelte es nicht an Ereignissen, die einen Rahmen für einen realen Einzug boten.<br />
Die Einzugsordnung, um das schon vorwegzunehmen, bestätigt die Komposition<br />
des fiktiven Zugs. Als erstes Beispiel biete sich der feierliche Einzug Maximilians in<br />
Gent am 18. August 1477 im Zuge seiner Vermählung mit Maria von Burgund an.<br />
Laut der Darstellung von Johann Jakob Fugger hätten sich vor dem Schwertträger<br />
und Maximilian neun Herolde der österreichischen Erbländer sowie die Herolde der<br />
burgundischen Lande befunden. 29 Sinnfälliger konnte die Fusionierung der Herrschaften<br />
nicht dargestellt werden. 30 Über die Krönung Maximilians 1486 in Aachen<br />
liegen mehrere Berichte vor. Es wird berichtet, dass Kaiser Friedrich III. seinen Sohn<br />
an die Hand genommen und ihn in den Dom zu Aachen geführt habe. Vor ihnen<br />
sollen mehrere Herolde in ihren Wappenröcken marschiert sein. Während der Krönungsfeier<br />
hätten die Herolde begleitet von den Trompeten nach dem Te Deum laut:<br />
„Es lebe der römische König!“ ausgerufen. Diese laute Akklamation der Herrschaftsantritt<br />
soll die Teilnehmer, laut Jean Molinet, tief bewegt und zum Weinen gebracht<br />
haben. 31 Nach der Krönung wurde der König ins Rathaus zum Festmahl geleitet. Ein<br />
Teil der Herolde habe sich, laut Aussage der Quellen, zusammen mit den Trompetern<br />
vor der Gruppe um den König befunden. Zu dieser Gruppe habe auch der Wappenkönig<br />
Romreich gehört, der direkt vor dem Reichsapfel, getragen vom Pfalzgrafen,<br />
und dem Reichsschwert, geführt von Herzog Ernst von Sachsen, marschiert sei. 32<br />
Auch hier wird eine unmittelbare Nähe der Reichssymbole hergestellt. Allerdings<br />
findet eine Teilung zwischen den wahrscheinlich landesherrschaftlichen Herolden<br />
auf der einen und dem Reichsherold auf der anderen Seite statt. In einer umfassen-<br />
29 Fugger, Johann Jacob: Spiegel der Ehren des höchstlöblichsten kayser und könglichen<br />
Erzhauses Oesterreich, oder ausführliche Geschicht-Schrift von desselben…, hg. v. Sigmund<br />
Birken, Nürnberg 1668, Buch V, Chap. XXVI, S. 856–857.<br />
30 Wie die Herrschaft so gehen auch die Herolde in den Besitz Maximilians über. Augenfälliger<br />
Ausdruck des Wechsels ist die Auszahlung der „gages“ im Namen Maximilians;<br />
siehe beispielweise die „écrous des gages de l'hôtel de Maximilien de Habsbourg“ (Lille,<br />
Archiv du Nord, B 3442–3449).<br />
31 Molinet, Jean: Chroniques, t. I, chap. CXXIX, S. 491 und 505–511 sowie Eyb, Ludwig v.<br />
der Ältere: Mein Buch, hg. v. Matthias Thumser, Neustadt/Aisch 2002, nr. 25, S. 428–<br />
430. Ludwig von Eyb der Ältere erwähnt im Anschluss in seiner langen Beschreibung<br />
des Krönungsakt leider keinen einzigen Herold: Eyb, Ludwig v. der Ältere: Mein Buch,<br />
nr. 25, S. 430–434.<br />
32 Eyb, Ludwig v. der Ältere: Mein Buch, nr. 25, p. 435–443; Fugger, Johann Jacob,<br />
Spiegel, Buch V, Chap. XXXIII, S. 955; Freher, Marquard: Rerum Germanorum Scriptores,<br />
Straßburg 1717, Bd. 3, S. 32; Huyskens, Albert: Die Krönung Maximilians I. in<br />
Aachen 1486 nach einem noch unbekannten Frühdruck (mit einer Tafel Krönungsmahl<br />
von 1562), in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 64/65, 1951/52, S. 91–92 und<br />
Hebeisen, Gustav: Eine unbekannte Handschrift über die Königskrönung Maximilians<br />
I. im Jahre 1486, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde in<br />
Hohenzollern 51 (1917/18), S. 43–44.<br />
152 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
deren Arbeit müsste untersucht werden, inwieweit auch im Dienstverhältnis eine<br />
Trennung zwischen Reichsherold und Territorialherolden des Kaisers bzw. König zu<br />
finden ist.Anschließend hätten die Herolde ebenfalls am Mahl teil, in dessen Anschluss<br />
ein Herold gefragt habe, wer zum Ritter geschlagen zu werden begehre. 33 Für<br />
die Zeit Karls V. möchte ich zwei Beispiele anführen, nämlich seine Krönung zum<br />
Römischen König in Aachen 1520 und zum Kaiser in Bologna 1530. Beim Einzug<br />
Karls in Aachen 1520 anlässlich seiner Königskrönung seien die königlichen Knaben<br />
voraus gegangen, gefolgt von Trompetern und Heerpaukern sowie sechs Persevanten,<br />
die goldene Münzen unter das Volk wurfen. Als nächstes sei ein Herold im Wappenrock<br />
und mit dem Heroldsstab, der von einem Adler bekrönt wurde, marschiert,<br />
bei dem es sich um Romreich handeln müsste. Auf ihn seien die Reichs- und Kurfürsten,<br />
das Reichsschwert und Karl V. gefolgt. 34 Das Festmahl im Rathaus sei durch<br />
den Einzug von Pfeiffern und Posaunenbläser sowie Herolde eröffnet worden, unter<br />
denen sich auch der englische Herold befunden habe. 35 Caspar Sturm nahm <strong>als</strong> Teil<br />
der Mainzer Delegation ebenfalls an der Krönung teil, in dessen Anschluss er zum<br />
Wappenkönig Teutschland erhoben wurde. Ein Krönungsbericht aus seiner Feder ist<br />
zwar nicht überliefert, könnte aber mit Hinweis auf sein überliefertes Œuvre von ihm<br />
verfasst worden sein. 36 Bei der Kaiserkrönung in Bologna 1530 kann die Einheit von<br />
Herold, Reichsinsignien und Herrscher wieder beobachtet werden. In den Quellen<br />
wird berichtet, dass beim Einzug in die Stadt vor Karl V. vier Herolde und mehrere<br />
spanische sowie italienische Edelleuten marschiert seien, welche den Streitkolben,<br />
das Zepter, die Krone, den Apfel und das Schwert vorangetragen hätten. 37 Beim folgenden<br />
Einzug in die Kirche seien die vier Herolde direkt auf die Edelleute und Karl<br />
V. gefolgt. 38 Die Einheit der Herolde und der Reichsinsignien tritt klar hervor. Die<br />
Amtsnamen der vier Herolde werden leider nicht erwähnt. Lediglich die Anwesenheit<br />
des Wappenkönigs Bourgogne/Burgund ist durch einen Beleg im Reisetagebuch<br />
Karls V. gesichert. 39 Idealerweise würde man sich eine Repräsentation aller Herr-<br />
33 Huyskens, Albert: Krönung Maximilians I., S. 94–96; Freher, Marquard: Rerum German.<br />
Scriptores, S. 40 f. und Eyb, Ludwig v. der Ältere: Mein Buch, nr. 25, S. 435–443.<br />
34 Fromm, Emil: Zeitgenössische Berichte über Einzug und Krönung Karls V. in Aachen, in:<br />
Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 17, 1895, S. 225–235.<br />
35 Maurus, Hartmann: Coronatio Caroli V. caesaris aug. apud Aquisgranum, hg. v. Kaemmerer:<br />
Die Aachener Königs-Krönungen, Brimberg 1961 (Quellentexte zur Aachener<br />
Geschichte, 3), p. 92–95.<br />
36 Kolde, Theodor: Caspar Sturm, S. 121, Fußnote 1.<br />
37 Schnitt, Konrad: Die Kaiserkrönung von Bologna (1530), hg. v. Bernoulli, August: Basler<br />
Chroniken, Leipzig 1902, Bd. 6, S. 180.<br />
38 Ebd., S. 182.<br />
39 Gachard, Louis Prosper (Hg.): Collections des voyages des souverains des pays-bas,<br />
Bd. 2: Itinéraire de Charles-Quint de 1506 à 1531, Journal des voyages de Charles-Quint<br />
Dis | kurs 153
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
schaftsgebiete Karls V. vorstellen. Dies führt noch einmal zurück zur Bestallungsurkunde<br />
von Caspar Sturm. Dieser wird zwar zum Nachfolger des Wappenkönigs<br />
Romreich erhoben, allerdings unter dem neuen Namen Teutschland. Grund dafür<br />
soll die Idee Karls V gewesen sein, ihn von den anderen Herolden, vornehmlich den<br />
„wälschen“ Herolden (bsp. Wappenkönig Burgund) zu unterscheiden und seine Territorien<br />
dadurch besser zu repräsentieren. 40 Nahm Romreich bei der Königskrönung<br />
Karls 1520 noch eine herausragende Stellung ein, so wurde das Wirkungsgebiet des<br />
neuen Herolds ‚Teutschland‘ klarer definiert, seine Universalität genommen und der<br />
Territorialordung Karls V. untergeordnet werden, in dem das Deutsche Reich nur<br />
noch ein Teilgebiet darstellte.<br />
Schluss<br />
Maximilians Bild der Nachwelt reicht vom „letzten Ritter“ bis zum „Modernisierer“. 41<br />
Dieser Dualismus findet sich auch in den literarischen und künstlerischen Werken<br />
des Kaisers. Maxmilian I. nahm sowohl <strong>als</strong> Mäzen <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Autor Einfluss auf das<br />
kulturellen Schaffen seiner Zeit. Das Erbe der Vergangenheit – ritterliches Lebensund<br />
Kunstideal des Mittelalters – verbindet er mit den neuen Ausdrucksformen des<br />
Humanismus und der Renaissance. Dadurch kommt es zu einer Synthese von alten<br />
Inhalten mit den neuen antikisierenden Ausdrucksformen der Renaissance, deren<br />
Verbreitung und Gebrauch unter Karl V. weiter voranschritten. Auch Karl nutzte<br />
die bildene Kunst für seine gedechtnus, ohne jedoch selber <strong>als</strong> Mäzen aufzutreten.<br />
Das vom Vater und Großvater übernommene ‚burgundisch‘-ritterliche Erbe soll ihn<br />
geprägt und politisch motiviert worden sein, wofür immer wieder die Zweikampf-<br />
Aufforderungen an Franz I. von Frankreich <strong>als</strong> Beispiel angeführt werden. 42 Sie<br />
sollten nicht einfach <strong>als</strong> sinnentleerte Floskeln abgetan werden. Die Einbeziehung<br />
von Elementen der ritterlich-höfischen Kultur wirkt nicht befremdend, sondern ist<br />
Ausdruck der am traditionellen Bild legitimer Herrschaft festhaltenden Herrscher.<br />
Die Herolde sind ein notwendiger Teil der herrschaftlichen Repräsentation. Ihr loyales<br />
Verhalten gegenüber dem Adel und zur Ehre sowie ihre Entpersonalisierung<br />
ermöglichte erst ihre symbolische Aufladung durch Stab, Amtsnamen und Wappenrock.<br />
Sie waren sichtbarer Ausdruck der Rückbindung an die ritterlich-höfische Kulde<br />
1514 à 1551, Bruxelles 1874, S. 93.<br />
40 Kolde, Theodor: Caspar Sturm, S. 120, Fußnote 2 (bestellt).<br />
41 Vgl. Hollegger, Manfred: Maximilian I. (1459–1517). Herrscher und Mensch einer Zeitenwende,<br />
Stuttgart 2005 (Urban-Taschenbücher, 442).<br />
42 Vgl. Seibt, Ferdinand: Karl V. Der Kaiser und die Reformation, Berlin 1990. Seibt weist<br />
jedoch die mittelalterlichen Bezüge von Karls Kaisertum mit Hinweis auf die Bezüge<br />
zum antiken Heroen- und Kaisertum zurück. Zur weiteren Forschungsdiskussion siehe:<br />
Kohler, Alfred: Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München 2005, S. 13–27.<br />
154 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
tur und Chiffre von Verkündigung, Verbreitung und Wahrhaftigkeit. Der ständige<br />
Wechsel zwischen den Rollen, in die Maximilian schlüpft, und den Rahmen, in den<br />
die Handlung gestellt wird, lässt vermuten, dass der Akteur sich keiner homogenen<br />
Rollenerwartung gegenüber sah. An der Konzeption der Krönungsfeierlichkeiten<br />
Karls V. lässt sich ablesen, dass sich trotz einiger Veränderungen noch kein neues<br />
Herrscherbild durchgesetzt, das ohne die traditionellen Elemente auskäme. Das<br />
Bild des Herrschers muss dem Erwartungshorizont des Publikums angepasst werden,<br />
wodurch die Heterogenität spätmittelalterlicher Gesellschaftsbilder zum Ausdruck<br />
kommt. 43 Diesen gesellschaftlichen Kräften und Veränderungen sind auch die<br />
Herolde ausgesetzt. Ihre semantische Veränderung findet Ausdruck in der stetigen<br />
Reduktion der Rolle Ernholds <strong>als</strong> bloßer Augenzeuge. Obgleich Caspar Sturms ‚humanistischer‘<br />
Bildungsstand in seinen Schriften zum Ausdruck kommt und durch<br />
seine Mitgliedschaft in der von Conrad Celtis gegründeten Humanismusvereinigung<br />
Sodalitas litteraria Rhenana bestärkt wird, sahen sich die Herolde einem wachsenden<br />
Druck der Hofhistoriographen und Humanisten ausgesetzt, die sich <strong>als</strong> die wahren<br />
Künder fürstlicher Ehre und Ruhms sahen. Beiden gemein sind der Gebrauch des<br />
Drucks, der verstärkte Rückgriff auf Vergangenes, eine wachsende Aufmerksamkeit<br />
gegenüber Altertümern und eine historisierende Strömung, was sich <strong>als</strong> eine zeittypische<br />
Tendenz abzeichnet. Auch die systematische und methodisch disziplinierte<br />
Auseinandersetzung mit der Überlieferung findet sich in beiderlei Arbeitsweise. 44<br />
Dennoch findet im Laufe des 16. Jahrhunderts eine Reduktion der Herolde auf die<br />
Gebiete der Genealogie und Heraldik statt, auf denen sie Spezialisten waren und die<br />
solange das Bild von ihnen geprägt hat. Die Kräfte, die auf den Herold wirken, spiegeln<br />
auf das Beste den Wertewandel zwischen Mittelalter und Moderne wider und<br />
führen ins Zentrum der Diskussion.<br />
Literatur<br />
Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt<br />
2003.<br />
Hollegger, Manfred: Maximilian I. (1459–1517). Herrscher und Mensch einer Zeitenwende,<br />
Stuttgart 2005.<br />
Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft Maxmilian I. München 1982<br />
(Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 2), S. 80–95.<br />
Paravicini, Werner: Die Ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 1994.<br />
Thum, Bernd: Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von Öffentlichkeit<br />
im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert, in: Höfische<br />
Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. von Hedda Ragotzky und Horste<br />
Wenzel, Tübingen 1990, S. 66–70.<br />
43 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 211 f.<br />
44 Vgl. Kolde, Theodor: Caspar Sturm, S. 126–148.<br />
Dis | kurs 155
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Von städtischer Spionage und der Bitte, Briefe zu<br />
zerreißen:<br />
Alternative Kommunikationsnetze von Städten<br />
während der Burgundkriege (1469–1477)<br />
Bastian Walter<br />
Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />
E-Mail: walterbastian@gmx.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Spätmittelalter, Diplomatie- und Städtegeschichte, Burgunderkriege<br />
Vorbemerkungen 1<br />
Der Aufbau, Abschluss und vor allem die spätere Pflege von Bündnissen bedürfen<br />
zahlreicher Maßnahmen zu ihrer Sicherung, ihrer Konstituierung und zu ihrer Konsolidierung.<br />
Um diese Maßnahmen wird es im vorliegenden Aufsatz gehen. Einen<br />
wesentlichen Aspekt stellt die gegenseitige Informationsübermittlung der sich noch<br />
nicht bzw. bereits schon <strong>als</strong> Bündnispartner definierenden Gruppen untereinander<br />
dar. Denn jede gegebene Information verlangt nach einer Gegeninformation wie<br />
jede Gabe nach einer Gegengabe 2 . Der gegenseitige Informationsaustausch stellt eine<br />
zweifache Beziehung zwischen dem Gebenden und dem Nehmenden her: Einerseits<br />
entwickelt sich zwischen ihnen eine Beziehung der Solidarität, da derjenige, die In-<br />
1 Der vorliegende Aufsatz stellt Überlegungen zu einem bisher wenig untersuchten Forschungsgegenstand<br />
vor, die im Rahmen meiner von Prof. Dr. Martin Kintzinger (Münster)<br />
betreuten Dissertation entstanden sind (Arbeitstitel: „Träger, Räume und Vollzug.<br />
Koordination und Praxis städtischer Außenpolitik im Kontext der Burgunderkriege<br />
(1468–1477)“. Für zahlreiche Anmerkungen und Gespräche danke ich Martin Kintzinger,<br />
Nils Bock und Marian Füssel (Münster).<br />
2 Zur Theorie des Gabentauschs vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe, Frankfurt a. M. 21994.<br />
156 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
formation, die er hat, mit dem Nehmenden teilt. Andererseits entsteht eine Beziehung<br />
der Superiorität, da der die Information annehmende und diese damit akzeptierende<br />
sich gegenüber dem Gebenden in eine Bringschuld begibt. Damit ist er eine<br />
der wesentlichen Bedingungen für die Produktion und Reproduktion von sozialen<br />
Beziehungen. Diese wiederum fungieren <strong>als</strong> Basis eines Bündnisses und stellen die<br />
Bindungen dar, die zwischen Individuen und Gruppen herrschen 3 . Kommunikation<br />
basiert wie der Gabentausch auf Reziprozität. Aus der Stetigkeit des Austausches<br />
erwächst ein Beziehungsgeflecht, das seinen Ausdruck in einem zwischen den Kommunikationspartnern<br />
geschlossenen Bündnis finden kann. Vor diesem Hintergrund<br />
kann verständlich werden, dass der Informationsaustausch gerade durch seinen<br />
Doppelcharakter die idealen Bedingungen für seine Ausübung und Entwicklung in<br />
Bündnissen findet. Denn deren Funktionieren beruht in erster Linie auf der Herstellung<br />
und Aufrechterhaltung persönlicher Beziehungen zwischen den Individuen<br />
und Gruppen, aus denen es sich zusammensetzt. Aber auch der Abschluss des<br />
Bündnisses ist entscheidend, denn schließlich werden in dem von den Parteien aufgesetzten<br />
Bündnistext gegenseitige Verpflichtungen festgelegt, Rollen zu- sowie die<br />
Beziehungen der Partner untereinander und zu anderen festgeschrieben und damit<br />
auf eine andere Ebene gestellt. Das hat weit reichende Folgen für die Beziehungen<br />
der sich nun <strong>als</strong> Bündnispartner definierenden Personen und Gruppen und denen,<br />
die außerhalb des Bündnisses stehen. Schließlich sind Bündnisse vorwiegend<br />
dadurch charakterisiert, Personen oder Gruppen, die nicht <strong>als</strong> aktive Teilnehmer<br />
derselben fungieren, auszuschließen bzw. sich explizit gegen jemanden zu richten.<br />
Der vorliegende Aufsatz wird sich mit den bisher wenig untersuchten alternativen<br />
Kommunikationsnetzen von Kommunikations- bzw. späteren Bündnispartnern am<br />
Beispiel der seit 1474 gegen Burgund verbündeten Städte Basel, Straßburg und Bern<br />
beschäftigen, woraus sich der politische und der zeitliche Rahmen ergibt 4 : Es sind<br />
dies die Auseinandersetzungen mit Karl dem Kühnen im Vorfeld und während der<br />
sog. „Burgunderkriege“ der Jahre 1469–1477 5 . Es wird von der These ausgegangen,<br />
dass gerade die neben dem offiziellen Kommunikationsprozess laufende Kommunikation<br />
eine starke Bindekraft unter den Verbündeten schuf, da durch sie ein neuer<br />
3 Vgl. dazu Godelier, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke und heilige Objekte,<br />
München 1991.<br />
4 Zur Kommunikation der eidgenössischen Städte untereinander vgl. Jucker, Michael:<br />
Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen<br />
im Spätmittelalter, Zürich 2004; Christ, Dorothea A.: Stabilisierende Konflikte und<br />
verbindende Abgrenzungen. Die Eidgenossen und ihre Bündnisse im Spätmittelalter, in:<br />
Hoffmann, Carl A. und Kießling, Rolf (Hgg.): Kommunikation und Region, Konstanz 2001,<br />
S. 139–163.<br />
5 Zu den Burgunderkriegen vgl. Sieber-Lehmann, Claudius: Spätmittelalterlicher Nationalismus.<br />
Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen<br />
1995.<br />
Dis | kurs 157
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
sozialer Raum betreten wurde 6 . Anhand von fünf Beispielnetzwerken soll versucht<br />
werden, diese These zu untermauern. Doch stellt sich die Frage, ob man überhaupt<br />
eine scharfe Trennlinie zwischen offizieller und inoffizieller Kommunikation ziehen<br />
kann.<br />
Als sich am 31. März 1474 die Eidgenossen mit der sog. Niederen Vereinigung, die<br />
sich aus den Reichsstädten Straßburg, Basel, Schlettstadt und Kolmar sowie den<br />
Bischöfen von Straßburg und Basel zusammensetzte, in einem gegen den burgundischen<br />
Herzog gerichteten Bündnis miteinander verbanden, bedeutete dies nicht<br />
einen völligen Wendepunkt in den Beziehungen der sich nun <strong>als</strong> Bündnispartner<br />
begreifenden Städte untereinander. Dem Abschluss vorausgegangen waren zahlreiche<br />
auf Versammlungen von Vertretern der Städte geführte Gespräche und eine hohe<br />
Anzahl von untereinander ausgetauschten Briefen. Diese Maßnahmen verfolgten in<br />
erster Linie das Ziel, Vertrauen zwischen den Partnern aufzubauen, zu konsolidieren<br />
und zu etablieren 7 . Und gerade der Aufbau desselben bedurfte im Fall der eidgenössischen<br />
und oberrheinischen Städte einer besonderen Anstrengung. Denn während<br />
sie 1444 noch gemeinsam die Armagnaken bekämpft hatten, verspielten die Eidgenossen<br />
allen voran Bern ihre Sympathien am Oberrhein mit der durch sie 1468 erfolgten<br />
Verwüstung des am Oberrhein gelegenen Sundgaus im sog. Sundgauerkrieg.<br />
Der damalige österreichische Herzog Sigmund konnte den vollständigen Verlust des<br />
Sundgaus nur durch die Zahlung von 10.000 Gulden Kriegsentschädigung an die<br />
Eidgenossen verhindern, was ihn in den folgenden Monaten nach einem starken<br />
und vor allem finanzkräftigen Partner suchen ließ. Diesen fand er im burgundischen<br />
Herzog Karl dem Kühnen, dem er am 9. Mai 1469 im Vertrag von St.-Omer einen<br />
Großteil seiner am Oberrhein gelegenen Besitzungen, zu denen auch der Sundgau<br />
gehörte, für 50.000 Gulden verpfändete. Im Gegenzug versprach Karl der Kühne, die<br />
Zahlung der 10.000 Gulden Kriegsentschädigung an die Eidgenossen zu übernehmen<br />
und Herzog Sigmund bei der Rückgewinnung von altem nicht unbeträchtlichem<br />
habsburgischem Besitz in der Eidgenossenschaft zu helfen.<br />
Beispiel 1: Netzwerke zwischen Räten<br />
Der Vertragsabschluss zwischen Burgund und Österreich versetzte neben den oberrheinischen<br />
Reichsstädten gleichsam die dam<strong>als</strong> an einer Anerkennung ihres Status<br />
Quo interessierte Eidgenossenschaft in große Aufregung 8 . Vor allem große Teile der<br />
6 Zum „sozialen Raum“ vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“, in: Ders.<br />
(Hg): Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 31995, S. 9–46.<br />
7 Zur Etablierung von Vertrauen in der brieflichen Kommunikation vgl. Jucker, Michael:<br />
Trust and Mistrust in Letters. Late Medieval diplomacy and its Communicational Practices,<br />
in: Mostert, Marco und Schulte, Petra (Hgg.): Trust in Writing, Utrecht 2008.<br />
8 Vgl. dazu Walter, Bastian (gemeinsam mit Martin Kintzinger): Qui desiderat pacem<br />
158 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Führungsgruppen von Basel und Straßburg betrachteten den Sundgau <strong>als</strong> wichtigen<br />
Wirtschaftsraum. Das lag in erster Linie an ihrer Stellung <strong>als</strong> exportorientierte Handelszentren<br />
für Getreide und Wein, die vorwiegend im Sundgau angebaut wurden,<br />
um dann an die Eidgenossen weiterverkauft zu werden, die auf die Zufuhr von Getreide<br />
essentiell angewiesen war. Die daraus erwachsenden wirtschaftlichen Kontakte<br />
hatten bereits knapp fünfzig Jahre zuvor zur Bildung von Handelsgesellschaften<br />
geführt, an denen Kaufleute aus allen drei Städten beteiligt waren. Von diesen ist vor<br />
allem die in den 1420er Jahren in Bern und St. Gallen gegründete Diesbach-Watt-<br />
Gesellschaft zu erwähnen, die Kontore in ganz Europa unterhielt 9 . Die wichtigsten<br />
Teilhaber dieses Konsortiums saßen neben Bern auch in Basel. Im Rahmen seiner<br />
Erziehung und Ausbildung wurde beispielsweise der im betrachteten Zeitraum an<br />
der Spitze der gegen Karl den Kühnen gerichteten Koalition stehende Berner Schultheiß<br />
Nikolaus von Diesbach in der Familie des einflussreichen Basler Rats und Fernhändlers<br />
Werner von Kilchen erzogen, bevor er in den spanischen Kontor der Gesellschaft<br />
nach Barcelona übermittelt wurde 10 . Aus wirtschaftlichen Verbindungen<br />
entwickelten sich auf diese Weise persönliche Beziehungen, die auch später nicht<br />
abbrachen und zum Teil durch Heiraten verankert wurden 11 . Die politischen Führungsgremien<br />
der hier im Vordergrund stehenden Städte rekrutierten sich zu einem<br />
Großteil aus Vertretern genau der Familien, die zwei Generationen zuvor im Handel<br />
reich geworden waren oder aber im betrachteten Zeitraum noch immer aktiv am<br />
Handel partizipierten. Dass sich diese dann in den Jahren nach dem Vertrag von<br />
St.-Omer genau auf den Versammlungen wieder finden lassen, die 1474 maßgeblich<br />
zum Abschluss des gegen Burgund gerichteten eidgenössisch-oberrheinischen<br />
Bündnisses beitrugen, ist daher kein Zufall.<br />
In einer face-to-face-Gesellschaft boten die persönlichen Beziehungen ihrer Amtsträger<br />
den Städten ein wichtiges Instrumentarium zur Beschaffung von Informationen<br />
und Möglichkeiten zur Überzeugungsarbeit neben der offiziellen Kommunikation.<br />
praeperat bellum. Krieg, Frieden und internationales Recht im Spätmittelalter, in: Diskurs<br />
2008/1, S. 39–54.<br />
9 Zur Diesbach-Watt-Gesellschaft vgl. Ammann, Hektor: Die Diesbach-Watt-Gesellschaft.<br />
Ein Beitrag zur Handelsgeschichte des 15. Jahrhunderts, St. Gallen 1928.<br />
10 Zur interessanten Person des „international“ tätigen Diplomaten Nikolaus von Diesbach<br />
vgl. demnächst: Walter, Bastian: Kontore, Kriege, Königshof. Der Aufstieg der Berner<br />
Familie von Diesbach im 15. Jahrhundert im Hinblick auf städtische Außenpolitik, in:<br />
Jucker, Michael und Jörg, Christian (Hgg.): Politisches Wissen, Spezialisierung und<br />
Professionalisierung: Träger und Foren städtischer ‚Außenpolitik‘ während des späten<br />
Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Trier 2008 [im Druck].<br />
11 Zu den Netzwerken von Kaufleuten vgl. Häberlein, Mark, Handelsgesellschaften, Sozialbeziehungen<br />
und Kommunikationsnetze in Oberdeutschland zwischen dem ausgehenden<br />
15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Hoffmann, Carl A. und Kießling, Rolf (Hgg.):<br />
Kommunikation und Region, Konstanz 2001, S. 305–327.<br />
Dis | kurs 159
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Und dieses Instrument wurde wahrscheinlich intensiver genutzt <strong>als</strong> es die Quellenbestände<br />
erahnen lassen. Häufig geben die erhaltenen Briefe nur rudimentäre Hinweise<br />
auf diese alternativen Kommunikationsnetze der Städte. In Bern beispielsweise<br />
wurden in die sog. Missivenbücher nur Entwürfe der Briefe eingetragen, die der Rat<br />
für besonders wichtig hielt 12 . Den Weg zum letztendlich abgesendeten Brief muss<br />
man sich so vorstellen, dass die Berner Räte in einer Sitzung beschlossen, einen Brief<br />
zu schreiben. Mit der Abfassung desselben wurde dann die Kanzlei betraut, die einen<br />
ersten Entwurf anfertigte. Diesen diskutierten dann die Ratsherren, womit sie<br />
Möglichkeiten zur Einflussnahme auf seinen Inhalt wahren konnten. Und von dieser<br />
Möglichkeit machten sie vielfach Gebrauch, wie zahlreiche Zusätze in den erhaltenen<br />
Briefentwürfen belegen. Daraufhin machte sich die Kanzlei daran, fertigte den<br />
Brief mit den gewünschten Änderungen aus und versandte ihn. Während der Großteil<br />
der Briefe den Zusatz enthalten, dass sie unter dem Beschluss des gesamten Ratsgremiums<br />
zustande gekommen waren, wurden einige Briefe auf Wunsch einzelner<br />
Ratsherren abgefasst, wie die unter diesen stehenden Zusätze verraten 13 . Der größte<br />
Teil von diesen wiederum war an auswärtige Ratsgremien in toto gerichtet, doch<br />
wurden einige explizit an einzelne auswärtige Ratsherren geschrieben. Letzteres trifft<br />
auch für die beiden nun etwas eingehender vorgestellten zu, die von der Kanzlei im<br />
Auftrag des bereits erwähnten Berner Schultheißen Nikolaus von Diesbach an seinen<br />
Basler Ratskollegen Heinrich Zeigler geschrieben wurden. Die Familie Zeigler weist<br />
in ihrer Geschichte Parallelen zu der von Diesbach auf. Auch sie war in den 1420er<br />
Jahren durch Handel reich geworden und lässt sich ab den 1430er Jahren kontinuierlich<br />
im Basler Rat belegen. So amtierte Heinrichs gleichnamiger Vater in zahlreichen<br />
politischen Ämtern der Stadt, und auch Heinrich selbst saß seit den 1450er Jahren im<br />
für die Außen- und Kriegspolitik Basels zuständigen Dreizehnerkollegium.<br />
Den ersten Brief schrieb Nikolaus von Diesbach am 30. März 1473 und bedankt sich<br />
bei seinem lieben guoten Frúnd Zeigler für die Briefe, die ihm durch seinen Schwager<br />
Scharnachtal übermittelt worden seien, woran er dessen guoten getruwen Willen erkenne<br />
14 . Aufgrund von Verhandlungen in Basel habe er seinen Schwager beauftragt,<br />
den in diesen Tagen versammelten Eidgenossen die Anliegen des Baslers in grosser<br />
geheimd vorzubringen. Er gibt weiter an, dass er die von Zeigler gegebenen Informationen<br />
mit einigen seiner Amtskollegen diskutiert habe, die ihm zur Antwort geraten<br />
hätten. Um was es dabei ging, erfährt man in den folgenden Zeilen: So müsse man<br />
12 Vgl. Esch, Arnold, Alltag der Entscheidung. Berns Weg in den Burgunderkrieg, in: Ders.<br />
(Hg.): Alltag der Entscheidung. Beiträge zur Geschichte der Schweiz an der Wende vom<br />
Mittelalter zur Neuzeit, S. 9–87.<br />
13 In den Briefen heißt das dann Executum coram toto consilio bzw. z. B. Executum coram<br />
Sculteto von Diesbach.<br />
14 Staatsarchiv Bern (StAB), Deutsche Missiven C 49.<br />
160 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
aufpassen, dass die in militärisch-strategischer Hinsicht günstig am Rhein gelegenen<br />
Städte nicht von der sich gerade intensiver formierenden gegen Burgund gerichteten<br />
eidgenössisch-oberrheinischen Koalition abfielen. Zuletzt bittet er Zeigler noch darum,<br />
ihn, sobald er Neuigkeiten habe, stündlich davon in Kenntnis zu setzen. Doch<br />
was war der politische Hintergrund? Anfang März 1473 hatte der vom burgundischen<br />
Herzog in den verpfändeten Gebieten <strong>als</strong> Landvogt eingesetzte Peter von Hagenbach<br />
versucht, die am Rhein gelegene Stadt Säckingen zu unterwerfen, was aber<br />
aufgrund des großen Protestes aus Basel und Bern misslungen war. Kurz vor der<br />
Abfassung des Schreibens von Diesbach an Zeigler war es in Basel zwischen den<br />
oberrheinischen Reichsstädten und den Eidgenossen zu entscheidenden Verhandlungen<br />
über die Auslösung der verpfändeten Gebiete gekommen. Resultat der Gespräche<br />
war ein Entwurf des ein Jahr später geschlossenen Bündnisses, über den in<br />
diesen Tagen diskutiert wurde. In einem drei Tage später geschriebenen Brief wendet<br />
sich Diesbach aberm<strong>als</strong> an Zeigler und teilt ihm mit, er habe seit seinem letzten Brief<br />
ettliche nuwe Meren, <strong>als</strong>o Neuigkeiten, erhalten 15 . So sei es dem französischen König<br />
gelungen, eine Stadt in der Grafschaft Armagniak einzunehmen, wobei sehr viele<br />
Soldaten umgekommen seien. Außerdem habe der König einen Waffenstillstand mit<br />
dem burgundischen Herzog geschlossen, wovon er jedoch noch keine genaue Kenntnis<br />
besitze. Dies alles verkünde er seinem liebsten Frúnd Zeigler und bittet ihn, es an<br />
die End in geheimd zu bringen, wo es ihm guot beduncke. Zum Schluss wiederholt er,<br />
man müsse unbedingt dafür sorgen, dass die genannten vier Waldstädte nicht vom<br />
Bündnis abfielen und fordert den Basler auf, ihm gleichsam etwaige Neuigkeiten im<br />
Geheimen zu übermitteln.<br />
An den vorgestellten Briefen wird deutlich, dass es gerade bei persönlichen Netzwerken<br />
zwischen einzelnen Ratsherren nicht immer einfach ist, zwischen offizieller und<br />
inoffizieller Kommunikation zu trennen. Vielmehr gingen diese beiden Kommunikationsarten<br />
Hand in Hand, und es war vielmehr so, dass die Netzwerke bewusst<br />
von den Räten im Auftrag ihrer Führung genutzt wurden, um so an Informationen<br />
zu gelangen, die sie sonst nicht erhalten hätten. Gerade für die dam<strong>als</strong> in intensiven<br />
Bündnisgesprächen befindlichen Kommunikationspartner Basel und Bern war es<br />
immens wichtig, Kontakte zu Personen an zentralen Schaltstellen aufzubauen bzw.<br />
zu intensivieren, wie Nikolaus von Diesbach das erfolgreich im gegebenen Beispiel<br />
zum für die Außen- und Kriegspolitik Basels zuständigen Dreizehnerkollegium tat.<br />
Das war umso bedeutsamer, <strong>als</strong> es den späteren Bündnispartnern ermöglichte, ihre<br />
gemeinsame Politik zu koordinieren.<br />
15 StAB, Deutsche Missiven C 51.<br />
Dis | kurs 161
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Beispiel 2: Netzwerke zwischen Verwandten<br />
Standen gerade die persönlichen Netzwerke von Berner und Basler Räten im Vordergrund,<br />
eröffnet ein weiterer vom Berner Unterschreiber Schilling geschriebener Brief<br />
einen weiteren Horizont 16 . An diesem werden verwandtschaftliche Netzwerke zwischen<br />
Bern und Straßburg deutlich. Der Großrat Schilling stand in engem Kontakt<br />
zur politischen Führungsgruppe und tat sich nach den Burgunderkriegen überdies<br />
<strong>als</strong> Verfasser einer Chronik über die Berner Geschichte hervor. Empfänger seines im<br />
Januar 1476 geschriebenen Briefes war sein in Straßburg lebender Vetter Barpfennig<br />
17 . Nach einleitenden Grußworten kommt Schilling gleich auf das Wesentliche zu<br />
sprechen. So habe er Barpfennig in einem seiner letzten Briefe darum gebeten, ihm<br />
nuwe Meren zu schreiben. Dass das bisher noch nicht geschehen sei, wäre insofern<br />
bedauerlich, <strong>als</strong> er ihm zahlreiche Neuigkeiten zukommen lassen habe. Darauf folgen<br />
ausführliche Beschreibungen dam<strong>als</strong> aktueller politischer Ereignisse aus Berner<br />
Perspektive, die Wiedergaben von an Bern geschriebener Briefe und Gerüchten aus<br />
Frankreich. Dann kommt Schilling darauf zu sprechen, man habe in Bern vernommen,<br />
dass sich die Stadtoberen Straßburgs sich dazu entschlossen hätten, ir Stat vast<br />
stark zu machen, mit aufwerfen nuwer Graben und andern dingen, worüber man sich<br />
in der Aarestadt sehr gefreut habe. Zum Schluss bittet Schilling noch um die Ausrichtung<br />
von Grüßen an einige Straßburger Ratsherren und wiederholt seine Bitte<br />
um Neuigkeiten. Auch wenn Schilling in seinem Brief nicht explizit angab, er handle<br />
im offiziellen Auftrag, ist davon auszugehen, dass er von Barpfennig erhaltene Informationen<br />
dem Berner Rat übermittelte. Denn umgekehrt hätte auch sein Brief<br />
nicht den Weg ins Straßburger Archiv gefunden: Barpfennig hat ihn wahrscheinlich<br />
aufgrund seines hohen Informationswertes seinen Stadtoberen übermittelt.<br />
Auch hier lässt sich keine klare Trennlinie zwischen offizieller und inoffizieller Kommunikation<br />
ziehen. Gerade die städtischen Schreiber verfügten über engmaschige<br />
Netze von verwandtschaftlichen und beruflichen Beziehungen außerhalb der Städte,<br />
in denen sie beschäftigt waren. Diese konnten sie im Auftrag ihrer Obrigkeiten gezielt<br />
nutzen. Außerdem waren sie in der Lage, neue Netzwerke, beispielsweise auch<br />
zu Amtskollegen in anderen Städten, aufzubauen. In Ansätzen kann man ein solches<br />
Netz auch bei dem aus einer in Solothurn beheimateten Notarenfamilie stammenden<br />
Schilling vermuten. So war er zunächst <strong>als</strong> Schreiber in Luzern tätig, bis er im Jahr<br />
1460 in die Kanzlei der Stadt Bern wechselte. Interessant ist zudem, dass die erste<br />
Ehefrau von Diebolds Vater aus Hagenau stammte. Zu dieser unweit von Straßburg<br />
gelegenen Stadt unterhielt auch Schilling gute Beziehungen, schließlich hatte er dort<br />
eine Ausbildung zum Buchillustrator in der Werkstadt von Diebold Lauber gemacht.<br />
16 Archives Municipales et Communautaires de Strasbourg (AMS), AA 292, Nr. 33.<br />
17 Zu ihm vgl. Ladner, Pascal: Diebold Schilling d. Ä., in: Verfasserlexikon 8, Sp. 670 ff.<br />
162 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Daher ist davon auszugehen, dass er über persönliche Bindungen zum gemeinsam<br />
mit den Eidgenossen gegen Burgund vorgehenden Oberrhein verfügte, die nun –<br />
gerade in Zeiten des Krieges – eine Intensivierung erfuhren und von den Führungsgruppen<br />
Berns wie Straßburgs unterstützt wurden.<br />
Beispiel 3: Netzwerke des Straßburger Stadtschreibers<br />
Etwas anders verhält es sich mit dem Kommunikationsnetzwerk, das der Straßburger<br />
Stadtschreiber Johannes Meyer mit Martin von Ingelheim, Schreiber des Kriegsrats<br />
von Metz, unterhielt. Explizit auf obrigkeitlichen Auftrag hin hat Meyer den Kontakt<br />
zu dem Metzer gesucht. So gibt Ingelheim wiederholt an, dass Straßburger Amtsträger<br />
bei ihm erschienen seien, die ihn um allerley nüwe meren gebeten hätten 18 . Dem<br />
Wunsch versuche er so gut wie möglich nachzukommen, obgleich er nit zum Rade,<br />
<strong>als</strong>o zum eigentlichen inneren Kreis der Stadt Metz, gehöre. Eine Brisanz bekommt<br />
dieser Briefwechsel insofern, <strong>als</strong> die Metzer Führung im betrachteten Zeitraum stark<br />
unter dem Einfluss Burgunds stand und dessen oberrheinfeindliche Politik unterstützte<br />
19 . Die Serie der knapp 15 von Ingelheim geschriebenen Briefe setzt 1473 ein<br />
und reicht bis ins Jahr 1476. In ihnen berichtet er beispielsweise von burgundischen<br />
Truppenbewegungen in den Vogesen und über Neuigkeiten aus Lothringen.<br />
Ein anderer Informant, der den Straßburger Stadtschreiber gleichsam mit wichtigen<br />
Neuigkeiten aus dem Herzogtum Lothringen versorgte, fürchtete wahrscheinlich um<br />
sein Leben. Nur so wird verständlich, warum dieser leider anonyme Verfasser in den<br />
Briefen, in denen er besonders brisante Informationen übermittelte, diesen Straßburger<br />
darum bat, nicht <strong>als</strong> Informant genannt zu werden, da man in Kriegszeiten<br />
nicht wisse, wem zü getrüwen sy. Dementsprechend richtete er folgenden Wunsch an<br />
Meyer: Ich bitt üch, wann ir dissen Brieff gelesent, zerissen in 20 . Dem kam dieser indirekt<br />
nach, indem er die unter den Briefen stehende Unterschrift einfach ausschnitt.<br />
Der Schutz des Informanten wurde damit gewahrt. Die Briefe stellen einen Überlieferungszufall<br />
dar und sind nur erhalten, weil die in ihnen gegebenen geheimen<br />
Informationen äußerst wichtig für das weitere militärische Vorgehen Straßburgs und<br />
seiner Bündnispartner waren 21 . Denn es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass<br />
Straßburg diese weiterleitete. Man bewegt sich aberm<strong>als</strong> in einer Grauzone zwischen<br />
offizieller und inoffizieller Kommunikation, in denen alternative Netzwerke eine ent-<br />
18 AMS AA 264, Nr. 37.<br />
19 Zu Politik und Geschichte der Stadt Metz im Vorfeld und während der Burgunderkriege<br />
vgl. Schneider, Jean: Metz et la Bourgogne au temps de Charles le Hardi (1467–1477),<br />
in: Mémoires de l´académie nationale de Metz 1976/77, S. 305–335.<br />
20 So in AMS AA 292, Nr. 29, 30 und 31.<br />
21 Vgl. dazu Esch, Arnold: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall <strong>als</strong> methodisches<br />
Problem des Historikers, in: HZ 240 (1985), S. 529–570.<br />
Dis | kurs 163
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
scheidende Rolle bei der Konstituierung von Bündnissen spielten.<br />
Beispiel 4: Organisierte geheime Netzwerke<br />
Wie auf solchen Wegen erhaltene Informationen verwendet wurden, kann das nächste<br />
Beispiel illustrieren. Mit der Ende Juli 1474 durch Karl den Kühnen durchgeführten<br />
Belagerung der am Niederrhein gelegenen Stadt Neuß wurden die Burgunderkriege<br />
eingeläutet. Der Grund dafür lag im Konflikt um den Kölner Erzbischofsstuhl. Infolge<br />
von Streitigkeiten zwischen der Stadt Köln und dem amtierenden Erzbischof Ruprecht<br />
von der Pfalz, Bruder des Pfalzgrafen bei Rhein und entfernter Verwandter des<br />
burgundischen Herzogs, war Ruprecht abgesetzt und vertrieben worden und suchte<br />
Hilfe bei Burgund. Ebenfalls Ende Juli fand in Basel eine große Versammlung der<br />
oberrheinischen-eidgenössischen Koalition statt. Seinen Gesandten in Basel schrieb<br />
Straßburg am 24. Juli 1473 einen Brief, in dem sie mitteilten, dass den Straßburger Räten<br />
ettliche nüwe Meren angelangt seien, die sie dort, wo es ihnen vorteilhaft erschien,<br />
vorbringen sollten. Verwiesen wird in dem Brief auf einen ingeslossen Zedel, der sich<br />
tatsächlich auch an den Brief geheftet findet. Auf diesem wird angegeben, dass ein<br />
glouplich man uß Lothringen beim Rat in aller geheimd vorgesprochen habe, der mitgeteilt<br />
habe dass Karl dem Pfalzgrafen mit einer großen Anzahl von Soldaten zur Hilfe<br />
komme. Daran wird gleichsam eine weitere Möglichkeit der durch die Städte genutzten<br />
Kommunikationsnetze offenbar. Bei dieser handelte es sich um von der Stadt<br />
für das Einholen von Informationen bezahlte geheime Kundschafter, die den Auftrag<br />
hatten, sich in anderen Städten, auf Märkten und in Grenzgebieten umzuhören und<br />
ihre auf diese Weise gewonnenen Informationen dem Rat in streng geheim gehaltenen<br />
Berichten mitzuteilen. Als Kundschafter kamen alle Personen- und Berufsgruppen<br />
in Betracht. Vor allem aber scheinen Frauen, Wirte, Kaufleute und Priester<br />
scheinen für diese Tätigkeiten herangezogen worden zu sein. Gerade in Kriegszeiten<br />
war man auf die Arbeit dieser <strong>als</strong> Spione zu bezeichnenden Personen angewiesen. So<br />
finden sich zahlreiche Berichte, die ebenfalls einen Überlieferungszufall darstellen.<br />
Auch sie wurden nur aufbewahrt, weil sie wichtig für das weitere außenpolitische<br />
und militärische Vorgehen waren. Denn in Kriegszeiten war jede Bewegung und jede<br />
Handlung des politischen Gegners wichtig. Unter der Überschrift Nüwe Meren uß<br />
Flandern 22 finden sich Aufzeichnungen eines Straßburger Schreibers, in denen er die<br />
von einem Kundschafter, wahrscheinlich einem Händler, übermittelten Informationen<br />
zusammenfasst. Laut diesen habe der Herzog von Burgund auf einem Markt in<br />
Flandern Heringe, ander vngesaltzen Vische vnd Viande kaufen lassen In einem anderen<br />
Bericht berichtet ein Kundschafter namens Klaus selbst 23 . Er gibt an, dass er in<br />
22 AMS AA 266, Nr. 30r.<br />
23 AMS AA 266, Nr. 54r.<br />
164 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
Metz gehört habe, dass sich der Herzog von Burgund mit seinen Truppen Richtung<br />
Thionville aufgemacht habe, wo er nun sein Lager aufzuschlagen gedenke. Insgesamt<br />
fünf Tausend Soldaten und zahlreiche Wagen mit Büchssen führe er mit sich. Es folgen<br />
genaue Informationen, wie viele Büchsen es genau seien, wie weit diese schießen<br />
könnten und wie der weitere Weg des Herzogs von Burgund aussehe.<br />
Die Beispiele dieses informellen Kommunikationsflusses und dieser alternativen<br />
Kommunikationskanäle ließen sich problemlos erweitern. Die auf diesem geheimen<br />
Wege übermittelten Informationen wurden den Bündnispartnern in der offiziellen<br />
Kommunikation ohne Nennung des Informanten mitgeteilt. In den Briefen heißt es<br />
dann, ein guter Frúnd, ein glouplich Man oder ein verswigen Knecht hätten dies oder<br />
jenes berichtet. Meist wurde in den Briefen zusätzlich betont, wie geheim diese Informationen<br />
gewonnen seien und dass sie nur für sie, die Bündnispartner, bestimmt<br />
seien. Überdies wurden die Empfänger zum sensiblen Umgang aufgefordert und gebeten,<br />
auch ihrerseits Informationen zu übermitteln. So markierten sie den Aufbau<br />
eines neuen Kommunikationsraumes, der essentiell auf Vertrauen und Reziprozität<br />
basierte.<br />
Beispiel 5: Unerwünschte Netzwerke<br />
Ein letztes Beispiel mag illustrieren, wie wichtig den Räten die Geheimhaltung von<br />
Informationsflüssen gewesen sein muss. Der <strong>als</strong> Schreiber der Straßburger Hauptleute<br />
in den Burgunderkriegen angestellte Hans Düsch, späterer Verfasser einer Chronik<br />
über die Burgunderkriege, schrieb am 20. und am 24. Juli 1475 zwei Briefe aus<br />
dem Lager in der Nähe von L'Isle-sur-le-Doubs 24 . In dem ersten Brief berichtet er<br />
seiner Ehefrau Eva von seinen Erlebnissen in der letzten Schlacht, über die Pläne<br />
der Straßburger Truppen und bittet sie um Ausrichtung von Grüßen an seine Mutter<br />
sowie um Übermittlung von Schreibutensilien 25 . Der zweite Brief ist an den Straßburger<br />
Bürger Jakob Ber gerichtet 26 . Auch diesen informiert er über den weiteren<br />
Weg der Straßburger Truppen und gibt an, er habe vom Verwalter der Kriegsbeute<br />
ein Buch geschenkt bekommen. Düschs Briefe sind nur erhalten, weil es großen<br />
Ärger um sie gab, wovon. Davon legt ein am 29. Juli 1475 verfasstes Schreiben der<br />
empörten Straßburger Führung ins Feld ein eindrückliches Zeugnis ab 27 . Laut diesem<br />
hätte der Rat einen Brief der Hauptleute mit der Information über die letzten<br />
Eroberungszüge erhalten. In diesem habe jedoch nicht gestanden, was sie nun tun<br />
24 Zu Düsch vgl. Schanze, Frieder, Tüsch, Hans Erhart (Johannes Düsch), in: Verfasserlexikon<br />
Band 2, Sp. 1170–1179.<br />
25 AMS AA 281, Nr. 24.<br />
26 AMS AA 281, Nr. 23.<br />
27 AMS AA 275, Nr. 26.<br />
Dis | kurs 165
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
würden. Dies jedoch gehe aus einem Brief hervor, den ihr Schreiber – Düsch – an<br />
seine Ehefrau geschrieben habe. Da es nicht sein dürfe, dass eine Ehefrau früher <strong>als</strong><br />
der Rat von der olitischen Taktik der Straßburger Hauptleute wisse, befiehlt er ihnen<br />
daraufhin ausdrücklich, das ihr Schreiber nyemand anders <strong>als</strong> ihnen schreiben solle.<br />
Erschwerend komme hinzu, dass der städtische Bote bei seiner letzten Rückkehr<br />
insgesamt 46 Briefe mit sich geführt habe, die zum Teil von Privatpersonen an ihre<br />
Familienmitgliedern geschrieben worden seien. Das sei in zweifacher Hinsicht überaus<br />
ärgerlich: So würden erstens die sowieso schon überlasteten städtischen Boten<br />
mit solich Nebengeschrifften aufgehalten. Zweitens sei es keinesfalls im Interesse des<br />
Straßburger Rates, dass vertrauliche Informationen auff der Gassen geseit werden.<br />
Was alles auf den Straßen der Stadt Straßburg gesagt werden konnte und der Rat zu<br />
unterbinden versuchte, zeigt ein Brief eines gewissen Kunzmann von Wittelshausen<br />
an seinen in Straßburg lebenden Vetter 28 . Dieser wurde zwei Tage später <strong>als</strong> der Brief<br />
Düschs an seine Ehefrau geschrieben und stellt wahrscheinlich einen der erwähnten<br />
Briefe von Privatpersonen dar. In diesem wird angegeben, dass die Straßburger<br />
Hauptleute ihre Soldaten gar weydlich beschissen hätten, und dass ihnen gar übel zü<br />
essen gebe. Mit solchen Informationen wäre einerseits die Kriegsmoral der zu Hause<br />
um ihre Ehemänner und Väter bangenden Familien untergraben worden, andererseits<br />
wusste der Rat aus der eigenen politischen Praxis nur zu gut, welche Rolle alternative<br />
Kommunikationsnetze gerade in Kriegszeiten spielten, und dass diese auch<br />
von den politischen Gegnern genutzt wurden.<br />
Schluss<br />
Bei den vorgestellten alternativen Kommunikationsnetzen fällt es schwer, eine<br />
Trennlinie zwischen offizieller und inoffizieller Kommunikation zu ziehen. Vielmehr<br />
scheint, dass sie gerade in Kriegszeiten von den Obrigkeiten gezielt in Dienst<br />
genommen wurden, um auf diese Weise die gemeinsame Politik mit den späteren<br />
Bündnispartnern vor und nach dem Bündnisabschluss zu koordinieren. So sprach<br />
beispielsweise der Berner Nikolaus von Diesbach zunächst mit seinen Ratskollegen<br />
über den Brief, den er vom Basler Heinrich Zeigler erhalten hatte, die ihn zur vorgestellten<br />
Antwort rieten. Aber auch zwischen Verwandten ausgetauschte Briefe, wie<br />
der des Berners Schilling an seinen Straßburger Vetter Barpfennig, blieben nicht<br />
beim eigentlichen Empfänger und wurden aufgrund ihres Informationsgehaltes an<br />
die Stadtoberen übergeben. Daneben versuchten die städtischen Führungsgruppen<br />
gerade in Kriegszeiten, die Informationsbeschaffung und Kommunikationsnetze zu<br />
organisieren, wie die vorgestellten Straßburger Spionage- und Kundschaftersysteme<br />
zeigen können. Die Wege Beschaffung wurden meist verschleiert. Gerade diese al-<br />
28 AMS AA 281, Nr. 25.<br />
166 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
ternativen Kommunikationsnetze sorgten für eine Festigung des Verhältnisses der<br />
Bündnispartner untereinander. Damit kann man ihnen eine wichtige Rolle bei der<br />
Konstituierung und Konsolidierung des Bündnisses attestieren. Schließlich besaßen<br />
sie eine nicht zu unterschätzende integrative Funktion, sorgten für eine Kohäsion der<br />
Verbündeten und waren in der Lage, Vertrauen unter ihnen aufzubauen. Nach relational-konstruktivistischer<br />
Definition sind Räume das Produkt von menschlichen<br />
Wahrnehmungen, Bewertungen und Tätigkeiten 29 . Daran wird deutlich, dass sie sich<br />
<strong>als</strong>o erst über den Menschen konstituieren, statt von vornherein gegeben zu sein 30 . In<br />
diesem Zusammenhang kommt den alternativen Kommunikationsnetzen der Städte<br />
eine entscheidende Bedeutung zu.<br />
Literatur<br />
Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“, in: Ders. (Hg.), Leçon sur la leçon. Zwei<br />
Vorlesungen, Frankfurt a. M. 31995, S. 9–46.<br />
Mauss, Marcel: Die Gabe, Frankfurt a. M. 2 1994.<br />
Jucker, Michael: Gesandte, Schreiber, Akten: Politische Kommunikation auf eidgenössischen<br />
Tagsatzungen im Spätmittelalter, Zürich 2004.<br />
Sieber-Lehmann, Claudius: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am<br />
Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen 1995.<br />
29 Vgl. Lefebvre, Henri: La production de l´espace, Paris 1974.<br />
30 Vgl. Füssel, Marian und Rüther, Stefanie: Einleitung, in: Dartmann, Christoph, Füssel,<br />
Marian und Rüther, Stefanie (Hgg.): Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung<br />
gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2004, S. 12.<br />
Dis | kurs 167
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Thema: Patient Demokratie<br />
A) Theoretische Reflexionen<br />
B) (Ver-)Fallstudien<br />
C) Historische Dimensionen<br />
Ein Fest für alle Sinne: Die symbolisch-klangliche<br />
Dimension frühneuzeitlicher Herrschaftsinszenierung<br />
am Beispiel der Herrschereinzüge zum Regensburger<br />
Reichstag von 1653/54<br />
Jochen Missweit<br />
Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />
E-Mail: jochenmissweit@web.de<br />
Schlüsselwörter<br />
Symbolische Kommunikation, Herrschaft, Musik, frühe Neuzeit<br />
„An eine Macht, die zwar vorhanden ist, aber nicht sichtbar im Auftreten des<br />
Machthabers selbst in Erscheinung tritt, glaubt das Volk nicht. Es muß sehen, um<br />
zu glauben“. 1<br />
Die politisch-soziale Ordnung der Vormoderne wurde maßgeblich durch symbolische,<br />
d. h. nonverbale Kommunikation geprägt 2 . Die noch wenig ausdifferenzierte<br />
frühneuzeitliche Gesellschaftsordnung beruhte sehr stark auf der persönlichen Präsenz<br />
der Beteiligten. Die gemeinsame Teilnahme an öffentlichen symbolisch-rituellen<br />
Akten war von enormer Bedeutung, denn erst durch das reziproke Handeln und Agieren<br />
der Akteure konnte die ständisch-hierarchisch gegliederte Gesellschaftsstruktur<br />
1 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums<br />
und der höfischen Aristokratie, Amsterdam 2002, S. 202.<br />
2 Siehe dazu grundlegend Althoff, Gerd / Siep, Ludwig: Symbolische Kommunikation<br />
und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution, in:<br />
Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), S. 391–412; Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische<br />
Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven,<br />
in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527.<br />
168 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
wirkungsvoll inszeniert und damit für alle deutlich erkennbar abgebildet werden.<br />
Gleichzeitig wiesen diese symbolischen Kommunikationsakte einen stark performativen<br />
Charakter auf. Die dargestellte Ordnung gewann erst durch ihre geglückte Inszenierung<br />
an Verbindlichkeit, oder anders ausgedrückt: Die soziale Realität wurde<br />
von den Akteuren mittels symbolischer, performativer Kommunikationsakte stets<br />
aufs Neue geschaffen 3 . Herrschaft und Macht, Ansehen und Rang bedurften daher<br />
in nicht geringer Weise der symbolischen Vermittlung und Konstituierung. Jegliche<br />
Form der Prachtentfaltung – und darauf verweist das obige Zitat von Norbert Elias<br />
– diente stets der herrscherlichen Selbstinszenierung und Legitimation gegenüber einer<br />
Öffentlichkeit. Diese musste sich nicht nur auf die eigenen Untertanen beschränken,<br />
sondern umfasste in der Regel die gemeineuropäische Hochadelsgesellschaft,<br />
die eine überterritoriale höfische Öffentlichkeit bildete 4 .<br />
Symbolische Kommunikation basiert generell auf Zeichen respektive auf ganzen<br />
Zeichensystemen; das frühneuzeitliche Zeremoniell fungierte <strong>als</strong> ein solches. Durch<br />
seine stereotypisierten, d. h. in ihrer äußeren Form normierten Handlungssequenzen<br />
sollte jegliches spontanes, individuelles Handeln der Akteure ausgeschlossen werden.<br />
Erst die so gewonnene Kontrolle über das Handlungsgeschehen ermöglichte die<br />
Abbildung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen 5 . Im Zeremoniell traten soziale<br />
Distinktionen sinnlich in Erscheinung, indem diese für alle Beteiligten in nachvollziehbare,<br />
gleichsam messbare Abstufungen transformiert wurden. Da im Heiligen<br />
Römischen Reich Deutscher Nation Herrschaft auf verschiedenen Ebenen ausgeübt<br />
wurde, mussten die zahlreichen, heterogenen Herrschaftsträger in eine soziale Rangordnung<br />
gebracht werden: angefangen bei den kleineren Territorialherren (Reichsrittern,<br />
Reichsgrafen) über die Reichsfürsten in toto bis hin zu den Kurfürsten und<br />
dem Kaiser sollte idealiter eine sukzessive Rangfolge erstellt werden 6 . Dies war in<br />
der Praxis vor allem immer dann besonders prekär, wenn sich das Alte Reich <strong>als</strong><br />
solches vor großer Kulisse an bedeutenden Schauplätzen konstituierte, wie es etwa<br />
3 Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation, S. 495; vgl. dazu grundsätzlich Berger,<br />
Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine<br />
Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 20 2004, hier bes. S. 55.<br />
4 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung<br />
des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen<br />
zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, N. F. 7 (1997), S. 145–176, hier<br />
S. 148.<br />
5 Stollberg-Rilinger, Barbara: Zeremoniell <strong>als</strong> politisches Verfahren. Randordnung und<br />
Rangstreit <strong>als</strong> Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Kunisch, Johannes<br />
(Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997, S. 91–132, hier<br />
S. 94.<br />
6 Vgl. Gotthard, Axel: Das Alte Reich 1495–1806, Darmstadt 2003, hier S. 2 f.; vgl. insgesamt<br />
Stollberg-Rilinger, Barbara: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom<br />
Ende des Mittelalters bis 1806, München 2006.<br />
Dis | kurs 169
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
bei den Reichstagen der Fall war 7 . War das frühneuzeitliche Zeremoniell generell auf<br />
die sinnliche Wahrnehmung aller Beteiligten ausgerichtet, so stellt das obige Zitat<br />
von Elias: das Volk müsse sehen, um zu glauben, eine eigentümlich Verkürzung der<br />
Thematik dar, indem es sich bloß auf die visuelle Dimension des herrschaftlichen<br />
Auftretens bezieht. Vielmehr scheint es plausibel zu sein, das Zeremoniell <strong>als</strong> synästhetisches<br />
Phänomen zu betrachten, das sich mittels aller fünf Sinne realisiert. Fragt<br />
man hingegen nach den Medien, denen sich die Potentaten bei ihrer Herrschaftsrepräsentation<br />
bedienten, so zeigte die bisherige Forschung ein weitaus größeres Interesse<br />
an Zeichen verbaler, visueller, gegenständlicher oder gestischer Art 8 . Dabei wies<br />
das frühneuzeitliche Zeremoniell doch stets auch eine akustische Dimension auf 9 .<br />
Dieser bisher eher vernachlässigten Perspektive soll in diesem Aufsatz an einem<br />
konkreten Fallbeispiel nachgegangen werden: den Herrschereinzügen zum bevorstehenden<br />
Regensburger Reichstag von 1653/54 10 . Das Einzugszeremoniell bietet<br />
sich aufgrund seiner hochgradig formalisierten und standardisierten Handlungsse-<br />
7 Vgl. Luttenberger, Albrecht P.: Pracht und Ehre. Gesellschaftliche Repräsentation und<br />
Zeremoniell auf dem Reichstag, in: Kohler, Alfred/Lutz, Heinrich (Hg.): Alltag im 16. Jahrhundert.<br />
Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten, Wien 1987, S. 291–<br />
326; Stollberg-Rilinger, Barbara: Die Symbolik der Reichstage. Überlegungen zu einer<br />
Perspektivumkehr, in: Lanzinner, Maximilian/Strohmeyer, Arno (Hg.): Der Reichstag<br />
1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeit, Göttingen 2006, S. 77–93.<br />
8 Vgl. u. a. Stollberg-Rilinger, Barbara: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? –<br />
Einleitung, in: Dies. (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005,<br />
S. 9–24; Hahn, Peter-Michael/Lorenz, Hellmut (Hg.): Formen der Visualisierung von<br />
Herrschaft. Studien zu Adel, Fürst und Schlossbau vom 16. bis zum 18. Jahrhundert,<br />
Potsdam 1998; Patze, Hans/Paravicini, Werner (Hg.): Fürstliche Residenzen im spätmittelalterlichen<br />
Europa, Sigmaringen 1991.<br />
9 Jörg Jochen Berns sprach in diesem Zusammenhang von „Klangzeremoniell“ und „politischen<br />
Klangstrategien“. Siehe dazu Berns, Jörg Jochen: Herrscherliche Klangkunst<br />
und höfische Hallräume. Zur zeremoniellen Funktion akustischer Zeichen, in: Hahn,<br />
Peter-Michael/Schütte, Ulrich (Bearb.): Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches<br />
Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit, Berlin 2006, S. 49–64, hier<br />
S. 49.<br />
10 Der Regensburger Reichstag von 1653/54 stellt innerhalb der langen Reichstagsgeschichte<br />
einen Wendepunkt dar: Hatte es sich bis dahin um eine nicht permanent tagende,<br />
oberste reichsständische Versammlung gehandelt – während des Dreißigjährigen<br />
Krieges kam zwischen 1613 und 1640 gar kein Reichstag mehr zustande –, so bestand<br />
der folgende Reichstag von 1663 bekanntlich <strong>als</strong> „Immerwährender Reichstag“ in Regensburg<br />
bis zum Ende des Alten Reiches 1806 fort. Während sich letzterer immer mehr<br />
zu einem Gesandtenkongress entwickelte, basierte der Reichstag von 1653/54 noch auf<br />
jenem gemeinsamen Agieren der persönlich anwesenden Herrschaftsträger, das für den<br />
Reichstag bis dahin so charakteristisch gewesen ist. Vgl. dazu Neuhaus, Helmut: Das<br />
Reich in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte Band 42), München<br />
2003, hier S. 39, 74. Speziell zur Geschichte des Regensburger Reichstages von 1653/54<br />
vgl. Müller, Andreas: Der Regensburger Reichstag von 1653/54. Eine Studie zur Entwicklung<br />
des Alten Reiches nach dem Westfälischen Frieden, Frankfurt a. M. 1992.<br />
170 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
quenzen mit symbolischem Verweischarakter 11 sowie seinem extrem hohen Öffentlichkeitsgrad<br />
ganz besonders an. Bei keiner anderen Gelegenheit trafen Herrscher<br />
und Beherrschte so unmittelbar aufeinander, hatte das gemeine Volk dermaßen großen<br />
Anteil an der Herrscher- und Herrschaftsrepräsentation 12 . Trafen gleich mehrere<br />
Potentaten vor großem Publikum aufeinander, wie es bei Reichstagen der Fall<br />
war, konnte das jeweilige Empfangszeremoniell zu einem regelrechten Gradmesser<br />
fürstlicher Praecedenz werden. Doch inwiefern kann bei solchen Gelegenheiten von<br />
einer klanglichen Herrschaftsinszenierung gesprochen werden? Lässt sich grundsätzlich<br />
eine differenzierte akustische Dimension des Einzugszeremoniells ausmachen?<br />
Wenn ja, wurde eine solche von den Zeitgenossen registriert bzw. findet diese<br />
in Festbeschreibungen und Zeremonialprotokollen Erwähnung? Inwiefern spielten<br />
Klang und Musik bei der Herrschaftsrepräsentation überhaupt eine Rolle? Lässt sich<br />
gar eine zielgerichtete „Klangpolitik“ der Akteure feststellen? An welchen Stellen des<br />
meist mehrstündigen Einzugszeremoniells erklang Musik und welche Instrumente<br />
kamen dabei zum Einsatz? Diesen Fragen soll nun im Folgenden nachgegangen werden.<br />
Der kaiserliche Einzug in die Stadt Regensburg <strong>als</strong><br />
Klangspektakel<br />
Unter einem Einzug – auch <strong>als</strong> Adventus 13 bezeichnet – verstanden die Zeitgenossen<br />
die feyerliche Ankunfft eines Landesherrn in einer seiner Städte bzw. eines hohen<br />
Gastes oder eines Abgesandten 14 . Der Akt der Einholung in die Stadt ist dabei<br />
<strong>als</strong> Ehrenbezeugung für den Einziehenden zu verstehen 15 . Im Einzugszeremoniell<br />
spiegelten sich das Ansehen und die Würde eines Potentaten wider; dieser war seinem<br />
Stande gemäß zu empfangen 16 . Die Vorbereitungen für den kaiserlichen Einzug,<br />
der für den 12. Dezember 1652 erwartet wurde, gestalteten sich demzufolge<br />
äußerst aufwendig und waren das Ergebnis minutiöser Planung. Neben dem Bau<br />
11 Stollberg-Rilinger: Symbolik der Reichstage, S. 80.<br />
12 Vgl. Tenfelde, Klaus: Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzuges, in: Historische<br />
Zeitschrift 235 (1982), S. 45–84, hier S. 55.<br />
13 Zum Terminus „Adventus“ vgl. Schenk, Gerrit Japser: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge<br />
im spätmittelalterlichen Reich, Köln; Weimar; Wien 2003, S. 59.<br />
14 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften<br />
und Künste …, 64 Bde., Halle u. a. 1732–1754, hier Bd. 8, S. 608.<br />
15 Vgl. Dotzauer, Winfried: Die Ankunft des Herrschers. Der fürstliche „Einzug“ in die<br />
Stadt (bis zum Ende des Alten Reichs), in: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973),<br />
S. 245–288.<br />
16 Vgl. Lünig, Johann Christoph: Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, Oder Historisch=<br />
und Politischer Schau=Platz Aller Ceremonien …, 2 Bde., Leipzig 1719/20, hier<br />
Bd. I, S. 30.<br />
Dis | kurs 171
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
eines Ballhauses sowie des Comedien-Hauses wurde auch eine eigens für diesen Anlass<br />
konstruierte Ehrenpforte aufgerichtet, die den kaiserlichen Einzugsweg säumen<br />
sollte 17 . Gegen Mittag postierte man die Bürgerschaft mit Gewehr und Fahnen entlang<br />
des geplanten Einzugsweges vom Ostentor bis hin zur kaiserlichen Residenz,<br />
dem Bischofshof 18 . Dem alten Herkommen entsprechend 19 rüsteten sich die bereits<br />
vor Ort befindlichen Reichsfürsten, unter ihnen auch die drei geistlichen Kurfürsten<br />
20 , am Tag der kaiserlichen Ankunft, um diesem eine halbe Meile bis vor die Stadt<br />
entgegenzukommen. Zwischen 13 und 14 Uhr setzte sich das Empfangskomitee in<br />
genau geregelter Ordnung, die vom Reichserbmarschall Graf von Pappenheim festgelegt<br />
wurde, in Bewegung. Die dabei eingenommene Auszugsordnung ist in Bezug<br />
auf die hier gewählte Thematik insofern höchst interessant, <strong>als</strong> in ihr eine Musikergruppe<br />
ganz besonders prominent hervorragt: die Trompeter. Der lange Tross an<br />
Pferden, Kutschen und Gefolge, der dem Kaiser entgegenfuhr – in bildlichen Darstellungen<br />
meist <strong>als</strong> serpentinenartiger Festzug visualisiert –, wurde in einzelne Abteilungen<br />
untergliedert, indem zwischen den einzelnen Abordnungen jeweils eine<br />
Gruppe Trompeter in spezieller Livree und dem Wappen ihres Dienstherrn platziert<br />
war 21 . Diese Musikergruppen scheinen eine zeremonielle Ordnungsfunktion bzw.<br />
im übertragenen Sinne eine Art „Interpunktionsfunktion“ für den gesamten Festzug<br />
übernommen zu haben. Wahrscheinlich sollte der Zuschauer in dem Massenspektakel<br />
nicht die Übersicht verlieren und daher kündigten die Trompeter ihren<br />
jeweils nachfolgenden Dienstherrn – vermutlich auch lautstark durch entsprechen-<br />
17 Vgl. dazu Joist, Christa/Kamp, Michael: Der Einzug von Kaiser Ferdinand III., seiner Gemahlin<br />
Eleonora von Gonzaga und König Ferdinands IV. 1652, in: Möseneder, Karl (Hg.):<br />
Feste in Regensburg. Von der Reformation bis in die Gegenwart, Regensburg 1986, S.<br />
200–212. Zur Funktion der „Ehrenpforten“ vgl. Rohr, Julius Bernhard: Einleitung zur<br />
Ceremonial-Wissenschaft der Grossen Herren. Neudruck der Ausgabe Berlin 1733, hrsg.<br />
von Monika Schlechte, Weinheim 1990, S. 611–613.<br />
18 Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 291. Der Magistrat der Stadt hatte eigens für diesen<br />
Anlass eine Stadtgarde von 250 Mann anwerben lassen. Vgl. dazu Joist/Kamp: Der<br />
Einzug von Kaiser Ferdinand III, S. 200.<br />
19 Vgl. Tenfelde: Adventus, S. 56; siehe auch Adlhoch, Gabriele/Joist, Christa/Kamp,<br />
Michael: Die Einzüge, in: Möseneder (Hg.): Feste in Regensburg, S. 31–42, hier S. 35.<br />
20 Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits der Abt von Fulda, der Bischof von Paderborn<br />
sowie die drei geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier in der Stadt. Vgl. Theatrum<br />
Europaeum, Bd. 7, S. 291; sowie Gumpelzhaimer, Christian Gottlieb: Regensburg's<br />
Geschichte, Sagen und Merkwürdigkeiten …, Dritte Abtheilung (1618 bis 1790), Regensburg<br />
1838, S. 1312.<br />
21 Die Trompeter des Bischofs von Regensburg beispielsweise in „violbraunem Gewand<br />
mit blauen Borten“, die Trompeter des Bischofs von Paderborn hingegen im „braunem<br />
Gewand mit Neckerfarben Borten“. Vgl. dazu Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685),<br />
S. 291–292. Vgl. auch Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Grossen Herren,<br />
S. 624 f., der diese Praxis <strong>als</strong> allgemein üblich bestätigt.<br />
172 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
de Signale 22 – an. Bemerkenswerterweise sind hierbei zwischen dem Komitat der<br />
Reichsfürsten und dem der Kurfürsten graduelle Unterschiede festzustellen. Führten<br />
die Reichsfürsten lediglich ein Trompeterpaar an der Spitze ihrer Zugabteilung mit<br />
sich, so wurde bei den drei geistlichen Kurfürsten eine weitere Trompetergruppe in<br />
der Größenordnung zwischen zwei bis sechs Musikern unmittelbar vor der Kutsche<br />
des jeweiligen Kurfürsten eingeschoben – der kurkölnischen Kutsche folgten sogar<br />
noch weitere zwei Trompeter im direkten Anschluss nach 23 . Die Kurfürsten scheinen<br />
sich ganz gezielt mit Trompetenklang umgeben zu haben. Eine mögliche Erklärung<br />
für dieses Phänomen dürfte sich aus den äußeren Bedingungen ergeben. Durch die<br />
Beteiligung mehrerer hundert Menschen samt Pferden und Kutschen muss es verhältnismäßig<br />
laut gewesen sein. Wenn das Zeremoniell grundsätzlich darauf ausgerichtet<br />
war, den Potentaten aus dem Alltagsgeschehen deutlich herauszuheben, so<br />
hatte sich dieser konsequenterweise ebenfalls von kontingenten Geräuschen abzuheben.<br />
Dieser umgab sich daher bei öffentlichen Auftritten mit einer Art „akustischen<br />
Kokon“ 24 . Diese „Klangwolke“ sollte den alltäglich-natürlichen Lärmpegel übertönen<br />
und ihn somit aus der langen Einzugskolonne akustisch herausheben und dadurch<br />
für den Zuschauer, der zugleich immer auch Zuhörer des Geschehens war, zusätzlich<br />
kennzeichnen.<br />
Neben dieser rein praktischen Funktion stellte der Trompetenklang darüber hinaus<br />
auch ein Symbol herrschaftlicher Macht dar 25 : In seiner repräsentativen Funktion war<br />
er ein unmissverständlicher Indikator für den politischen Rang eines Fürsten. Die<br />
Anzahl der Trompeter im Gefolge des Potentaten konnte <strong>als</strong> äußerlicher Ausdruck<br />
seiner Reputation gelten 26 . Trompeter gehörten zum obligatorischen Bestandteil eines<br />
jeden Fürstenstaates 27 . Der Klang der Trompete, so bemerkte es der Verfasser<br />
der ersten Abhandlung über die Geschichte der Trompete, Johann Ernst Altenburg,<br />
sei nicht nur solenner und erhabener <strong>als</strong> andere Klänge, er ließe sich auch vorzüg-<br />
22 Siehe dazu weiter unten.<br />
23 Theaterum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 292.<br />
24 Berns: Herrscherliche Klangkunst, S. 56–57.<br />
25 Vgl. hierzu grundlegend Zak, Sabine: Musik <strong>als</strong> „Ehr und Zier“. Studien zur Musik im<br />
höfischen Leben, Recht und Zeremoniell, Neuss 1979; sowie dies.: „Luter schal und<br />
süeze doene“. Die Rolle der Musik in der Repräsentation, in: Ragotzy, Hedda/Wenzel,<br />
Horst (Hg.): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990,<br />
S. 133–148.<br />
26 Vgl. Altenburg, Detlef: Untersuchungen zur Geschichte der Trompete, 3 Bde., Regensburg<br />
1973, hier Bd. I, S. 141.<br />
27 Vgl. Altenburg, Johann Ernst: Versuch einer Anleitung zur heroisch= musikalischen<br />
Trompeter= und Pauker= Kunst, zu mehrerer Aufnahme derselben historisch, theoretisch<br />
und praktisch beschrieben und mit Exempeln erläutert. Zwey Theile. Neudruck der Ausgabe<br />
Halle 1795, Dresden 1911, S. 26.<br />
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lich im Freien anwenden, um viel Aufsehen zu erregen. Besonders viel Aufsehen sei<br />
dem Fürsten vor allem dann gewiss gewesen, wenn er bei öffentlichen Auftritten<br />
die Trompeter in zwei Chören in prächtiger Livree und mit silbernen Instrumenten<br />
aufstellen ließ 28 . Der explizite Hinweis auf die silbernen Instrumente findet sich auch<br />
in dem vorliegenden Beispiel in Bezug auf die kurfürstlichen Trompeter wieder: So<br />
wird vermerkt, dass der Kurfürst von Trier derer zwei, der Kurfürst von Mainz drei<br />
und der Kurfürst von Köln sogar sechs mit sich geführt hätten 29 . Auf den ersten Blick<br />
mag der Materialhinweis marginal erscheinen, doch gerade den silbernen Instrumenten<br />
kam eine repräsentative Bedeutung zu. So bemerkte Altenburg, man hätte<br />
sich an den großen Höfen ausschließlich silberner Trompeten bedient 30 . Dies sei aber<br />
keineswegs aus klanglichen Gründen geschehen, wie man meinen könnte; oftm<strong>als</strong><br />
wären Messinginstrumente in ihrer Klangqualität sogar wesentlich höherwertiger<br />
gewesen 31 . Die Materialwahl hatte demnach nichts mit klanglichen Vorzügen zu tun,<br />
wohl aber mit dem Rang des jeweiligen Dienstherrn 32 . Die Funktion der silbernen<br />
Trompeten ging <strong>als</strong>o weit über ihren reinen Nutzen <strong>als</strong> Gebrauchsinstrumente hinaus.<br />
Es handelte sich bei ihnen vielmehr um Prunkinstrumente des Fürsten. Dessen<br />
Rang wurde nicht nur durch die prächtigen Livreen seines Gefolges, die aufwendig<br />
gestalteten und dekorierten Kutschen, sondern eben auch durch die silbern-glänzenden<br />
Instrumente optisch unterstrichen 33 .<br />
Konnte bereits für das Mitführen von Trompetern in der Empfangsdelegation zwischen<br />
Kur- und Fürsten ein gradueller Unterschied festgestellt werden, so verstärkt<br />
sich dieser Eindruck noch, wenn man die kaiserliche Entourage näher betrachtet.<br />
Nach der offiziellen Begrüßung des Kaisers vor der Stadt 34 , auf die hier nicht näher<br />
eingegangen werden soll, setzte sich der kaiserliche Einzug in die Stadt fort. Dabei<br />
registrieren die Quellen vier kaiserliche Trompeter unmittelbar vor der Kutsche, in<br />
dem der Kaiser nebst seiner Frau Eleonore von Mantua saß; ein weiterer Kayserlicher<br />
Heerpaucker sowie 8. Kayserl. Trompeter seien ganz am Ende des Zuges nachgefolgt 35 .<br />
28 Ebd., S. 26.<br />
29 Theaterum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 292.<br />
30 Altenburg: Versuch einer Anleitung, S. 10.<br />
31 Ebd., S. 6.<br />
32 Vgl. auch das Lemma „Trompete“ in Zedlers Universallexicon, Bd. 45, Sp. 1105.<br />
33 Zur Symbolkraft von Silber und silbernen Trompeten vgl. Cotte, Roger: Kosmische Harmonien.<br />
Die Symbolik in der Musik, München 1992, S. 55.<br />
34 Gumpelzhaimer: Regensburg's Geschichte, 3. Theil, S. 1313, sowie Theatrum Europaeum,<br />
Bd. 7 (1685), S. 292.<br />
35 Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 293. Neben den Paukern und Trompetern werden<br />
noch 60 weitere Musiker im kaiserlichen Gefolge erwähnt. Dabei dürfte es sich um die<br />
kaiserliche Hofkapelle gehandelt haben, die aber an dem Einzugszeremoniell selbst nicht<br />
aktiv beteiligt war.<br />
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Thema: Patient Demokratie<br />
Sollte die Anzahl der mitgeführten Trompeter idealiter den jeweiligen Rang des Potentaten<br />
widerspiegeln, dann stand dem Kaiser folglich die größte Anzahl zu: mit<br />
insgesamt 12 Trompetern und einem Heerpauker wurde die kaiserliche Vormachtstellung<br />
optisch und vermutlich auch akustisch unterstrichen.<br />
Klang- und sanglos lief der kaiserliche Einzug zumindest nicht ab. Dieser wurde<br />
sowohl von dem lautstarken Jubelgeschrei der Stadtbevölkerung <strong>als</strong> auch von dem<br />
dreimaligen Abfeuern der Kanonen auf den Wällen 36 begleitet. Ein erstes Mal feuerten<br />
diese, <strong>als</strong> der Zug auf der Höhe des Straubinger Tores war, ein zweites Mal, <strong>als</strong><br />
er an der Ehrenpforte vorbei kam, und ein letztes Mal, <strong>als</strong> der Kaiser schließlich an<br />
seiner Residenz angelangt war 37 . Dass sich neben der lautstarken Akklamation der<br />
Bürgerschaft und den martialischen Klängen des Kanonendonners 38 – zugleich Symbol<br />
militärischer Herrschaft – die mitgeführten Trompeter ebenfalls lautstark hören<br />
ließen, wird in den Quellen zwar nicht eigens erwähnt, ist aber sehr wahrscheinlich 39 .<br />
Lediglich an einer Stelle des insgesamt zweistündigen Ablaufs findet sich in den Quellen<br />
ein expliziter Hinweis auf eine Musikdarbietung. Die oben erwähnte Ehrenpforte<br />
stellte gleichzeitig eine Art Bühne dar; die Attika war <strong>als</strong> Musikempore ausgebaut 40 .<br />
Als sich nun der Kaiser dieser Stelle näherte, sei auff der Ehren=Pforten eine zimlich<br />
feine Music mit vollem Chor und starck lautenden Instrumenten zu vernehmen gewesen<br />
41 ; die Zeremonialakten des Wiener Oberhofmarschallamts sprechen sogar von<br />
einer schönen Music von allerley Stimmen, Seitnspil, Heerpaukhen und Trompetten 42 .<br />
Um welche Musiker es sich dabei gehandelt hat, ob nun städtische oder kaiserliche,<br />
muss offen bleiben. Auch über die künstlerisch-ästhetische Qualität der Darbietung<br />
schweigen sich die Quellen aus 43 . Nichtsdestotrotz dürfte die Musik aber dazu beigetragen<br />
haben, den Moment des kaiserlichen Erscheinens wirkungsvoll aus der Alltagssphäre<br />
herauszuheben. Zudem ließ sich auch das panegyrische Bildprogramm<br />
der Ehrenpforte, das in Wahlsprüchen, Emblemen, Inschriften und Allegorien Kaiser<br />
Ferdinand verherrlichte, durch den musikalischen Effekt in seiner Wirkung noch<br />
36 Ebd., S. 293.<br />
37 Vgl. Adlhoch/Joist/Kamp: Die Einzüge, S. 38.<br />
38 Von dem sonst üblichen Glockengeläut ist in den Quellen keine Rede.<br />
39 Den Angaben bei Rohr: Einleitung in die Ceremoniel-Wissenschafft der Grossen Herren,<br />
S. 615 zufolge, war es durchaus üblich, dass sich die kaiserlichen Heerpauker und Trompeter<br />
bei kaiserlichen Einzügen „in währenden (sic!) Marsch immer hören“ ließen.<br />
40 Joist/Kamp: Der Einzug von Kaiser Ferdinand III, S. 204.<br />
41 Gumpelzhaimer: Regensburg's Geschichte, 3. Theil, S. 1314; Theatrum Europaeum,<br />
Bd. 7 (1685), S. 293.<br />
42 Haus- Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien, Oberhofmarschallamt, Zeremonialakten (ZA),<br />
Protokollband 1: 1652–1659, Fol. 70.<br />
43 Vgl. dazu Riepe, Juliane: Hofmusik in der Zeremonialwissenschaft des 18. Jahrhunderts,<br />
in: Händel-Jahrbuch 49 (2003), S. 27–52, hier S. 39.<br />
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steigern 44 . Beim Einzugszeremoniell kam allem Zeichencharakter zu, was deutlich<br />
wahrnehmbare und womöglich quantifizierbare, nuancierte Abstufungen der beteiligten<br />
Akteure erlaubte. Man musste sich bei diesem Massenspektakel aber nicht nur<br />
sehen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auch hören lassen können. Die unterschiedliche<br />
Anzahl der mitgeführten Trompeter ist in diesem Zusammenhang nicht<br />
in erster Linie auf die musikalischen Vorlieben des jeweiligen Potentaten zurückzuführen,<br />
sondern fungierte vielmehr <strong>als</strong> Sinnbild herrscherlichen Selbstverständnisses.<br />
Obzwar grundsätzlich von der klanglichen Mitwirkung der mitgeführten Trompeter<br />
und Pauker am Zuggeschehen ausgegangen werden kann, bleibt das dabei verwendete<br />
Repertoire relativ im Dunkeln, zumal es sich vorrangig um improvisierte sowie<br />
mündlich tradierte Signale gehandelt hat 45 . Auch wenn daher offen bleiben muss, ob<br />
die Trompeter tatsächlich eine Art „klingendes Wappen“ 46 ihres Herrn darstellten,<br />
indem sie ein charakteristisches Klangsignal oder eine bestimmte Erkennungsmelodie<br />
ihres Fürsten verwendeten, so waren sie es doch zumindest schon rein optisch<br />
durch ihre Livree in den Farben ihres Dienstherrn. Im Idealfall waren sie vermutlich<br />
sichtbares und weithin hörbares Herrschaftssymbol zugleich.<br />
Die öffentliche Behauptung von Rangansprüchen war das eine, die Anerkennung<br />
der anderen Akteure für diese zu erhalten etwas völlig anderes. In der Praxis fielen<br />
Zeichen und Bezeichnetes nicht immer in eins. Davon zeugt die große Zahl an Rangkonflikten<br />
in der Frühen Neuzeit. Inwiefern es dabei auch zu „akustischen Rangstreitigkeiten“<br />
kommen konnte, soll abschließend anhand des Einzugs des Herzogs von<br />
Württemberg erläutert werden.<br />
Der Einzug des Herzogs von Württemberg:<br />
ein „akustischer Zwischenfall“?<br />
In den ersten Tagen und Wochen des Jahres 1653 fanden sich weitere Reichsstände in<br />
Regensburg ein. Trotz des erst kurz zurückliegenden Krieges, der viele Reichsstände<br />
wirtschaftlich ruiniert hatte, versuchten einige Fürsten ihren Einzug ganz besonders<br />
aufwendig zu zelebrieren; der Herzog Eberhard von Württemberg war einer von ihnen.<br />
Dieser sei am 2. Januar mit seiner Frau Gemahlin und vielen fürnehmen Caval-<br />
44 Zum ikonographischen Programm der Ehrenpforte, das in seiner Kernaussage vor allem<br />
Ferdinand <strong>als</strong> Friedensstifter nach den langen Kriegsjahren feierte, vgl. Theatrum Europaeum,<br />
Bd. 7 (1685), S. 291.<br />
45 Vgl. Altenburg, Detlef: Zum Repertoire der Hoftrompeter im 17. und 18. Jahrhundert, in:<br />
Alta musica 1 (1976), S. 47–60, hier S. 48.<br />
46 Tarr, Edward: Die Musik und die Instrumente der Charamela Real in Lissabon, in: Basler<br />
Studien zur Interpretation der Alten Musik, Winterthur (Schweiz) 1980, S. 181–229, hier<br />
S. 183.<br />
176 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
liern und einem ansehnlichen Gefolge von 300 Personen in Regensburg angelangt 47 .<br />
Genau sechs Tage später hält das Theatrum Europaeum für den 8. Januar einen weiteren<br />
Einzug fest: den des pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig. Dieser habe nachmittags<br />
mit seiner Frau Gemahlin und seiner Schwester samt 250 Pferden und ebenso<br />
vielen Personen einen stattlichen Einzug gehalten, bei dem er von der im Gewehr stehenden<br />
Bürgerschafft und der Lösung des Geschützes willkommen geheißen worden<br />
sei 48 . Obgleich beide Reichsfürsten mit großem Gefolge nach Regensburg gekommen<br />
waren, wurde allein dem Kurpfälzer die Ehre zuteil, die dem Herzog von Württemberg<br />
verwehrt wurde: der Empfang der aufgestellten Bürgerschaft in Waffen sowie<br />
das Abfeuern der Geschütze. Diese Ehrerbietung wurde nur dem Kaiser und den<br />
Kurfürsten gewährt 49 . Mit Nachdruck bestätigten die Kanonensalven auch akustisch<br />
die erst jüngst zurück gewonnene Pfälzer Kurwürde, die der geächtete „Winterkönig“<br />
im Dreißigjährigen Krieg an den Bayern-Herzog verloren hatte 50 . Vor diesem Hintergrund<br />
scheint es durchaus legitim zu sein, von einer Art „klanglichen Distinktion“ zu<br />
sprechen. Deutlich hörbar für alle Anwesenden wurde mit den Kanonenschüssen auf<br />
die Ankunft von besonders hohen Persönlichkeiten wie etwa dem Kaiser oder den<br />
Kurfürsten hingewiesen. Der Herzog von Württemberg wurde offensichtlich nicht<br />
<strong>als</strong> eine solch hohe Persönlichkeit angesehen. Dass sein Einzug aber dennoch nicht<br />
gänzlich in der Masse der anderen Reichstagsteilnehmer unterging, dürfte sicherlich<br />
an dem hohen Aufwand gelegen haben, den der Herzog betrieben hat. Obgleich er<br />
sich von den anderen Reichsfürsten absetzten konnte, reichten seine Bemühungen<br />
jedoch nicht aus, um den repräsentativen Anschluss an die Kurfürsten zu erzielen.<br />
Der Kaiser hat die herzogliche Ankunft offenbar ebenfalls genau verfolgt wie ein protokollarischer<br />
Eintrag in den Wiener Zeremonialakten des Oberhofmarschallamts<br />
beweist, wobei ein Detail des Einzugs dabei ganz besonders hervorgehoben wird. Der<br />
Herzog sei am 2. Januar mit 200 Pferden und 250 Personen zu Regensburg eingezogen<br />
und habe durch die Stadt die Trompetten blasen, die bey sich gehabte Hörpauggen<br />
aber erst im Quartiert schlagen lassen; dieses sei vom Kaiser nit zum besten angenommen<br />
worden 51 . Es ist bemerkenswert, dass der kaiserliche Kommentar nicht nur<br />
die Verwendung von Pauken und Trompeten explizit erwähnt, sondern dieses Vorgehen<br />
ferner auch <strong>als</strong> anmaßend tadelt. Dagegen heißt es bezüglich des kurz darauf<br />
erfolgten kurpfälzischen Einzugs lapidar: Dieser sei mit Blasen und Trompetten und<br />
47 Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 339.<br />
48 Ebd., S. 339.<br />
49 Sowohl der Kaiser <strong>als</strong> auch die drei geistlichen Kurfürsten von Mainz, Trier und Köln<br />
waren bei ihrer Ankunft in Regensburg ebenfalls mit Kanonenschüssen begrüßt worden.<br />
Siehe dazu Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 291 ff.<br />
50 Schmidt, Georg: Der Dreissigjährige Krieg, München 52002, hier S. 35.<br />
51 HHStA Wien, ZA, Fol. 91.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Schlagen der Hörpauggen durch die Statt in das Quartier eingezogen 52 . Was beim kurpfälzischen<br />
Einzug wie selbstverständlich Erwähnung findet, hat in Bezug auf den<br />
Herzog von Württemberg kaiserliches Missfallen ausgelöst. Der Hinweis, der Herzog<br />
habe die Heerpauken erst im eigenen Quartier schlagen lassen, deutet obendrein<br />
auf ein genau kalkuliertes Vorgehen hin. Wenn ihm schon die Kanonade seitens der<br />
Bürgerschaft verwehrt wurde, so wollte der Herzog von Württemberg offensichtlich<br />
nicht gänzlich auf eine angemessene klangliche Herrschaftsinszenierung verzichten.<br />
Dass das Vorgehen des Herzogs nicht allein mit egomanischen Zügen erklärt werden<br />
kann, wird aus dem Gesamtzusammenhang deutlich. Der Dreißigjährige Krieg hatte<br />
vor allem auch die innere Ordnung des Alten Reiches tief erschüttert; nicht zuletzt<br />
auch deshalb, weil sich Kaiser und Reichsglieder während des Kriegsverlaufs immer<br />
wieder in wechselnden Bündnissen gegenüber gestanden hatten 53 . Zudem war<br />
es zwischen 1613 und 1640 zu keinem Reichstag mehr gekommen, auf dem sich<br />
das Reich <strong>als</strong> handlungsfähige Einheit hätte repräsentieren können. Vor dem Hintergrund,<br />
dass die frühneuzeitliche Reichsverfassung gerade nicht auf einem abstrakten<br />
Verfassungstext basierte, sondern die Ordnung des Reiches sich maßgeblich<br />
in symbolisch-rituellen Handlungen konstituierte, war das Auftreten der Akteure<br />
auf dem Regensburger Reichstag von ganz besonderer Bedeutung. In der Logik der<br />
Zeitgenossen würde sich gerade auf diesem Reichstag durch das Auftreten der einzelnen<br />
Potentaten entscheiden, wie die zukünftige innere Ordnung des Alten Reiches<br />
aussehen könnte 54 . Aber auch für jeden einzelnen Reichsstand kam es darauf<br />
an, eigene Rangsansprüche wirkungsvoll in Szene zu setzen. Vor allem der Herzog<br />
von Württemberg, der im Krieg seines Herzogtums verlustig ging und dieses erst mit<br />
dem Westfälischen Frieden wiedererlangt hatte 55 , trug das neue Selbstbewusstsein<br />
offen zur Schau. Darüber hinaus war die offensichtlich genau kalkulierte klangliche<br />
Provokation des Herzogs speziell an die Adresse der Kurfürsten gerichtet. Ein wichtiger<br />
Aspekt der komplexen und vielschichtigen Verhandlungsgegenstände, die es in<br />
Regensburg zu erörtern galt, war die Frage der generellen Neuregelung der Königswahl<br />
und der Neuredaktion der Wahlkapitulation 56 . Eine diesbezügliche Änderung<br />
hätte an der traditionellen Präzedenz der Kurfürsten gerüttelt, die u. a. aus ihrem<br />
traditionellen Recht der Königswahl – garantiert in der Goldenen Bulle von 1356 –<br />
52 Ebd., Fol. 101.<br />
53 Vgl. Schmidt: Der Deissigjährige Krieg.<br />
54 Vgl. Stollberg-Rilinger: Zeremoniell <strong>als</strong> politisches Verfahren.<br />
55 Vgl. Press, Volker: Die Herzöge von Württemberg, der Kaiser und das Reich, in: Uhland,<br />
Robert (Hg.): 900 Jahre Haus Württemberg. Leben und Leistung für Land und Volk, Stuttgart<br />
u. a. 1985, S. 412–433; sowie Fischer, Joachim: Herzog Eberhard III. (1628–1674),<br />
in: Ebd., S. 195–209.<br />
56 Vgl. Müller: Regensburger Reichstag, S. 81–137.<br />
178 Dis | kurs
Thema: Patient Demokratie<br />
resultierte 57 . „Lautstark“ postulierte der Herzog von Württemberg bereits bei seinem<br />
Einzug seine Forderung nach gleichberechtigter Rangstellung mit den Kurfürsten.<br />
Die repräsentative Wirkung des Pauken- und Trompetenschalls sollte ihn auf zeremonielle<br />
„Augenhöhe“ mit Letzteren bringen. Dass der Kaiser gerade über den<br />
Einsatz von Pauken und Trompeten verärgert war, bezeugt die repräsentative Wirkung,<br />
die von den Instrumenten ausging; und genau diesen Umstand machte sich<br />
der württembergische Herzog zu Nutzen.<br />
Sollte die Symbolkraft des Pauken- und Trompetenklangs erhalten bleiben, musste<br />
die Exklusivität der Instrumente gewahrt werden. Gerade der Trompetengebrauch<br />
wurde daher seit dem Spätmittelalter immer stärker durch kaiserliche Privilegien<br />
eingeschränkt. Eine Entwicklung, die in der Gründung der Reichszunft der Trompeter<br />
und Pauker von 1623 ihren vorläufigen Abschluss fand 58 . Die rechtliche Beschränkung<br />
reichte aber offensichtlich nicht aus. Wollte man keinen Präzedenzfall<br />
schaffen, musste jeglicher Verstoß gegen das Zeremoniell deutlich zurückgewiesen<br />
werden. In dem vorliegenden Fall hatte es keine weiteren Konsequenzen für den<br />
Herzog. Dennoch wurde dieser „akustische“ Fauxpas vom Kaiser genau registriert<br />
und in den kaiserlichen Zeremonialakten dokumentiert; nicht zuletzt auch deswegen,<br />
damit sich der Kaiser bei zukünftigen Gelegenheiten darauf berufen konnte.<br />
Zusammenfassung<br />
In dem Aufsatz wurde eine Annährung an das Phänomen der akustischen Herrschaftsinszenierung<br />
versucht. Diesbezüglich haben die Einzugsbeispiele gezeigt, dass<br />
akustische Zeichen – wie Kanonendonner, Akklamation der Bürgerschaft oder Musik<br />
im weitesten Sinne – nicht nur feste Bestandteile des frühneuzeitlichen Einzugszeremoniells<br />
waren, sondern auch differenziert, dem jeweiligen fürstlichen Rang gemäß<br />
zum Einsatz kamen. Insbesondere vom Trompetenklang scheint dabei eine Symbolkraft<br />
ausgegangen zu sein, die für die vormoderne symbolische Kommunikation von<br />
Herrschaft von großer Bedeutung war. Neben ihrer Signal- und Gliederungsfunktion<br />
für die Zugordnung hoben die Trompeter und Pauker den Potentaten aus der Sphäre<br />
des Alltäglichen heraus und brachten <strong>als</strong> eine Art „klingendes Wappen“ Herrschaftsund<br />
Rangansprüche zum Ausdruck 59 . Nicht zuletzt in der Anzahl der mitgeführten<br />
Trompeter dokumentierten sich die Rangunterschiede der einzelnen Potentaten. Auf<br />
diese Weise wurde die politisch-soziale Ordnung des frühneuzeitlichen Reiches auch<br />
akustisch wahrnehmbar. Dass der Herzog von Württemberg seine neuen Rangansprüche<br />
gegenüber den Kurfürsten mittels des kalkulierten Einsatzes von Pauken<br />
57 Vgl. ebd., S. 130–134.<br />
58 Vgl. Altenburg: Untersuchung, Bd. I, S. 44.<br />
59 Vgl. auch den Beitrag von Nils Bock über Herolde in diesem Band.<br />
Dis | kurs 179
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
und Trompeten zum Ausdruck brachte, belegt den großen Symbolwert, den die Instrumente<br />
für die Herrschaftsrepräsentation besaßen. Als Fazit ließe sich demnach in<br />
Bezug auf die hier untersuchten Einzugsbeispiele das obige Zitat von Elias wie folgt<br />
erweitern: Das Volk musste eben nicht nur sehen, sondern auch hören, um an die<br />
Macht der Herrschenden glauben zu können.<br />
Literatur (Auswahl)<br />
Berns, Jörg Jochen: Herrscherliche Klangkunst und höfische Hallräume. Zur zeremoniellen<br />
Funktion akustischer Zeichen, in: Hahn, Peter-Michael/Schütte, Ulrich (Bearb.): Zeichen<br />
und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen<br />
Neuzeit, Berlin 2006, S. 49–64.<br />
Cotte, Roger: Kosmische Harmonien. Die Symbolik in der Musik, München 1992.<br />
Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums<br />
und der höfischen Aristokratie, Amsterdam 2002.<br />
Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe<br />
– Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004),<br />
S. 489–527.<br />
Zak, Sabine: Musik <strong>als</strong> „Ehr und Zier“. Studien zur Musik im höfischen Leben, Recht und<br />
Zeremoniell, Neuss 1979.<br />
180 Dis | kurs
Internationale Politik<br />
Internationale Politik<br />
Taking Indigenous Politics Seriously in the Study<br />
World Politics:<br />
The Limits and Possibilities of Political Vision<br />
Johannes Morrow<br />
State University of New York at Albany<br />
E-Mail: johannesmorrow@gmail.com<br />
Keywords<br />
Indigenous Politics, International Politics, State, Indigenous Communities<br />
as Political Actors<br />
Introduction<br />
„Rumors of my death have been greatly exaggerated,“ Mark Twain once quipped.<br />
Much the same can be said about the representation of indigenous peoples 1 in social<br />
science literature. Despite the explicit and intentional efforts at the physical and<br />
cultural genocide of indigenous peoples throughout the world, their continued existence<br />
and persistence challenges their disappearance or anticipated death in social<br />
science theories, specifically in the discipline of international relations. More fascinating<br />
still, these theories often required their disappearance or eventual disappearance<br />
for the coherence of there narratives. What I identify as the ‚dominant school of<br />
International Relations‘ depends on a conception of the state that the continued exis-<br />
1 Although definitions are highly contested and I do not want to pigeon hole this concept,<br />
some clarification is warranted: „Indigenous political communities“ refers to various<br />
collectivities, alternatively referred to as tribes, nations or peoples that live on territories<br />
claimed to be under, and prior to the jurisdiction of a United Nations recognized state,<br />
but over which they do not have administrative control. The UN definition of ‚indigenous<br />
peoples‘ is helpful but not sufficient; see, UN Draft Declaration on the Rights of Indigenous<br />
Peoples.<br />
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tence and persistence of indigenous political communities undermines. To the extent<br />
social science theories depend on this concept of the state they must be analytically<br />
reformulated. In addition, there is a related normative concern, as is usually the case<br />
with IR theory. The normative concern is that this conception of the state is crucial<br />
to reductionist theories that limit the possibility of acting differently than the ways<br />
these theories understand most states to have acted historically. In short, they argue<br />
that ‚practical‘ politics are governed by certain political necessities, like security, order<br />
and progress, that greatly limit and structure the range of political possibility and<br />
who can be included in it.<br />
The „dominant school“ refers to an assemblage of loosely associated theories that<br />
share some family resemblances; including particular conceptions of a state of nature,<br />
the social contract/stages view of human history and state sovereignty as the<br />
assumed conditions of analysis. This is the familiar story of social contact theories.<br />
The state of nature refers to an original state of human affairs before the existence of<br />
any human society. In this situation, individu<strong>als</strong> are presumed autonomous and they<br />
need to respect only those persons and things they naturally fear. This condition is<br />
brutal and individu<strong>als</strong> are said to naturally want to do anything to escape such an<br />
intolerable situation. The social contract/stages view of human history is the process<br />
by which individu<strong>als</strong> escape the condition of the state of nature, by delegating their<br />
authority to a sovereign body. In social contract theory this is how state sovereignty is<br />
created. I call this family of social contract concepts, „the basic concepts.“ Indigenous<br />
peoples have been, and often continue to be, identified as belonging to pre-political<br />
communities, positioned within a state of nature. Consequently, they are of little concern<br />
to the dominant school because of its overwhelming preoccupation with states<br />
as they understand them.<br />
How the Basic Concepts Preclude Indigenous Politics<br />
Indigenous politics are excluded from Bull's analysis of international politics for three<br />
principal reasons. First, indigenous political communities lack characteristics to qualify<br />
as states under Bull's definition. The second reason has to do with the assumption<br />
of sovereignty in the dominant school's conception of the state. This conception of<br />
the state casts indigenous politics as either primitive relics of the past, outside of political<br />
space and time, or as one of many interest groups within the domestic politics<br />
of the state. Finally, Bull's use of „primitives“ or his reading of indigenous politics is a<br />
foil to show how international order is possible, but only a very limited order dominated<br />
by the interests of states. This double move both reinscribes the idea of a state<br />
of nature and eliminates the possibility of indigenous politics altogether.<br />
In the first case, indigenous political communities cannot be studied as states in international<br />
relations because they lack certain characteristics to qualify as states in<br />
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Internationale Politik<br />
Bull’s definition. Recall that the characteristics of states were government, sovereignty,<br />
population and territory. Even if a political community has government, population<br />
and territory, if it does not have sovereign authority – that is supremacy over<br />
all other authorities within the territory and a monopoly on the use of force – it<br />
cannot qualify as a state. Recall that ‚any independent political community which<br />
merely claims sovereignty (or is judged to have such a right), but cannot assert this<br />
right in practice, is not a state properly so called.‘ 2 Simply claiming sovereignty is<br />
not enough for Bull, even where the perception of state sovereignty was sufficient<br />
in Waltz's analysis. So indigenous political communities are not states „properly so<br />
called,“ but perhaps these political communities could become states by actualizing<br />
sovereignty. This is certainly a possibility. Nevertheless, the strategy of statehood is<br />
likely counter-productive for two reasons. First, statehood would require political,<br />
social and economic reorganizations that would undermine the self-understanding<br />
of many indigenous political traditions. These requirements may be so great that<br />
such a community would likely cease to be considered „indigenous“ even under a<br />
very broad definition of the term. 3 At any rate, whatever outcome of identity resulted,<br />
„actualizing sovereignty“ would eliminate the very difference that I am interested in<br />
here. Second, the strategy of actualizing sovereignty would be counter-productive<br />
because state sovereignty as Bull defines it, is a partial fiction – state sovereignty is<br />
always at best contingent upon institutional practices. It is never so complete and<br />
secure as Bull assumes and Waltz enacts with the social contract.<br />
What in fact the assumption of sovereignty means in the dominant conception of the<br />
state is that all other political „entities“ must be studied by some discipline other than<br />
international relations because they are all lesser authorities under the authority of<br />
some state. So for example indigenous politics could be studied as anthropology or<br />
alternatively as interest group politics. If the politics of indigenous political communities<br />
appear to be very different from other kinds of politics within a state, then they<br />
would be relegated to the domain of anthropology. This is the literature Bull draws on<br />
to highlight the politics of „primitive anarchical societies.“ These societies are relics<br />
of some age long past, and though intellectually interesting, especially in the way they<br />
may disprove Waltz's conclusions about the possibility of order without a sovereign,<br />
they are currently of little consequence to the practice of international relations.<br />
Alternatively if indigenous politics resemble more the political practices of other<br />
2 Bull, Hedley: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics. New York 1977.<br />
p. 8.<br />
3 „Traditional indigenous nationhood stands in sharp contrast to the dominant understanding<br />
of the ‚state‘: there is no absolute authority, no coercive enforcement of decisions,<br />
no hierarchy, and no separate ruling entity.“ cf. Alfred, Taiaiake: Peace, Power, and<br />
Righteousness: An Indigenous Manifesto. Oxford 1999. p. 56.<br />
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groups within a state, such as corporations, churches or municipalities, then they<br />
could be studied in terms of interest group politics. Interest group politics involve<br />
groups lobbying the state to maximize their portion of state resources and privileges<br />
forming part of what is often called „civil society.“ While indigenous communities<br />
certainly adopt strategies that are consistent with interest group politics and some<br />
may even understand their actions in those terms, the possibility of being interpreted<br />
differently is precluded if state sovereignty is assumed. So no matter whether indigenous<br />
politics are perceived as primitive others, or as interest groups or as a variation<br />
of both, the assumption of state sovereignty means indigenous political communities<br />
cannot be international actors.<br />
The third way indigenous politics are precluded from study in international relations<br />
is the way Bull's argument for international society recasts indigenous politics to a<br />
state of nature, paralleling Waltz through his treatment of the state of nature. Waltz's<br />
theory the state of nature operates to explain both the necessity of contracting with<br />
a sovereign and the subsequent continuation of the state of nature (international anarchy)<br />
between sovereign states after the social contract. The state of nature is so undesirable<br />
that it necessarily leads to a social contract and the development of a state.<br />
In this setup there is no other way of establishing peace and order. Because of the<br />
conceptual pairing of the state of nature to indigenous societies (Bull's „primitives“),<br />
these societies are imagined to be without politics and without community. Political<br />
community is only possible after a social contract, and a social contract results in a<br />
state with sovereign authority. With a state of nature of this kind, the state, as conceived<br />
by Bull and Waltz, is the only kind of properly political community.<br />
Bull's argument for international society runs parallel to this line of reasoning. Bull<br />
explicitly replaces the state of nature with „primitive society“ and uses anthropological<br />
evidence 4 to revise the thesis that the absence of sovereign authority necessarily<br />
means the absence of all order or anarchy. This evidence grants Bull the conceptual<br />
room for idea of international society and yet he still retains the structure of world<br />
politics presented by Waltz. Yet to retain Waltz's structure, Bull still needs to show<br />
that ‚primitive anarchical society‘ is not applicable to world politics because based on<br />
the anthropological evidence, there is no reason to conclude that this international<br />
society is not preferable to his anarchical society. Bull cannot use the argument that<br />
the state is the only option for political community, because that would undermine<br />
his argument for international society. Instead Bull makes his exclusions with the stages<br />
view of human history: „Primitive anarchical society“ is at a different and lower<br />
4 Bull draws on the work of anthropologists Fortes, M. and Evans-Pritchard, E.E.: African<br />
Political Systems. Oxford 1944; Middleton, J. and Tait, (Eds).: Tribes Without Rulers,<br />
Studies in African Segmentary Systems. London 1958.<br />
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Internationale Politik<br />
stage of history than „modern“ international society. Recall again this passage where<br />
Bull explicitly lays out what that difference is:<br />
Primitive stateless societies rest not simply on a culture that is homogeneous but <strong>als</strong>o<br />
on one that includes the element of magical or religious belief. International society,<br />
by contrast, is part of the modern world, the secular world that emerged from the<br />
collapse of ecclesiastical and religious authority. 5<br />
Cultural homogeneity in ‚primitive‘ society makes it easier to cooperate and affect<br />
unity without a sovereign, whereas the diversity of viewpoints in modern society<br />
requires greater authority or incentive structures to achieve cooperation. 6 Religious<br />
and magical beliefs restrain individu<strong>als</strong> with various taboos and traditions, whereas<br />
science has erased these superstitions in modern society. Because a scientific and<br />
secular worldview is more accurate, it will eventually erode the restraints of religion<br />
and magic in primitive societies, ushering them into the modern world. When this<br />
inevitably happens, primitive societies will give way and these groups of people will<br />
be added to the global diversity of the modern world. „Primitive anarchical societies“<br />
might be good or even preferable, but only for as long as they last. Eventually<br />
they will be encompassed by modern anarchical society so its rules and procedure<br />
will apply universally, whereas the reverse can never be true. Thus the stages view of<br />
human history works in the same way as the social contract to bring society out of<br />
primitive society (read: state of nature), and consequently exclude the possibility of<br />
indigenous politics in modern world politics. In this way the stages view of human<br />
history is really just a more complex and naturalistic story of the societal departure<br />
from a state of nature.<br />
In summary, the centrality of indigenous communities to this story assures that indigenous<br />
politics are doubly excluded from international politics and <strong>als</strong>o assures their<br />
marginality. First they are excluded with all other political communities that do not<br />
qualify as states, and then a second time because of how they are situated in Bull's<br />
argument for international society. In other words, if indigenous politics are shown<br />
to exist, they are the disconfirming instance of Bull's conception of the state and<br />
consequently the problem of international relations defined by the dominant school.<br />
To have a state there must be sovereign authority and to have sovereign authority<br />
indigenous politics must be extinguished. It follows, then, that if there is a state, indigenous<br />
politics have been extinguished. The impossibility of indigenous politics<br />
5 Bull, Hedley: The Anarchical Society. p. 62.<br />
6 My reading suggests that just the opposite is true. ‚Modern society‘ is increasingly more<br />
homogeneous, while indigenous societies represent and foster incredible diversity as<br />
shown for example in the thousands of indigenous languages. Cf. Rae, Heather: State<br />
Identities and the Homogenization of Peoples. Cambridge 2002.<br />
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enables the necessity of international politics as defined by the dominant school. The<br />
necessities of states are the only things that can be addressed in international politics.<br />
Bull's anarchical society is thus the best that can be made of this grim situation with<br />
so many sovereign states. 7<br />
How Indigenous Politics Can Be Included in International Political<br />
Analysis<br />
How can international political analysis be reformulated to include Bull’s insights on<br />
the idea of international society on the one hand, and on the other hand, <strong>als</strong>o still<br />
allow for the possibility of indigenous political communities as actors in world politics?<br />
Can this even be done? These questions are related to larger questions having<br />
to do with the prevalence of positivism in the study of international relations as well<br />
as in the social sciences more generally. It includes rethinking the dominant school's<br />
conception of state, along with its critical terms – the state of nature, the social contract<br />
and the stages view of history and state sovereignty. The binaries of religious and<br />
secular, magic and science, traditional and modern, create epistemological and ontological<br />
exclusions that misrepresent actual histories and political processes. The state<br />
cannot be assumed to be the universal analytic of international politics. However the<br />
state can be replaced with the (post) analytic concepts of tradition and dilemma to<br />
provide an account of structure and agency, continuity and change in world politics.<br />
They can provide a (post) foundation for analysis of international politics from diverse<br />
perspectives. These concepts can enable indigenous and other non-state political<br />
communities the possibility of agency in world politics.<br />
The concept of a tradition excludes the possibility of the social contract concept<br />
of state of nature and so excludes the stories social contract theories tell about the<br />
emergence and qualities of the state. There is no original state of human organization.<br />
Arguments about the character of international relations cannot then rely on a<br />
state of nature, not even a hypothetical one. The concept of a dilemma excludes any<br />
necessary historical developments and changes. Culture changes according to the<br />
dilemmas individu<strong>als</strong> face within their pre-existing traditions and social structures.<br />
Change is contingent and involves local reasoning. The first way the concept of a tradition<br />
invalidates an argument from a state of nature is that there can be no pure or<br />
unmediated human rationality or motivation. All of our impressions embody, at least<br />
in part, the languages and traditions of our community. Recall how Waltz's use of<br />
Rousseau and social contract theory rested on the idea that humans were motivated<br />
7 This critique of Bull is largely indebted to Shaw, Karena: 2002. ‚Indigeneity and the<br />
International,‘ in Millennium: Journal of International Studies (2002). However, she takes<br />
the critique to imply certain limits to the political, while I am arguing that it does not<br />
have to mean that.<br />
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Internationale Politik<br />
by some fundamental drives or „appetites“ that were only restrained by the appetites<br />
of others. This is a fundamentally mistaken view: all human activities, whether<br />
hunting and gathering, diplomacy or war occurs within contexts that involve webs of<br />
other beliefs in a way that cannot be said to derive from one or several motivations.<br />
Human actions cannot be reduced in this manner for the reason that people are motivated<br />
by a diversity of reasons. The most abstract expression of human rationality is<br />
to say that people act according to the beliefs they hold, at that time; beliefs initially<br />
inherited from traditions. 8 Still someone might say that there must have been a time<br />
when someone first held beliefs from pure experiences. This corresponds to a state<br />
of nature in the hypothetical sense. However, this is still mistaken since there is a<br />
cyclical relationship between individu<strong>als</strong> who hold belief and traditions in a way that<br />
undermines the need for a point of origin. Experiences lead individu<strong>als</strong> to beliefs<br />
only because they already have access to webs of belief in the form of the traditions<br />
of their community.<br />
At some level both Waltz and Rousseau seem to recognize the fictional character of<br />
any state of nature. This can be seen where Waltz quotes an excerpt from the Discourse<br />
on Inequality in his footnotes: „he (Rousseau) refers to the state of nature as ‚a<br />
state which no longer exists, perhaps never did exist, and probably never will exist;<br />
and of which is, nevertheless, necessary to have true ideas.‘“ 9 True ideas for Rousseau<br />
are no doubt his ideas about republicanism and for Waltz the idea of international<br />
anarchy. The common link here is the way the state of nature necessitates the social<br />
contract and state sovereignty, which are crucial to both theories. Be this as it may,<br />
it is still difficult to image how „true ideas“ could be derived from „fictional ones.“ If<br />
this is the case, it would seem to leave any theory requiring a state of nature or social<br />
contract incoherent.<br />
But perhaps Waltz's use of nationalism is sufficient to retain coherency in his sovereign<br />
conception of the state. If this were all his concept of the state rested on, it<br />
would be tautological at best but certainly not analytical. The argument from nationalism<br />
as said before would run like the following: inasmuch as all the people in<br />
the territory of the state declared support and obedience to government policy, then<br />
the effects of sovereignty in international relations might be mimicked. But without<br />
the social contract there cannot necessarily be anarchical relations between states.<br />
In any case the force nationalism creates has little bearing on this study, because<br />
8 This links in with a ‚weak-intentionalist‘ view of meaning. The meaning action is determined<br />
by the thoughts the actor held while performing the act. This corresponds to the<br />
concept of embodiment. Cf. Bevir, Mark: The Logic of the History of Ideas. Cambridge<br />
1999. Chapters 2, 4, and 5.<br />
9 Waltz, Kenneth N.: Man, the State and War: A theoretical Analysis. New York 1954.<br />
p. 176.<br />
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I am interested in the possibility of indigenous political communities being agents<br />
in international relations. These communities often contest government's claims to<br />
sovereignty over their territories so they would be cases of the failure of nationalism.<br />
The two examples I illustrate show communities in Canada/United States and Mexico<br />
contesting government's claims to and practices of sovereignty. Thus, nationalism<br />
within Canada or Mexico is not a reason to preclude the possibility that these cases<br />
have international dimensions. In any case, an argument from nationalism is an argument<br />
about what usually happens in states and not what must happen, so it does<br />
not have the logical force to create international anarchy. The absence of the state of<br />
nature is devastating to Waltz's argument that international relations are inherently<br />
anarchic and exclusively the domain of states. States might dominate international<br />
relations but not exactly for the reasons Waltz gives us.<br />
The application of the concept of a tradition to Waltz's construction of state sovereignty<br />
applies equally well to Bull's conception of the state and the dominant school<br />
more generally. Bull gives no additional defense of his conception of the state other<br />
than the fact that states „actually practice sovereignty in various degrees,“ evidence<br />
that may support a historical claim, but not an a priori claim of state sovereignty that<br />
necessarily excludes other forms of political association from agency in international<br />
relations. Nevertheless, Bull's final argument to exclude indigenous politics from<br />
international relations might still provide just such an a priori argument. Recall how<br />
this exclusion involved the idea of stages in history. Indigenous politics involve „magical“<br />
and „religious“ ideas in a way that are inappropriate to international society,<br />
which is based on „scientific“ and „secular“ ideas. 10 International society is superior<br />
to indigenous societies and is the global international society because science<br />
and secularism represent universal advancements in human knowledge and culture.<br />
International society is truly global because its principles are the result of a longer<br />
history of reflection that will eventually be accepted as true by all people. This view is<br />
mistaken for two reasons. First, all knowledge is contextual following from the concept<br />
of a tradition outlined above; and second, people do not necessarily change their<br />
culture according to allegedly universal principles of reason or in any other linear,<br />
necessary or directional way. Rather, people change their beliefs because of specific<br />
dilemmas they face. A dilemma is a new belief that an individual takes to be authoritative<br />
and which poses a question for an individual's current web of beliefs. In order<br />
to accommodate this new belief an individual must extend, adjust or modify his or<br />
her existing web of belief. Traditions have a role in what is taken to be a dilemma and<br />
10 Bull creates a binary relationship here that is probably unacceptable on the merits, but<br />
since I want to follow his logical structure I continue with his premises. For why this is<br />
wrong on the merits see, Deloria, Vine: The Metaphysics of Modern Existence. New<br />
York 1979.<br />
188 Dis | kurs
Internationale Politik<br />
as well in how it is interpreted. For example, when federal troops defeated the Lakota<br />
Sioux in 1891, the Sioux were expected to understand that their culture was past and<br />
in decay, and to welcome the gifts of „civilization.“ Missionary activity had been intense<br />
at this time and many missionaries explained the Sioux's defeat and deplorable<br />
condition in terms of their lack of the knowledge of Christ in an attempt to pit the<br />
blame on Lakota beliefs and particularly medicine people. Consequently, the Ghost<br />
Dance that swept across the new reservation system incorporated aspects of Christianity<br />
into Native beliefs in a movement of resistance. The Ghost Dance associated the<br />
Second Coming and the Rapture with removal of all non-Indians and the return of<br />
the buffalo and all the dead. 11 This example illustrates the point that no experience or<br />
dilemma can require people to change their beliefs in any one way. 12 Agents use their<br />
own local reasoning when changing their beliefs in creative ways.<br />
The way people change their beliefs depends on the content of their existing web of<br />
beliefs. It follows from this that there is no one necessary manner in which culture<br />
must change. Bull is mistaken in this assumption and so it cannot provide a reason<br />
to categorically exclude indigenous political communities from purview in international<br />
relations. In addition Bull’s use of historical stages is mistaken in another sense<br />
because, in reality, culture is always changing. People must always at least extend<br />
their beliefs to incorporate new experiences even if they only hope to apply their<br />
beliefs exactly as they inherited them. Thus even apparent continuities are always in<br />
flux. All cultures and societies are part of the complex reality in the present; Bull is<br />
thus wrong to suggest that some societies exist in the past in contrast to the supposedly<br />
advanced stages of other cultures that exist in the present or even the future. If<br />
analysis aims to be universal, as international theory necessarily does, it cannot rest<br />
on such assumptions. Bull's idea of international society could still be kept, however,<br />
if it is understood to arise out of the interactions of diverse traditions and the debates<br />
that arise from these interactions; having said that, it must be recognized that those<br />
interactions are not solely among statist traditions. Nor should international society<br />
be understood as necessarily representing an unchanging, progressive or universal<br />
advancement in human relations. Rather, international society is a constitutive part<br />
of how the world is imagined and acted on. For example, one of the foundational<br />
debates in international law was in response to the Spanish invasion of America,<br />
where Las Casas and Victoria famously debated the moral and religious responsibilities<br />
of Spain and the status and rights of the aborigin<strong>als</strong> of the New World. 13 Their<br />
11 Warrior, Robert Allan: Tribal Secrets: Recovering American Indian Intellectual Traditions.<br />
Minneapolis 1995. p. 4–7, 11–12, and 43.<br />
12 Bevir, Mark: The Logic of the History of Ideas. p. 222.<br />
13 Morris, G. T.: „International Law and Politics: Toward a Right to Self-Determination for<br />
Indigenous Peoples,“ in Jaimes, Annette M. The state of Native America. Boston 1992.<br />
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arguments greatly influenced and embodied Spanish practices in the Western hemisphere.<br />
In addition, the very idea of states and state sovereignty in their modern usage<br />
arose partly in response to papal imperialism, which was felt by many Europeans to<br />
be an unjust oppression. 14 Following from this, international society would include<br />
„good“ and „bad“ aspects, defined according to our respective traditions, rather<br />
then „good“ international society and „bad“ international anarchy. In other words,<br />
all practices can be traced to traditions, there is no point where practices can be deduced<br />
from „nature.“<br />
Indigenous Political Communities as International Actors<br />
I have addressed the faulty theoretical moves of Waltz and Bull that eliminated the<br />
possibility of indigenous political communities being international actors. I did this<br />
primarily by undermining a mistaken conception of the state underlying the dominant<br />
school and by identifying a faulty assumption about cultural change. But I<br />
have yet to unravel its implications for international political theory. How should<br />
state practices be understood and explained? Based on the concepts of tradition and<br />
dilemma there is no single way to understand and explain state practices. They are<br />
experienced and interpreted in a diversity of ways. The point is what difference particular<br />
traditions make in the understanding and explanation of world politics.<br />
However, this is compounded by the problem that much of the theorizing within<br />
the dominant school is aimed at constructing a single view or structure of states and<br />
world politics and reducing international events to single or a few causes like „balance<br />
of power,“ „the security dilemma,“ „self-help,“ et cetera. This is exemplified by the<br />
search for parsimony or Occam's Razor – where the simplest explanation is taken to<br />
be the best. Waltz's work is a prime example of this; Bull's work is a more nuanced<br />
version of this endeavor that allows for more diversity. These grand theories have become<br />
embodied in state traditions themselves. Consequently, for this paper there are<br />
two points. The first point is to understand the experiences of state practices from an<br />
indigenous perspective. The second point is to see how theories, like those of the dominant<br />
school of international relations, influence the formation of state policy and<br />
practice. In conclusion this is a better explanation of international political events in<br />
comparison with the reductionist theories of the dominant school.<br />
To further understand this relationship between theory, tradition and practice, consider<br />
two contemporary cases of indigenous politics: Mohawk politics along the<br />
Canada and United States border and the Zapatista movement in Chiapas, Mexico.<br />
Chapter 2.<br />
14 Cf. Tully, James: Strange Multiplicity: Constitutionalism in an Age of Diversity. Cambridge<br />
1995. p. 6.<br />
190 Dis | kurs
Internationale Politik<br />
These are two examples of how indigenous political communities have responded to<br />
the dilemmas presented by the dominant conception of the state and its international<br />
relations.<br />
Mohawk Politics and the ‚Oka Crisis‘<br />
On March 11 th , 1990, Kanesatake Mohawks set up roadblocks to stop plans to extend<br />
a gulf course onto a sixty-acre plot claimed by the Mohawks to be a traditional<br />
Kanesatake burial ground. The contested land was near the town of Oka, just across<br />
the St. Lawrence River from Montreal. On July 11 th , police unsuccessfully raided the<br />
blockade and one policeman was killed. In solidarity, Mohawks in Kahnawake, a<br />
community of 10,000, blocked sections of two highways in their community that<br />
lead to Mercier Bridge. This was a major throughway for Montreal commuters, and<br />
Mohawks threatened to blow it up if there was a second assault. 15<br />
Quebec Native Affairs Minister John Ciaccia, who was called in to negotiate, said<br />
that „other elements“ of the Mohawk demands were „totally beyond the range of<br />
(his) responsibilities and capacities to act.“ These „other elements“ included nationto-nation<br />
negotiations with the Canadian federal government and involving the all<br />
Mohawk communities, including the Akwesasne community in the United States in<br />
any negotiations. Ellen Gabriel, a spokeswomen for the Mohawks at the Oka barricade,<br />
said that the warriors would not give up their weapons as they had „every right,<br />
as a nation, to defend (their) territory to stop encroachment on (their) land,“ although<br />
she insisted that they had shared the land with the Europeans who first came,<br />
and „continue to share the land with the people that are now living in what you call<br />
Canada.“ 16 Also, she reminded an interviewer that, as part of the Iroquois Confederacy<br />
or Haudenosaunee, they had their own laws, traditions and customs. 17<br />
Tom Siddon, the Federal Indian Affairs Minister, outlined the Canadian federal<br />
government position saying that the Warriors „must put down their weapons,“ and<br />
„order must be restored before negotiations“ could begin. 18 In other words Canada's<br />
overarching sovereignty had to be recognized and respected. State sovereignty was<br />
to be the crucial precondition to civil relations with the Mohawks. The possibili-<br />
15 For a detailed examination of this conflict see, Pertusati, Linda: In Defense of Mohawk<br />
Land: Ethnopolitical Conflict in Native North America. Albany 1997.<br />
16 Canadian Broadcasting Company (CBC) online archives: http://archives.cbc.ca/IDD-1-<br />
71-99/conflict_war/oka/.<br />
17 For an in depth and historical examination of Mohawk politics and nationalism, see,<br />
Alfred, Gerald: Heeding the Voices of Our Ancestors: Kahnawake Mohawk Politics and<br />
the Rise of Native Nationalism. Oxford 1995.<br />
18 Canadian Broadcasting Company (CBC) online archives: http://archives.cbc.ca/IDD-1-<br />
71-99/conflict_war/oka/.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
ty that jurisdiction can be shared, as Ellen Gabriel understood, as well as exclusive<br />
was missed by Siddon. By August 8 th , over 2,500 Canada troops of the Fifth Mechanized<br />
Brigade, which included tank, artillery and helicopter gunship battalions<br />
were ordered to set up positions near the blockades. 19 The siege lasted seventy-eight<br />
days before the Prime Minister ordered the Canadian Military to forcibly remove<br />
the blockades. About sixty occupiers were detained, only thirty of whom turned out<br />
to be armed combatants. However, in those seventy-eight days the Mohawk communities<br />
had brought condemnation of the European Parliament to the Canadian<br />
federal government and entangled a super power, the United States, in international<br />
negotiations. 20<br />
How is it that such small communities, and even fewer combatants, could elicit such<br />
an overwhelming display of force from one of the most powerful states in the world<br />
and draw the attention of the international community? A few defiant communities<br />
certainly did not imperil the existence of the Canadian State. But what this conflict<br />
did bring into question was the sovereign conception of the Canadian state. It challenged<br />
its legitimacy and perhaps more importantly for a study of international relations,<br />
its effectiveness, the linchpin of sovereignty. The basic Mohawk demand to be<br />
negotiated with on a nation-to-nation basis and to include the Akwesasne community<br />
across the international border in the United States is important for understanding<br />
the Canadian federal government’s response. The Mohawk demands assumed<br />
and asserted the prior and continuing existence of their political communities to the<br />
Canadian and American states, which brought into sharp relief those states' claim to<br />
sovereignty over indigenous territories, in terms of their legitimacy and effectiveness.<br />
As James Tully points out, the argument that exclusive jurisdiction is legitimate and<br />
effective is a hinge proposition; one idea reinforces the other. When state sovereignty<br />
is less than effective, it is defended with the idea that it is legitimate and righteous<br />
and the only viable way to organize society. It was either legitimately established in<br />
the past or it is currently legitimately resolving any challenges to it. However, when<br />
its legitimacy is questioned, state sovereignty is often defended on the grounds that<br />
it is effective or practical. 21<br />
A potential threat to this argument is that indigenous politics only rose to the international<br />
arena with the Oka conflict because Canada is generally one of the most<br />
tolerant states and already allowed its Natives limited autonomy. After all, Canada<br />
is usually considered a leader in the promotion of human rights around the world<br />
19 Hornung, Rick: One Nation under the Gun. New York 1991. p. 236.<br />
20 Ibid. p. 246.<br />
21 Tully, James: The Struggles of Indigenous Peoples for and of Freedom. In: Ivison, Patton<br />
and Sanders(eds.): Political Theory and the Rights of Indigenous Peoples. Cambridge<br />
2000. p. 50–52.<br />
192 Dis | kurs
Internationale Politik<br />
and in support for United Nations humanitarian programs. Perhaps Oka was just an<br />
overreaction and an exception to the rule. Perhaps this was not a case of indigenous<br />
political community acting in world politics, just an internal mismanagement and a<br />
media exaggeration. In other words, maybe it was a phenomenon restricted to the<br />
advanced industrial First World. To test this possibility, consider the Zapatista movement<br />
in Chiapas, Mexico.<br />
The Zapatista Movement<br />
The Zapatista movement in Chiapas, Mexico engendered a similar government response<br />
and had a similar international dimension. This movement first came to international<br />
attention on January 1 st , 1994, when the Zapatista National Liberation Army<br />
(EZLN) began its insurgency. About 3,000 EZLN insurgents occupied six large towns<br />
and a hundred ranches. They announced that the immediate reason for their rebellion<br />
was the institution of the North American Free Trade Agreement (NAFTA), which<br />
went into effect the same day, but little more was known. This all came as a surprise to<br />
nearly everyone, including Mexican and United States intelligence services. Within<br />
twenty-four hours the Mexican military began bombing suspected rebel indigenous<br />
communities and killing at least 145 people. A cease-fire was declared on January<br />
12 th , and peace talks with the government began in February, but Zapatista communities<br />
overwhelmingly rejected the government's peace proposal. In December the<br />
Zapatistas declared thirty-eight indigenous municipalities to be autonomous. 22<br />
Who were these mysterious revolutionaries and what did they want? Many within<br />
Mexican society speculated that they were traditional Marxist-inspired insurgents<br />
who aimed to seize state power and institute socialist development. Other rumors<br />
circulated that it was all a stunt by Democratic Revolutionary Party (PDR), the main<br />
opposition to the ruling Revolutionary Institutional Party (PRI). People around the<br />
world began learning about the Zapatista movement through its communiqués,<br />
which were uploaded on the internet. As it turned out, rather than taking over the<br />
Mexican state, the EZLN sought self-rule for their mostly Tzotzil, Tzeltal, and Chol<br />
speaking communities in addition to liberty, justice and democracy for all of Mexico<br />
and the world. In other words they understood the state differently from its sovereign<br />
conception. They were seen by many to be truly quixotic rebels in a world that was rapidly<br />
embracing a new capitalist order. 23 Much of the content of Zapatista communications<br />
concerned highlighting the continuity of indigenous peoples in Chiapas (and<br />
the rest of the Americas) and their 500 years of resistance to various forms of domi-<br />
22 Marcos (Subcommandante Insurgente): Our Word is Our Weapon. New York 2001.<br />
pp. 447–449.<br />
23 Cf. Ross, John: Rebellion from the Roots: Indian Uprising in Chiapas. Monroe,<br />
Maine 1995.<br />
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Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
nation and exploitation. The latest form of domination was identified with the neoliberal<br />
reforms of NAFTA, which were being instituted through a variety of Mexican<br />
institutions, including the abolition of Article 27 of the 1917 constitution protecting<br />
communal property. The other main themes in Zapatista communications were hope<br />
and possibility. They related how indigenous communities „governed while obeying“<br />
and stressed the possibility and practice of there being „many worlds within one,“<br />
emphasizing the importance of how authority is practiced within community. Subcomandante<br />
Marcos, the EZLN spokesperson, <strong>als</strong>o communicated mythic stories to<br />
illustrate the sensibilities and possibilities within the Mayan cosmos, in contrast to<br />
the alleged necessities of politics within and outside the modern state. 24 The Zapatista<br />
movement continues to enjoy significant international support, which has been partly<br />
responsible for keeping the Mexican government in check. 25<br />
Re-conceptualizing the State in International Politics<br />
These examples show how questioning the right to exclusive jurisdiction within the<br />
territory claimed by states and showing states' control over those territories to be less<br />
than effective, undermines the concept of the state found in the dominant school of<br />
international relations. State sovereignty, rather than being the necessary and abstract<br />
foundation of the international system, is in practice something that must be<br />
continually asserted through instruments of governance, often including force. Thus<br />
if sovereignty is a normative principle that is acted on in practice, it cannot function<br />
as the analytical glue holding together the units of international relations.<br />
But perhaps this conclusion is too hasty; if effective control over territory is taken to<br />
be the baseline measure of a state in international relations, claims to legitimacy cannot<br />
be sufficient. Both Bull and Waltz make claims saying that if state control is ineffective,<br />
it ceases to be a state and so a unit in international relations. But if this was<br />
actually the case, the consequences would lead to conclusions that Waltz and Bull<br />
would never accept. It would imply that every time there was rebellion or conflict,<br />
like in Chiapas where an alternate authority has effective control or when a non-state<br />
authority practices de facto control over a territory as Mohawks do in their trade across<br />
the international border, the state would cease to exist and therefore cease to be<br />
an actor in international relations. In Third World countries, where the institutions of<br />
state are very weak and few, this might be a plausible scenario: However in states that<br />
are recognized to be among the most powerful and stable, like Canada and the United<br />
States, this scenario is implausible. In these cases the institutions of government<br />
24 Cf. Marcos (Subcommandante Insurgente): Our Word is Our Weapon.<br />
25 Jan Rus, Rosalva Aída Hernández Castillo and Shannan L. Mattiace (eds.): Mayan<br />
Lives, Mayan Utopias. New York 2003. p. 171.<br />
194 Dis | kurs
Internationale Politik<br />
associated with the state have not disappeared, nor has their role in international relations<br />
necessarily diminished; international theorist like Waltz and Bull would never<br />
exclude entities such as these from any global analysis.<br />
It follows then that state sovereignty is an idea that is acted upon, not an ontological<br />
foundation. Precisely because it has been acted upon, it has been central to the<br />
creation of institutions and techniques of government, particularly those associated<br />
with statecraft. Bull is right in saying that international relations are created through<br />
ideas and institutional practices. But he is wrong to assume that international relations<br />
operate on the background of state sovereignty and international anarchy.<br />
They, too, are ideas that shape people’s actions upon and incorporate certain specific<br />
practices. Equally true, however, these practices are not limited to the ideas of state<br />
sovereignty and state sovereignty does not characterize every political relationship; it<br />
is not the only idea upon which people base their political actions. For example, the<br />
governmental practices of mutual recognition, continuity and consent, arise from<br />
other ideas, like pluralism and multiculturalism or simply from pragmatic compromise.<br />
26 Relations among indigenous nations as well as their relations with other nonindigenous<br />
political communities have often been characterized by these kinds of<br />
ideas. 27 However, they are often marginalized by the more dominant practices.<br />
It follows from the inference that state sovereignty is not an ontological foundation<br />
that it cannot create categorical distinctions between the national and the international,<br />
domestic and foreign, as traditionally assumed. This is <strong>als</strong>o illustrated by the two<br />
examples of indigenous politics. Mohawk and Zapatista communities experience the<br />
intrusion of federal militaries on their lands in much the same way as nations occupied<br />
by a recognized foreign power. The weakening of these categorical distinctions<br />
suggests we should look at the traditions that are actually affecting or embodying a<br />
government’s policy (and opposition to it) as the acting units or source of agency in<br />
world politics. Furthermore, the weakening of these conceptual distinctions suggests<br />
we look at the problems or dilemmas agents face in explaining why they depart from<br />
their traditions, rather than explaining everything that happens in world politics<br />
according to the few problems states allegedly face in their international relations.<br />
What international relations theorists refer to as the state and its behavior are actually<br />
the reification of a multiplicity of complex processes; a point that should not be<br />
glossed over but rather opened up in analysis. 28<br />
26 Cf. Tully, James: Strangle Multiplicity.<br />
27 Cf. Williams, Robert A. Jr.: Linking Arms Together: American Indian Treaty Visions of<br />
Law and Peace, 1600–1800. Oxford 1997.<br />
28 Further I think this is a better way of viewing how sovereignty works better than for<br />
example the way the concept is treated by Krasner, Stephen D.: Sovereignty: Organized<br />
Hypocrisy. Princeton 1999; or by Bartelson, Jens: A Genealogy of Sovereignty. Cam-<br />
Dis | kurs 195
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
This analysis suggests that theories of international relations, like the ones of the<br />
dominant school, play a role when governments take state sovereignty to be an imperative<br />
that must be acted on. Tom Siddon's statement about the preconditions for<br />
negotiation with the Oka Mohawks is an excellent example of this. It follows from<br />
this reading of state sovereignty (and as suggested by the examples), that the relations<br />
with indigenous political communities are seen by governments to be only a<br />
temporary means to an end. This is alluded to by Bull in his exclusion of indigenous<br />
politics from international relations; complete sovereignty was expected to eventually<br />
be achieved through assimilation, exclusion or extermination of indigenous<br />
political communities. It follows from the two examples of indigenous politics, that<br />
indigenous communities, as well, see their current situation as a temporary means to<br />
an end; they seek liberation in the form of an end to the unjust relationship with the<br />
dominant society, which many see as a colonial imposition. The dominant school of<br />
international relations, insofar as it necessitates sovereign authority, is a major dilemma<br />
in their effort to change this unjust relationship.<br />
Implications for International Analysis<br />
I have considered two examples of indigenous politics and related them to the abstract<br />
reformulations, and now I would like to take up two propositions that structural<br />
realists like Waltz take to be the most critical points of international political analysis<br />
and respond to them in light of the re-conceptualization of the state that I roughly<br />
sketched, rather than with an internal critique as I began. The first proposition is that<br />
states are the most durable and survivable unit in world politics; and the second proposition,<br />
somewhat following from the first, is that states and their interactions in the<br />
state system best explain 29 what goes on in world politics. 30 These two propositions<br />
are inadequate on at least three criteria of comparison: comprehensiveness, accuracy<br />
and fruitfulness. 31<br />
The first question, in light of the examples of indigenous politics, begs the question of<br />
exactly who and what is durable or survivable about the state? Certainly states have<br />
promoted neither the physical nor cultural survival of indigenous peoples. But most<br />
likely Waltz really means that the form and practice of state making and statecraft<br />
have been particularly successful in eliminating other political forms and so in this<br />
sense might be considered enduring. This may be the case, but as Alfred and Wilmer<br />
bridge 1995.<br />
29 I can agree with Waltz that explanation is the main measure of good theorizing.<br />
30 This is the most recent view of the critical power of structural realism defended by Waltz,<br />
Kenneth N.: Globalization and Governance. In: Political Science and Politics, Vol. 32,<br />
No. 4. (Dec., 1999), pp. 693–700.<br />
31 Cf. Bevir, Mark: The Logic of the History of Ideas. Chapter 3.<br />
196 Dis | kurs
Internationale Politik<br />
(1997) suggest, this may be a particularly self-destructive strategy in the long term.<br />
The amount of resources to support the economic and political systems supporting<br />
states extracts a toll on the environment and that affects everyone. Indigenous people<br />
may only be more vulnerable than others in the short run. The history of states is relatively<br />
short, only about five hundred years, in comparison to the tens of thousands<br />
of years indigenous political communities have existed sustainably. 32 Traditions can<br />
more accurately explain who and what is surviving and dilemmas can more accurately<br />
explain why they change. A structural realist analysis can only shift the focus of<br />
its analysis to other political entities that behave in the predicted manner in world<br />
politics, but there are no conceptual resources to explain their change as such.<br />
This shifting of focus relates to the second proposition that states and their interactions<br />
in a system of states best explain world politics. This proposition fails to be<br />
adequately comprehensive, because it could only be true if the shifting of focus of the<br />
analysis is taken into account. By this I mean the way the locus of international politics<br />
moves in analysis from ancient Greek city states, to Rome, to imperial Europe,<br />
to imperial America and so on. This rhetorical use of core examples seems to create<br />
a selection problem that would be difficult and disingenuous, to be able to call the<br />
study of world politics. In addition, when governments act on this understanding<br />
through policy, it becomes a self-fulfilling prophecy in practice. Hence, the wholly<br />
synchronic vision of international politics created by selection bias is an insufficient<br />
analysis. Also, if the study of international relations is restricted in this manner, then<br />
the problem of anarchy loses its universal appeal. Why should the anarchy between<br />
states be taken as particularly troubling, when communities within territorial states<br />
experience the same threats to their survival associated with international anarchy,<br />
like war and conflict, as seen in the two examples of indigenous politics? For anarchy<br />
to remain a useful concept in these circumstances these communities would have to<br />
be recast as separate states, which cannot be done without contradicting the two propositions.<br />
For example if Chiapas was considered a state for the purposes of analysis<br />
it would betray the necessity of practicing the kind of politics associated with state<br />
sovereignty, and so the very idea of a system of states. In contrast, unpacking states<br />
and other political communities in terms of traditions and dilemmas can account for<br />
both aspects, so that analysis would be more comprehensive in scope.<br />
Explaining international relations with reference to states interacting in a system can<br />
lead to inaccuracies in an additional sense. Even if international outcomes map on<br />
to those predicted by a neo-realist analysis it may not be accurate because it may<br />
32 Alfred, G. and Wilmer, F.: Indigenous Peoples, States, and Conflict. In: Cament, David<br />
and James, Patrick: Wars in the Midst of Peace: The International Politics of Ethnic Conflict.<br />
Pittsburgh 1997.<br />
Dis | kurs 197
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
misrepresent how and why the outcome actually happened. Policy decisions can be<br />
made for reasons of their own that have nothing to do with problems of anarchy or<br />
considerations of a balance of power. For example, a leader's reasoning to go to war<br />
can affect how the decision is supported, which may affect the outcome; subjectivity<br />
matters in a way that Waltz cannot permit.<br />
Finally, investigating global human relationships in terms of traditions and dilemmas<br />
is a more fruitful research path in comparison to the idea of a system of states<br />
because the former are contingent and suggest possibilities, whereas the latter insist<br />
on limits. By providing analytical concepts capable of recognizing actors other than<br />
states that affect world politics we can see alternative visions and practices of politics,<br />
like Iroquois and Zapatista practices of governance. A structural realist analysis can<br />
only have a defensive response to such deviations from the dominant vision of world<br />
politics. It could not have anything new to say about such developments.<br />
Conclusion<br />
It follows from the fictional character of the state of nature and state sovereignty that<br />
it is possible for indigenous and other non-state political communities to be actors<br />
in world politics. Their ideas and practices <strong>als</strong>o affect the international area, even if<br />
asymmetrically. The international is not a distinct domain of politics, which is exclusively<br />
inhabited by states. However Bull's insight that most international institutions,<br />
like the United Nations, were set up primarily to protect the rights of sovereign states<br />
goes a long way in explaining why international institutions have had such difficulty<br />
in responding to the needs of non-state communities, like indigenous political communities<br />
and their asymmetrical influence in world affairs. Then again, my analysis<br />
shows that concerns about international anarchy need not be a reason for states to<br />
further actualize a sovereign conception. If order and peace are possible without sovereign<br />
authority; and if sovereign authority is no guarantee of order and peace, then<br />
security and order need not be a reason for state sovereignty. This suggests that the<br />
focus of analysis should be shifted to questions of how traditions constitute authority<br />
within community – that is to ask how power is exercised and legitimated in the<br />
world – and what difference contrasting traditions make in the lives of individu<strong>als</strong><br />
and communities. When questions of world politics are re-framed in this manner,<br />
hidden aspects can be revealed. Consider the state of nature, the central organizing<br />
concept of international politics on Waltz's reading and for much of modern political<br />
theory through Hobbes, Locke, Smith, Rousseau, Kant and so on. This central metaphor<br />
of modern political thought expresses an ontology made more or less explicit by<br />
Hobbes, but taken to be the foundational basis of politics by subsequent theorists. 33<br />
33 For an account of the state of nature from this perspective cf. Henderson, James (Sakej)<br />
198 Dis | kurs
Internationale Politik<br />
One aspect the metaphor and ontology of the state of nature is the fear of uncertainty<br />
in knowledge and contingency in existence. For Hobbes, this problem could be<br />
resolved if people agreed to always obey a sovereign authority, whether through an<br />
individual or a constituted body. The possibility of sovereign authority required an<br />
ontological homogeneity being forged out of a diversity of viewpoints and traditions,<br />
which scholars such as Ernst Gellner and Heather Rae point out reflect the actual<br />
history of state building. 34<br />
In contrast, other traditions, particularly many indigenous political traditions, incorporate<br />
uncertainly and contingency in a different way. Some Native intellectu<strong>als</strong> such<br />
as Vine Deloria and Leroy Little Bear emphasize a process-oriented interpretation of<br />
reality and its implications for relations between all beings. Little Bear stresses how<br />
„all things are animate, imbued with spirit, in constant motion;“ and that „It is based<br />
on being aware that every being is animate and has an awareness that seeks to understand<br />
the constant flux according to its own capabilities.“ Following from this „no<br />
being ought to impose on another's understanding of the flux. Each being ought to<br />
have the strength to be tolerant of the beauty of cognitive diversity.“ 35 This understanding<br />
stands in sharp contrast to the idea that a person must have certain knowledge<br />
of another's thought and actions to be able to have cooperative relationships. This<br />
was the big worry, which Waltz read so deeply into the stag hunt metaphor. This idea<br />
of politics and power as control and assurance is foreign to many indigenous political<br />
traditions according to Taiaiake Alfred (1999). He argues that indigenous political<br />
traditions transform the understanding of power's meaning and use:<br />
On the meaning of power, indigenous thought has traditionally focused on questions<br />
of the legitimacy of the nature and use of power, rather than its distribution. Within<br />
indigenous cultures it is recognized that forms and levels of power vary, depending<br />
on the spiritual and physical resources available to the individual. There have always<br />
been two basic questions: What kind of power do individu<strong>als</strong> have? And are<br />
they using it appropriately? In other words, the traditional indigenous view of power<br />
and justice has nothing to do with competition, or status vis-à-vis others: it focus<br />
on whether or not power is used in a way that contributes to the maintenance of<br />
balance and peaceful coexistence in a web of relationships. 36<br />
Youngblood: The Context of the State of Nature. In: Battiste, Marie (ed.): Reclaiming<br />
Indigenous Voice and Vision. Vancouver 2002.<br />
34 Gellner, Ernest: Nations and Nationalism.Cornell, 1983; Rae, Heather: State Identities<br />
and the Homogenization of Peoples. Cambridge 2002.<br />
35 Little Bear: Jagged World Views Colliding. In: Battiste, Marie: Reclaiming Indigenous<br />
Voice and Vision. Vancouver 2002.<br />
36 Alfred, Taiaiake: Peace, Power, and Righteousness. p. 49.<br />
Dis | kurs 199
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
By challenging the prevalent understandings of concepts like power and justice with<br />
indigenous understandings, Alfred expands the possibility of the political, in much<br />
the same way as Zapatista communiqués aim to do. This goes to the heart of the dominant<br />
school's understanding that actions are governed by power necessities. There<br />
are many kinds of power that affect the political and no necessary way to act on these<br />
understandings. The alternative understandings and practices described in this paper<br />
will continue to be lived realities and possibilities in and of world politics, even if<br />
they are not recognized as such. An increasing awareness of indigenous practices and<br />
viewpoints however, might widen the horizon of political possibility everywhere.<br />
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Dis | kurs 201
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Gelesen<br />
Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn<br />
Susanne Gottlöber<br />
Spätestens seit Peter Salovey und John D. Mayer (die erstaunlicherweise nicht erwähnt<br />
werden) im Jahr 1990 den Begriff der emotional intelligence popularisierten,<br />
begann man sich auch in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen wieder<br />
für Gefühle zu interessieren.<br />
Neueste Forschungsergebnisse der Kognitionswissenschaften zum „Bauchgefühl“<br />
rücken zunehmend auch ins öffentliche Bewusstsein, in welchem Ausmaß unsere sozialen<br />
Verhaltensweisen nicht kognitiv, sondern emotional gesteuert werden. Für die<br />
Philosophie sind diese Erkenntnisse deshalb interessant, weil sie empirisch zeigen,<br />
inwiefern neben der Vernunft auch Gefühle über ihre Intentionalität einen Zugang<br />
zu Welt erschließen. Schon der Titel Philosophie der Gefühle – Philosophie <strong>als</strong> Liebe<br />
zur Weisheit gelesen – verweist gewissermaßen darauf, welch zentrale Stellung beide<br />
Autoren Emotionen nicht nur für moralische, sondern auch für epistemische und<br />
bewusstseinsphilosophische Fragestellungen zuordnen. Philosophiegeschichtlich<br />
bewegt man sich damit nicht nur in den Fußspuren der kritischen Theorie, sondern<br />
auch erneut (und das wird leider nicht angesprochen) in der Tradition Pasc<strong>als</strong> und<br />
seiner logique du coeur, die später von Max Scheler wieder aufgenommen wurde<br />
und Affekten eine eigene, die ratio gewissermaßen ergänzende Logik (und damit<br />
202 Dis | kurs
Gelesen<br />
auch einen individuellen Anteil in der Welterschließung) zuspricht. Gefühle haben<br />
aber nicht nur auf dem Gebiet der Rationalitätskritik, wo sie vor einer einseitigen<br />
Bewertung der kognitiven Fähigkeiten schützen, Konjunktur. Auch im Bereich der<br />
Moralphilosophie, in dem Denker wie Rawls Emotionen wie Scham oder Schuld<br />
eine wichtige Rolle für den Entstehungsprozess für Moral einräumen, spielen Gefühle<br />
eine Schlüsselrolle.<br />
Dementsprechend breit gefächert ist auch das Spektrum der unzähligen Publikationen,<br />
die aus verschiedensten Perspektiven eine Theorie der Emotionen zu entwickeln<br />
suchen. Mit dem vorliegenden Band leisten die Autoren, beide auf diesem Gebiet<br />
profilierte Philosophen, eine Verknüpfung der einzelnen Debatten und ziehen eine<br />
erste Bilanz, ohne die Konfliktlinien vorzeitig zu harmonisieren. Erklärtes Ziel ist dabei,<br />
die phänomenologischen und analytischen Theorien unter Einbezug empirischer<br />
Befunde im größten gemeinsamen Nenner zu vereinen. Diese einheitliche philosophischen<br />
Grundlage soll die Grammatik für weitere Einzelanalysen zur Verfügung<br />
stellen, indem u. a. dargelegt wird, inwiefern verschiedene Gefühle überhaupt „genügend<br />
Familienähnlichkeiten aufweisen“, um gemeinsam unter dem Begriff „Gefühl“<br />
oder „Emotion“ subsumiert werden zu können, ohne der Gefahr einer vorschnellen<br />
Verallgemeinerung zu erliegen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wurde ein<br />
formaler Aufbau im Stil eines alphabetisch geordneten Nachschlagewerks gewählt:<br />
Die handbuchartige Artikelgliederung gestattet, die einzelnen Kapitel unabhängig<br />
voneinander zu lesen; eine Herangehensweise, die einen individuellen Zugang zum<br />
Gesamtkontext erlaubt. Der einzige Nachteil dieser Vorgehensweise: Aufgrund der<br />
Unabhängigkeit der einzelnen Kapitel werden bestimmte Definitionen und Bestimmungen<br />
so häufig wiederholt, dass dies an Redundanzen grenzt.<br />
Arbeitsgrundlage ist zunächst eine terminologische Definition von „Gefühl“, da der<br />
Begriff im Allgemeinen sowohl in einem weiten <strong>als</strong> auch in einem engeren Sinne<br />
gebraucht wird. Generell bezeichnet er zunächst die gesamte Palette affektiver Phänomene<br />
wie Empfindungen, Stimmungen und Emotionen. Während Empfindungen<br />
sich aber eher auf körperliche Symptome wie Lust oder Schmerz beziehen und Stimmungen<br />
meist länger anhalten und sich nicht unbedingt auf intentionale Objekte<br />
beziehen müssen, werden <strong>als</strong> „Gefühle“ im engeren Sinne Emotionen bezeichnet, die<br />
ein Objekt zum Ziel haben und in spezifischer Weise auf Welt bezogen sind. Die zu<br />
Beginn vorgenommenen Grundbestimmungen dienen dabei gleichsam <strong>als</strong> „roter Faden“<br />
für nachfolgenden Betrachtungen: So folgen die Autoren, um den starken Terminus<br />
der Intentionalität aufzuweichen, dem Phänomenologen Herrmann Schmitz,<br />
indem sie einen Verankerungs- und einen Verdichtungsbereich annehmen. Ebenfalls<br />
essentiell ist die (auch von Schmitz übernommene und auf seiner Vorstellung<br />
einer Räumlichkeit des Leibes fundierende) immer wieder aufgenommene Beschreibung,<br />
dass negativ empfundene Emotionen mit einer gefühlten Einengung, positive<br />
Dis | kurs 203
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
hingegen mit einer gefühlten Weitung einhergehen. Die gewählte Herangehensweise<br />
(ausgehend von Alltagserfahrungen, die bisweilen allerdings etwas abseitig geraten)<br />
läuft fast zwangsläufig auf einen phänomenologischen Ansatz hinaus: Denn Gefühle<br />
werden leiblich erfahren, müssen <strong>als</strong>o über eine leibliche (und daher beschreibbare)<br />
Basis verfügen. Die auf dieser Basis erarbeiteten Detailanalysen lassen dann wieder<br />
Rückschluss auf allgemeine Aussagen über bestimmte Phänomene zu, wie etwa die<br />
Unterscheidung zwischen dem akuten Gefühl, einer Disposition und der habitualisierten<br />
Einstellung. Neben der Eigenständigkeit der Kapitel erleichtert auch das<br />
einheitliche Schema im Aufbau den Zugang in die Thematik. Meist mit der kategorialen<br />
Verortung des Gefühls beginnend, werden wichtigste traditionelle Positionen<br />
erörtert, eventuelle Abgrenzungen vorgenommen und schließlich in einen weiteren<br />
Zusammenhang (z. B. dem moralischen Wert der Achtung) gestellt. Dass der Fokus<br />
trotz gleichen Grundschemas dabei variiert, verhindert, dass sich beim Leser eine<br />
gewisse Ermüdung einstellt.<br />
Aufschlussreich (gerade auch für interdisziplinäre Betrachtungen) sind die möglichen<br />
Verbindungen zu übergeordneten sozialen Kontexten. So gewinnen z. B. Analysen,<br />
die sich mit interpersonalen und -kulturellen Fragestellungen beschäftigen,<br />
eine neue Perspektive, wenn untersucht wird, inwiefern Achtung wegen der ihrer<br />
innewohnenden Tendenz zur Distanzierung (die im leiblichen Impuls des Zurücktretens<br />
verortet werden kann und bis hin zur Frage führt, inwiefern dieses Gefühl für<br />
den Achtenden eine gleichzeitige Herabsetzung seiner eigenen Stellung impliziert)<br />
eventuell für Hierarchiebildung verantwortlich ist.<br />
Bisweilen wünscht man sich allerdings eingehendere Analysen bzw. eine konsequentere<br />
Ausbuchstabierung der aufgeworfenen Problemstellungen: So bleibt beispielsweise<br />
die Frage, inwiefern bestimmte Formen des Ekels den moralischen Gefühlen<br />
zuzurechnen seien, unbeantwortet. In Bezug auf Aggressionsaffekte wiederum wäre<br />
es interessant gewesen, das Phänomen der sich steigernden Gewaltspirale näher zu<br />
durchleuchten. Überhaupt scheint der Exkurs zum Bösen, der im Kontext von Aggression<br />
behandelt wird, eingeschoben und zu wenig durchdacht, der Israelisch-Palästinensische<br />
Konflikt <strong>als</strong> Exempel eines „unverschuldeten Aggressionskreislaufes“<br />
polemisch und überflüssig. Auch im Fall von Neid und Eifersucht lassen die Autoren<br />
die sonst in ihren Analysen gewohnte Tiefe vermissen. Ebenfalls unvollständig bleiben<br />
manche Abschnitte der Überlegungen zur Liebe. So findet in diesem Kapitel<br />
Platons Mangeltheorie den Eros betreffend keine Erwähnung. Das ist insofern ein<br />
Fauxpas, <strong>als</strong> diese (speziell im berühmten Symposion explizierten) philosophischen<br />
Überlegungen wohl nach wie vor zu den grundlegenden Bestimmungen des Phänomens<br />
Eros gehören. Erfreulich gut gelingt auch die Verknüpfung von naturwissenschaftlichen<br />
(im Wesentlichen neurologischen und psychologischen) Erkenntnissen<br />
mit philosophischen Perspektiven. Denn gerade für ein adäquates Verständnis von<br />
204 Dis | kurs
Gelesen<br />
Gefühlen wie Angst oder Furcht ist es unumgänglich, auf ihre biologischen Grundfunktionen<br />
einzugehen; am Beispiel der Angst gelingt die Verbindung von neurologischer<br />
und phänomenologischer Analyse ausgesprochen gut. Irreführend (wenn<br />
nicht sogar schlicht f<strong>als</strong>ch) ist dagegen die im Kapitel Traurigkeit und Melancholie<br />
aufgestellte Behauptung, durch Anheben des Serantoninspiegels würden die Symptome<br />
von Depression immer abgemildert. (Denn neurophysiologisch kann bei manchen<br />
depressiven Störungen durchaus ein normaler bis überhöhter Serantoninspiegel<br />
vorliegen. Zudem lässt sich dieser zwar mit der Gabe von Medikamenten sofort<br />
erhöhen, nicht jedoch die Depressionen sofort zum Verschwinden gebracht werden.)<br />
Eine kleine Ungenauigkeit, die wohl auf ein flüchtiges Lektorat zurückzuführen ist.<br />
Als letzter Kritikpunkt bleibt anzumerken, dass ein für den Gesamtkontext wesentliches<br />
Phänomen mit seinen Konsequenzen leider überhaupt nicht thematisiert wird:<br />
die so genannte Alexithymie (Gefühlsblindheit). Dabei hätte eine solche Analyse eindrucksvoll<br />
aufzeigen können, was beim vollkommenen Ausfall von Gefühlen droht:<br />
der Totalverlust sozialer Fähigkeiten.<br />
Fazit: Das vorliegende Werk trifft den Nerv der Zeit und leistet trotz kleiner Schwächen<br />
wie gelegentlicher Redunanzen oder hin und wieder wünschenswerten klareren<br />
Fazits einen überzeugenden Beitrag zur philosophischen Wiederentdeckung der<br />
Gefühle und nimmt so das in der abendländischen Tradition seit Anbeginn existierende<br />
Fragen nach den Affekten und deren Bedeutung wieder auf. Das gesuchte<br />
produktive Gespräch zwischen Autoren und den einzelnen Perspektiven kann man<br />
trotz einer hin und wieder auftretenden gewissen Brüchigkeit in den Übergängen im<br />
Wesentlichen <strong>als</strong> gelungen bezeichnen, da sich dank eleganter Übergänge zwischen<br />
den zahlreichen Positionen die Abschnitte meist flüssig lesen lassen.<br />
Zugleich ist diese Stärke des Buches aber auch sein größter Schwachpunkt: Denn<br />
die Zielstellung, möglichst viele Perspektiven darzustellen, um dem jeweiligen Phänomen<br />
umfassend gerecht zu werden, wird genau dort konterkariert, wo die zitierten<br />
Positionen – leider zu oft – unkommentiert nebeneinander gestellt werden. Die<br />
Folge ist, dass sich in den entsprechenden Passagen die in der Regel dominierende<br />
Präzension der Analysen bis hin zur Schwammigkeit eintrübt. Eine deutlichere Stellungnahme<br />
zu den einzelnen Kontroversen und Auswertung der angeführten Positionen<br />
durch die Autoren wäre einer noch klareren Ausdifferenzierung der einzelnen<br />
Emotionen sicher förderlich gewesen.<br />
Dennoch: Ein ergiebiger Überblick für alle, die zugleich ein Nachschlagewerk und<br />
einen tieferen Einstieg in die modernen Emotionsdebatten wünschen.<br />
Demmerling, Christoph/Landweer Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis<br />
Zorn, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2007, 338 S., ISBN 978-3-476-01767-3<br />
Dis | kurs 205
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Gelesen<br />
Politische Soziologie. Grundlagen einer<br />
Demokratiewissenschaft<br />
Stephan Sandkötter<br />
Leo Kißler hat mit seinem gelungenen Lehrbuch einen wichtigen Beitrag für eine<br />
sukzessiv aufzubauende Bachelor Bibliothek (hier bei UTB) vorgelegt. Das Lehrbuch<br />
ist für (Bachelor)-Studierende der Soziologie und Sozialwissenschaften und<br />
ein fachinteressiertes Publikum konzipiert. Es enthält illustrative Abbildungen und<br />
Tabellen; die Literaturhinweise am Ende eines Kapitels sind hilfreich, könnten allerdings<br />
umfangreicher sein. Das angelegte Register (S. 297–304) ist eine gute Idee;<br />
allerdings fehlen bei einigen Begriffen die kompletten Verweisstellen (zum Beispiel<br />
Mündigkeit; angegeben ist S. 33, es fehlt allerdings der Hinweis auf die Seiten 84,<br />
85, 86 und 89). Die Zwischenfazits sind sinnvoll, sollten aber nach jedem Kapitel<br />
platziert werden. Das Oeuvre ist modulartig aufgebaut und lässt prinzipiell ein Herausgreifen<br />
und Bearbeiten einzelner, zentraler Themen zu, dennoch empfiehlt sich<br />
ein chronologisches Studium der Kapitel 2–5.<br />
Das einleitende Kapitel offeriert einige wichtige Grundsatzgedanken zur Verortung<br />
der Politischen Soziologie im interdisziplinären Ensemble von Soziologie und Politikwissenschaft<br />
und kann <strong>als</strong> ein impulsreiches Aperçu gelesen werden. Das relativ<br />
umfangreiche sechste Kapitel – zweiundzwanzig Textseiten – beinhaltet eine Gesamtzusammenfassung<br />
des Sujet und ein abschließendes Fazit. Das zweite Kapitel,<br />
206 Dis | kurs
Gelesen<br />
gleichzeitig auch das stärkste des Buches, bietet einen luziden und präzisen Überblick<br />
über essentielle Grundbegriffe der Politischen Soziologie. Die letzten beiden<br />
Shell Jugendstudien (2002 und 2006) attestieren der deutschen Jugend einerseits<br />
eine dezidierte Politikdistanz – auch im Hinblick auf Mitgliedschaft in Organisationen<br />
–, andererseits ein Interesse an periodischen Aktionen (Spontanproteste und<br />
Bürgervereinigungen, wenn deren Verweildauer überschaubar ist). Wie erhellend<br />
wirkt vor diesem Hintergrund die Kißlersche Analyse über Partizipation. Partizipation<br />
hat sowohl eine empirische wie auch eine normative Dimension und ist stets<br />
interesseorientiert (bemerkenswert dazu die Ausführungen: S. 71 f.). Partizipation<br />
ist aber in einer funktional subtil differenzierten Gesellschaft von Wissen im Sinne<br />
einer Sachkompetenz abhängig (S. 81 ff.). Treffend stellt der Autor – gerade für ein<br />
jugendliches Publikum – die eigentliche Crux von Wissen und Partizipation heraus:<br />
Die Austauschbeziehungen zwischen interessegeleiteten Akteuren und intermediären<br />
Organisationen der politischen Kommunikation bestehen sowohl aus Akteuren<br />
mit geringem Wissen, die zu Aktionismus tendieren und Wissensexperten, deren<br />
Handlungskompetenz, diplomatisch formuliert, ausbaufähig ist. Auch die politische<br />
Sozialisation, die vielleicht in der durch die Aufklärung postulierte Mündigkeit des<br />
Einzelnen kulminiert, ist ein Grundbegriff, dessen Substanz von Kißler de facto<br />
durch den Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Mündigkeitspostulat und dessen<br />
praktischer Einlösung klar herausgestellt wird – oder, um mit Habermas zu sprechen:<br />
Das Projekt der Moderne ist unvollendet.<br />
Auch der Grundbegriff Politische Öffentlichkeit wird für ein junges Lesepublikum<br />
konzis und gleichzeitig prägnant dargestellt. Politische Öffentlichkeit impliziert<br />
eben nicht nur Staatliches oder massenmedial Veröffentlichtes, sondern auch gesellschaftliche<br />
Produktionsbedingungen, die in einer fortgeschrittenen Demokratie<br />
nicht mehr nur ökonomisch ausgerichtet sein können, sondern auch sozial verträglich<br />
und ökologisch sein müssen (S. 98–105). Die differenzierte Beschreibung von<br />
drei Öffentlichkeitsmodellen, die trotz ihrer zum Teil konträren, zumindest aber<br />
differenten Aussagen, unisono einen Aspekt unberücksichtigt lassen, nämlich dass<br />
politische Öffentlichkeit kontinuierliche Lernprozesse umfasst (S. 102–06). Soll die<br />
Signifikanz dieser Lernprozesse ernst genommen, ja hervorgehoben werden, ist eine<br />
Institutionenanalyse, die der Autor im vierten Kapitel (S. 143–233) durchführt, unerlässlich.<br />
Mit anderen Worten: Parteien und Verbände, Neue Soziale Bewegungen,<br />
Medien, aber auch Arbeitsorganisationen (Firmen) stellen öffentliche Akteure dar,<br />
die die Lernfähigkeit und Lebendigkeit einer Demokratie entscheidend prägen. Die<br />
detaillierte Behandlung dieser kollektiven Akteure verdeutlicht, dass Parteien bei der<br />
politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, sie aber keineswegs dominieren –<br />
so Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes, nicht Artikel 1 Absatz 1 (S. 144). Die Darstellung<br />
der genannten Akteure geschieht im wahrsten Sinne des Wortes lehrbuchge-<br />
Dis | kurs 207
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
mäß: überblicksartig, zugleich aber durchaus prägnant, informationsreich und auch<br />
reflexionsanregend. Dennoch seien einige ergänzende Anmerkungen gemacht: Es<br />
scheint mir nicht sinnvoll zu sein, Bündnis 90/Die Grünen <strong>als</strong> die letzte (erwähnenswerte)<br />
neue Partei im bundesrepublikanischen Parteienspektrum anzusehen<br />
(S. 150), denn die inzwischen nach der Fusion von PDS und WASG am 16.06.2007<br />
in Berlin zu „Die Linke“ mutierte neue Partei verdient Beachtung, weil diese Partei<br />
zu einem Sprachrohr und Auffangbecken für Menschen aus östlichen wie westlichen<br />
Bundesländern geworden ist, die sich subjektiv <strong>als</strong> VerliererInnen der jüngsten Modernisierungsprozesse<br />
sehen. Und werden die VerliererInnen der gesellschaftlichen<br />
Wandlungsprozesse in die Grundsatzüberlegungen einbezogen, so sollten auch prägnante<br />
Gedanken zu Parteien des rechtsextremen Spektrums artikuliert werden. Ein<br />
weiterer Aspekt ist bei der Parteienanalyse knapp ausgefallen, nämlich Überlegungen,<br />
warum Parteizugehörigkeit und aktives Mitwirken (nach wie vor) männerdominiert<br />
sind – auch und gerade in Zeiten von Mitgliederrückgang. Die notwendige Betrachtung<br />
von Verbänden fällt karg aus (S. 158–163 + 251–53); durch die Nennung und<br />
Aufgabenbeschreibung mehrerer Verbände könnte deren Bedeutung <strong>als</strong> kollektiver<br />
Akteur in der politischen Öffentlichkeit deutlicher werden. Die Ausführungen zu<br />
den Neuen Sozialen Bewegungen sind prägnant und aufschlussreich, jedoch kommt<br />
die Bestimmung der Unterschiede zwischen Alten und Neuen Sozialen Bewegungen<br />
zu kurz (S. 169 f. + 174).<br />
Auch Arbeitsorganisationen können interessante Akteure der politischen Kommunikation<br />
sein. Der Autor stellt unterschiedliche Möglichkeiten der Partizipation in<br />
Arbeitsorganisationen heraus – von der ArbeitnehmerInnenbeteiligung (S. 180–84)<br />
bis zur Nutzung von neuen Informationstechnologien <strong>als</strong> ArbeitnehmerInnenchancen,<br />
sich direkt an betrieblichen Entscheidungsfindungsprozessen beteiligen zu<br />
können (S. 184–96). Allerdings ist die Feststellung, die Kritik „an den herrschenden<br />
partizipations- und lebensfeindlichen Arbeitsbedingungen“ (S. 179) sei hinlänglich<br />
bekannt und müsse nicht fortgeschrieben werden, für ein Lehrbuch nicht angemessen.<br />
Es ist erstens unrealistisch anzunehmen, die (jungen) LeserInnen könnten diese<br />
Kritik kennen und zweitens nicht sinnvoll, in einer Fußnote auf ein Buch aus dem<br />
Jahr 1982 zu verweisen, das eventuelle Informationslücken schließen könnte. Dass<br />
den diversen Medien eine (zunehmende) Kommuniktationsfunktion in der modernen<br />
Gesellschaft zukommt, gilt inzwischen in weiten Kreisen der Bevölkerung <strong>als</strong><br />
Binsenweisheit. Kißler gelingt in diesem Abschnitt eine sehr differenzierte und informationsreiche<br />
Darstellung der Öffentlichkeitsfunktionen von Medien (S. 199–233).<br />
Diese Tatsache verdient besondere Betonung, da der Großteil der LeserInnen dieses<br />
Lehrbuches, junge Soziologie- respektive Sozialwissenschaftsstudierende, Medien <strong>als</strong><br />
ein Forum erleben, das durch populäre Medieninszenatoren wie Mario Barth oder<br />
Oliver Pocher den Alltag der Menschen zunehmend trivialisiert und infantilisiert.<br />
208 Dis | kurs
Gelesen<br />
Der solide Überblick über Aufgaben, Chancen und Herausforderungen der konventionellen<br />
Printmedien, des Rundfunks und Fernsehens wie auch über das Leitmedium<br />
der Zukunft, das Netz der Netze, zu dem bislang aber erst 16 % der Weltbevölkerung<br />
Zugang haben, verschafft den LehrbuchleserInnen zumindest eine Ahnung von<br />
der Multidimensionsfunktion dieser öffentlichen Kommunikationsform. Hervorhebenswert<br />
ist, dass der Autor in einer nüchternen Analyse (S. 217 ff.) auch <strong>als</strong> Symbolpolitik<br />
von unten zu bezeichnende Protestformen einzelner Stadt(teil)zeitungen,<br />
Lokalradios und BürgerInnenkanäle gegen die zuvor beschriebene konventionelle<br />
Mediendemokratie (Mediokratur) untersucht. Fällt die Bewertung dieses subtilen<br />
Aufbegehrens gegen das Etablierte zu Recht zurückhaltend, partiell auch skeptisch<br />
aus, so werden die LeserInnen freilich sehr wohl über Protestartikulationsformen<br />
und –möglichkeiten ausführlich informiert (S. 218–222). Neben den Zwischenfazits<br />
wären in diesem sehr praxis- und individuumsbezogenen Kapitel auch konkrete<br />
Aufgabenstellungen für die LehrbuchleserInnen sinnvoll gewesen.<br />
So wichtig die vorgestellten kollektiven Akteure für eine lebendige und von der Mehrheit<br />
der Bevölkerung kritisch begleitete und bejahte demokratische Gesellschaft auch<br />
sind, so essentiell ist der Deutsche Bundestag, das Parlament, <strong>als</strong> Generalinstanz für<br />
die Vermittlung der differenten Interessen einzelner gesellschaftlicher Teilsektoren.<br />
Kißler analysiert detailliert und perspektivisch die Funktionen der Generalinstanz<br />
Parlament. Interessant ist die ausführliche Schilderung der diversen Herausforderungen,<br />
Schwierigkeiten, ja Aporien, mit denen ein Parlament in einer hoch und fein<br />
differenzierten Demokratie konfrontiert ist (S. 107–42). Wünschenswert wäre auch<br />
für dieses Kapitel ein (kurzes) Fazit gewesen.<br />
Die komplexen Darstellungen der Funktionen von Parlament und diversen gesellschaftlichen<br />
Akteuren setzen voraus, was Kißler im fünften Kapitel prägnant thematisiert:<br />
die Existenz einer Zivilgesellschaft (S. 235–46), die die zuvor reflektierten<br />
Kommunikationsmöglichkeiten und –formen erst möglich macht. Der Autor geht<br />
kenntnisreich auf die <strong>als</strong> Synonym für Zivilgesellschaft stehende aktive Gesellschaft<br />
engagierter BürgerInnen ein (S. 235 f.). Die Darstellung des komplexen und komplizierten<br />
Beziehungsgeflechts von Parlament und kollektiven Akteuren zur Gestaltung<br />
einer bürgerInnenorientierten Politik umfasst sozialgeschichtliche Aspekte genauso<br />
wie das Proprium einer jeden Gesellschaft, nämlich soziale Ungleichheit. Der Autor<br />
verweist auf neue und traditionelle Formen der sozialen Ungleichheit, <strong>als</strong>o, zugespitzt<br />
formuliert, des Höher- und Tiefer-Seins von Individuen und Teilsektoren der<br />
Gesellschaft, allerdings nahezu ausschließlich aus nationaler Perspektive (S. 242 f.).<br />
Die problematische Begrenzung auf den nationalen Kontext zieht sich wie ein roter<br />
Faden durch das Buch und wird vom Autor in der Einleitung auch expressis verbis<br />
angekündigt (S. 19). Will Soziologie – und gerade auch Politische Soziologie – den<br />
Anspruch erheben, (weiterhin) kritische Oppositionswissenschaft sein zu wollen,<br />
Dis | kurs 209
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
muss sie in einer Zeit, die vom ökonomischen Primat und vom Rückgang des Politischen<br />
geprägt ist, die internationale, möglichst sogar die globale Dimension des<br />
Politischen in (Grundsatz)-Reflexionen einbeziehen.<br />
Leo Kißler, Politische Soziologie. Grundlagen einer Demokratiewissenschaft (UTB –<br />
Uni – Taschenbücher), Konstanz 2007: UVK Verlagsgesellschaft.<br />
ISBN: 978-3-8252-2925-2, 19,90 EUR<br />
210 Dis | kurs
Gelesen<br />
Gelesen<br />
Staunings Kampf um Dänemarks Demokratie und<br />
Landfrieden<br />
Christian Gellinek<br />
Dem Diskurs-Freund wird hier eine auf allgemeinverständlichem Dänisch „folkeligt“<br />
geschriebene wissenschaftliche Biographie vorgestellt über Dänemarks herausragenden<br />
zweimaligen Premierminister Thorvald August Marinus Stauning (1873–1942).<br />
Verfasst hat sie der Direktor der Bibliothek und des Archivs der dänischen Arbeiterbewegung<br />
(„ABA“) in Kopenhagen, Henning Grelle.<br />
Stauning durchlief während seines langen politischen Lebens einen gleichmäßig steilen<br />
Aufstieg von einem Kopenhagener Arbeiterkind, Zigarrensortierer nach Farbe,<br />
Größe und Gewicht, Mitglied der sozialdemokratischen Partei Dänemarks ab 1890,<br />
Kassenwart und schließlich Mitglied des Dänischen Parlaments („Folketing“) von<br />
1906–1942. Bereits 1910 zum Parteivorsitzenden gewählt, trat Stauning zuerst <strong>als</strong><br />
‚Kontroll’-Minister in C. Th. Zahles Regierung ein. Von 1924–26 übernahm Stauning<br />
dann zum ersten Mal die Verantwortung <strong>als</strong> dänischer Premier („Statsminister“),<br />
und blieb von 1929–42 zum zweiten Mal in drei aufeinander folgenden Kabinetten<br />
Regierungschef. Im Januar 1939 trat der amtierende Premierminister <strong>als</strong> Vorsitzender<br />
der Dänischen Sozialdemokratischen Partei wieder zurück. Der kenntnisreiche<br />
1949 geborene Biograph Henning Grelle zog nun Staunings, im Wahlkampf 1935<br />
benutzten Slogan „Stauning eller Kaos“, der ihm einen spektakulären Stimmenan-<br />
Dis | kurs 211
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
tail von 46.6 % einbrachte, aus dem Wahlkontext ab und wandelte ihn <strong>als</strong> Parole<br />
und Kaufangebot in „Demokrati eller Kaos“ um – und darin steckt die These seiner<br />
Biographie. Ehe wir preisgeben, was das, nicht einfach eins zu eins mechanisch mit<br />
‚Chaos’ übersetzt, auf Deutsch heißen könnte, müssen wir uns eine politische Achse<br />
mit einer Skala vorstellen. Auf ihr wären rechts die Konservativen („Det Konservative<br />
Folkeparti“), in der Mitte die Freisinning-Liberalen („Det Radikale Venstre“) und<br />
links die Sozialdemokraten („Socialdemokratiet“) einzuzeichnen. Auf dem Felde<br />
der dänischen Innenpolitik herrschte natürlich wie überall sonst auch Parteienhader.<br />
Über diesen wollte Stauning bei der Abstimmung triumphieren. Da seine Parole<br />
einmal von großem Erfolg gekrönt wurde, blieb sie im sich fortsetzenden politischen<br />
Kampf um Stimmen bis zu seinem Tode erhalten. Insofern bietet sich <strong>als</strong> Übersetzung<br />
für Normalfälle ‚Zerfall’, für den Ausnahmefall ‚Anarchie’ an. Aber wie würde<br />
man diese Herrschaftsparole Staunings auf unserer Skala einzutragen haben? Muss<br />
sie mehrdimensional erweitert werden? Denn Staunings innenpolitischer Machtkampf<br />
und sein Kalkül mussten auch außenpolitisch <strong>als</strong> Friedensaktivität während<br />
des Ersten und Zweiten Weltkriegs und <strong>als</strong> Neutralität zwischen den beiden Weltkriegen<br />
bis 1940 bestanden werden. Bei der Skalierung dürften auch die zu berücksichtigenden<br />
Arbeiterrechte, Währungsstabilität, Inflationsbekämpfung, Märktezugänge,<br />
sowie ausreichende Im- und Exportverträge Dänemarks nicht vernachlässigt<br />
werden. Dazu bräuchte man aber einen scanner.<br />
Stauning trug zwar die Verantwortung, aber es zeigte sich in Krisen wie einem drohendem<br />
Gener<strong>als</strong>treik, daß der dänische Premierminister zäh war, warten konnte<br />
und nicht zu sozialistischen Wagh<strong>als</strong>igkeiten neigte, sondern bei allen seinen<br />
Maßnahmen immer <strong>als</strong> königlich dänischer Sozialdemokrat zu gelten hatte. Seine<br />
internationale Solidarität konnte, wie die der deutschen und französischen Sozialdemokraten<br />
auch nicht, durch Abmachungen mit fremden Parteigenossen nicht unterminiert<br />
werden. Also inszenierte Stauning und garantierte in Krisen (wie einer<br />
Abdankungsdrohung des Königs oder Provokationen in Kriegszeiten) durch Allparteienregierung<br />
mit Respekt vor dem Regenten einen dänischen Burgfrieden nach<br />
innen und eine pro-nordische Neutralität nach außen. Als aber am 9. April 1940 die<br />
deutschen Besatzungstruppen völkerrechtswidrig einmarschierten, konnte mit Unterstützung<br />
seines Königs Christians 10., der von 1912 bis 1947 durchregierte, von<br />
Stauning das Chaos einer Überfremdung von Dänemark würdevoll und mit Bedacht<br />
abgewendet werden.<br />
Diese Biographie soll, wie ihre wichtigsten Vorläufer von 1937 (Untertitel: Vom Laufburschen<br />
zum Premierminister), 1942 (Sohn des Volkes), 1979, ²1988 (volkstümlich)<br />
das Terrain neu abteilen. Sie erfüllt ihre selbstgestellte Hauptaufgabe zu zeigen, daß<br />
Stauning und seine Partei in Dänemark am meisten zur allmählichen Durchsetzung<br />
der Demokratie in der Praxis geleistet haben. Die Ideologie des demokratischen Vor-<br />
212 Dis | kurs
Gelesen<br />
reiters bei der Gesellschaftsentwicklung auf der parlamentarischen Ebene und der<br />
Machtausübung in seiner Person, dem sich heranbildenden Landesvater („landsfader),<br />
verlangte aber eine in einem Königreich sehr schwer zu erlernende Rolle.<br />
Diese Demokratie <strong>als</strong> Dolmetscherin einer Mitbeteiligung und Mitbestimmung des<br />
einfachen Volkes, vor allem in den ärmeren Schichten, und ihrer Rechte auf den<br />
Achtstundentag und bezahlten Urlaub, kräftigte den Zulauf zur sozialdemokratischen<br />
Partei Dänemarks, welche gleichzeitig durch Staunings Tatkraft und Umsicht<br />
zur Mitschafferin der Demokratie berufen war. Das freiheitliche Potential der Demokratie<br />
wurde unter den Kabinetten Staunings zum ersten Mal in der politischen<br />
Geschichte Dänemarks ausgeschöpft.<br />
Dem Buch Grelles liegt eine sachliche Dreiteilung zugrunde, ohne <strong>als</strong> solche durch<br />
Kapitel- und Abschnittszahlen markiert worden zu sein. Die drei Teile werden thematisiert<br />
<strong>als</strong> I. Vorbereitung II. Durchsetzung von Reformen und III. Zum Wohle der<br />
Gesellschaft. Anders und etwas kleinkarierter teilte sein Vorgänger Lyngby Jepsen<br />
(1920–2001) sein Buch chronologisch-biographisch ein in I. Ein junger Mensch findet<br />
langsam seinen Weg II. Gehärtet und kampfbereit zu höchsten Ämtern III. Auf<br />
den Wegen zum Kabinettschef IV. Krisen und Kriege (1930–1942). Wenn man hier<br />
III. und IV. zusammenrechnet, ergibt sich von weitem eine Ähnlichkeit, welche auf<br />
der Chronologie beruht.<br />
Grelle dramatisiert nicht, wie sein Vorgänger-Biograph, die Nahtstellen und Schnittflächen<br />
zwischen den politischen Veränderungen und den privaten Entwicklungen,<br />
die Stauning Rückhalt gaben. Lyngby Jepsen war ein berühmter Schriftsteller seiner<br />
Zeit und kein Fachhistoriker. Entsprechend ängstlich penibel belegte er genau, was<br />
er in den Archiven <strong>als</strong> Unterlagen gefunden hatte und reihte alle Vorgänge schon<br />
im Inhaltsverzeichnis in Jahreszahlen auf. Dieser Vergleich in der Verarbeitung des<br />
damaligen und des jetzigen neuesten Archivmateri<strong>als</strong> in der Arbejderbevægelsens Bibliotek<br />
und im Stauning-Minister-Archiv des Rigsarkiv war notwendig, weil Grelle<br />
Hans Lyngby Jepsen <strong>als</strong> Ratgeber und Quellenbeschaffer 1988 gedient hatte und dies<br />
sowohl <strong>als</strong> Dank vermerkt wurde und im Vorwort Grelles abgegolten wird. Hier interessiert<br />
uns, daß es Lyngbys „folkelig biografi“ an einer politischen Analyse mangelt.<br />
Stattdessen beschreibt seine Biographie eine stark ausgeprägte Führungspersönlichkeit,<br />
die <strong>als</strong> Charakterbild seine Leser fesseln, <strong>als</strong>o altmodisch gesagt, belehren und<br />
erfreuen sollte. Grelle hingegen geht einen theoretischen Schritt weiter. Es kommt<br />
ihm nicht darauf an, noch einmal, weil das Stauning-Archiv inzwischen gewachsen<br />
war, in Stauning eine Ikone wie einen höher zu bauenden Obelisken zum Erstrahlen<br />
zu bringen, sondern <strong>als</strong> Parteihistoriker das neue Material zu sichten und auszuwerten.<br />
Grelle ordnet die politischen Hauptphasen und die persönlichen Nebenelemente<br />
sehr souverän zu einem skalierbaren Lebenswerk an: Glückskind („lykkebarnet“),<br />
Begabung, Eignung, Vertrauenswürdigkeit, Belastbarkeit, Experimentierfreude, Or-<br />
Dis | kurs 213
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
ganisationstalent, Schreiblust – inklusive Gedichte und ein oft gespieltes Arbeiterdrama<br />
– Lebenskraft und Stehvermögen bei einer familiären Tragödie sind anschaulich<br />
gemachte Stichworte. Sie werden mit stetem Blick auf ihre Einordnung in die<br />
politischen Zusammenhänge, die zu bestehen und zu bewältigen waren, behandelt.<br />
„Der rote Faden in Staunings Lebenswerk ist die Demokratie“ (<strong>als</strong> solche) und deren<br />
„Fortentwicklung zur Volksregierung“(form) (S. 494). Es ist, nach Grelle, Staunings<br />
Verdienst, erreicht zu haben, daß die dänische Demokratie nach und nach sich allmählich<br />
zu einer soliden Grundfeste gegen alle Angriffe von konservativer Seite entwickeln<br />
konnte und widerstandsfest geblieben ist. „Die Sozialdemokratie vermochte<br />
es, der Wachhund der [dänischen] Demokratie zu sein.“ (S. 495). Konkreter und<br />
unorthodoxer kann man es kaum ausdrücken.<br />
Die Zusammenfassung liefert denn auch nicht ein theoretisches Modell oder eine<br />
Begriffsanalyse der dänischen Demokratievariante, sondern erkennt die Weisheit einer<br />
Beschränkung auf die dänische Gesinnung („danskhed“) von Staunings Maßnahmen<br />
und ihrer Aufnahme. Daß die Demokratie die einzige vertretbare Basis für die<br />
dänische Sozialdemokratie sein müsse, stellte er bereits 1927 fest. Aber die eigentliche<br />
Bewährung musste nach dem Sorgentag der deutschen Besetzung 1940 erfolgen.<br />
Denn erst ab diesem Datum sollte sich die dänische Demokratie <strong>als</strong> Herrschaft über<br />
den Ausnahmezustand zu bewähren haben. Bereits knapp ein Jahr später in einer<br />
Rede vor den Kopenhagner Studenten, die bei Munksgaard 1941 erschien, gibt er der<br />
Hoffnung Ausdruck, daß man es wieder erleben werde, „Dänemark frei und selbständig<br />
zu sehen.“ Unbeirrt von begrenztem Handel, eingestellter Schiffahrt und der<br />
Blockade von und nach England, baute er auf der Basis der wiederzugewinnenden<br />
dänischen Selbständigkeit weiter an den Fundamenten des kommenden dänischen<br />
Wohlfahrtstaates. Er hat nach Grelle mit Recht <strong>als</strong> dessen Vorkämpfer zu gelten. So<br />
übernehmen wir ein obiter dictum Staunings, das dieser Biographie <strong>als</strong> Schluß-Motto<br />
dient: „Die Freude ist am höchsten, wenn eine wohlausgeführte Tat dahintersteht.“<br />
Grelles „Versuch“ („forsøg“) ist ein Glücksfall der wissenschaftlichen biographischen<br />
Darstellung und ehrt in vollem Maße den Erhalter des Landfriedens von Dänemark<br />
und seiner Demokratie, Thorvald Stauning.<br />
Henning Grelle, Thorvald Stauning. Demokrati eller Kaos: En Biografi [Demokratie<br />
oder Anarchie: Eine Biographie], København 2008: Jyllands-Postens Forlag, 575 pp.,<br />
DKK 299.00<br />
214 Dis | kurs
Gelesen<br />
Gelesen<br />
Daniel Hard: SPD-Programmdebatte vom Schröder-Blair-Papier<br />
bis zur Agenda 2010. Sozialpolitische<br />
Deutungen in Parteitagsbeschlüssen der SPD<br />
1998–2003<br />
Sebastian Nawrat<br />
Kann man über Geschichte schreiben, die noch dampft? Der Politikwissenschaftler<br />
Daniel Hard zeigt eindrucksvoll, dass das geht und zum Füllen einer Forschungslücke<br />
beitragen kann. Er unternimmt den politisch und wissenschaftlich durchaus brisanten<br />
Versuch, einen Beitrag zur Historisierung der Agenda 2010 zu leisten. Sein Fazit<br />
lautet: Inhaltlich überrascht werden konnte die SPD von der Agenda 2010 kaum.<br />
Die Quellenbasis für die sorgfältige Analyse stellen die Beschlüsse der SPD-Bundesparteitage<br />
zwischen 1998 und 2003 dar, die mit dem Schröder-Blair-Papier, dem<br />
Bericht der Hartz-Kommission und der Agenda 2010 <strong>als</strong> „Dokumente der Neuen<br />
Mitte“ verglichen werden. Mithilfe von sozialpolitischen Deutungsinnovationen, vor<br />
allem der Durchsetzung von Begrifflichkeiten, wie „Eigenverantwortung“, „Fördern<br />
und Fordern“ oder „Aktivierung“ wird der programmatische Wandel der bundesrepublikanischen<br />
Sozialdemokratie auf der Ebene der parteioffiziellen Beschlusslage<br />
Stück für Stück aufgeschlüsselt.<br />
Dass Daniel Hard den sozialpolitischen Diskurs der SPD methodisch sauber und<br />
auf der Höhe der aktuellen Theorieansätze in der Politikwissenschaft zu behandeln<br />
vermag, zeigt der konzeptionelle Griff ins Repertoire der Wissenspolitologie. Selbst-<br />
Dis | kurs 215
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
verständlich kann man trefflich darüber streiten, ob die Anzahl der Primärquellen<br />
hinreichend erscheint oder, ob die Hinzuziehung der analytischen Kategorien der<br />
Wissenspolitologie nicht die bloße Nutzung von Theorieschablonen darstellt. Denn<br />
zu dem Schluss, dass ein endgültiges Ergebnis der sozialdemokratischen Programmdebatte<br />
noch nicht abschließend auszumachen ist, hätte man nicht zwingend das<br />
Etikett einer nicht vollzogenen interpretativen Schließung benötigt. Und überhaupt:<br />
Schließen sich eine interpretative Schließung und ein beständiger Revisionismus bei<br />
einem kontinuierlichen und dem demokratischen Sozialismus verpflichteten Programmdualismus<br />
zwischen Theorie und Praxis nicht aus?<br />
Das Buch weist erfreulicherweise auf weitergehende Fragestellungen hin. Dies betrifft<br />
zum einen die mögliche Ausweitung des Quellenkorpus und zum anderen die<br />
Frage, ob die Linkspartei eine hilfreiche Rolle bei der interpretativen Schließung der<br />
sozialdemokratischen Programmdebatte spielen kann. Tatsächlich muss im Hinblick<br />
auf die anstehende Bundestagswahl das Kapitel der Agendapolitik <strong>als</strong> noch nicht<br />
ausdiskutiert gewertet werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Sozialdemokratie das<br />
solide Werk von Daniel Hard eher <strong>als</strong> Argumentationshilfe oder <strong>als</strong> vielmehr <strong>als</strong> latente<br />
Bedrohung des in Hamburg mühsam erreichten Konsenses werten wird. Der<br />
zentrale Vorzug der Studie, die auf einer im Jahre 2004 an der Universität Mainz<br />
angefertigten Magisterarbeit beruht, ist ein anderer: Da hier ganz explizit Quellen<br />
verwendet werden, wird mit der gebotenen Zurückhaltung und ganz unprätentiös<br />
das eklatante Manko anderer politikwissenschaftlicher Arbeiten zur Vorgeschichte<br />
der Agenda 2010 aufgezeigt, die auf eine sorgfältige Quellenbasis verzichten. Um es<br />
ganz konkret zu sagen: Es deutet sich an, dass die parteiinterne Flugbahn des Kometen<br />
Agenda 2010 länger <strong>als</strong> angenommen ist. Ein Blick in die Parteitagsbeschlüsse<br />
der SPD lohnt sich offenkundig.<br />
Das Buch nimmt den Wunsch des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeiers<br />
auf, die Agenda 2010 zu historisieren. Erfreulich ist, dass darauf verzichtet wird,<br />
vorschnell einen Vergleich mit anderen sozialdemokratischen Projekten („mehr<br />
Demokratie wagen“, „neue Ostpolitik“ oder „Krisenmanagement“) zu ziehen. Vielmehr<br />
kommen mit der für die zeithistorische Forschung gebotenen Distanz auch<br />
Gegenstimmen, wie die von Albrecht Müller, der von einer „Reformlüge“ spricht,<br />
zu Wort. So kann nur dazu geraten werden, die vorliegende Arbeit zur Kenntnis zu<br />
nehmen. Es handelt sich um eine Parteiprogrammgeschichte, die über den Tellerrand<br />
von exklusiven Debatten hinausblickt: eine Programmgeschichte, wie man sie<br />
sich wünscht.<br />
Der Titel ist erschienen im Verlag Vdm Dr. Müller in Saarbrücken (2008).<br />
ISBN: 3836449781, 68 EUR.<br />
216 Dis | kurs
Autorinnen und Autoren<br />
Autorinnen und Autoren<br />
Nils Bock, geb. 1981. Studium der Geschichte (Schwerpunkt Mittelalter)<br />
und Klassischen Archäologie an der Universität Trier, Bologna (Italien)<br />
und Toulouse (Frankreich), Abschluss: Magister Artium Februar 2007, Juli<br />
2005 – Dezember 2006 Studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt „Ausgrabung<br />
auf dem Petrisberg“, Juni 2007–Oktober 2007 Freier Mitarbeiter<br />
am DHI Paris im Forschungsprojekt „Herolde in burgundischen Quellen“,<br />
seit Januar 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr.<br />
Martin Kintzinger an der Universität Münster, Dissertationsprojekt: „Die<br />
zeremonielle Funktion der Herolde in Deutschland und Frankreich zwischen<br />
Spätmittelalter und Renaissance (ca. 1450–1520)“, Mitgliedschaft<br />
in Forschungsnetzwerken: Heraudica. Réseau international de recherches<br />
sur l’histoire des hérauts d’armes, Forschungsinteressen: Spätmittelalter,<br />
Frankreich, Der Herold, Zeremoniell.<br />
Karl-Heinz Breier, PD Dr., geb. 1957, Studium der Politikwissenschaft, Pädagogik<br />
und Philosophie in München und Augsburg, 1987–1994 wiss. Mitarb.<br />
an der Uni der Bw Hamburg, 1988 Forschungsaufenthalt an der Library<br />
of Congress, 1992 Prom. zum Dr. rer. pol., 1995–1996 wiss. Mitarb. an<br />
der TU München, 1996–2002 wiss. Ass. an der Uni Kiel (Lehrerausbildung),<br />
2001 Habil., Auszeichnung der Habilschrift mit dem Wissenschaftspreis der<br />
Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnisstiftung, seit 2002 PD und wiss. Oberass. an<br />
der Uni Kiel, 2004–2005 Prof.-Vertr. an der Uni Bonn, 2005–2006 Prof.-<br />
Vertr. an der Uni Erfurt, seit WS 2007/08 Prof.-Verw. an der Hochschule<br />
Vechta.<br />
Christian Gellinek, Prof. emer., Ph. D., Dr. phil.-habil., geb. in Potsdam,<br />
Studium der Rechtswissenschaften, Germanische Philologie, Mittelalterliche<br />
Geschichte und Linguistik; Assistant-Associate Professor, Yale University<br />
1963–1971, Full Professor-chairman, Univ. of Florida, Gainesville<br />
1971–1987; Gastprofessor Basel, Poznan, Salt Lake City, UCLA; Münster<br />
Vergleichende Städteforschung 1987–1995; Potsdam, Memorial Univ. of<br />
Newfoundland, Univ. of South Fla., Tampa, BYU Provo, Utah; Münster bis<br />
WS 2006/07.<br />
Susan Gottlöber, M.A., geb. 1976, 1996–2003 Studium der Philosophie,<br />
Soziologie und Politikwissenschaft an der TU Dresden, seit 2005 Lehrauftrag<br />
am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaften<br />
der TU Dresden.<br />
Dis | kurs 217
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Christoph Krakowiak, stud. phil., geb. 1985, studiert Politikwissenschaft<br />
und Philosophie an der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Studienschwerpunkt<br />
in den Internationalen Beziehungen sowie der Region Mittelund<br />
Osteuropa.<br />
Daniel Kuchler, MA, geb. 1981, studierte Politikwissenschaft, Englische Philologie<br />
und Literaturwissenschaft sowie Geschichte in Münster. Er schrieb<br />
seine Magisterarbeit zum Thema „The Relevance of Gramsci for Post-Modern<br />
International Politics“. Heute arbeitet er <strong>als</strong> Teaching Assistant im<br />
Bereich International Beziehungen und promoviert an der State University<br />
of New York (SUNY), University at Albany mit den Schwerpunkten Internationale<br />
Beziehungen und Politische Theorie. Er ist von der Universität mit<br />
einem Tuition Scholarship und einem Stipendium ausgezeichnet worden.<br />
Matthias Lemke, Dr., geb. 1978, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie,<br />
Neueren und Neuesten Geschichte in Münster (M.A.) und Paris (DEA);<br />
promovierte im Rahmen einer deutsch-französischen Promotion (Hochschule<br />
Vechta, Sciences Po Paris) über einen Vergleich der Anti-Totalitarismuskompetenz<br />
des deutschen und französischen Sozialismus; Lehrkraft<br />
für besondere Aufgaben für das Fach Wissenschaft von der Politik an der<br />
Hochschule Vechta.<br />
Martin Lücke, Dr. phil., geb. 1975, Studium der Fächer Geschichte,<br />
Deutsch, Mathematik und Erziehungswissenschaften an der Universität<br />
Bielefeld, 2002 Erstes Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen, 2004 Zweites<br />
Staatsexamen in Berlin, 2004–2006 Promotionsstipendiat der Friedrich-<br />
Ebert-Stiftung, 2007 bis 2008 Lehrer am Hans-Carossa-Gymnasium in<br />
Berlin-Kladow mit den Fächern Deutsch und Geschichte, seit November<br />
2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Friedrich-Meinecke-Institut der FU<br />
Berlin (Didaktik der Geschichte), Promotion zur Geschichte der männlichen<br />
Prostitution in Deutschland in Kaiserreich und Weimarer Republik,<br />
2008 Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen<br />
Deutschlands. Jüngste Veröffentlichung: Männlichkeit in Unordnung.<br />
Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer<br />
Republik, Frankfurt (Main) 2008.<br />
Renate Martinsen, Prof. Dr., Lehrstuhl für Politische Theorie an der Universität<br />
Duisburg-Essen; Studium der Politikwissenschaft und Germanistik<br />
an der Universität Konstanz; Promotionsschrift „Der Wille zum Helden.<br />
Formen des Heroismus in Texten des 20. Jahrhunderts“ (DUV 1990); Wissenschaftliche<br />
Assistentin am Institut für Höhere Studien in Wien; Sprecherin<br />
im DVPW-Arbeitskeits „Politik und Technik“ (1994–2000); Visiting<br />
Professor an der George Washington University, Washington D.C.; Habilitationsschrift<br />
„Staat und Gewissen im technischen Zeitalter. Prolegomena<br />
218 Dis | kurs
Autorinnen und Autoren<br />
einer politologischen Aufklärung“ (Velbrück 2004); Vertretungsprofessur<br />
für Innenpolitik und Verwaltung an der Universität Konstanz; Vertretungsprofessur<br />
für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig; seit<br />
2006 in Duisburg.<br />
Sonja Meyer, stud. phil., geb. 1983, seit 2005 Studium der Sozialwissenschaften<br />
und Geschichte an der Hochschule Vechta, 2007 Studium an der<br />
Universidade Federal da Paraíba, João Pessoa, Brasilien.<br />
Jochen Missweit, geb. 1980, Studium der Geschichte, der Musik und<br />
der Erziehungswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität<br />
Münster und an der TU Dortmund, geplante Promotion in Musikwissenschaft,<br />
Forschungsinteressen: Symbolische Kommunikation in der Frühen<br />
Neuzeit, Kulturgeschichte des Krieges (Musik und Krieg), Musikalische Erinnerungskultur<br />
(bzw. Musik <strong>als</strong> Teil des kulturellen Gedächtnisses).<br />
Johannes Morrow, BA, promoviert in Politischer Theorie and Globaler Politik<br />
an der State University of New York at Albany. Er erhielt seinen Bachelor<br />
of Arts von der University of California, Berkeley. Seine Forschungsinteressen<br />
beinhalten indigene politische Bewegungen und indigene Philosophie,<br />
sowie Wissenschaftsphilosophie.<br />
Sebastian Nawrat, geb. 1981, Studium der Sozialwissenschaften, Geschichte<br />
und Germanistik in Münster, Staatsexamen 2006, 2004 bis 2006<br />
Studentische Hilfskraft im Arbeitsbereich für Allgemeine und Historische<br />
Erziehungswissenschaft der Universität Münster (Prof. Dr. Bernd Zymek),<br />
2007 Wissenschaftliche Hilfskraft in der Abteilung Bildungstheorie und Bildungsforschung<br />
im Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität<br />
Münster, seit 2007 Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Promotionsprojekt<br />
„Die sozial- und wirtschaftspolitische Programmdebatte der<br />
SPD seit 1982“, Forschungsinteressen: Parteienforschung, Zeitgeschichte<br />
und Polnische Geschichte.<br />
Nadine Niemann, stud. phil., geb. 1986, Studium der Erziehungs- und Sozialwissenschaften<br />
an der Hochschule Vechta.<br />
Wesley Nishiyama, MA, MA, promoviert in Politikwissenschaft und ist Adjunct<br />
Professor an der State University of New York at Albany. Er erhielt<br />
einen Master of Arts in Philosophie von der California State University at<br />
Long Beach, einen Master of Arts in Politikwissenschaft von der University<br />
of California, Davis, sowie einen Bachelor of Arts in Politikwissenschaft und<br />
einen Bachelor of Arts in Philosophie von der University of California,Irvine.<br />
Forschungsschwerpunkte im Bereich der Politischen Theorie der Gegenwart,<br />
Sozialtheorie und Amerikanischen Politik.<br />
Dis | kurs 219
Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />
Chris O‘Kane, MA, promoviert in „Social and Political Thought“ an der<br />
University of Sussex. Autor verschiedener Texte zu Gramsci, Said, Foucault,<br />
Badiou, Agamben, Adorno und Marx; Forschungsschwerpunkt im Bereich<br />
der neuen Formen des politischen Denkens im Spektrum der politischen<br />
Linken.<br />
Stephan Sandkötter, Dr., 1987–1992 Studium der Soziologie, Politischen<br />
Wissenschaft, katholischen Theologie und Philosophie an der Westfälischen<br />
Wilhelms-Universität Münster, 1990 Auslandsstudienjahr in Petrópolis<br />
bei Rio de Janeiro (Brasilien), 1993–1998 Promotion in Soziologie an der<br />
WWU Münster, 1998–1999 Lehrbeauftragter am Lateinamerika-Zentrum<br />
der WWU Münster, 1999–2003 DAAD/CAPES-Gastdozent an der bundesstaatlichen<br />
Universität von Paraíba (Brasilien), ab 2003 Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Hochschule Vechta.<br />
Matti Seithe, geb. 1984. Studium der Publizistik/Kommunikationswissenschaft,<br />
Politikwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Mainz<br />
und Münster zwischen 2003 und 2009. Schrieb seine Examensarbeit zum<br />
Thema „Zwischen Überdramatisierung und Verharmlosung. HIV und Aids<br />
in der Berichterstattung kostenloser Zeitschriften für homosexuelle Menschen“.<br />
Wissenschaftliche Schwerpunkte sind Politische Kommunikation,<br />
Journalismusforschung, Gesundheitskommunikation, Sozialpolitik sowie<br />
Politische Kulturforschung.<br />
Julia Shestakova, M.A., geb. 1981, Studium der Philosophie, Neueren Geschichte<br />
und Russischen Literatur in Tartu (Estland); 2005–2006 Stipendiatin<br />
der Studienstiftung des Abgeordnetenhauses von Berlin (Forschungsprojekt<br />
„Im Exil oder doch Zuhause? Russische Philosophie im Berlin der<br />
20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts“); 2007–2008 Stipendiatin am<br />
Forschungsinstitut für Philosophie Hannover; zur Zeit promoviert <strong>als</strong> Stipendiatin<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Philosophie <strong>als</strong> Erinnerung.<br />
Dimensionen des Gedächtnisbegriffs im Anschluss auf Schellings<br />
Überlegungen zur (Wieder)Erinnerung“ an der Humboldt Universität Berlin.<br />
Bastian Walter, M.A., geb. 1978, Studium der Mittleren Geschichte, Neueren<br />
Geschichte und der Europäischen Ethnologie in Münster und Bern;<br />
ehemaliger DAAD-Stipendiat; 2005–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter in<br />
einem DFG-Projekt zur Vor- und Frühformen des Völkerrechts; seit 2006<br />
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte<br />
von Prof. Dr. Martin Kintzinger an der WWU Münster; Promotionsprojekt:<br />
„Träger, Räume und Vollzug. Koordination und Praxis städtischer Außenpolitik<br />
im Kontext der Burgunderkriege“; Arbeitsschwerpunkte: Völkerrechtsgeschichte,<br />
Diplomatiegeschichte, Kommunikationsgeschichte, Geschichte<br />
der Spionage.<br />
220 Dis | kurs
Autorinnen und Autoren<br />
Ines Weber, M.A., geb. 1983, von 2002–2008 Studium der Politikwissenschaft,<br />
Kommunikationswissenschaft und Psychologie in Greifswald, 2006<br />
Auslandssemester an der Philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität<br />
St. Petersburg, seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule<br />
Vechta.<br />
Beiträge<br />
Beiträge für Diskurs, die sich entweder direkt mit einem Aspekt des Titelthemas<br />
eines <strong>Heft</strong>es auseinandersetzen, oder aber die inhaltlich andere<br />
Bereiche des sozial- und geisteswissenschaftlichen Themenspektrums abdecken,<br />
schicken Sie bitte an die oben angegebene Adresse der Redaktion,<br />
entweder per E-Mail oder <strong>als</strong> CD auf dem Postweg.<br />
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Muster wissenschaftlich belegen. Fügen Sie Ihrer Einsendung einen<br />
tabellarischen Lebenslauf bei.<br />
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nach inhaltlichen und wissenschaftlichen Kriterien geprüft. Kommen<br />
wir zu dem Schluss, dass wir den Artikel veröffentlichen wollen, setzen wir<br />
uns mit Ihnen für die Abwicklung des weiteren Verfahrens in Verbindung.<br />
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mitgeteilt. Dabei werden wir insbesondere darauf achten, die für die<br />
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The content of this publication reflects the author’s views. The publisher<br />
is not liable for any use that may be made of the information contained<br />
herein.<br />
Foto auf der Titelseite<br />
© Mando Gomez<br />
Dis | kurs 221
Impressum<br />
Redaktionsanschrift<br />
Dis|kurs<br />
Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen<br />
Hochschule Vechta – Wissenschaft von der Politik<br />
Driverstrasse 22<br />
D-49377 VECHTA<br />
E-Mail: redaktion@<strong>diskurs</strong>online.de<br />
Im Internet: www.<strong>diskurs</strong>online.de<br />
Wissenschaftliche Beratung<br />
Peter Nitschke, Hans Rainer Sepp, Karl Hahn<br />
Herausgeber: Matthias Lemke, Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat<br />
Redaktion<br />
Matthias Lemke (verantwortlich), Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat<br />
Verlag<br />
Meine Verlag<br />
Haus des Buches<br />
Gerichtsweg 28<br />
D-04103 LEIPZIG<br />
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Titelgestaltung, Layout<br />
Communications-Piece.com<br />
Satz<br />
Wenke Richter<br />
ISSN: 1865-6846<br />
ISBN: 978-3-941305-02-1<br />
© Für diese Ausgabe<br />
Dis|kurs Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen,<br />
Hochschule Vechta – Wissenschaft von der Politik, Driverstrasse 22,<br />
D-49377 VECHTA, Germany
N e u e r s c h e i n u n g<br />
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Alexander Zirr<br />
» Historische Studien «<br />
Alexander Zirr<br />
Axel Oxenstierna – Schwedens Reichskanzler während<br />
des Dreißigjährigen Krieges<br />
Studien zu seiner Innen- und Außenpolitik<br />
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TSR – Historische Studien Band 3<br />
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Thematische Schriften-Reihe<br />
Meine Verlag<br />
Axel Oxenstierna – Schwedens Reichskanzler während des<br />
Dreißigjährigen Krieges. Studien zu seiner Innen- und Außenpolitik<br />
Alexander Zirr<br />
Axel Oxenstierna, der bedeutende schwedische Reichskanzler der Jahre 1612 bis<br />
1654, fristet neben seinen „Dienstherren“, dem berühmten und fast mythologisch verklärten<br />
König Gustaf II. Adolf und der kaum minder berühmten, eher berüchtigten<br />
Königin Kristina ein Schattendasein – jedoch zu Unrecht. Im vorliegenden Werk untersucht<br />
der Autor verschiedene Aspekte des Lebens und Handelns Axel Oxenstiernas,<br />
besonders im Hinblick auf die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.<br />
Ausstattung und Preis<br />
• Umfang 155 Seiten sowie eine Abbildung<br />
• Quellen- und Literaturverzeichnis<br />
• Anhang mit Dokumenten und Zeittafel<br />
• ISBN: 978-3-9811859-7-3<br />
• Preis: 25,95 EUR<br />
• kostenloser Versand durch www.absolutbuch.de<br />
• mehr Informationen unter www.kaestner.meine-verlag.de