01.11.2013 Aufrufe

Heft als pdf - diskurs

Heft als pdf - diskurs

Heft als pdf - diskurs

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

N e u e r s c h e i n u n g<br />

xperten<br />

onär gener<br />

menwissen<br />

en, dass<br />

hleuten<br />

en oder<br />

erfügten<br />

n kann.<br />

Funktior<br />

Bedinhrieben<br />

Erkennt-<br />

Thema<br />

Alexander Kästner<br />

Sylvia Kesper-Biermann<br />

Alexander Kästner<br />

Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.)<br />

nischen<br />

eschichayreuth<br />

Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz<br />

von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne<br />

Bayern und Savoyen im Spanischen Erbfolgekrieg<br />

Experten und Expertenwissen<br />

in der Strafjustiz von der<br />

Frühen Neuzeit bis zur Moderne<br />

Meine Verlag<br />

Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der<br />

Frühen Neuzeit bis zur Moderne<br />

Alexander Kästner und Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.)<br />

Seit dem 19. Jahrhundert werden Sachverständige vor Gericht <strong>als</strong> Experten bezeichnet.<br />

Mittlerweile wird der Begriff des Experten nahezu inflationär gebraucht. Der vorliegende<br />

Band untersucht Erscheinungsformen von Experten und Expertenwissen in<br />

der Strafjustiz vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Die Beiträge zeigen, dass über den<br />

Sachverständigen vor Gericht hinaus eine Vielzahl von Fachleuten in der Strafjustiz<br />

agierte, die aufgrund ihrer Tätigkeiten, Erfahrungen oder Funktionen über besondere<br />

Fähigkeiten und besonderes Wissen verfügten. Behandelt werden sowohl Rollen, Funktionen<br />

und Wissen von Experten <strong>als</strong> auch die Frage, aufgrund welcher Bedingungen<br />

einzelnen Personen oder Gruppen ein Expertenstatus zugeschrieben wurde.<br />

Ausstattung und Preis<br />

• Umfang 176 Seiten sowie 3 Fotos<br />

• Autorenverzeichnis und Sachregister<br />

• ISBN: 978-3941305-00-7<br />

• Preis: 28,95 EUR<br />

• kostenloser Versand durch www.absolutbuch.de<br />

• mehr Informationen unter www.kaestner.meine-verlag.de


Dis|kurs<br />

Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische<br />

Interventionen<br />

Herausgegeben von<br />

Matthias Lemke, Daniel Kuchler und Sebastian Nawrat<br />

In Zusammenarbeit mit dem<br />

Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften (IBS)<br />

der Hochschule Vechta, Wissenschaft von der Politik,<br />

Prof. Dr. Peter Nitschke<br />

und der<br />

Humanwissenschaftlichen Fakultät<br />

der Karls-Universität Prag,<br />

Prof. Dr. Hans Rainer Sepp


Inhalt<br />

Editorial<br />

Sebastian Nawrat, Matthias Lemke, Daniel Kuchler Seite | 1<br />

Patient Demokratie<br />

Politische Theorie<br />

Renate Martinsen Seite | 3<br />

Das Demokratieprojekt <strong>als</strong> „Perpetuum Mobile“? Gefährdungen<br />

und Potentiale von Demokratie im Zeitalter sich wandelnder<br />

Staatlichkeit<br />

Wesley Nishiyama Seite | 22<br />

Voting Rights for the Homeless<br />

Innenpolitik<br />

Matti Seithe Seite | 36<br />

Das ‚neue Aids’. Veränderungen der journalistischen Darstellung<br />

von HIV und Aids in der HAART-Ära<br />

Dis|kurs (2) 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

Karl-Heinz Breier Seite | 47<br />

Bürgerethos und Amtsverantwortung <strong>als</strong> Lebenselixier einer<br />

republikanischen Ordnung<br />

Ines Weber Seite | 60<br />

Sind Demokratien noch zeitgemäß? Eine einführende Analyse<br />

republikanischer und liberaler Ideen<br />

Martin Lücke Seite | 76<br />

Geschlechterdemokratie lernen – Politische Partizipation und<br />

„gender“ in didaktischer Perspektive<br />

Chris O’Kane Seite | 84<br />

Problematizing Pluralism<br />

Nadine Niemann Seite | 96<br />

Fortwährende Banalität des Bösen und sozialpsychologische<br />

Entschuldigung


B) (Ver-)Fallstudien<br />

Christoph Krakowiak Seite | 103<br />

Russland: Demokratie „auf russische Art“<br />

oder Autoritarismus?<br />

Julia Shestakova Seite | 117<br />

Demokratische Staatsbürgerschaft ohne nationale Identität?<br />

Betrachtungen zu möglichen Ursachen interkultureller Konflikte<br />

in Estland<br />

Sonja Meyer Seite | 130<br />

Rechtsextremismus in Deutschland. Wurzeln und aktuelle<br />

Erscheinungen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen<br />

Wandels und der Multikulturalität<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Nils Bock Seite | 142<br />

Öffentlicher Repräsentant – Repräsentant der Öffentlichkeit.<br />

Das Medium Herold in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts<br />

Dis|kurs (2) 2008<br />

Bastian Walter Seite | 156<br />

Von städtischer Spionage und der Bitte, Briefe zu zerreißen:<br />

Alternative Kommunikationsnetze von Städten während der<br />

Burgundkriege (1469–1477)<br />

Jochen Missweit Seite | 168<br />

Ein Fest für alle Sinne: Die symbolisch-klangliche Dimension<br />

frühneuzeitlicher Herrschaftsinszenierung am Beispiel der<br />

Herrschereinzüge zum Regensburger Reichstag von 1653/54<br />

Internationale Politik<br />

Johannes Morrow Seite | 181<br />

Taking Indigenous Politics Seriously in the Study World Politics:<br />

The Limits and Possibilities of Political Vision<br />

Gelesen<br />

Susanne Gottlöber Seite | 202<br />

Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn<br />

Stephan Sandkötter Seite | 206<br />

Politische Soziologie. Grundlagen einer Demokratiewissenschaft


Christian Gellinek Seite | 211<br />

Staunings Kampf um Dänemarks Demokratie und Landfrieden<br />

Sebastian Nawrat Seite | 215<br />

Daniel Hard: SPD-Programmdebatte vom Schröder-Blair-Papier<br />

bis zur Agenda 2010. Sozialpolitische Deutungen in Parteitagsbeschlüssen<br />

der SPD 1998–2003<br />

Autorinnen und Autoren Seite | 217<br />

Beiträge Seite | 221<br />

Impressum Seite | 222<br />

Dis|kurs (2) 2008


Editorial<br />

Editorial<br />

Patient Demokratie<br />

Sebastian Nawrat, Matthias Lemke, Daniel Kuchler<br />

Dass der Tod einer politischen Ordnung immer kommt, steht für Peter Nitschke<br />

außer Frage. Keine Ordnung sei von (ewiger) Dauer, auch nicht die der Demokratie. 1<br />

So sehr diese Wette auf die Zukunft auch verstören mag, angesichts mannigfaltiger<br />

Herausforderungen, denen sich die Demokratie gegenüber sieht – angefangen bei<br />

der zunehmenden politischen Apathie und Frustration in etablierten demokratischen<br />

Systemen, über den zunehmenden politisch motivierten Fundamentalismus<br />

bis hin zur Infragestellung demokratischer Regierungspraxis durch einen ungezähmten<br />

Kapitalismus – scheint sie nicht gänzlich von der Hand zu weisen zu sein.<br />

Vielmehr deutet sich die Renaissance eines Systemwettbewerbs an: Die Alternative<br />

zwischen Kapitalismus und Kommunismus hat sich im 21. Jahrhundert hin zu einer<br />

Konkurrenz von demokratischen und nicht-demokratischen Marktwirtschaften verschoben.<br />

Diese Verschiebung wird in der Politikwissenschaft seit einigen Jahren unter<br />

dem Begriff der Defekten Demokratie weitläufig diskutiert 2 , nur suggeriert diese<br />

Begrifflichkeit, dass der Defekt der Demokratie schon irgendwie wird behoben werden<br />

können. Dass sich der Defekt auch <strong>als</strong> Tot<strong>als</strong>chaden herausstellen könnte, steht<br />

eher nicht zur Debatte.<br />

Wenn sich dieses Themenheft <strong>als</strong>o der Frage nach den gegenwärtigen pathologischen<br />

Erscheinungen rund um die Demokratie widmet, die manch ein Analytiker nach<br />

dem Regimezerfall in Osteuropa nach 1989 schon vor einem endgültigen Sieg hatte<br />

stehen sehen 3 , dann kann das zweierlei bedeuten. Einerseits kann es durchaus sein<br />

– und das steht für all diejenigen Gesellschaften, denen ein demokratisch-partizipatives<br />

System zu qualitativer und substantieller Freiheit verholfen hat, durchaus zu<br />

hoffen – dass der Demokratie <strong>als</strong> Organisationsform von Gesellschaft noch zu helfen<br />

ist. Gegenwartsdiagnostisch gedacht würde dies bedeuten, neben dem akuten Krisenbefund<br />

auch Wege und Lösungsstrategien aufzeigen zu können, die aus dem, was<br />

Demokratie gegenwärtig geworden ist, wieder ein tragfähiges Konzept nachhaltiger<br />

Freiheitsgenerierung zu rekonstruieren vermögen. Andererseits, und das ist sicherlich<br />

die beängstigendere Perspektive, kann es aber auch sein, dass der Patient Demokratie<br />

bereits ein Fall für die Palliativmedizin geworden ist. In diesem Fall bliebe in<br />

1 Vgl. Nitschke, Peter, Der Tod der demokratischen Ordnung – eine neoklassische Rekonstruktion,<br />

in: Zeitschrift für Politik, 54 (2/2007), S. 141–161, hier S. 141.<br />

2 Vgl. etwa einführend Merkel, Wolfgang u. a., Defekte Demokratie. Band 1: Theorie, Opladen<br />

2003, S. 65–95.<br />

3 Vgl. paradigmatisch etwa Fukuyama, Francis, Das Ende der Geschichte, München 1992.<br />

Dis | kurs 1


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

erster Linie zu fragen: Was kommt dann? Welche Organisationsform von hochindustrialisierten<br />

Großgesellschaften vermag die Demokratie zu ersetzen? – Ob adäquat<br />

oder funktional, ist dabei noch eine ganz andere Frage. Dazu gesellt sich in diesem<br />

Zusammenhang die sich zwangsläufig aufdrängende, nachgerade verzweifelten Frage,<br />

wie es soweit hatte kommen können.<br />

Zwischen diesen beiden Polen der Analyse, nämlich mehr oder minder stiller Hoffnung<br />

und ebenfalls mehr oder minder stiller Resignation hinsichtlich der Genesungsmöglichkeiten<br />

eines lieb gewonnenen, zumindest aber akzeptierten, jedoch<br />

auch angeschlagenen Organisationsmusters von Staatlichkeit bewegt sich der Themenschwerpunkt<br />

dieses <strong>Heft</strong>es. Dabei wollen und können die einzelnen Autoren<br />

eine finale Diagnose sicherlich nicht abgeben, denn die der Untersuchung zugrunde<br />

zu legenden Parameter sind hierfür einfach zu komplex. Jedoch, und das ist ein erster<br />

Schritt hinsichtlich der Frage nach dem Was ist?, liefern die einzelnen Aufsätze des<br />

Themenschwerpunktes Indikatoren, Momentaufnahmen, und Analysen, die aufzeigen,<br />

was in der weltweiten Summe der Demokratie alles an Herausforderungen aufgebürdet<br />

worden ist. Wobei in jeder aus einer solchen Herausfoderung resultierenden<br />

Krise auch wieder – positiv gewendet – eine Chance für die (Selbst-)Erneuerung<br />

der Demokratie liegen kann. Auf mehr <strong>als</strong> dieses „Hilf' Dir selbst!“ wird der Patient<br />

Demokratie, darin liegt seine Chance, aber eben auch die Quelle seiner Verletzlichkeit,<br />

kaum hoffen dürfen.<br />

2 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

Politische Theorie<br />

Das Demokratieprojekt <strong>als</strong> „Perpetuum Mobile“?<br />

Gefährdungen und Potentiale von Demokratie im<br />

Zeitalter sich wandelnder Staatlichkeit<br />

Renate Martinsen<br />

Universität Duisburg-Essen, Institut für Politikwissenschaft<br />

E-Mail: renate.martinsen@uni-due.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Deliberation, Legitimation, Wandel der Staatlichkeit, (Global) Governance,<br />

Globalisierung, Mediation, Bürgerkonferenz, Diskursverfahren<br />

Zeitdiagnosen zum Zustand der Demokratie vermitteln ein widersprüchliches Bild.<br />

Auf der einen Seite wird der glanzvolle Triumph der Demokratie verkündet. Denn<br />

Demokratie findet (zumindest in der westlichen Welt) <strong>als</strong> normatives Leitbild für<br />

politische Systeme mittlerweile universelle Anerkennung. Auf der anderen Seite<br />

mehren sich indes die Krisendiagnosen. Zunehmend erscheint gerade auch auf der<br />

politikwissenschaftlichen Agenda die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Demokratie.<br />

Dabei wird der prinzipielle Wert der Demokratie in aller Regel nicht bezweifelt.<br />

Vielmehr geht es im Kern um die Frage nach den Grenzen der Leistungsfähigkeit<br />

dieser Regierungsform unter den gewandelten sozio-ökonomischen Bedingungen<br />

des 21. Jahrhunderts. Wenn wir die beiden scheinbar gegenläufigen Wahrnehmungen,<br />

den Sieg der Demokratie <strong>als</strong> abstrakte Idee und die Krise der Demokratie <strong>als</strong><br />

politische Organisationsform, gleichermaßen berücksichtigen, dann können wir von<br />

einem Demokratie-Paradox sprechen: Demokratie steht in dem Augenblick, in dem<br />

sie sich historisch <strong>als</strong> unumstrittene Norm etabliert hat, zugleich vor der größten<br />

Belastungsprobe.<br />

Es ist davon auszugehen, dass die gegenwärtig stattfindenden gesellschaftsstrukturellen<br />

Umwälzungen nicht bloß graduellen Charakter aufweisen, sondern die Qualität<br />

Dis | kurs 3


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

eines sozialen Strukturbruchs aufweisen, in dem sich auch die konstitutiven Regeln<br />

des Politischen verändern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen nahezu alle politikwissenschaftlichen<br />

Schlüsselbegriffe vor der Herausforderung einer Neuerfindung.<br />

Auffälligstes Indiz hierfür sind die Diskurse über den Wandel von Staatlichkeit<br />

– das Megathema der Politikwissenschaft in den letzten Jahren.<br />

Um den Möglichkeitskorridor auszuloten, der sich für Demokratien unter essentiell<br />

veränderten Bedingungen eröffnet, könnte zunächst ein kurzer Blick in die Ideengeschichte<br />

hilfreich sein. Zentral beim Modell der antiken Demokratie, das in der<br />

Literatur immer wieder <strong>als</strong> demokratisches Urmodell angeführt wird, ist die Vorstellung<br />

einer Identität zwischen Regierenden und Regierten. Der demos der athenischen<br />

Demokratie war mehr <strong>als</strong> die bloße Aggregation von Einzelwillen – eine Reihe<br />

struktureller Vorkehrungen zielte darauf ab, den demos <strong>als</strong> kollektives Subjekt zu installieren.<br />

1 Mit dem Label zweite demokratische Transformation wird – nach über 2000<br />

Jahren Abwesenheit demokratischer Herrschaftsordnungen – die Entstehung moderner<br />

Demokratien im 18./19. Jahrhundert in Nordamerika und Europa beschrieben.<br />

Zuvorderst stellt sich in diesem Zusammenhang das Problem der Größenordnung:<br />

Die modernen Nation<strong>als</strong>taaten waren – im Unterschied zur antiken Polis – Flächenstaaten<br />

mit Millionenbevölkerung. Es bedurfte quasi einer Neu-Erfindung der Demokratie,<br />

um diese Herrschaftsform unter den geänderten Rahmenbedingungen zu<br />

revitalisieren.<br />

Zu Beginn der Moderne lassen sich ideengeschichtlich zwei gegensätzliche Varianten<br />

der Fortschreibung von Demokratie vorfinden: die Identitätstheorie der Demokratie,<br />

wie sie insbesondere in Rousseaus demokratischem Kontraktualismus zum Ausdruck<br />

kommt einerseits, sowie das Demokratiemodell liberal-demokratischer Verfassungsstaaten,<br />

wie es in den Federalist-Papers entwickelt wird andererseits. Im weiteren<br />

Verlauf der Geschichte – so lässt sich heute konstatieren – hat sich in der westlichen<br />

Welt das liberale Modell der amerikanischen Gründerväter <strong>als</strong> das erfolgreichere erwiesen.<br />

Die dabei zugrunde gelegte Idee einer Verbindung von Demokratie- und<br />

Repräsentationsprinzip kommt einer demokratietheoretischen Revolution gleich.<br />

Weitere institutionelle Absicherungen, wie die von Montesquieu ausgearbeitete Gewaltentrennungslehre<br />

sowie das Prinzip des Föderalismus tragen dem Gedanken einer<br />

Machtlimitierung durch ein System wechselseitiger Kontrollen Rechnung.<br />

Welche Folgen hat diese Neuadjustierung von Demokratie an die gewandelten Verhältnisse<br />

nun in Bezug auf den substantiellen Gehalt der Volksherrschaft? Mit der<br />

Verankerung von Demokratie in einer liberalen rechtsstaatlichen Verfassung, die<br />

1 Vergleiche hierzu ausführlich Fuchs, Dieter: Modelle der Demokratie. Partizipatorische,<br />

liberale und elektronische Demokratie. In: Kaiser, André / Zittel, Thomas (Hg.), Demokratietheorie<br />

und Demokratieentwicklung. Wiesbaden 1004, insb. S. 20–24.<br />

4 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

allgemeine, freie und gleiche Wahlen garantiert und die Möglichkeit des Regierungswechsels<br />

inkludiert, verschiebt sich der Fokus von Demokratie grundlegend: und<br />

zwar von der unmittelbaren Teilhabe des Volkes am Regieren hin zur Auswahl der<br />

Regierenden durch das Volk. In Anbetracht der Periodizität der Wahlen lässt sich<br />

die Rückbindung des Regierungshandelns an den Wählerwillen nun vermittels des<br />

Prinzips der Responsivität herstellen. Die veränderte Wahrnehmung der Gestaltungsmacht<br />

des Staates unter komplexer gewordenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

(Stichwort „Governance“) im 21. Jahrhundert kann nicht ohne Rückwirkungen<br />

auf die aktuelle Demokratie-Diskussion bleiben. 2 Häufig wird auf die Gefahr einer<br />

zunehmenden Entdemokratisierung im Zeitalter von Globalisierung und Global<br />

Governance aufmerksam gemacht. Andererseits wird in der politikwissenschaftlichen<br />

Debatte verstärkt auch nach Demokratisierungspotentialen von Governancestrukturen<br />

gefragt. In der zweiten demokratischen Transformation wurden Lösungen<br />

für das „Größenproblem“ gesucht und mehr oder weniger befriedigende Antworten<br />

gefunden. Die drängende Frage, die sich derzeit in demokratietheoretischer Hinsicht<br />

stellt, richtet sich darauf, inwiefern sich für das aktuell anstehende „Entgrenzungsproblem“<br />

gleichfalls demokratiekompatible Perspektiven entwickeln lassen.<br />

Um die Gefährdetheit der Demokratie im Zuge einer dritten demokratischen Transformation<br />

3 angemessen zu diskutieren, sind zum einen die veränderten sozio-strukturellen<br />

Kontexte in Rechnung zu stellen: Inwiefern haben sich die Rahmenbedingungen<br />

für Demokratie gegenwärtig verschlechtert? Zum anderen ist das Problem<br />

der Begriffsbestimmung ins Visier zu nehmen: In welchem Verhältnis stehen Norm<br />

und Realität? Auf diesen konzeptionellen Überlegungen aufbauend soll im Beitrag<br />

schließlich der Frage nachgegangen werden, inwiefern die New Modes of Governance 4<br />

einen Abgesang der Demokratie einleiten bzw. einen Beitrag zu einer zeitgemäßen<br />

Re-Konzeptualisierung des Demokratiebegriffs zu leisten vermögen.<br />

2 Diese Thematik ist Profilschwerpunkt des Instituts für Politikwissenschaft der Universität<br />

Duisburg-Essen und wird in einem aktuell erschienenen Institutsband aus verschiedenen<br />

Perspektiven beleuchtet. Vergleiche darin auch meine ausführlichen Überlegungen zu<br />

„Democratic Governance“ in Martinsen, Renate: New Modes of Governance. Opportunities<br />

and Limitations of Creating Legitimacy by Deliberative Politics Politics in a Globalizing<br />

World. In: Schmitt-Beck, Rüdiger/Debiel, Tobias/Korte, Karl-Rudolf (eds.), Governance<br />

and Legitimacy in a Globalized World, Baden-Baden 2008, S. 9–30.<br />

3 Bezogen auf die Demokratiethematik geht Robert Dahl davon aus, dass sich im Zusammenhang<br />

mit der Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

eine sog. „dritte demokratische Transformation“ vollzieht, vgl. Dahl, Robert Alan:<br />

Democracy and its Critics. New Haven/London 1989. Ich verwende diesen Terminus hier<br />

in einem allgemeineren Sinne.<br />

4 Unter „New Modes of Governance“ werden netzwerkartige Regelungsstrukturen unter<br />

Einschluss von zivilgesellschaftlichen Akteuren auf unterschiedlichen territorialen Ebenen<br />

verstanden.<br />

Dis | kurs 5


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Wandel der Kontexte: Globalisierung und (Global) Governance<br />

Anknüpfungspunkt der Demokratieentwürfe für liberal-repräsentative Gesellschaften<br />

war bis dato in aller Regel der nach innen und außen souveräne Nation<strong>als</strong>taat. Im<br />

Zuge der Globalisierungsprozesse wird dieser bisher <strong>als</strong> selbstverständlich vorausgesetzte<br />

Ausgangspunkt von Demokratietheorien in Frage gestellt. Auflösungsprozesse<br />

des staatlich fixierten territorialen Rahmens vollziehen sich dabei in zwei Richtungen:<br />

Zum einen kommt es nach innen zu einer Unterminierung der Voraussetzungen<br />

des neuzeitlichen Staatsbegriffs: Denn im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung<br />

scheint der Nation<strong>als</strong>taat zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben immer<br />

stärker auf verstreute gesellschaftliche Ressourcen angewiesen. Als Folge dieser<br />

Entwicklung finden sich staatliche Akteure zunehmend mit gesellschaftlichen und<br />

substaatlichen Akteuren in Verhandlungssystemen eingebunden. Zum anderen wird<br />

die Figuration des Staates <strong>als</strong> kompaktem Handlungsakteur auch von außen herausgefordert<br />

– und zwar durch politische Internationalisierungsprozesse, die der global<br />

entgrenzten Ökonomie quasi „nachwachsen“. Denn zahlreiche grenzüberschreitende<br />

Probleme können offensichtlich nicht mehr im nation<strong>als</strong>taatlichen Rahmen gelöst<br />

werden.<br />

In seinem programmatischen Vortrag zur Frage staatlicher Handlungsfähigkeit am<br />

Ende des 20. Jahrhunderts auf dem 18. Politologenkongress „Staat und Demokratie<br />

in Europa“, hat Fritz Scharpf die Zunft allgemein und die Demokratietheoretiker<br />

im besonderen dazu aufgefordert, sich auf die Realität der vielfach vernetzten und<br />

durch Verhandlungen gekennzeich neten Politik einzustellen – weitsichtig fügte er<br />

hinzu: „Ob man dabei freilich noch von politischer oder staatlicher ‚Steuerung‘ wird<br />

reden können, bleibt abzuwarten“. 5 Tatsächlich ist es in den Folgejahren zu einem<br />

weitgehenden Wechsel des vorherrschenden politikwissenschaftlichen Vokabulars<br />

zur Beschreibung staatlicher Gestaltungsambitionen gekommen: Statt Steuerung6<br />

rückt nun Governance ins Zentrum politikwissenschaftlicher Analysen. Das Label<br />

„Governance“ soll nicht zuletzt die Neuartigkeit der politischen Regulierungsmodi<br />

in der komplexer gewordenen Welt des 21. Jahrhunderts unterstreichen.<br />

Die politikwissenschaftlichen Diskurse zur Transformation von Staatlichkeit wer-<br />

5 Scharpf, Fritz W.: Demokratische Politik in der internationalisierten Ökonomie. In:<br />

Michael Greven (Hg.): Demokratie – eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher<br />

Kongreß der DVPW. Opladen 1998, S. 81.<br />

6 Im klassischen Verständnis bestimmte sich Steuerung <strong>als</strong> politische Intervention von<br />

außen in bestimmte Gesellschaftsbereiche, um eine intentionale Zustandsveränderung<br />

herbeizuführen. Vgl. Mayntz, Renate: Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme<br />

– Anmerkungen zu einem theoretischen Paradigma. In: Thomas Ellwein/<br />

Joachim Jens Hesse/Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hg.), Jahrbuch zur Staats- und<br />

Verwaltungswissenschaft, Bd.1. Baden-Baden 1987, S. 89-110.<br />

6 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

den zumeist begleitet von der Überzeugung, dass das Governance-Konzept nicht<br />

nur normative Plausibilität beanspruchen könne; vielmehr wird in der Regel davon<br />

ausgegangen, dass sich in der empirischen Realität tiefgreifende Wandlungsprozesse<br />

vollziehen, die im Wechsel des hegemonialen Begriffsvokabulars ihren Niederschlag<br />

finden. Was sind die entscheidenden Antriebskräfte, die diesen politisch-gesellschaftlichen<br />

Strukturbruch herbeigeführt haben?<br />

Zurückgeführt werden die gegenwärtigen Veränderungen des Politischen insbesondere<br />

auf Prozesse der Globalisierung, die sich auf einer abstrakten Ebene <strong>als</strong> eine Art<br />

„Fernwirkung“ verstehen lassen: im Kern geht es dabei um die „Verwandlung von<br />

Raum und Zeit“. 7 Aus räumlichen Differenzen gehen nun nicht mehr unmittelbar<br />

zeitliche Unterscheidungen hervor. In der einschlägigen Literatur zur Globalisierung<br />

wird der Kern der weltweiten Interdependenzen überwiegend auf der ökonomischen<br />

Ebene angesiedelt, <strong>als</strong> deren Motor wiederum die technologische Innovationsdynamik<br />

insbesondere im Bereich der neuen Kommunikations- und Informationsmedien<br />

erscheint. In einer sich globalisierenden Welt kommt es zu einem tendenziellen<br />

Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Sphären, die im Nation<strong>als</strong>taat miteinander<br />

verkoppelt waren: die Arena, in der politisch folgenreiche Wirkungen erzeugt werden,<br />

erscheint unter globalisierten Vorzeichen nicht mehr kongruent mit der Arena,<br />

in der politische Gestaltung möglich ist. Die vollendete Internationa lisierung der<br />

Kapitalmärkte entzieht Versuchen einer nation<strong>als</strong>taatlichen „Glob<strong>als</strong>teuerung“ den<br />

Boden. Aus neoliberaler Sicht stellt sich der Globalisierungsprozess dar <strong>als</strong> quasi naturwüchsiger<br />

Sachzwang, der zur Abdankung der Politik führt.<br />

Demgegenüber wird vielerorts auch im Politischen zunehmend die Perspektive der<br />

Reorientierung betont, da die entfesselte Innovationsdynamik ein zerstörerisches<br />

Potential beinhalte. Mit anderen Worten: auf der politikwissenschaftlichen Agenda<br />

nimmt die Frage nach den verbleibenden Möglichkeiten politischer Steuerung<br />

in einer sich globalisierenden Welt einen zunehmend exponierten Platz ein. Dabei<br />

lässt sich mit Wiesenthal Globalisierung von der Internationalisierung gesellschaftlicher<br />

Sphären dadurch unter scheiden, dass es unter dem Einfluss des erweiterten<br />

Optionenraums schließlich zu einem „Wandel der vertrauten Alternativen“ 8 kommt,<br />

weshalb sich die Wirkungen der Globali sierung gerade nicht unter Bezugnahme auf<br />

ausschließlich quantitative Phänomene (zum Beispiel wachsendes Wertvolumen<br />

des internationalen Handels) noch zureichend beschreiben lassen. Die Redeweise<br />

vom „Umschlag von Quantität in Qualität“ bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt.<br />

7 Giddens, Antonoy: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie.<br />

Frankfurt a. M. 1997, S. 23.<br />

8 Wiesenthal, Helmut: Globalisierung. Soziologische und politikwissenschaftliche Koordinaten<br />

im neuartigen Terrain. In: Brunkhorst, Hauke/Kettner, Matthias (Hg.), Globalisierung<br />

und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien. Frankfurt a. M. 2000, S. 24.<br />

Dis | kurs 7


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Entscheidend bei einem solchermaßen vertieften Begriffsverständnis von Globalisierung<br />

ist der Umstand, dass das im Zuge von Globalisierungsprozessen gewachsene<br />

Alternativenbewusstsein unmittelbar lokale Rückwirkungen zeitigt. Die Formel „unter<br />

den Bedin gungen der Globalisierung“ bedeutet in diesem Verständnis, dass alles<br />

Handeln in der Gesellschaft unter neuen Vorzeichen zu vermessen ist.<br />

Demokratietheoretische Ernüchterungs<strong>diskurs</strong>e – was nun?<br />

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Demokratie auf dem Hintergrund dieser<br />

gesellschaftlichen Transformationsprozesse mit wachsender Dringlichkeit gestellt.<br />

Guéhenno's berühmt-berüchtigtes Diktum vom „Ende der Demokratie“ weist dem<br />

Jahr 1989 eine spezifische Bedeutung zu: nun ende das, was durch die Revolutionen<br />

von 1789 institutionalisiert worden sei, 9 das heißt die skeptische Demokratie-Diagnose<br />

bezieht sich auf das angenommene Ende des Zeitalters der Nation<strong>als</strong>taaten.<br />

Hieran knüpft die Redeweise von den „postdemokratischen“ Verhältnissen an: sie<br />

zielt zuvorderst ab auf die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“: 10 Zwar wird vom<br />

Fortbestehen der nation<strong>als</strong>taatlichen demokratischen Institutionen und Verfahren<br />

ausgegangen, doch seien Zweifel angebracht, ob sich auf dem Hintergrund grundlegend<br />

gewandelter Weltverhältnisse („unter den Bedingungen der Globalisierung“)<br />

das im Demokratiebegriff transportierte Partizipationsversprechen noch einlösen<br />

lasse. Indes lässt sich Demokratie nicht auf ein feststehendes Set von Verfahren und<br />

Institutionen zur Kennzeichnung einer bestimmten Regierungsform reduzieren.<br />

Vielmehr handelt es sich um einen Tendenzbegriff, der moderne Verfassungen mit<br />

einer inhärenten Dynamik ausstattet. 11 Im geschichtlichen Verlauf entfaltet sich so<br />

das Wechselspiel von Norm und Realität der Demokratie. In diesem Sinne ist der<br />

Demokratiebegriff selbst fluide, kontrovers und komplex gebaut. Insbesondere in<br />

Zeiten epochalen gesellschaftlichen Wandels ist deshalb häufig umstritten, ob eine<br />

empirische Veränderung in demokratietheoretischer Hinsicht eine Fehl- oder eine<br />

Weiterentwicklung signalisiert.<br />

Was die in den Sozialwissenschaften behauptete Herausbildung von governanceartigen<br />

Regierungsformen auf nationaler und transnationaler Ebene im Hinblick auf<br />

Demokratie- und Legitimationsfragen bedeutet, wird entsprechend kontrovers diskutiert.<br />

Demokratietheoretische Skepsis gegenüber der Ausbreitung von Netzwerkpolitiken<br />

ist nicht selten anzutreffen. Denn die Verbreiterung des Akteursspektrums in<br />

den neuen Governanceformen stellt den tradierten Konnex zwischen Regieren und<br />

9 Guèhenno, Jean-Marie: Das Ende der Demokratie. München/Zürich 1994, S. 10.<br />

10 Jörke, Dirk: Auf dem Weg zur Postdemokratie. In: Leviathan, Jg.33, H.4 (2005), S. 491.<br />

11 Vgl. Guggenberger, Bernd: Artikel „Demokratie/Demokratietheorie“. In: Dieter Nohlen<br />

(Hg.), Wörterbuch Staat und Politik. München/Zürich 1996, S. 80–90.<br />

8 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

demokratischer Rekrutierung beziehungsweise Kontrolle des politischen Person<strong>als</strong><br />

in Frage. Die hieraus abgeleiteten Bedenken, ob die neuen Steuerungsmodi überhaupt<br />

demokratisch zu legitimieren seien, finden sich auf allen territorialen Ebenen<br />

– allerdings steigert sich in der Regel die Befürchtung einer Entdemokratisierung des<br />

Regierens mit dem Internationalisierungsgrad. Zunächst lässt sich festhalten, dass<br />

die Kritik am Regieren an „Runden Tischen“ (wie der neuen Politikstil bisweilen<br />

auch bezeichnet wird) sich derjenigen Argumente bedient, die auch schon in der<br />

Korporatismuskritik vorgebracht wurden: Exklusivität des Zugangs und Intransparenz<br />

der Politikvorgänge sind mit den Anforderungen an politisch-öffentliche<br />

Entscheidungen in Demokratien nicht vereinbar. 12 Insbesondere die Gefahr einer<br />

Externalisierung von Kosten zu Lasten unbeteiligter Dritter erscheint demokratietheoretisch<br />

bedenklich.<br />

Auf der Ebene der EU erweitert sich die Demokratieproblematik um zusätzliche Aspekte:<br />

die institutionelle Vertiefung der EU im Zuge ihrer Erweiterung bedingt eine<br />

Stärkung des supranationalen Moments – die Rückbindung europäischer Politik an<br />

den Willen der demokratisch gewählten Regierungen wird damit tendenziell ausgehöhlt.<br />

Darüber hinaus kritisiert etwa Fritz Scharpf 13 , dass die Supranationalität des<br />

Europarechts insbesondere der „negativen Integration“ zugute komme – und damit<br />

eine Asymmetrisierung von markteröffnender und marktbegrenzender Politik<br />

erfolge. Außerdem wird in Mehrebenen-Analysen 14 die Möglichkeit der Exekutive<br />

betont, mit dem Verweis auf Bindungserfordernisse auf EU-Ebene die staatlichen<br />

Handlungsspielräume gegenüber den gesellschaftlichen Akteuren auszuweiten. Sodann<br />

stellt sich die Frage, ob die EU überhaupt demokratiefähig ist: so wird darauf<br />

hingewiesen 15 , dass die EU nicht über eine kollektive Identität verfüge – dies beinhalte,<br />

dass die in diesem Rahmen getroffenen Entscheidungen nur eine eingeschränkte<br />

Belastbarkeit aufweisen würden.<br />

Schließlich stellt sich auf globaler Ebene die Legitimitätsproblematik in einer nochm<strong>als</strong><br />

verschärften Weise: Zwar kann die tradierte Annahme, der internationale<br />

12 Schneider, Volker: Möglichkeiten und Grenzen der Demokratisierung von Netzwerken in<br />

der Politik. In: Jörg Sydow/Arnold Windeler (Hg.), Steuerung von Netzwerken. Konzepte<br />

und Praktiken, Opladen 1999, S. 327–346.<br />

13 Vgl. Scharpf, Fritz W.: Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt. In: Jachtenfuchs,<br />

Markus/Kohler-Koch, Beate (Hg.), Europäische Integration. 2. Aufl., Opladen 2003,<br />

S. 219–253.<br />

14 Vgl. beispielsweise Moravcsik, Andreas: Warum die Europäische Union die Exekutive<br />

stärkt: Innenpolitik und internationale Kooperation. In: Klaus Dieter Wolf (Hg.), Projekt<br />

Europa im Übergang? Baden-Baden 1997, S. 211–269.<br />

15 Vgl. Kielmannsegg, Peter Graf: Integration und Demokratie. In: Markus Jachtenfuchs/<br />

Kohler-Koch, Beate (Hg.), Europäische Integration. 2. Aufl., Opladen 2003, S. 49–84.<br />

Dis | kurs 9


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Raum sei durch den Zustand der „Anarchie“ 16 gekennzeichnet, weiterhin Gültigkeit<br />

beanspruchen – und zwar in dem Sinne, dass es keine übergeordnete Instanz gibt,<br />

die kollektiv verbindliche Normen setzen, deren Einhaltung überwachen und das<br />

Zuwiderhandeln wirkungsvoll sanktionieren kann, das heißt es gibt keine politische<br />

Superordnung. Dennoch lässt sich beobachten, dass die inter- und transnationalen<br />

Beziehungen von einem Netz von Normen durchwebt werden, an deren Entwicklung<br />

häufig Internationale Organisationen sowie privatwirtschaftliche Akteure maßgeblich<br />

beteiligt sind. Diese Normen weisen nur eine eingeschränkte Rechtsqualität<br />

auf; das heißt sie formulieren zuvorderst kollektive Verhaltenserwartungen, die Standards<br />

angemessenen Verhaltens in bestimmten Sachbereichen etablieren („soft law“).<br />

Da im globalen Raum weitgehend eine wirkungsvolle Rückbindung der im Netzwerk<br />

getroffenen politisch-normativen Entscheidungen an die Entscheidungsbetroffenen<br />

fehlt, wird in diesem Zusammenhang auch von einer Tendenz der Re-Feudalisierung<br />

bzw. „Privatisierung der Weltpolitik“ 17 gesprochen.<br />

Demokratietheoretische Befürchtungen, die sich auf die Entgrenzung des Regierens<br />

nach innen und außen beziehen, sind im Kern politikwissenschaftlicher Common<br />

Sense. Diese Kritik speist sich hauptsächlich aus den Kriterien für Inklusion und<br />

Repräsentation, wie sie dem Modell der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie<br />

zugrunde liegen. Wenn wir indes davon ausgehen, dass sich gegenwärtig ein tiefgreifender<br />

Wandel des Politischen vollzieht, stellt sich die Frage nach einer möglichen<br />

Weiterentwicklung der demokratietheoretischen Standards. Es gilt dabei zwei<br />

Optionen zu disprivilegieren: das starre Festhalten an demokratischen Kriterien, die<br />

unter anderen sozio-politischen Rahmenbedingungen entwickelt wurden einerseits,<br />

eine bloße Flucht in die normative Beliebigkeit andererseits. Für Demokratietheorien<br />

stellt sich somit die Aufgabe, den evolutionären gesellschaftlichen Korridor im Auge<br />

zu behalten und zu erforschen, inwieweit es für wünschenswerte Normen auch sog.<br />

„aufnehmende Strukturen“ in der Realität gibt. Die Seinsmodalitäten von Demokratie<br />

sind in diesem Sinne durch historische Pfadentwicklungen geprägt. Insofern<br />

müssen Demokratietheorien, um die gesteigerte Komplexität in der globalisierten<br />

Welt adäquat erfassen zu können, das Moment der Evolution in die Theoriebildung<br />

integrieren.<br />

Wenn Giddens' Diagnose zutrifft, dass wir uns derzeit von einer globalen Entwicklung<br />

herausgefordert sehen, die sich <strong>als</strong> Veränderung der Raum-Zeit-Verhältnisse<br />

beschreiben lässt, so ist zu fragen, welche Konsequenzen dieser Wandel für die Be-<br />

16 Vgl. Waltz, Kenneth N.: Anarchic Orders and Balance of Power. In: Waltz, Kenneth:<br />

Theory of international politics, New York et al. 1979, pp 102–128.<br />

17 So etwa Brühl, Tanja/Debiel, Tobias/Hamm, Brigitte/Hummel, Hartwig/Martens, Jens<br />

(Hg.): Die Privatisierung der Weltpolitik. Entstaatlichung und Kommerzialisierung im<br />

Globalisierungsprozess, Bonn 2001.<br />

10 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

wertungsmaßstäbe von Demokratie bergen könnte. Bei aller Unterschiedlichkeit<br />

der Governance-Ansätze im Einzelnen ist <strong>als</strong> genereller Trend erkennbar, dass die<br />

Beschränkung staatlicher Handlungsfähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung<br />

durch die Ausbildung von (grenzüberschreitenden) „netzwerkartigen“ Steuerungsstrukturen<br />

aufgefangen werden soll, bei denen anstelle von Befehl (Staat) und<br />

Tausch (Markt) nun Deliberation in Form der beiden Kommunikationsmodi Verhandeln<br />

und Argumentieren ein zentraler Stellenwert zukommt.<br />

Anhand der Analyse deliberativer Politikmodelle, die alternative (das heißt nicht juridische)<br />

Formen der Konfliktregulierung vorstellen, soll die Frage nach der demokratischen<br />

Legitimität neuer Governance-Formen weiter verfolgt werden. Die neuen<br />

Politikverfahren, 18 die auf organisierte Kommunikationsprozesse setzen, lassen sich<br />

beim Regieren diesseits sowie in Ansätzen auch jenseits des Nation<strong>als</strong>taats auffinden<br />

und eignen sich daher für eine Untersuchung von „democratic governance“ auf unterschiedlichen<br />

territorialen Ebenen.<br />

Angesichts der Pluralisierung von Interessenlagen im erweiterten politischen Raum<br />

kommt es nach Münch 19 verstärkt darauf an, „in einem mehrstufigen Selektionsprozess<br />

diejenigen Problemlösungen auszuscheiden, die zuviel Widerstand erzeugen“ und diejenigen<br />

Lösungsangebote weiterzuverfolgen, die vorläufig tragfähig erscheinen. Die<br />

Inklusion einer Vielzahl von Akteuren in deliberative Verfahren insbesondere bei<br />

umstrittenen wissens- und technikbasierten Issues kann legitimationsstiftende Wirkung<br />

entfalten, da die kollektiven Entscheidungen dadurch auf eine breitere soziale<br />

und kognitive Basis gestellt werden. Die Legitimitätsgründe für politische Herrschaft<br />

nach Max Weber (Sitte, Charisma, Satzung) lassen sich demnach um einen vierten<br />

Typus der Rechtfertigung ergänzen: Legitimität kraft Deliberation.<br />

Deliberative Politikmodelle – Perspektiven einer Re-Demokratisierung?<br />

In den neuen politischen Kommunikationsarenen, in denen temporäre problembezogene<br />

Politik-Netzwerke gebildet werden, soll der kollektive Willensbildungsprozess<br />

auf deliberativem Wege („Argumentieren“ und „Verhandeln“) vorangebracht werden.<br />

Je nach Schwerpunktsetzung kann man dabei zwischen Verfahren unterscheiden, die<br />

18 „Neu“ sind die kooperativ ausgerichteten Deliberationsmodelle insofern, <strong>als</strong> sie über<br />

die tradierten Unterscheidungskategorien der klassischen empirischen Partiziaptionsforschung<br />

hinausweisen, die in der dichotomischen Gegenüberstellung von Bürger und<br />

Staat verwurzelt waren – herkömmliche kommunikative Politikmodelle wären demnach<br />

z. B. die öffentliche Anhörung oder der Bürger-Experte. Vergleiche hierzu ausführlicher<br />

Martinsen, Renate: Demokratie und Diskurs. Organisierte Kommunikationsprozesse in<br />

der Wissensgesellschaft. Baden-Baden 2006.<br />

19 Münch, Richard: Politik in der globalisierten Moderne. In: Nassehi, Armin/Schroer, Markus<br />

(Hg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt, Sonderband 14 (2003), S. 123.<br />

Dis | kurs 11


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

primär auf das Erzielen einer verbindlichen Einigung hin orientiert sind (Mediation)<br />

und solchen, die zuvorderst auf die Förderung von Verständigungsprozessen<br />

ausgerichtet sind (Bürgerkonferenz, Diskursverfahren). Insbesondere im Zuge der<br />

von sozialen Bewegungen hervorgebrachten Forderungen nach einer „Demokratisierung<br />

von Expertise“ kam es zur Entwicklung zahlreicher experimenteller Verfahrensvorschläge<br />

für Bürgerbeteiligung. 20 Im Folgenden sollen die drei wichtigsten<br />

deliberativen Grundtypen kurz charakterisiert sowie anhand von Fallbeispielen, die<br />

exemplarisch auf unterschiedlichen territorialen Ebenen angesiedelt sind, vorgestellt<br />

werden.<br />

(a) Mediation auf lokaler Ebene<br />

Mediation bezeichnet ein kommunikatives Verfahren zur Konfliktvermittlung zwischen<br />

unterschiedlichen Interessengruppen unter Einsatz eines „neutralen Dritten“.<br />

Die Teilnahme der involvierten Akteure („stakeholder“) ist freiwillig, sie verfolgen<br />

in der Regel einen positionsorientierten Verhandlungsstil. Dem unabhängigen<br />

Schlichter obliegt zwar die Gestaltung der Verfahrensregeln, er verfügt indes über<br />

keine schiedsrichterlichen Entscheidungskompetenzen. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen,<br />

um die Kompromissbildung zu erleichtern. Primäre Zielsetzung bei<br />

Verhandlungsverfahren ist die Suche nach einer für alle Beteiligten vor Ort akzeptablen<br />

Form der Konfliktbewältigung – dabei gilt die Ergebnisoffenheit <strong>als</strong> erforderliches<br />

Grundmerkmal. Der Anstoß zur Einleitung eines Mediationsverfahrens erfolgt<br />

überwiegend durch die öffentliche Hand, zumeist <strong>als</strong> Reaktion auf Bürgerproteste.<br />

Ein prominentes Beispiel für den Einsatz eines Mediationsverfahrens auf lokaler/<br />

nationaler Ebene stellt das Beteiligungsverfahren beim Konflikt um den Ausbau des<br />

Frankfurter Flughafens dar. Auf dem Hintergrund der Erfahrungen in den 1970/80er<br />

Jahren, <strong>als</strong> die Massenproteste der Bürger nur durch den Einsatz massiver staatlicher<br />

Gewaltpotentiale befriedet werden konnten, setzte die Hessische Landesregierung<br />

Ende der 90er Jahre auf Methoden des „sanften Regierens“, bei dem frühzeitig alle<br />

Konfliktparteien in einen dialogischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess<br />

eingebunden werden sollten. Das Frankfurter Verfahren 21 stellt analytisch eine<br />

Governance-Form dar, nämlich ein politisch initiiertes und angeleitetes Verhandlungssystem<br />

auf Zeit, das auf „Outsourcing“ von Politikentwicklung sowie Rationa-<br />

20 Vergleiche zum Variantenreichtum an neuen kommunikativen Formen der politischen<br />

Beteiligung Feindt, Peter Henning: Neue Formen der politischen Beteiligung. In: Ansgar<br />

Klein / Ruud Koopmans / Heiko Geiling (Hg.), Globalisierung, Partizipation, Protest. Opladen<br />

2001, S. 255–274.<br />

21 Vgl. im Folgenden Geis, Anna: Beteiligungsverfahren zwischen Politikberatung und<br />

Konfliktregelung: Die Frankfurter Flughafen-Mediation. In: Peter Henning Feindt/Thomas<br />

Saretzki (Hg.), Umwelt und Technikkonflikte, Wiesbaden 2008 (Manuskript); dies.: Mediationsverfahren<br />

<strong>als</strong> alternative Form der Politikberatung. In: Stephan Bröchler/Rainer<br />

Schützeichel, (Hg.), Politikberatung. Ein Handbuch. Stuttgart 2008, S. 130–146.<br />

12 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

lisierung des Politikprozesses setzt. Ausgangspunkt des Verhandlungsverfahrens war<br />

ein polarisierter Konflikt, bei dem die Befürworter auf die wohlstandsoptimierenden<br />

ökonomischen Potentiale eines Flughafenausbaus verwiesen, während die Gegner<br />

einer Erweiterung die möglichen ökologischen, gesundheitlichen sowie sozialen Risiken<br />

in den Vordergrund stellten. Da Umweltverbände und Bürgerinitiativen in die<br />

Vorbereitung des Verfahrens nicht eingebunden waren, lehnten sie eine Teilnahme<br />

ab. Dennoch konstituierte sich die Mediationsgruppe 1998 auf der Basis massiver<br />

Vorgaben der Hessischen Staatskanzlei in konzeptioneller sowie personaler Hinsicht.<br />

Nach der Konsultation zahlreicher externer Experten erarbeitete eine 20-köpfige<br />

Gruppe, die aus kommunalen Vertretern, Repräsentanten unterschiedlicher Ministerien,<br />

der Flugwirtschaft, der Gewerkschaft unter anderem bestand einen „Mediationspakt“<br />

mit politischen Empfehlungen.<br />

Für die Hessische Landesregierung stellt sich der Kompromissvorschlag, bei dem<br />

alle betroffenen Seiten gravierende Abstriche an ihren Zielvorstellungen vornehmen<br />

mussten, <strong>als</strong> regierungstechnischer Gewinn dar. Der politische Erfolg durch Zivilisierung<br />

des Konfliktaustrags lässt sich insbesondere auf die Kanalisierung <strong>diskurs</strong>iver<br />

Prozesse und die Privilegierung wissenschaftlichen Wissens gegenüber anderen<br />

Wissensarten zurückzuführen. Demgegenüber stellt sich aus Sicht der betroffenen<br />

„stakeholder“ das Ergebnis, das so nicht vorherzusehen war, <strong>als</strong> Niederlage für alle<br />

dar. Kritiker bemängeln, dass die „weiche Steuerung“ via Dialog-Leitidee ernst zu<br />

nehmende Risiken berge, insbesondere die Gefahr der politischen Instrumentalisierung<br />

von Mediation im Rahmen einer symbolischen Politik. Durch „Selbstbindung“<br />

wird das konfrontative Potenzial sozialer Bewegungen geschwächt – da der Verzicht<br />

auf Mobilisierung von Öffentlichkeit neben der Androhung eines gerichtlichen Verfahrens<br />

die stärkste Ressource von Umweltgruppen darstellt, müssen Chancen und<br />

Risiken hier gegeneinander abgewogen werden.<br />

(b) Bürgerkonferenz im Kontext der EU<br />

Die Bürgerkonferenz, welche 2005-2006 unter dem Namen „Meeting of Minds.<br />

European Citizens' Deliberation on Brain Science“ 22 im Rahmen der Europäischen<br />

Union stattfand, stellt ein aufwändiges Pilot-Projekt dar, in dem „das Neuland einer<br />

grenzüberschreitenden europäischen Diskussion“ 23 betreten werden sollte. Der Rekrutierungsmodus<br />

von Bürgerkonferenzen stellt eine Kombination von erklärter Selbstauswahl<br />

und Fremdauswahl dar – letztere soll eine repräsentative Zusammensetzung<br />

der Gruppe „unabhängiger“ BürgerInnen im Hinblick auf soziodemographische<br />

Kriterien (wie Geschlecht, Alter, Schulbildung, Demographie) gewährleisten. Im<br />

22 Vgl. Europäische Bürgerkonferenz: Meeting of Minds. Brüssel/Belgien 2006.<br />

23 Nationaler Bürgerbericht: Meeting of Minds. Nationaler Bürgerbericht aus Deutschland<br />

(27.11.2005). Dresden 2005, S. 12.<br />

Dis | kurs 13


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Unterschied zum Mediationsverfahren sind hier gesellschaftliche „stakeholders“ von<br />

vornherein ausgeschlossen. Die ehrenamtlich tätigen Laien informieren sich über<br />

das betreffende Thema zum Teil auf der Basis von einschlägiger Literatur sowie insbesondere<br />

durch die Einladung und Befragung von Experten, die formal gesehen<br />

nur Beraterstatus haben. Ziel ist die Erarbeitung eines – wenn möglich konsensualen<br />

– Schlussberichts (ggf. Ausweis eines begründeten Dissenses), der ein möglichst<br />

großes Publikum erreichen soll, das heißt anders <strong>als</strong> beim Mediationsverfahren wird<br />

hier auf das Öffentlichkeitsprinzip gesetzt.<br />

Die erste europäische Bürgerkonferenz befasste sich mit dem Thema „Hirnforschung“.<br />

An diesen Forschungszweig wird einerseits die Erwartung geknüpft, dass<br />

sie zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Hirnstörungen<br />

(zum Beispiel Alzheimer) beitragen könne; andererseits besteht die Befürchtung,<br />

dass die Entwicklung von Technologien, die regulierend in Hirntätigkeiten<br />

eingreifen, unabsehbare Folgen für unsere Identität beinhalten könnte. Auf diesem<br />

Hintergrund lässt sich konstatieren, dass die Hirnforschung neue ethische, rechtliche<br />

und soziale Fragen aufwirft, die alle BürgerInnen betreffen. Die aufgrund des<br />

durchlaufenen Lernprozesses „wohl informierten Bürger“ 24 von (EU-)Bürgerkonferenzen<br />

sollen ein neues Element in den zumeist von Experten und Interessengruppen<br />

dominierten technologiepolitischen Beratungsprozess einbringen und Debatten<br />

in der politischen Öffentlichkeit anstoßen. Neu entwickelten Dialog-Verfahren („Karussells“,<br />

„Europäische Cafés“) sollten gewährleisten, dass der Empfehlungstext zu<br />

sechs ausgewählten Themenkomplexen der Hirnforschung, der am 23. Januar 2005<br />

im Europäischen Parlament vorgestellt wurde, <strong>als</strong> gemeinsam verfasster Bericht aller<br />

TeilnehmerInnen gelten kann. Kritische Stimmen 25 verweisen auf eine Reihe von<br />

Schwächen dieses neuen Politikinstruments: insbesondere die unklare Funktionsbestimmung,<br />

das problematische Verhältnis von Aufwand und Ertrag, das geringe<br />

Interesse der Funktionssysteme Politik und Medien an solchen „Alternativen“, die<br />

ein implizites Eingeständnis ihres eigenen Versagens beinhalten würden. Aus der<br />

Sicht der Kritiker ist Meeting of Minds zuvorderst <strong>als</strong> Beitrag zu einem Stück symbolischer<br />

Politik zu betrachten. In den Stellungnahmen von Beteiligten bzw. Mitgliedern<br />

des wissenschaftlichen Beirats von Meeting of Minds sowie von Beobachtern<br />

wird hingegen der Beitrag hervorgehoben, den das Bürgerbeteiligungsverfahren zur<br />

24 Hennen, Leonhard/Petermann, Thomas/Scherz, Constanze: Partizipative Verfahren<br />

der Technikfolgenabschätzung und parlamentarische Politikberatung. Neue Formen der<br />

Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. TAB-Arbeitsbericht Nr. 96.<br />

Berlin 2004, S. 49.<br />

25 Vgl. etwa Gärtner, Barbara: Das Gehirn ist nur ein Platzhalter. Die Bürgerkonferenz<br />

„Meeting of Minds“. In: polar – Halbjahresmagazin für politische Philosophie und Kultur,<br />

Ausgabe 1 (2006), S. 12–17.<br />

14 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

Belebung der europäischen Demokratie leisten könne 26 – ein Reporter bezeichnete<br />

die Europäische Bürgerkonferenz gar <strong>als</strong> „großes Demokratielabor“. Es könne <strong>als</strong><br />

sinnvolle Ergänzung zum System der repräsentativen Demokratie fungieren und so<br />

bestimmte Defizite moderner Massendemokratien kompensieren helfen – indes nur<br />

unter der Voraussetzung, dass sich Bürgerkonferenzen <strong>als</strong> Teil der politischen Kultur<br />

etablieren lassen.<br />

(c) Diskursverfahren im globalen Raum<br />

Im Unterschied zu den Bürgerkonferenzen werden im Diskursverfahren „stakeholder“<br />

(Betroffene und Interessengruppen) einbezogen, die – trotz ihrer Interessengebundenheit<br />

– auf eine Gemeinwohlperspektive verpflichtet werden sollen (dies unterscheidet<br />

sie wiederum von Mediationsverfahren mit ihrer positionsorientierten<br />

Ausrichtung). Zentraler Anspruch von Diskursverfahren ist es, in einem rationalitätsgestützten<br />

(das heißt auf Argumentation und Begründung fokussierten) Diskursprozess<br />

unter gleichberechtigten Anwesenden unterschiedliche Problemwahrnehmungen<br />

und -lösungen miteinander zu vermitteln. Die <strong>diskurs</strong>iven Prozesse in der<br />

face-to-face-Kommunikation werden kanalisiert durch methodische Gesprächsregeln,<br />

wie zum Beispiel die Trennung von Fakten und Werten, die Verpflichtung auf<br />

allseits anerkannten Begründungen, die Ordnung der Werte in einer Zielhierarchie<br />

sowie die Suche nach einem Konsens. Mittlerweile existieren auch Ansätze zu Diskursverfahren<br />

auf globaler Ebene. Im Unterschied zu den quasi anarchisch ablaufenden<br />

Meinungsäußerungen in der öffentlichen Arena (für die der Typ „Weltkonferenz“<br />

einschlägig wäre), werden Diskursverfahren durch ein spezielles „Framing“<br />

strukturiert, das einem politischen Verlautbarungsstil entgegenwirken soll.<br />

So wurde etwa von Oktober 2001 bis Februar 2002 auf Initiative des World Business<br />

Council for Sustainable Development (WBCSD 2003) ein „Stakeholder Dialogue<br />

Process“ zur Thematik „Intellectual Property Rights in Biotechnology and Health<br />

Care“ initiiert, das von einer Gruppe von Sozialwissenschaftlern am WZB (Wissenschaftszentrum<br />

Berlin) organisiert und moderiert wurde. Die Teilnehmer am Diskursverfahren<br />

setzten sich aus folgenden Gruppen zusammen: Vertreter von Pharmafirmen,<br />

transnational operierende Non-Governemental Organizations (NGOs),<br />

unabhängige Patentrechtsexperten sowie Vertreter von Regulierungsinstanzen. 27<br />

26 Vgl. Deutsches Hygiene-Museum Dresden: Newsletter „Europäische Bürgerkonferenz<br />

zur Hirnforschung“ (März 2006).<br />

27 Vgl. im folgenden Daele van den, Wolfgang / Döbert, Rainer: Imaginierte Gemeinschaften.<br />

Forderungen und Mechanismen transnationaler Solidarität beim Zugang zu<br />

patentgeschützten Medikamenten. In: Gosewinkel, Dieter/Rucht, Dieter/van den Daele,<br />

Wolfgang/Kocka, Jürgen (Hrsg.), Zivilgesellschaft – national und transnational. Berlin<br />

2003, S. 309–335; dies.: Globale Solidarität und die Rechte des geistigen Eigentums, in:<br />

Jens Beckert / Julia Eckert / Martin Kohli / Wolfgang Streeck (Hg.), Transnationale Solidarität.<br />

Chancen und Grenzen, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 148–162.<br />

Dis | kurs 15


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Hintergrund des globalen Diskursverfahrens bildeten Probleme eines sich entwickelnden<br />

internationalen Regimes im Bereich der Patentvergabe: Die Globalisierung<br />

der Rechte des geistigen Eigentums, wie sie im „Agreement on Trade-related<br />

Aspects of Intellectual Property Rights“ (TRIPS-Abkommen) von 1995 verkörpert<br />

sind, führte zu massiven Konflikten. Das Ausgangsproblem bestand im Streit über<br />

Patentoptionen und dem Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten – denn in<br />

Bezug auf die Verfügbarkeit wichtiger Medikamente lassen sich weltweit eklatante<br />

Ungleichverteilungen feststellen. Weltweiter Protest von NGOs richtete sich insbesondere<br />

gegen die Weigerung von Pharmafirmen, die Vergabe von Zwangslizenzen<br />

für die Produktion von kostengünstigen Generika gegen Aids zu tolerieren. Die kritisch<br />

gestimmten Gruppen im Diskursverfahren beriefen sich auf – im internationalen<br />

Recht codierte – soziale Menschenrechte (insbesondere das universelle Recht<br />

auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit) und suchten Unterstützung bei den<br />

Massenmedien. Die ambitionierten moralischen Forderungen der Kritiker erfuhren<br />

indes im Diskursverfahren eine Relativierung: zum einen wurde die bestehende nationale<br />

und internationale Rechtslage <strong>als</strong> Ausgangsbasis genommen, um an Firmen<br />

gerichtete Umverteilungsforderungen zurückzuweisen: Soziale Leistungsansprüche<br />

können demnach in juridischer Hinsicht nur an Staaten adressiert werden, die neben<br />

dem Gewaltmonopol auch über die Möglichkeit der Steuererhebung verfügen. Zum<br />

anderen galt der funktionale Imperativ des ökonomischen Systems (Orientierung<br />

am Profit) <strong>als</strong> weitere Grenze der Moralisierung. Ausgehend von diesen Setzungen<br />

sollten auch die (durch ihr Interesse an einer Imageverbesserung motivierten) Unternehmensvertreter<br />

Zugeständnisse machen. Die Ausbalancierung der moralischen<br />

mit den wirtschaftlichen Zielvorstellungen führte zu folgenden konkreten Empfehlungen:<br />

Ermächtigung von Staaten zur Erteilung von Zwangslizenzen in Notlagen<br />

und Errichtung eines globalen Systems der differentiellen Preisgestaltung. Allerdings<br />

sind die inhaltlichen Ergebnisse des Diskursverfahrens rechtlich unverbindlich. Um<br />

eine Wirksamkeit des <strong>diskurs</strong>iven Politikstils zu gewährleisten ist deshalb eine Rückbindung<br />

an internationale Verhandlungssysteme erforderlich – diese scheint im vorliegenden<br />

Fall durch die Verankerung im institutionellen Gefüge der UN zumindest<br />

ansatzweise gegeben zu sein.<br />

Transformation demokratischer Legitimationsprozesse in einer<br />

sich globalisierenden Welt<br />

Von einer zwingenden Verbindung zwischen einem Mehr an Deliberation und einem<br />

Mehr an demokratischer Legitimation kann zunächst nicht ausgegangen werden.<br />

Die Kritik, es handle sich bei Diskurs- und Mediationsverfahren nur um „symbolische<br />

Politik“ auf der einen Seite sowie der Vorwurf, durch diese deliberativen<br />

Politikformen würden quasi „Privatregierungen“ ohne demokratisches Mandat ins-<br />

16 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

talliert, verweisen auf das Dilemma der sog. „Runden Tische“ zwischen mangelnder<br />

und illegitimer Verbindlichkeit. Desgleichen ist ein Zuwachs an deliberativer Politik<br />

nicht automatisch <strong>als</strong> Governanceerfolg zu verbuchen. Wiesenthal warnte seinerzeit<br />

in einem viel beachteten Beitrag 28 davor, dass das bloße Einbringen einer zusätzlichen<br />

Menge von unkoordinierten Anspruchskriterien, wie sie in partizipationsorientierten<br />

Sozialverträglichkeitskonzepten en vogue waren, das typische Niveau sozialer<br />

Komplexität moderner Gesellschaften verfehle – es drohe dadurch die Lähmung<br />

der politischen Handlungsfähigkeit. Ohne institutionelle Innovationen für einen<br />

balancierenden Umgang mit pluralen Rationalitäten führe die erhöhte Präsenz von<br />

Akteuren in Meinungsbildungs- und Entscheidungsverfahren nur zur gesteigerten<br />

Frustration der Beteiligten. Entscheidend in der Governancedimension wäre somit<br />

die Frage, ob es gelingt reflexive institutionelle Designs zu kreieren und erfolgreich<br />

einzusetzen. Dem durch die Verfahrensregeln bestimmten Framing von Deliberationen<br />

kommt so die Aufgabe einer Bündelung und Transformation der pluralen<br />

konfliktiven Forderungen zu.<br />

Üblicherweise wird Deliberation im deutschsprachigen Raum mit der deliberativen<br />

Demokratietheorie von Jürgen Habermas in Verbindung gebracht – hierbei geht es<br />

darum, durch bestimmte Verfahren („herrschaftsfreier Diskurs“) substantielle Konsense<br />

der TeilnehmerInnen zu erzielen. 29 Gegenüber dieser restriktiven Begriffsstrategie<br />

ist auf die theorietechnischen Gewinne zu verweisen, wenn man den Deliberationsbegriff<br />

konstruktivistisch konzeptualisiert – dann geht es Deliberationsforen aus<br />

der Beobachterperspektive nurmehr darum, Konsensfiktionen zu erzielen, durch die<br />

sich die TeilnehmerInnen an den Runden Tischen nur vorläufig und unter Widerrufsvorbehalt<br />

binden. Konsensfiktionen sind erforderlich, damit die Kommunikationsprozesse<br />

in den partizipatorischen Foren nicht „leer laufen“ und anschlussfähige<br />

Wahrnehmungs- und Lösungsperspektiven generiert werden können. 30<br />

Bereits die ausgewählten Fallbeispiele verdeutlichen, dass eine Beurteilung von „Democratic<br />

Governance“ nicht pauschal erfolgen kann, sondern im Hinblick auf Deliberationstypus<br />

und konkretem Framing des Verfahrens differenziert werden muss.<br />

Im Falle der Frankfurter Flughafen-Mediation liegt ein Beteiligungsverfahren vor,<br />

das relativ nahe am Modell Governance by Government angesiedelt werden kann,<br />

da es sich um ein politisch gesteuertes Verhandlungssystem aus staatlichen und gesellschaftlichen<br />

Akteuren handelt. Die Hessische Staatskanzlei, von der die Initiative<br />

zum Mediationsverfahren ausging, traf bereits im Vorhof des Verfahrens entschei-<br />

28 Vgl. Wiesenthal, Helmut: Ist Sozialverträglichkeit gleich Betroffenenpartizipation?<br />

In: Soziale Welt, Jg. 41., H. 1 (1990), S. 28–46.<br />

29 Vgl. Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1992.<br />

30 Vgl. hierzu Martinsen, Renate: Demokratie und Diskurs, S. 84.<br />

Dis | kurs 17


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

dende Weichenstellungen (Konzeption, Zusammensetzung, Fragestellung, Auswahl<br />

der Mehrzahl der Mediatoren). Erst innerhalb eines politisch vorstrukturierten<br />

Rahmens konnte sich die soziale Dynamik des Partizipationsverfahrens entwickeln.<br />

Ausschließlich wissenschaftlich anschlussfähige Begründungen, die mit dem vorgegebenen<br />

Framing kompatibel sind, fallen somit nicht durch das <strong>diskurs</strong>ive Raster<br />

der Anerkennung – affektive Meinungsäußerungen und diffuser Einspruch hingegen<br />

werden zuverlässig ausgefiltert. 31 Die dadurch erzielte rationale Einhegung des<br />

Konflikts kann politisch <strong>als</strong> Erfolg gewertet werden. Dass der Konflikt insbesondere<br />

in der Wertedimension (Ökonomie versus Ökologie) auf Seiten der Umweltgruppen<br />

weiterschwelt, steht dem nicht entgegen. 32 Denn Konfliktabsorption durch die<br />

Öffnung des Verfahrens erfolgt auch dann, wenn einige unzufrieden zurückbleiben.<br />

Denn der Einbezug einer Vielzahl von sachlich und sozial repräsentativen Akteuren<br />

verleiht dem Verhandlungsergebnis in den Augen Dritter eine gewisse Legitimität –<br />

und delegitimiert gleichzeitig einen möglicherweise fortgesetzten Protest.<br />

Anders <strong>als</strong> beim Frankfurter Mediationsverfahren, bei dem es um einen manifesten<br />

Konflikt zwischen unterschiedlichen Interessengruppen vor dem Hintergrund eines<br />

konkreten kommunalen Planungsvorhabens ging, lag bei der EU-Bürgerkonferenz<br />

zur Hirnforschung ein anderer Konflikttyp zugrunde: hier handelte es sich um die<br />

partizipative Klärung von Zukunftsfragen durch beteiligungswillige, repräsentativ<br />

ausgewählte BürgerInnen aus unterschiedlichen EU-Ländern, die keine Partikularinteressen<br />

verfolgten. Die Idee dürfte hier darin gelegen haben, eine „aufgeklärte öffentliche<br />

Meinung im Kleinen“ 33 zu simulieren und damit eine Debatte in der politischen<br />

Öffentlichkeit anzustoßen. In den Dokumentationsbroschüren zum Verfahren wird<br />

immer wieder die Demokratisierungsfunktion von „Meeting of Minds“ betont – auf<br />

dem Hintergrund der Debatte, ob die Europäische Union überhaupt „demokratiefähig“<br />

sei, das heißt die Voraussetzungen für die Bildung einer kollektiven Identität<br />

mitbringe, wäre das Zusammentreffen von BürgerInnen bei der europäischen Bürgerkonferenz<br />

<strong>als</strong> Keimzelle eines solchen mentalen Demokratisierungsprojekts jenseits<br />

nation<strong>als</strong>taatlicher Sphären interpretierbar. Angesichts der geringen Medienresonanz<br />

dürften indes die Legitimationseffekte für die Europäische Kommission (die<br />

<strong>als</strong> Projektförderer fungierte) im konkreten Fall eher bescheiden ausfallen. Da bei<br />

diesem Deliberationstyp ausschließlich Bürger-Experten miteinander diskutieren,<br />

31 Vgl. zu diesem Aspekt von Deliberationsverfahren kritisch Martinsen, Renate: Ethikpolitik<br />

<strong>als</strong> mentale Steuerung der Technik – Zur Kultivierung des Gewissens im Diskurs. In:<br />

Simonis, Georg / Martinsen, Renate / Saretzki, Thomas (Hg.), Politik und Technik, PVS-<br />

Sonderheft (2001), S. 499–525.<br />

32 Vgl. Geis, Anna: Beteiligungsverfahren zwischen Politikberatung und Konfliktregelung.<br />

33 Hennen, Leonhard/Petermann, Thomas/Scherz, Constanze: Partizipative Verfahren,<br />

S. 48–19.<br />

18 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

handelt es sich hierbei um einen Fall von Governance without Government. Die Regelsetzung<br />

durch nicht-staatlichen Akteure, die im Abschlussdokument mit Empfehlungscharakter<br />

ihren Niederschlag gefunden hat, ist allerdings entscheidungsfern<br />

angesiedelt. Zwar wurden die Deliberationsergebnisse vor dem Europäischen Parlament<br />

präsentiert – doch ist eine (zumindest schwache) Verbindlichkeit des Bürgervotums<br />

nicht vorgesehen. Im Unterschied zum geschilderten Mediationsverfahren,<br />

dessen Zusammensetzung sich funktional im Hinblick auf einen möglichen Beitrag<br />

der Beteiligten zur friedlichen Konfliktbeilegung bestimmte, orientierte sich die<br />

Auswahl beim EU-Bürgerbeteiligungsverfahren an Kriterien territorialer und sozialer<br />

Repräsentativität. Beide Verfahren sind indes weniger <strong>als</strong> Alternative denn <strong>als</strong><br />

Ergänzung zu konstitutionell orientierten Demokratiemodellen konzipiert.<br />

Das globale Diskursverfahren zur Patentfrage unterscheidet sich insofern von den<br />

beiden bisher diskutierten deliberativen Politikmodellen <strong>als</strong> hier ein erweiterter politischer<br />

Raum in Erscheinung tritt, bei dem die Spielregeln der nationalen Demokratie<br />

nicht gelten und auch die zumindest indirekte Legitimitätsgrundlage durch die<br />

intergouvernementalen Elemente des Politikmodus in der EU nicht gegeben sind.<br />

Im überwiegend anarchisch strukturierten globalen Raum scheint die Bestückung<br />

der Runden Tische im Hinblick auf funktionale beziehungsweise sektorale Repräsentativität<br />

und die Selbstverpflichtung der Beteiligten auf anerkannte Standards des<br />

Verhaltens, wie im globalen Diskursverfahren exemplarisch vorgestellt, einen ansatzweise<br />

legitimationsträchtigen Ausweg aufzuzeigen. Aber woher soll die Legitimität<br />

der Normensetzung kommen, wenn die Vorstellung einer fiktiven Volkssouveränität<br />

im transnationalen politischen Raum nicht greift? Offensichtlich geht es insbesondere<br />

darum, dass das Ergebnis in den Augen Dritter (des Publikums) Legitimität<br />

gewinnt. Die Diskursteilnehmer sind dadurch auch nach dem Verlassen der Diskursarena<br />

möglicherweise einer „Logik normativer Verstrickung“ 34 ausgesetzt, das heißt<br />

sie geraten aus Reputationsgründen in Zugzwang, ihre öffentlich gemachten Zusagen<br />

zumindest nicht gänzlich zu missachten. Demnach wäre das Demokratie-Kriterium<br />

primär nicht durch die Orientierung am Gemeinwohl zu ermitteln, sondern an der<br />

Anzahl von checks and balances zu bemessen, die ein Vorschlag durchläuft, bis er<br />

(mehr oder weniger) kollektiv verbindlich wird. Rubrizieren lässt sich diese Deliberationsveranstaltung<br />

<strong>als</strong> zivilgesellschaftliches Forum, bei dem gesellschaftlich organisierte<br />

Interessen im Vorfeld internationaler Organisationen miteinander kommunizieren<br />

– durch diese institutionelle Verankerung nähert sie sich einem Typ des<br />

Regierens durch private und öffentliche Akteure (Governance with Government) an.<br />

Die vorgestellten Fallbeispiele auf unterschiedlichen territorialen Ebenen können<br />

34 Vgl. Brock, Lothar: Trends und Interdependenzen in der Weltgesellschaft. In: Globale<br />

Trends 2002. Stiftung Entwicklung und Frieden. Frankfurt a. M. 2001, S. 390–393.<br />

Dis | kurs 19


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

allenfalls exemplarisch Einblick in mögliche demokratische Gefährdungen und Potenziale<br />

der kommunikativen Politikformen gewähren. Wandel der Staatlichkeit in<br />

globalisierten Arenen hat evidenterweise Folgen für die Konzeptualisierung des Demokratiebegriffs.<br />

Er wird in diesem argumentativen Kontext überwiegend funktional<br />

bestimmt, das heißt <strong>als</strong> möglicher Beitrag zu (Global) Governance. Demokratie erscheint<br />

<strong>als</strong> politische Herrschaftsform, die am ehesten geeignet scheint, das Problem<br />

sozialer Komplexität zu meistern, indem sie die Zukunft offen hält für neue Entscheidungen<br />

bei andersartigen Problemlagen. 35 Der Bedarf an funktionalen Äquivalenten<br />

zu klassisch repräsentativen Formen der Demokratie steigt unter den Bedingungen<br />

der Globalisierung – deliberative Politikformen stellen hierbei eine mögliche Option<br />

vor. Dabei bleibt es künftigen Forschungen vorbehalten, erforderliche Merkmale<br />

und notwendige Randbedingungen von organisierten Kommunikationsprozessen zu<br />

klassifizieren, welche geeignet erscheinen die unterschiedlichen Deliberationstypen<br />

auf den jeweiligen territorialen Ebenen <strong>als</strong> legitimitätsstiftende Elemente von (Global)<br />

Governance zu entwickeln. Wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit von modernen<br />

Demokratien unhintergehbar auf sich selbst zurückgeworfen ist, dann wird die<br />

Operationalisierung von Wertbegriffen notwendig zu einer Funktion sozialer Verständigung.<br />

Die dritte demokratische Transformation ergänzt die verfassungsstaatlich<br />

verankerte liberal-repräsentative Demokratie durch Formen einer kommunikativen<br />

Demokratie 36 , die sich <strong>als</strong> dynamische Kooperation im Netzwerk institutionalisiert<br />

und auf die Prinzipien der Horizontalisierung und Sektoralisierung fokussiert.<br />

Buchstein/Jörke üben Kritik an der gegenwärtigen Bedeutungsverschiebung des hegemonialen<br />

Demokratieverständnisses: betont werde nicht mehr Partizipation, sondern<br />

Rationalität. 37 Tatsächlich erscheint Demokratie im Kontext des Governanceparadigmas<br />

insbesondere <strong>als</strong> erforderliche Voraussetzung für das Funktionieren von<br />

Governance, somit <strong>als</strong> Rationalitätsgebot des kooperativen Staates. Allerdings verweisen<br />

die Autoren auch darauf, dass ihre Betonung der Versprechensdimension des<br />

Demokratiebegriffs (Identität von Autor und Adressat von Gesetzen) eine Ergänzung<br />

zum vorherrschenden institutionalistischen Demokratieverständnis darstelle. Das<br />

damit insinuierte Festhalten an direktdemokratischen Elementen von Demokratie<br />

wäre dann nicht auf alle demokratischen Formationen beziehbar, sondern auf einige,<br />

insbesondere solche in territorial kleinräumigen Kontexten.<br />

35 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Hg. v. André Kieserling, Frankfurt<br />

a. M. 2000, S. 301.<br />

36 Der Terminus „Kommunikative Demokratie“ ist im Unterschied zum Begriff „Deliberative<br />

Demokratie“ nicht belastet durch die Konnotation mit der emphatischen Deliberationstheorie<br />

von Jürgen Habermas.<br />

37 Vgl. Buchstein, Hubertus / Jörke, Dirk: Das Unbehagen an der Demokratietheorie. In:<br />

Leviathan, Jg. 31, H. 4 (2003), S. 470–495.<br />

20 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

Auch die vorgestellten kommunikativen Formen von Demokratie signalisieren nicht<br />

eine demokratische Wachablösung, sondern experimentieren mit neuen Demokratie-Bausteinen,<br />

die Lösungsperspektiven andeuten könnten für Probleme demokratischer<br />

Legitimation im Zeitalter der Entgrenzung des Staates nach innen und außen.<br />

Die semantische Verschiebung des Demokratiebegriffs in der Gegenwart läge<br />

dann letztlich darin, dass in einigen Herrschaftsdimensionen das Verfahren38 zur<br />

alleinigen Quelle der Legitimität wird: „Demokratie ist hier nicht die Herrschaft eines<br />

imaginären Volkes oder die Herrschaft seiner Repräsentanten oder die Verwirklichung<br />

des Allgemeinwillens durch repräsentative Organe, sondern ein endloses Verfahren, bei<br />

dem es darauf ankommt, dass der Ball im Spiel bleibt und niemand so aus dem Spiel geworfen<br />

wird, dass er die Lust am Weiterspielen verliert und womöglich zu einer Gefahr<br />

für die Fortführung des Spiels wird.“ 39<br />

All dies deutet darauf hin, dass auch der Demokratiebegriff auszudifferenzieren ist –<br />

die Diskussion möglicher demokratischer Gefährdungen wäre dann zu beziehen auf<br />

das Leitbild einer komplexen Demokratiearchitektur in Form eines perpetuum mobile,<br />

bei dem es darum geht, dass sich unterschiedliche Demokratieakzentuierungen<br />

gegenseitig in Bewegung halten.<br />

Literatur (Auswahl)<br />

Fuchs, Dieter: Modelle der Demokratie. Partizipatorische, liberale und elektronische Demokratie.<br />

In: Kaiser, André / Zittel, Thomas (Hg.), Demokratietheorie und Demokratieentwicklung.<br />

Wiesbaden 2004, S. 19–53.<br />

Giddens, Antonoy: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt<br />

a. M. 1997.<br />

Guggenberger, Bernd: Artikel „Demokratie/Demokratietheorie“. In: Dieter Nohlen (Hg.),<br />

Wörterbuch Staat und Politik, München/Zürich: 1996, S. 80–90.<br />

Jörke, Dirk: Auf dem Weg zur Postdemokratie, in: Leviathan, Jg. 33, H. 4 (2005), S. 482–491.<br />

Martinsen, Renate: Demokratie und Diskurs. Organisierte Kommunikationsprozesse in der<br />

Wissensgesellschaft. Baden-Baden 2006.<br />

Münch, Richard: Politik in der globalisierten Moderne. In: Nassehi, Armin/Schroer, Markus<br />

(Hg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt, Sonderband 14 (2003), S. 117–133.<br />

Wiesenthal, Helmut: Globalisierung. Soziologische und politikwissenschaftliche Koordinaten<br />

im neuartigen Terrain. In: Brunkhorst, Hauke/Kettner, Matthias (Hg.), Globalisierung und<br />

Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien, Frankfurt a. M. 2000, S. 21–52.<br />

38 Die herausgehobene Relevanz des Verfahrensaspektes per se <strong>als</strong> Legitimationsquelle<br />

ist bei den Diskussionen zum Regieren jenseits des Nation<strong>als</strong>taates besonders evident.<br />

Dieser Gesichtspunkt spielt indes auch beim Regieren diesseits der nation<strong>als</strong>taatlichen<br />

Grenzen eine zunehmende Rolle insofern man die Horizontalisierungstendenz im<br />

Politischen („kooperativer Staat“) in Rechnung stellt. Allerdings fungieren deliberative<br />

Verfahren hier <strong>als</strong> Ergänzung zu anderen legitimitätsstiftenden Kriterien (Repräsentation,<br />

Partizipation) in demokratischen Herrschaftssystemen.<br />

39 Münch, Richard: Politik in der globalisierten Moderne, S. 126.<br />

Dis | kurs 21


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Politische Theorie<br />

Voting Rights for the Homeless<br />

Wesley Nishiyama<br />

State University of New York at Albany<br />

E-Mail: wn8492@albany.edu<br />

Keywords<br />

Democracy, Homeless People, Civil Rights, Elections, Discrimination<br />

In 1984, two buses transported about a hundred of Orange County's homeless to the<br />

Federal Court (S.D.N.Y.). They were to face a judge, not to be accused of breaking<br />

the law, but instead, they were to charge Orange County of breaking the law. They<br />

accused the county of denying them the right to vote in a federal election, a right that<br />

is guaranteed to all citizens of the United States, eighteen years of age or older and without<br />

a criminal record. They argued that the right to vote should not be contingent<br />

on a residency status. That is, the right to own property entails the right not to own<br />

property; and anyone, who exercises this right, should not be penalized with disenfranchisement.<br />

They won their case and set a precedent, Pitts v. Black (1984).<br />

Despite the victory for the homeless, much needs to be done. Pitts v. Black only requires<br />

that states take a loose interpretation of what constitutes residency; it does<br />

not prohibit a residency requirement. Today, forty states require a mailing address<br />

to register to vote. Thirty-seven states have yet to enact a statue establishing voting<br />

rights for the homeless. 1 Why has change been so slow, if at all? The simple answer<br />

is that very few people care about securing this right for the homeless. The people<br />

1 Y.D.N.H.V. Voting Manuel 2008.<br />

22 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

do not care – probably because they are unaware of this infringement; possibly the<br />

homeless do not care – they have other concerns; and the politicians do not care.<br />

Why do the politicians not care? In this essay, I will: first, consider how the structure<br />

of the electoral system can offer one explanation to why politicians do not consider<br />

the apparent disenfranchisement of the homeless; second, I will suggest who is in<br />

the position to help the homeless gain enfranchisement; and finally, I will examine<br />

proper representation, self-gerrymandering, and possible solutions.<br />

I. Institutional Causes of the Disenfranchisement of the<br />

Homeless<br />

In America, political action stems from four interrelated sources: political parties,<br />

politicians, interests groups, and public opinion. Let us consider why national legislators,<br />

particularly those from the House of Representatives, have been fairly inattentive<br />

to the disenfranchisement of the homeless. One explanation is that representatives<br />

in attempts to be reelected every two years focus on the concerns of their constituency.<br />

Since the constituency is determined by residency, the homeless (in most states)<br />

cannot be a constituent of any district. This leads to the dilemma of the homeless: the<br />

homeless do not have constituent status because no politician would champion their<br />

cause, and no politician would champion their cause because the homeless are not<br />

legally a part of their constituency. 2 Not only are the homeless not represented, but<br />

<strong>als</strong>o all constituents (homeless or otherwise) are not equally represented. The degree<br />

to which a representative listens to a constituent depends on, first, the number of<br />

like-minded constituents in a particular group and second, the expected intensity<br />

that each would participate in the next election – voting, contributing funds, campaigning,<br />

etc. The research of Richard Fenno 3 supports this claim. He argues that<br />

members of the House engage in a permanent campaign and continuously try to please<br />

those who would most affect their campaigns. Fenno divides a constituency into<br />

four groups, each receiving different degrees of representation (listed here from most<br />

represented to least represented). The personal constituency comprises of personal<br />

friends and family members. The next group is the primary constituency, which includes<br />

those who would not only vote for the incumbent, but would personally assist<br />

in the election (i.e., endorsing the candidate and assisting in fundraising). These<br />

first two groups are overrepresented. The third group is the re-elective constituency<br />

(those who are likely to vote for the incumbent), and finally, the fourth group is the<br />

geographic constituency (those who can vote). One can amend Fenno's model and<br />

2 Here I am not assuming the homeless are explicitly or implicitly demanding the right<br />

to vote, however, these demand may be hypothetical. If we were to ask them would you<br />

want the right to vote, they would probably say yes.<br />

3 Fenno, Richard F.: Home Style: House Members in Their Districts. Boston 1978.<br />

Dis | kurs 23


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

add a fifth constituency where the members are invisible to the representatives; this<br />

constituency consists of the homeless. Fenno does not discuss the homeless, however,<br />

we can easily apply his theory to the homeless. The homeless are at a loss; first,<br />

their numbers in any one district probably do not constitute a large percentage of<br />

citizens in that district; certainly such percentage will vary from district to district.<br />

We must note, the dearth of close elections entails only a group, which constitutes<br />

a significant percentage of the electorate will warrant the attention of candidates 4<br />

especially in elections where there is an incumbent. Second, it is unlikely, granted<br />

the opportunity, the homeless would vote. 5 Much research has found that those of<br />

a lower social-economic status vote less frequently. 6 Furthermore, the magnitude of<br />

the difference in this relationship appears to be increasing since the 1960's. 7 Assuming<br />

that the homeless are of a lower social-economic status, we can conclude that<br />

the homeless (given the right to vote) are less likely to vote than those who are not<br />

homeless. Mitchell and Wlezien 8 find that unemployment (let alone homelessness)<br />

reduces both the likelihood of registering (a coefficient of -0.235 (0.106)) and voting<br />

(a coefficient of -0.262 (0.105)). 9<br />

II. Who Can Help Enfranchise the Homeless?<br />

Parties<br />

Seemingly, representatives have little incentives to spend effort and time drafting a<br />

bill prohibiting states from having registration restrictions that encumber the home-<br />

4 Citrin, Jack, Eric Schickler, and John Sides: What if Everyone Voted? Simulating the<br />

Impact of Increased Turnout in Senate Elections. In: American Journal of Political Science<br />

47.1 (2003). pp. 75–90.<br />

5 Many states including New York and California allow the homeless to vote using a homeless<br />

shelter as their address.<br />

6 Wolfinger, Raymond E., and Stephan J. Rosenstone: Who Votes? New Haven 1980;<br />

Cassel, Carol A., and David B. Hill: Explanations of Turnout Decline: A Multivariate Test.<br />

In: American Politics Quarterly 9 (1981). pp. 191–95; Conway, M. Margaret: Political<br />

Participation in Midterm Congressional Elections: Attitudinal and Social Characteristics<br />

during the 1970's. In: American Politics Quarterly 9 (1981). pp. 221–44; Teixeira, Ruy A.:<br />

Why Americans Don't Vote: Turnout Decline in the United States, 1960–1984. New York<br />

1987.; Leighley, Jan E., and Johnathan Nagler: Individual and Systematic Influences on<br />

Turnout: Who Votes? 1984. In: Journal of Politics 54 (1992). pp. 718–40.<br />

7 Burnham, Walter Dean: The Current Crisis in American Politics. New York: 1982; Bennett,<br />

Stephen E.: Left Behind: Exploring Declining Turnout among Noncollege Young<br />

Whites, 1964–188. In: Social Science Quarterly 72 (1991). pp. 314–33; Reiter, Howard<br />

L.: Why Is Turnout Down? In: Public Opinion Quarterly 43 (1979). pp. 297–311.<br />

8 Mitchell, Glenn E., and Christopher Wlezien: The Impact of Legal Constraints on Voter<br />

Registration, Turnout, and the Composition of the American Electorate. In: Political Behavior<br />

1.2 (1995). pp. 179–202.<br />

9 Regarding the elections of 1972, 1978, 1980, and 1982.<br />

24 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

less from voting. Thus, the task of fully enfranchising the homeless might rests on<br />

political parties. The party leadership must set the go<strong>als</strong> and visions of its members.<br />

There are, however, two obstacles, which prevent the party from doing so. First, parties<br />

in America have been considerably weak compared to their European counterparts.<br />

10 Second, parties indirectly attempt to enfranchise those who are homeless by<br />

eradicating homelessness and creating healthy levels of employment. In addition,<br />

the Department of Housing and Urban Development seeks to find low cost housing<br />

for those who would otherwise find themselves on the streets. Interestingly enough,<br />

President Johnson's „Great Society“ sought to enfranchise (de facto) minorities but<br />

did not directly attempt to enfranchise the homeless, instead, the „War on Poverty“<br />

sought to eradicate homelessness. Why enfranchise the homeless if you can eradicate<br />

homelessness?<br />

Organizing the Homeless<br />

Perhaps the homeless can help themselves; they can organize and protest. Such a<br />

movement faces several problems; first, high turnover and mobilization make organizing<br />

the homeless difficult. Many cities have anti-homeless laws, preventing one<br />

from squatting. The parks in Los Angeles have park benches that have intermittent<br />

armrests, which prevents one from using the bench as a bed. In addition, the sprinkler<br />

systems water every part of the park at arbitrary interv<strong>als</strong> during the night, preventing<br />

anyone from sleeping in the park for more than an hour. Santa Barbara, CA,<br />

had a policy of busing their homeless to Los Angeles, until Los Angeles threatened to<br />

do the same (bus their homeless to Santa Barbara). Essentially, many of the homeless<br />

are constantly moving.<br />

A second problem is a lack of resources. Jean Calterne Williams discusses the problems<br />

the homeless encountered when they attempted to organize the movement<br />

„Shelter Now.“ She states:<br />

What it takes to put together a successful protest are the very things that Shelter<br />

Now lacks. Without money, office space, phones, or even paper the organizers have<br />

difficulty networking with homeless people. Furthermore, they lack a central meeting<br />

place where interested homeless people could find leaders of the group or could<br />

connect with one another. 11<br />

Advocates of the homeless, who are not homeless themselves, can provide such<br />

needed resources. Interestingly enough, while these advocates promote respect for<br />

10 Wattenberg, Martin P.: The Decline of American Political Parties: 1952–1994. Cambridge<br />

(Mass) 1996; Sabato, Larry: The Party's Just Begun. Glenview 1988.<br />

11 Williams, Jean Calterone: The Politics of Homelessness: Shelter Now and Political Protest.<br />

In: Political Research Quarterly 58.3 (2005). pp. 497–509.<br />

Dis | kurs 25


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

the homeless as humans, they seem to not respect them as citizens. These advocate<br />

groups do not engage the homeless or include the homeless as an active part of their<br />

movement. 12<br />

Finally, like political parties, both the organized homeless and the advocate groups<br />

focus first on food, shelter, and safety, and second, eradicating homelessness. These<br />

things seem to be more urgent than the right to vote. Furthermore, why seek the<br />

enfranchisement of the homeless when providing shelter and eradicating homelessness<br />

will make the enfranchisement unnecessary? Eradicating homelessness is the<br />

desirable outcome, however, it is difficult to achieve; <strong>als</strong>o, shelter for all who needs<br />

shelter is expensive. The problem of the disenfranchisement of the homeless seems<br />

like a relatively easy problem to solve when comparing it with the other two challenges.<br />

Mobilizing People<br />

Seemingly, an advocate group can mobilize enough citizens or constituents in a<br />

district to attract the attention of a representative, leading to national legislation to<br />

enfranchise the homeless. However, the advocacy group might find persuading people<br />

of their cause a difficult task. There are three arguments for the enfranchisement<br />

of the homeless: first, all should have the right to vote even if one does not have private<br />

property; second, the homeless should have a way to express their opinion; and<br />

third, although less compelling, the electorate should reflect the demands of the people<br />

and if one group is disenfranchised, then the electorate does not properly reflect<br />

the people as a whole. There are three arguments against the enfranchisement of the<br />

homeless. First, the homeless lack the ability to make an informed decision; second,<br />

the homeless are not a part of the community; and third, the homeless will not vote<br />

even if they could vote. Let us consider the arguments against the enfranchisement<br />

of the homeless and how they might be refuted.<br />

The homeless might find political knowledge hard to come by. They do not have ready<br />

access to a television, political magazines, or the current newspaper. They might<br />

be ignorant of any elections. How then can they make an informed decision? First,<br />

they might not need to know policy, the candidate's experience, or how the economy<br />

operates. Instead, they can use the party as a shortcut. They might know which party<br />

(if any) is best for the homeless and vote for members of that party. Second, who<br />

is to determine what level of political knowledge one needs to make an informed<br />

decision? Such arguments remind us of the time when states violated civil rights by<br />

12 Cohen, Marcia B., and David Wagner: Acting on Their Own Behalf: Affiliation and<br />

Political Mobilization among Homeless People. In: Journal of Sociology & Social Welfare<br />

19 (1992). pp. 21–39.; Wagner, David: Checkerboard Square: Culture and Resistance in a<br />

Homeless Community. Boulder, CO 1993.<br />

26 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

requiring one to pass a political literacy test before he or she could vote. 13 Finally,<br />

most Americans lack political knowledge and make very unsophisticated decisions. 14<br />

Often, people have „non-attitudes“ concerning politics 15 and people offer top-of-thehead<br />

responses to survey and interview questions. 16 Thus, if the homeless should not<br />

be permitted to vote because of a lack of political knowledge, then most Americans<br />

<strong>als</strong>o should not be permitted to vote for the same reason.<br />

A healthy democracy requires a community. Thomas Jefferson believed that the people<br />

in a republic must have civic virtue. The people ought to not simply be an aggregate<br />

of individu<strong>als</strong> who live within a delineated boundary, but rather constitute (what<br />

the ancient Greeks called) a Polis. 17 In the past, some believed that private property<br />

would foster such interests in the community. Today, many believe that a residency<br />

would stimulate such an interest. Let us consider these claims.<br />

Machiavelli states in „The Prince“, „But above all, he [the prince] must abstain from<br />

the property of others, because men will forget the death of a father more quickly<br />

than the loss of a patrimony“. 18 This suggests that property creates interest in politics<br />

and the community. The prince cannot maintain loyalty or support from the people<br />

if he is a threat to their property. Many years later, Charles Beard, in his book,<br />

„An Economic Interpretation of the Constitution“, reve<strong>als</strong> that at the inception of the<br />

United States, only property owners could vote in state elections. Furthermore, since<br />

the states determined the Senate and Electoral College (and therefore, the President)<br />

and the president nominates and the Senate confirms the Supreme Court Justices,<br />

indirectly property owners determined five-sixth of the federal government. The<br />

non-property owners elect only the House and even then, they do so together with<br />

property owners. Beard's claim shocked Americans, but perhaps only because they<br />

lived in a time when every citizen of a particular age had not only the right to vote<br />

but <strong>als</strong>o the duty to do so. (Although minorities were disenfranchised.) However, at<br />

the birth of the nation the popular belief in Europe was that only those who owned<br />

property would care about politics. 19 They had the most to lose.<br />

13 Literacy tests, in practice in Southern states until the 1960s, gained infamy as a means to<br />

denying African Americans suffrage.<br />

14 Smith, Eric R. A. N.: The Unchanging American Voter. Berkeley 1989; Sniderman, Paul,<br />

Richard Brody, and Philip Tetlock: Reasoning and Choice. Cambridge (UK) 1991.<br />

15 Converse, Philip E.: The Nature of Belief Systems in Mass Publics. In: David Apter (ed.):<br />

Ideology and Discontent. New York 1964.<br />

16 Zaller, John R.: The Nature and Origins of Mass Opinion. New York 1992.<br />

17 Cf. Aristotle: Politics. Indianapolis 1998.<br />

18 Machiavelli, Niccolo: The Prince. Chicago 1985.<br />

19 In France right before the French Revolution, the nobles seemed not to care about the<br />

conditions (political and economic) as much as the Estates General or the bourgeoisie.<br />

Dis | kurs 27


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Although, most would reject the argument that only those with property would take<br />

an interest in politics, the residency requirement, which is a variation of the property<br />

requirement, persists. One might argue that to be interested in politics one has to be<br />

a part of the community. And being a part of the community requires having permanent<br />

and lasting residency.<br />

Jefferson promoted a republic of small agrarian communities. He believes the farmers<br />

are those who would have the civic virtue and the mor<strong>als</strong> to cultivate a strong<br />

republic. He states:<br />

… generally speaking, the proportion which the aggregate of the other classes of citizens<br />

bears in any state to that of its husbandmen, is the proportion on its unsound<br />

to its healthy parts, and is a good barometer whereby to measure its degree of corruption<br />

… While we have land and labor then, let us never wish to see our citizens<br />

occupied at a work-bench … 20<br />

In a letter to Madison, he further states, „The small landholders are the most important<br />

part of the state“. 21 Farmers made good citizens because they owned enough land<br />

to take some interests in the community, but not enough land to become a feudal<br />

lord. De Tocqueville describes America as a land of small communities with town<br />

hall meetings and civil associations. These thinkers, Jefferson, de Tocqueville and<br />

others believe that democracy requires a community. Empirical studies collaborate<br />

the claims of Aristotle, Jefferson, and de Tocqueville regarding the community. Robert<br />

Putnam argues, in „Making Democracy Work“, that community or civil society<br />

is an important element of a healthy democracy.<br />

If community is vital to democracy then how do we understand the homeless; are the<br />

homeless a part of the community? Do they see themselves as a part of the community?<br />

For example, would they share the same concerns as the rest of the community,<br />

i.e., the quality of public schools and public libraries? Or are they simply vagabonds<br />

and transients?<br />

Perhaps society has ostracized the homeless from the community. Perhaps, some<br />

are homeless because their previous community abandoned them. It is easy to apply<br />

Michel Foucault's idea of the insane to homeless, especially after the 1980's when<br />

many people with mental disabilities left the hospit<strong>als</strong> and went into the streets after<br />

the Reagan administration reduced government assistance to hospit<strong>als</strong>. Foucault<br />

argues that in the late Middle Ages, „madness“ or „unreason“ was readily accepted as<br />

a sacred or forbidden type of knowledge. With such a status the insane remained as<br />

a part of the community, different from most parts of the community but still a part<br />

20 Jefferson, Thomas: The Portable Jefferson. New York 1977. p. 217.<br />

21 Ibid, p. 397.<br />

28 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

of the community nonetheless. He states, „… madness was present everywhere and<br />

mingled with every experience by its image or dangers“. 22 Perhaps, Don Quixote best<br />

represents how the insane was accepted as part of the community. Foucault discusses<br />

how the insane were placed in hospit<strong>als</strong>, which essentially took them out of the community.<br />

Perhaps homeless shelters unintentionally or intentionally serve the same<br />

purpose, to get people off streets and out of the view of the public. One might question<br />

why was the homeless shelter for New York City placed in Orange County? Was it<br />

to hide the homeless? Michael Harrington, in his book „The Other American“, makes<br />

a similar argument. The poor and the homeless have been made invisible. The poor<br />

have their community (the ghettos) out of sight of the middleclass communities, the<br />

suburbs. The homeless are further ostracized from the poor communities through<br />

vagrancy laws (anti-homeless laws). For example, most communities prohibit one<br />

from sleeping in a park or a library.<br />

The requirement of community membership in order to vote is a dangerous requirement.<br />

Certainly, such a requirement can be used to not only disenfranchise the<br />

homeless, but <strong>als</strong>o to disenfranchise crimin<strong>als</strong> and foreigners. Robert Putnam argues<br />

that there has been a decline in community (civil society). 23 More and more, people<br />

do not know their neighbors, attend church, engage in civil associations, and build<br />

social networks. Instead, people are becoming reclusive. Should these people (noncommunity<br />

members) be disenfranchised? Those living aboard are not a part of the<br />

community in which they vote. Should they be disenfranchised? No. People who<br />

move from one city to another are less likely to immediately establish social networks.<br />

24 Research has suggested that mobility reduces political participation. 25 No<br />

state has a residency requirement of more than thirty-one days, and three states have<br />

a minimum residency requirement of only one day. 26 Should this residency requirement<br />

be changed to a year or two so that a person can establish a sense of community?<br />

Probably not. Given that „one-third of the nation [America] moves every two<br />

22 Foucault, Michel: Madness and Civilization. New York 1965. p. 70.<br />

23 Putnam, Robert: Bowling Alone. In: Journal of Democracy 6.1 (1995) pp. 65–78; Putnam,<br />

Robert: Bowling Alone. New York 2000.<br />

24 Brians, Craig Leonard: Residential Mobility, Voter Registration, and Electoral Participation<br />

in Canada. In: Political Research Quarterly 50.1 (1997). pp. 215–227.<br />

25 Verba, Sidney, and Norman H. Nie: Participation in America: Political Democracy and<br />

Social Equality. Chicago 1972; Glass, David, Peverill Squire, and Raymond Wolfinger:<br />

Voter Turnout: An International Comparison. In: Public Opinion December/January<br />

(1984). pp. 49–55; Wolfinger, Raymond E., and Stephan J. Rosenstone: Who Votes?<br />

New Haven 1980; Squire, Peveerill, Raymond E. Wolfinger, and David P. Glass: Residential<br />

Mobility and Voter Turnout. In: American Political Science Review 81 (1987). pp.<br />

45–65.<br />

26 Rosentone, Steven J., and Raymond E. Wolfinger: The Effect of Registration Laws on<br />

Voter Turnout. In: The American Political Science Review 72 (1978). pp. 22–45.<br />

Dis | kurs 29


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

years“ 27 such a policy would disenfranchise a large group of citizens. Finally, one<br />

might argue, as we have already, even if all the homeless could vote, they would not.<br />

We have already discussed how the relation between social-economic status and the<br />

likelihood of voting suggests that the homeless most likely would not vote. Again, we<br />

can apply the arguments against the enfranchisement of the homeless to the general<br />

population. If one's likelihood of voting determined their right to vote, most Americans<br />

would be prohibited from voting in local elections, however, such a prohibition<br />

would not be tolerated by most of the non-voters of local elections.<br />

Perhaps the general public is the best force to enact change. If people are made aware<br />

of the disenfranchisement of the homeless, informed of the arguments in support<br />

for such policy and given the refutations of the arguments against this policy, they<br />

might become more supportive. What is essential is that they learn how little effort<br />

it would take to enfranchise the homeless (i.e., a loose definition of residency). The<br />

force of the people certainly would motivate legislators to act. Perhaps it's a matter<br />

of making people aware of the problem. Certainly, Michael Harrington's book, „The<br />

Other America“, revealed the plight of the poor in America to the general public, thereby<br />

leading to political action, namely, the „Great Society.“ We must first consider<br />

the different policies which enfranchisement can be achieved.<br />

III. Representation, Self-gerrymandering, and Possible<br />

solutions<br />

A Question of Proper Representation<br />

The structure of representation in the United States leads to some debate regarding<br />

the homeless. Who should represent them? This was the debate in the Pitts v. Black<br />

case. Mr. Cortight, a member on the Board of Elections for Orange County NY, stated,<br />

„We're not denying them [the homeless] the vote. The question is where they<br />

should vote.“ The 240 homeless housed in Camp La Guardia, a rehabilitation center<br />

for „the unfortunate of New York City,“ wanted to vote in the Orange County district.<br />

The Board of Elections explained that they should vote in New York City since the<br />

center was housing for New York City and not for Orange County. Essentially, the<br />

structure of the federal government system of representation leads to such disputes.<br />

That is, the single member district leads to representation that requires defined constituencies<br />

and stresses local districts. 28<br />

Many political scientists claim that American politics is local politics. 29 Members<br />

27 Squire, Wolfinger, Glass: Residential Mobility and Voter Turnout. p. 45<br />

28 See Duverger's Law, cf. Duverger, M.: Political Parties. London 1959.<br />

29 Fenno, Richard F.: Home Style: House Members in Their Districts. Boston 1978; Tag-<br />

30 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

of Congress tend to represent their district more than they represent their party. A<br />

member would often cross party lines if he/she has a chance to provide his/her district<br />

with benefits (often called pork-barrel). Parties in many European countries are<br />

more powerful than the constituents of a district or ward. A party, with its power,<br />

might make homelessness one of their major concerns. In the United States, even if<br />

a party champions the eradication of homelessness, they cannot succeed if particular<br />

districts do not champion the same cause. That is, it is political suicide for a politician<br />

to support the party without support of his/her constituents.<br />

The structure of representation influences policy in a second way. To properly represent<br />

their constituents, members of Congress must know who their constituents are.<br />

Who is in their district? Residents. One who is not a resident but lives in the district,<br />

is not treated (legally) as a constituent but as just someone passing by (a transient),<br />

and therefore cannot vote.<br />

Self-gerrymandering<br />

Imagine that one could register without a residence. 30 What might take place is that<br />

voters would change their district if they knew they had a better chance of making a<br />

difference in another district. For example, suppose that 80% of district A and 49%<br />

of district B (where both districts are of the same population) are Republicans. What<br />

prevents 10% of the Republicans in district A from reregistering in district B, allowing<br />

both districts to have a Republican majority? This is gerrymandering from<br />

below or self-gerrymandering – by individu<strong>als</strong>, and not from above – by the state.<br />

One might argue that if the dominant party of each state can redraw their district<br />

lines to benefit their parties, why cannot individu<strong>als</strong> choose the district in which they<br />

want to be a member? The answer is simple, reconstituting membership in a district<br />

not only affects the power of parties, but <strong>als</strong>o can affect the power among racial and<br />

religious groups. Certainly, it is illegal for a state to reconstitute (or redraw) a district<br />

based on race or religion. A violation of this law by a state party can be easily detected<br />

by the department of justice. How can the violation of this law by individu<strong>als</strong> be<br />

detected? How can we understand the intention of an individual who changing from<br />

district to another? Furthermore, unlike the gerrymandering from above, gerrymandering<br />

from below or self-gerrymandering, unless restricted, would occur constantly<br />

gart, William A., and Robert F. Durant: Home Style of A U.S. Senator: A Longitudinal<br />

Analysis. In: Legislative Studies Quarterly 10 (1985); Denzu, Authur, William Riker, and<br />

Kenneth Shepsle: Farquharson and Fenno: Sophisticated Voting and Home Style. In:<br />

American Political Science Review 79 (1985).<br />

30 Here, if the homeless need not be a resident to register to vote in a district then the nonhomeless<br />

should <strong>als</strong>o have the right to register without designating the district in which<br />

their home lies as their political district.<br />

Dis | kurs 31


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

(as opposed to every ten years). Here, we see that the resident requirement is a consequence<br />

of practical reasons and not of normative reasons.<br />

Possible Solutions<br />

Two sets of solutions exist, change policy at the state level (the less extreme solution)<br />

and change the national institutions (which is more difficult to accomplish and will<br />

have many consequences). Let us consider these solutions and their ramifications.<br />

Some states have already changed policies by following the Federal Court's decision<br />

that states should have a loose interpretation of what constitutes residency. New<br />

York allows the homeless to list a homeless shelter as a place of residency. In San<br />

Diego, CA three men registered to vote listing a public park as the address of their<br />

residence. The election board rejected their application because it was illegal to squat<br />

in the park. The three men protested and in 1994 the Federal Court sided with the<br />

three men in Collier v. Manzel. Other states allow the homeless to list a friend's or<br />

relative's address as a place of residency. These solutions encounter the problems of<br />

self-gerrymandering.<br />

A second solution is to replace the Electoral College system with the popular vote<br />

system. Much has been written supporting and opposing the Electoral College. 31<br />

These arguments are beyond the scope of this paper. Such change, if accompanied by<br />

a national registration instead of state and district registration, will eliminate much<br />

of the legal difficulties that hinder the homeless from voting. The question of whether<br />

the homeless is part of the community is resolved. The homeless might not be seen<br />

as a member of a local community, but as long as they remain within the borders of<br />

the United States they are a part of the national community and therefore have the<br />

right to vote. Questions of self-gerrymandering and proper representation disappear.<br />

Despite offering the homeless representation in the executive branch, this solution<br />

does not provide representation in the legislative branch.<br />

Another alternative is to change the national institution by creating a district-at-large<br />

(and perhaps a state-at-large). Such a change will allow the homeless to register in<br />

a district where non-residency (and not residency) is required. A district-at-large<br />

might <strong>als</strong>o include those who are mobile, perhaps even citizens living abroad. Taylor<br />

E. Dark III notes that many states ignore overseas voters. 32 This district will offer<br />

more than representation in government, but will <strong>als</strong>o allow the homeless to receive<br />

31 For example, Polsby and Wildavsky´s (1984) study on the effects on the one party states<br />

(mainly in the South); Yunkers´s (1963) consideration of demographics; and Smith and<br />

Squires´ (1987) concern of varying turnout rates in different states.<br />

32 Dark III, Taylor E.: Americans Abroad: The Challenge of a Globalized Electorate. In: PS:<br />

Political Science and Politics 36 (2003). pp. 733–740.<br />

32 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

(case work) services. For example, under the present system, if one has problems<br />

with the social security agency, he can seek help from his representative. However, if<br />

he is homeless, and is not legally a constituent of a representative, he may not receive<br />

the help that he is seeking. This would not be the case if a district-at-large existed.<br />

How might elections take place? On Election Day, each voting site will have districtat-large<br />

ballots that the homeless can cast; or perhaps the constituents of this district<br />

could vote on line. Such a district, however, may invite election fraud and so must be<br />

carefully monitored.<br />

There are several opposing arguments to the district-at-large; some based on principle<br />

and others based on practice. First, a district-at-large counters the American<br />

tradition of federalism, that the states have the right to determine election laws. The<br />

district-at-large would certainly be under the auspices of the federal government.<br />

Such a district, however, does not take any powers from individual states, other than<br />

those powers the states have implicitly surrendered to the Federal government by disenfranchising<br />

the homeless. Certainly, a homeless person who can claim the homeless<br />

shelter as his/her resident will be prohibited from registering in the district-atlarge.<br />

Second, one might argue that a district should not be constituted according to<br />

a particular characteristic (i.e., race, religion, party) of its constituency. Although, it<br />

is common practice for states to redraw district lines each decade to favor one party<br />

or another, district lines cannot exclusively be based on party but must consider<br />

geographic lines. That is, a district must be continuous. A district-at-large, however,<br />

will have non-continuous lines. We can refute both these arguments. First, a districtat-large<br />

is based on a geographic space and not other characteristics; namely, any<br />

space that has not been claimed by another district falls in the domain of the district<br />

at large. Second, the district-at-large does not have non-continuous lines because it<br />

has no lines.<br />

A district-at-large presents several practical problems. First, how does a candidate<br />

campaign for the position? Information will be difficult to communicate to the voters.<br />

This might open the door to anyone who cannot successfully run in his/her own<br />

district to run for the district-at-large (which may or may not present a problem). A<br />

second and more serious problem regards a disincentive for good work. Normally, a<br />

representative promotes policies that will help his/her constituents (pork-barreling)<br />

in hopes that he/she will be rewarded in the next election. This, however, would not<br />

be the case in a district-at-large. Perhaps the most important policy a representative<br />

of the homeless can offer is the reduction of homelessness. However, if the representative<br />

is strategic, he/she will realize that those he/she helps out of homelessness will<br />

no longer be in the district-at-large and will be unable to reward the representative<br />

with votes. Thus, there is an incentive to focus on less important policies, like antiharassment<br />

laws instead of finding the homeless employment or low cost housing.<br />

Dis | kurs 33


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Conclusion<br />

We have not fully explored the consequences of any of the changes discussed. The<br />

consequences could greatly change political outcomes. The question that must be<br />

answered is do we want to secure the voting rights of the homeless if all studies indicate<br />

that they are unlikely to exercise their rights and especially if the consequences<br />

affecting the political system are unknown? Essentially, we must balance the normative<br />

arguments with the practical arguments. What must be done, however, is to<br />

consider seriously the voting rights of the homeless. Such a consideration has been<br />

absent from political discussions and academic studies.<br />

Bibliography<br />

Aristotle, Politics. Trans. C.D.C. Reeve. Indianapolis: Hackett, 1998.<br />

Beard, Charles. An Economic Interpretation of the Constitution of the United States. New<br />

York: Free Press, 1952 (1986).<br />

Bennett, Stephen E. „Left Behind: Exploring Declining Turnout among Noncollege Young<br />

Whites, 1964–188.“ Social Science Quarterly 72 (1991): 314–33.<br />

Brians, Craig Leonard. „Residential Mobility, Voter Registration, and Electoral Participation<br />

in Canada.” Political Research Quarterly 50.1 (1997): 215–227.<br />

Burnham, Walter Dean. The Current Crisis in American Politics. New York: Oxford University<br />

Press, 1982.<br />

Cassel, Carol A., and David B. Hill. „Explanations of Turnout Decline: A Multivariate Test.“<br />

American Politics Quarterly 9 (1981): 191–95.<br />

Citrin, Jack, Eric Schickler, and John Sides. „What if Everyone Voted? Simulating the<br />

Impact of Increased Turnout in Senate Elections.“ American Journal of Political Science 47.1<br />

(2003): 75–90.<br />

Cohen, Marcia B., and David Wagner. „Acting on Their Own Behalf: Affiliation and Political<br />

Mobilization among Homeless People.“ Journal of Sociology & Social Welfare 19 (1992):<br />

21–39.<br />

Converse, Philip E. „The Nature of Belief Systems in Mass Publics.” In Ideology and Discontent.<br />

Ed. David Apter. New York: Free Press, 1964.<br />

Conway, M. Margaret. „Political Participation in Midterm Congressional Elections: Attitudinal<br />

and Social Characteristics during the 1970's.“ American Politics Quarterly 9 (1981):<br />

221–44.<br />

Dark III, Taylor E. „Americans Abroad: The Challenge of a Globalized Electorate.“ PS: Political<br />

Science and Politics 36 (2003): 733–740.<br />

Denzu, Authur, William Riker, and Kenneth Shepsle. „Farquharson and Fenno: Sophisticated<br />

Voting and Home Style.“ American Political Science Review 79 (1985).<br />

Duverger, M. Political Parties. Methuen, London, 1959.<br />

Fenno, Richard F. Home Style: House Members in Their Districts. Boston: Little<br />

Brown, 1978.<br />

Foucault, Michel. Madness and Civilization. Trans. R. Howard. New York: Pantheon 1965.<br />

Glass, David, Peverill Squire, and Raymond Wolfinger. „Voter Turnout: An International<br />

Comparison.“ Public Opinion December/January (1984): 49–55.<br />

Harrington, Michael. The Other America. New York: The Macmillan Company, 1963.<br />

34 Dis | kurs


Politische Theorie<br />

Jefferson, Thomas. The Portable Jefferson. Ed. Merrill D. Peterson, Penguin, 1977.<br />

Leighley, Jan E., and Johnathan Nagler. „Individual and Systematic Influences on Turnout:<br />

Who Votes? 1984.“ Journal of Politics 54 (1992): 718–40.<br />

Machiavelli, Niccolo. The Prince. Trans. Harvey C. Mansfield. Chicago: University of Chicago<br />

Press, 1985.<br />

Mayhew, David R. Congress: The Electoral Connection. New Haven: Yale University<br />

Press, 1974.<br />

Mitchell, Glenn E., and Christopher Wlezien. „The Impact of Legal Constraints on Voter<br />

Registration, Turnout, and the Composition of the American Electorate.” Political Behavior<br />

1.2 (1995): 179–202.<br />

Putnam, Robert D. Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy. Princeton:<br />

University Press, 1993.<br />

Putnam, Robert D. „Bowling Alone.“ Journal of Democracy 6.1 (1995): 65–78.<br />

Putnam, Robert D. Bowling Alone. New York: Simon & Schuster, 2000.<br />

Reiter, Howard L. „Why Is Turnout Down?“ Public Opinion Quarterly 43 (1979): 297–311.<br />

Rosenstone, Steven J. and John Mark Hansen. Mobilization, Participation, and Democracy<br />

in America. New York: The Macmillan Company, 1993.<br />

Rosentone, Steven J., and Raymond E. Wolfinger. „The Effect of Registration Laws on Voter<br />

Turnout.“ The American Political Science Review 72 (1978): 22–45.<br />

Sabato, Larry. The Party's Just Begun. Glenview: Scott Foresman, 1988.<br />

Smith, Eric. R.A.N. The Unchanging American Voter. Berkeley: University of California<br />

Press, 1989.<br />

Sniderman, Paul, Richard Brody, and Philip Tetlock. Reasoning and Choice. Cambridge:<br />

Cambridge University Press, 1991.<br />

Squire, Peveerill, Raymond E. Wolfinger, and David P. Glass. „Residential Mobility and<br />

Voter Turnout.” American Political Science Review 81 (1987): 45–65.<br />

Taggart, William A., and Robert F. Durant. „Home Style of A U.S. Senator: A Longitudinal<br />

Analysis.” Legislative Studies Quarterly 10 (1985).<br />

Teixeira, Ruy A. Why Americans Don't Vote: Turnout Decline in the United States, 1960–<br />

1984. New York: Greenwood, 1987.<br />

Tocqueville, Alexis de. Democracy in America. Trans. George Lawrence, New York: Anchor<br />

Books, 1969.<br />

Verba, Sidney, and Norman H. Nie. Participation in America: Political Democracy and Social<br />

Equality. Chicago: University of Chicago Press, 1972.<br />

Wagner, David. Checkerboard Square: Culture and Resistance in a Homeless Community.<br />

Boulder, CO: Westview Press, 1993.<br />

Wattenberg, Martin P. The Decline of American Political Parties: 1952–1994. Cambridge:<br />

Harvard University Press, 1996.<br />

Williams, Jean Calterone. The Politics of Homelessness: Shelter Now and Political Protest.”<br />

Political Research Quarterly 58.3 (2005): 497–509.<br />

Wolfinger, Raymond E., and Stephan J. Rosenstone. Who Votes? New Haven: Yale University<br />

Press, 1980<br />

Zaller, John R. The Nature and Origins of Mass Opinion. New York: Cambridge University<br />

Press, 1992.<br />

Dis | kurs 35


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Innenpolitik<br />

Das ‚neue Aids’.<br />

Veränderungen der journalistischen Darstellung von<br />

HIV und Aids in der HAART-Ära<br />

Matti Seithe<br />

Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />

E-Mail: mattiseithe@gmx.de<br />

Schlüsselwörter<br />

HIV/Aids, Inhaltsanalyse, Journalismus, Siegessäule, HAART, MSM<br />

1. Einleitung<br />

Seit den panischen Anfangsjahren der HIV- und Aids-Epidemie hat sich vieles verändert.<br />

Zu einem entscheidenden pharmazeutischen Fortschritt im Kampf gegen die<br />

Immunschwächekrankheit kam es im Juli 1996. Mit der Hoch Aktiven Anti-Retroviralen<br />

Therapie, kurz HAART, konnte die Lebenserwartung von HIV-positiven<br />

Menschen erstm<strong>als</strong> deutlich verlängert werden.<br />

Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Martin Dannecker spricht für die Zeit nach<br />

der HAART-Einführung vom ‚neuen Aids‘, das sich vom ‚alten Aids‘ grundsätzlich<br />

unterscheide: „Das alte Aids war eines, das konstruiert war <strong>als</strong> etwas, bei dem kein<br />

Unterschied zwischen HIV-Infektion und Aids gemacht werden konnte: Eine Ansteckung<br />

mit dem Virus war fast identisch mit raschem Sterben.“ Die HIV-Infektion sei<br />

seit 1996 „(e)ine schwere chronische Krankheit, so wie es andere gibt, Zucker zum Beispiel.<br />

Wer an dieser Krankheit leidet, ist auch schweren Einschränkungen unterworfen<br />

– nicht mehr, nicht weniger.“ 1<br />

1 Feddersen, Jan: Die Sexualität hat sich aus dem Schatten von Aids befreit. Interview mit<br />

Prof. Dr. Martin Dannecker. In: die tageszeitung. 30.11.2005. S. 13.<br />

36 Dis | kurs


Innenpolitik<br />

In Deutschland wird seit den 1980er Jahren auf Präventionskampagnen gesetzt,<br />

die kurzfristig allgemeine Aufmerksamkeit für das Thema HIV und Aids erzeugen<br />

sollen und mittelfristig Verhaltensänderungen zum Ziel haben. 2 Im Gegensatz zu<br />

diesem Feld öffentlicher Kommunikation ist die Rolle des Journalismus im Zusammenhang<br />

mit Prävention bisher in der Kommunikationswissenschaft nur am Rande<br />

untersucht worden. Der Begriff ‚Aufklärung‘ im Sinne von Prävention geht davon<br />

aus, dass die Informiertheit des Menschen eine der wichtigsten Voraussetzungen<br />

für Verhaltensänderungen ist. Demnach sind jegliche Informationsquellen, auch die<br />

journalistische Berichterstattung, zu untersuchen.<br />

Der hier vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die journalistische Darstellung im<br />

Brennpunkt der Infektion in Deutschland, der in der Risikogruppe ‚Männer, die Sex<br />

mit Männern haben‘ (MSM) sowie den Ballungsräumen zu finden ist. So genannte<br />

‚Schwulenzeitungen‘, die in Metropolen wie Berlin, Hamburg, Köln etc. publiziert<br />

werden, genügen diesem Anspruch. Sie stellen zudem die Hauptinformationsquelle<br />

zum Thema HIV und Aids für schwule und bisexuelle Männer dar. 3<br />

2. Epidemiologische Entwicklungen<br />

Starken Rückgängen der registrierten Aids-Fälle zwischen 1995 und 1997 folgt von<br />

1998 bis 2002 eine weitere, aber weitaus leichtere Abnahme. Darauf verbleibt die<br />

Aids-Inzidenz 4 bis 2004 auf etwa gleichem Niveau (von knapp 700 Fällen pro Jahr)<br />

und fällt in 2005 und 2006 erneut leicht (vgl. Abb. 1). Diese Entwicklung ist vor allem<br />

auf MSM zurückzuführen.<br />

Die HIV-Inzidenz entwickelt sich spätestens seit 2001 gegenläufig (vgl. Abb. 2). Stetigen<br />

Rückgängen bis zum Jahr 2001 folgen seit 2002 abrupte Anstiege. Spätestens im<br />

Jahr 2006 liegt die Zahl der jährlich verzeichneten HIV-Neuinfektionen bei mehr <strong>als</strong><br />

2.500 und damit über dem Niveau der ersten qualifizierten Messung im Jahr 1993.<br />

Gegenüber dem Tiefststand im Jahr 2001 hat sie um rund zwei Drittel zugenommen.<br />

Unter MSM ist die Zunahme der registrierten HIV-Inzidenz am stärksten ausgeprägt.<br />

Hier verdoppelt sich in etwa die Anzahl von 2001 bis 2006. Die regionale Verteilung<br />

2 Vgl. Pott, Elisabeth: AIDS-Prävention in Deutschland. Bonn, 2006. S. 32 f.<br />

3 62 % gaben im Jahr 2003 in einer Befragung von schwulen und bisexuellen Männern an,<br />

sich aus solchen Presseerzeugnissen zu informieren. Nur 43 % informierten sich z. B.<br />

aus Materialien der Aids-Hilfen. Vgl. Bochow, Michael et al.: Schwule Männer und Aids.<br />

Berlin, 2004. S. 76.<br />

4 Inzidenz meint die Neudiagnosen einer Krankheit während eines bestimmten Zeitraums,<br />

meist ein Jahr. Vgl.: Weinreich, Sonja; Benn, Christoph: AIDS. Eine Krankheit verändert<br />

die Welt. Frankfurt/Main, 2005. S. 19.<br />

Dis | kurs 37


ptinformationsquelle Abbildung 1: Aids zum in Thema Deutschland HIV und von Abbildung<br />

Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

ner dar. 3 1982 bis 2006 5<br />

Aids-Fälle zwischen 1995 und 1997 folgt<br />

aber weitaus leichtere Abnahme. Darauf<br />

auf etwa gleichem Niveau (von knapp 700<br />

d 2006 erneut leicht (vgl. Abb. 1). Diese<br />

urückzuführen.<br />

on Abbildung 2: HIV in Deutschland von<br />

Abbildung 1: Aids in Deutschland von 1982 bis 2006<br />

1993 bis I/2007 6<br />

5<br />

Die HIV-Inzidenz entwickelt sich spätestens seit 2001<br />

Stetigen Rückgängen bis zum Jahr 2001 folgen sei<br />

Spätestens im Jahr 2006 liegt die Zahl der jähr<br />

Neuinfektionen bei mehr <strong>als</strong> 2.500 und damit über<br />

qualifizierten Messung im Jahr 1993. Gegenüber dem<br />

hat sie um rund zwei Drittel zugenommen. Unter M<br />

registrierten HIV-Inzidenz am stärksten ausgeprägt. H<br />

die Anzahl von 2001 bis 2006. Die regionale Vertei<br />

von den Großstädten Berlin, Frankfurt/Main, Hambu<br />

Abbildung München 2: HIV dominiert. Deutschland von Über 1993 bis I/2007 die Hälfte aller Deutschen,<br />

6<br />

5 6<br />

testens<br />

leben<br />

wird seit in Deutschland 2001<br />

hier.<br />

gegenläufig<br />

Gleiches gilt<br />

von den Großstädten (vgl.<br />

für die<br />

Berlin, Abb.<br />

Inzidenz<br />

Frankfurt/Main, 2).<br />

von HIV. Ge<br />

Hamburg, Düsseldorf,<br />

2006 Köln die und höchste München dominiert. Inzidenzrate Über die Hälfte aller Deutschen, Bundesländer die an Aids<br />

2001 folgen seit 2002 abrupte Anstiege.<br />

mit 1<br />

erkrankt sind, leben hier. Gleiches gilt für die Inzidenz von HIV. Gesamt-Berlin hatte<br />

Zahl im Jahr der 2006 jährlich die höchste Inzidenzrate verzeichneten aller Bundesländer HIVund<br />

damit über dem Niveau der<br />

mit 11,46 HIV-Infektionen<br />

ersten<br />

3 62 % gaben im Jahr 2003 in einer Befragung von schwulen und bisexu<br />

Presseerzeugnissen zu informieren. Nur 43 % informierten sich z.B. aus<br />

Bochow, Michael et al.: Schwule Männer und Aids. Berlin, 2004. S. 76.<br />

4 Inzidenz meint die Neudiagnosen einer Krankheit während eines bestimmt<br />

Weinreich, Sonja; Benn, Christoph: AIDS. Eine Krankheit verändert die W<br />

5 Quelle: Robert Koch Institut: HIV/AIDS-Folien. Berlin, 2007. S. 6.<br />

. Gegenüber 5 1 Quelle: Robert dem Koch Tiefststand Institut: HIV/AIDS-Folien. im Jahr Berlin, 2007. 2001 S. 6.<br />

mmen. Unter MSM ist die Zunahme der<br />

6 2 Quelle: Ebd.: 18. (Für 2007 sind nur die Zahlen des ersten Halbjahres ausgewiesen.)<br />

en ausgeprägt. 38 Dis | kurs Hier verdoppelt sich in etwa


Innenpolitik<br />

pro 100.000 Einwohner und Jahr. 7 Weltweit sind nach Schätzungen von UNAIDS<br />

und WHO aktuell ca. 33 Mio. Menschen mit HIV infiziert, wobei davon im Jahr 2007<br />

etwa 2,5 Mio. neue HIV-Infektionen hinzukamen. 2007 starben bedingt durch HIV<br />

und Aids rund 2,1 Mio. Menschen. 8 Die am stärksten betroffene Region der Erde<br />

ist Afrika südlich der Sahara. Hier leben über 50 % aller HIV-positiven Menschen<br />

weltweit. Die nicht ausreichende Verfügbarkeit der HAART ist ein Hauptgrund für<br />

die hohe Sterblichkeit weltweit. 9<br />

3. Hypothesen<br />

Grundsätzliche Vermutung dieses Beitrages ist, dass sich die Veränderungen in Medizin,<br />

Epidemiologie und Pharmazie auch im Ergebnis journalistischer Selektionsund<br />

Produktionsprozesse, dem Medieninhalt niederschlägt. Nach Vorwürfen, die<br />

Dramatisierung der Berichterstattung in den 1980er Jahren hätte Präventionsbemühungen<br />

entgegengewirkt 10 , soll hier nun, angesichts der medizinischen Fortschritte,<br />

die Frage nach dem gegenteiligen Extrem gestellt werden: Wie harmlos werden HIV<br />

und Aids dargestellt? Der Begriff Harmlosigkeit betrifft die Gefahren und Folgen,<br />

aber auch die Kontexte der Immunschwächekrankheit. Folgende fünf darauf aufbauende<br />

Vermutungen sollen nachfolgend untersucht werden.<br />

H1: Die HIV-Infektion wird nach Einführung der HAART häufiger in den Kontext<br />

der Behandelbarkeit gestellt <strong>als</strong> zuvor. Damit wird ein chronischer, nicht tödlicher<br />

Verlauf impliziert, wie z. B. bei Diabetes.<br />

Dieser Kontext bezieht sich auf das ‚neue Aids‘ und betont das Leben mit der HIV-<br />

Infektion. Problem ist nicht mehr die Krankheit <strong>als</strong> solche, die zum Tod führt, sondern<br />

die durch die HAART verursachten Nebenwirkungen. Ihre Lösung wird dabei<br />

nicht oder <strong>als</strong> machbar durch medizinische Forschung beschrieben. HIV und Aids<br />

werden insgesamt ausgewogen bewertet. Der oppositionelle Kontext dazu ist der<br />

des ‚alten Aids‘. Hier steht das Sterben an der Krankheit im Mittelpunkt, welches<br />

<strong>als</strong> grundsätzlich nicht aufhaltbar beschrieben wird. HIV und Aids werden mit diesem<br />

Kontext generell negativ bewertet. (vgl. Kap. 1). Im Zusammenhang mit HIV<br />

und Aids soll außerdem die Darstellung der Risiken einer HIV-Infektion sowie der<br />

HAART-Behandlung untersucht werden. Dabei soll nach der Risikodefinition von<br />

7 Vgl. Marcus, Ulrich; Starker, Anne: HIV und Aids. Berlin, 2006. S. 19. Vgl. RKI: Epidemiologisches<br />

Bulletin. Sonderausgabe A, 29.05.2007. S. 10 f.<br />

8 Vgl. Robert Koch Institut: Epidemiologisches Bulletin. Nr. 47/2007, 23.11.2007. S. 430.<br />

9 Vgl. Weinreich/Benn 2005: 20–23. Vgl. Kamps, Bernd Sebastian: Einleitung. Wuppertal-Beyenburg,<br />

2007. S. 40.<br />

10 Vgl. Kitzinger, Jenny: The role of the mass media in the prevention of AIDS. Berlin,<br />

1995. S. 110. Vgl. Schmidt, Hans-Jürgen: Mediale Deutungsmuster von AIDS. Duisburg/<br />

Essen, 2005. S. 111.<br />

Dis | kurs 39


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Michael Schanne 11 keine mathematische Risikoberechnung zu Grunde werden. Sondern<br />

subjektive Kategorien der Risiko-Wahrnehmung werden auf ihre Ausprägungen<br />

im Medieninhalt untersucht (vgl. Kap. 5).<br />

H2: Beide Risiken werden abnehmend hoch dargestellt werden. 12<br />

Gleichzeitig nimmt auch der Informationsgehalt der einzelnen Artikel bezüglich<br />

HIV und Aids ab. ‚Informationen‘ werden dabei nicht <strong>als</strong> konkrete Handlungsanweisungen<br />

verstanden, sondern <strong>als</strong> Aussagen im Text, die individuelle Handlungen<br />

ermöglichen, in dem sie Optionen aufzeigen oder zusätzlich auf die verschiedenen<br />

Konsequenzen dieser Optionen eingehen.<br />

H3: Der Informationsgehalt zu ‚Prävention und Ansteckungswegen‘, ‚psychischen,<br />

sozialen, finanziellen und medizinischen Hilfsmöglichkeiten‘ sowie zu<br />

‚Möglichkeiten Geld zu spenden oder sich ehrenamtlich zu engagieren‘ sinkt.<br />

Aufgrund der zahlreichen Verbesserungen der HAART seit 1996 wird zudem vermutet:<br />

H4: Nach Einführung der HAART überwiegt die Darstellung von positiven Emotionen.<br />

Die Kehrseite verbesserter individueller Behandlungsmöglichkeiten kann eine abnehmende<br />

kollektive Bearbeitung von HIV und Aids darstellen. Ein Indikator dafür<br />

ist die abnehmende öffentliche Finanzierung von gesellschaftlichen Gruppen und<br />

entsprechenden Präventionsmaßnahmen. 13 Diese Entwicklungen, so wird vermutet,<br />

korrelieren mit der medialen Agenda.<br />

H5: Nicht-Staatliche Hilfs- und Selbsthilfe-Maßnahmen sowie Folgen der Infektion<br />

werden seltener thematisiert.<br />

4. Untersuchungsdesign<br />

Untersucht werden alle Artikel aus der Zeitschrift „Siegessäule“, die zwischen 1995<br />

und 2006 erschienen sind und in denen HIV und Aids erwähnt werden. Somit<br />

schließt die Grundgesamtheit Artikel aus 18 Monaten ein, welche vor der Einführung<br />

der HAART im Sommer 1996 liegen. Zur Zielgruppe der Zeitschrift gehören<br />

seit ihrer Gründung homo- und bisexuelle Männer. Ihre Auflagenzahl verdoppelte<br />

sich im Untersuchungszeitraum knapp von 25.000 im Jahr 1995 auf 48.700 in 2006. 14<br />

11 Vgl. Schanne, Michael: Risiko, Kommunikation, ‚Risiko-Kommunikation‘. Zürich, 1996.<br />

S. 21.<br />

12 Die Höhe der Risiken wird nach einem Risikofaktor berechnet, der auf Kategorien der<br />

Risikowahrnehmung nach Ruhrmann 1992 (vgl. Kap. 5) berechnet wird.<br />

13 Vgl. Wießner, Peter: AIDS <strong>als</strong> moderner Mythos. Berlin, 2003. S. 64 f.<br />

14 Vgl. Stamm-Verlag: Stamm 1995–2006. Essen, 1995–2006, je Band 2.<br />

40 Dis | kurs


Innenpolitik<br />

Die Zeitschrift wird kostenlos in Berlin vertrieben.<br />

Für eine Langzeitstudie bietet sich die empirische Methode der standardisierten<br />

Inhaltsanalyse nach Früh an. Sie ist „(…) eine Methode zur systematischen, intersubjektiv<br />

nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von<br />

Mitteilungen (…).“ 15 Mit dieser Methode ist es nicht möglich, das Untersuchungsmaterial<br />

reaktiv zu beeinflussen. Insgesamt sind inhaltsanalytische Untersuchungen<br />

beliebig wiederholbar. Die Inhaltsanalyse ist zudem zeitlich und finanziell sparsamer<br />

<strong>als</strong> die Methoden Befragung oder Beobachtung. 16 Auf Grundlage der Hypothesen<br />

wurden die entsprechenden Variablen operationalisiert. Die zugewiesenen messbaren<br />

Indikatoren bilden das Untersuchungsinstrument, das Codebuch, anhand dessen<br />

jedem Artikel für jede Variable ein Code (Indikator) zugewiesen wird. Erhoben<br />

wurden insgesamt 513 Artikel aus insgesamt 140 Ausgaben der Zeitschrift. 17 In der<br />

Hauptuntersuchung wurde davon aus forschungsökonomischen Gründen jeder vierte<br />

Artikel kodiert, so dass die Stichprobe insgesamt 128 Artikel enthielt.<br />

80%<br />

Abbildung 3: Relative Häufigkeit der Kontexte von HIV und Aids (n=<br />

Kontext 'Leben'<br />

60%<br />

Kontext 'Tod'<br />

40%<br />

Kein / Anderer Konte<br />

20%<br />

0%<br />

Rapider Rückgang Leichte Abnahme Stagnation auf niedrigem Niveau Weitere leichte Abnahme<br />

Zeiträume der Aids-Inzide<br />

Abbildung 3: Relative Häufigkeit der Kontexte von HIV und Aids (n=128)<br />

15 Früh, Werner: Inhaltsanalyse. Konstanz, 2004. S. 25.<br />

16 Vgl. Früh 2004: 39. Vgl. Schnell, Rainer et al.: Methoden der empirischen Sozialforschung.<br />

München, 2005. S. 407 f.<br />

17 Für 1995 und 1998 fehlen insgesamt vier Ausgaben. Gründe sind Nicht-Publikation<br />

sowie Nicht-Archivierung.<br />

Dis | kurs 41


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

5. Ergebnisse<br />

Der Bedeutungshorizont ‚behandelbare, chronische, nicht-tödliche Krankheit‘ nimmt<br />

mit Einführung der HAART zunächst stark zu, um gegen Ende des Untersuchungszeitraums<br />

wieder seltener zu werden. Gleichwohl überwiegt er in der HAART-Ära<br />

seit 1996 durchgehend den Kontext des ‚alten Aids‘, den ‚Tod‘. Die Abnahme des<br />

Kontextes des ‚neuen Aids‘ in den letzten beiden Zeiträumen (2003–2006) ist auf<br />

die gleichzeitige Zunahme der Rest-Kodierung ‚Kein/Anderer Kontext oder Bedeutungshorizont<br />

erkennbar‘ zurückzuführen, die nun dominiert. (Vgl. Abb. 3)<br />

Damit kann die Hypothese H1 <strong>als</strong> nicht widerlegt bezeichnet werden. In allen Zeiträumen<br />

der HAART-Ära liegt der Kontext ‚Leben‘ über dem Wert der Prä-HAART-<br />

Phase. 18 Die starke Dominanz der Artikel ohne einen der beiden Kontexte ab dem<br />

Jahr 2003 ist <strong>als</strong> Anzeichen zu werten, dass nach gut sechs Jahren HAART der Kontext<br />

des ‚neuen Aids‘ <strong>als</strong> allgemein etabliert angenommen und deshalb auf diesen<br />

Kontextbezug verzichtet wird. 19 In nur 30 bzw. 37 Artikeln der Stichprobe wurde<br />

die Möglichkeit einer HIV-Infektion bzw. die HAART erwähnt. Um die dargestellte<br />

Höhe der Risiken zu beschreiben, wurde ein Risikofaktor für jeden der 30 (37) Artikel<br />

berechnet, der auf einer Skala von 0 (nicht-riskante Darstellung) bis 4 (hochriskante<br />

Darstellung) liegt. 20 Das Risiko sich mit HIV zu infizieren wird im Zeitraum<br />

von 1998 bis 2002 durchschnittlich etwas geringer dargestellt <strong>als</strong> in den übrigen Zeiträumen,<br />

in denen der Wert bei gut 3 Skalenpunkten liegt. Die HAART wird zunächst<br />

abnehmend riskant dargestellt. Im letzten Zeitraum von 2005 bis 2006 steigt jedoch<br />

der Wert an und liegt mit 2,33 Skalenpunkten über dem Niveau der ersten Phase mit<br />

1,9 Skalenpunkten (vgl. Tab. 1).<br />

18 In der Zeit bis Juni 1996 findet sich kein Artikel mit dem Kontext ‚Leben‘. In drei Vierteln<br />

der Artikel dieses Zeitraum findet sich der Kontext ‚Tod‘. In einem Viertel ist keiner oder<br />

ein anderer Kontext zu erkennen.<br />

19 Die Rest-Ausprägung lässt sich nicht eindeutig interpretieren, da hier Artikel gänzlich<br />

ohne Kontext und solche mit möglicherweise anderen Kontexten in einer Gruppe zusammengefasst<br />

sind.<br />

20 Der Faktor berechnet sich wie folgt nach bestimmten Indikatoren der Teilkategorien<br />

der Risikowahrnehmung, vgl. Ruhrmann, Georg: Risikokommunikation. In: Publizistik.<br />

Vol. 37, Nr. 1, 1992. S. 10 f. Für folgende Indikatoren erhält der Artikel je einen Risikopunkt,<br />

da durch sie das Risiko <strong>als</strong> größer wahrgenommen wird: 1. Wenn <strong>als</strong> Risikoquelle<br />

menschliches oder technisches Versagen beschrieben wird. 2. Wenn die Folgen <strong>als</strong><br />

unkontrollierbar dargestellt werden. 3. Wenn die Risikofolgen überwiegend anschaulich<br />

beschrieben werden. 4. Wenn ein relevanter Nutzen des Risikos beschrieben wird.<br />

5. Wenn eines der Merkmale anders ausgeprägt ist, gibt es jeweils keinen Punkt. Die<br />

Summe der Punkte ergibt den Risikofaktor des Artikels. Die ausgewiesenen Werte sind<br />

jeweils die Mittelwerte des jeweiligen Zeitraums.<br />

42 Dis | kurs


Innenpolitik<br />

Tabelle 1: Veränderung der Risikofaktoren HIV-Infektion (n=30) und HAART (n=37)<br />

Zeiträume der Aids Inzidenz in<br />

Deutschland<br />

Risikofaktor HIV-Infektion<br />

Risikofaktor HAART<br />

N Mittelwert Median N Mittelwert Median<br />

Rapider Rückgang (1995–1997) 6 3,33 3,5 10 1,90 2,0<br />

Leichte Abnahme (1998–2002) 12 2,75 3,0 18 1,44 1,5<br />

Stagnation auf niedrigem Niveau<br />

(2003–2004)<br />

5 3,20 4,0 3 1,00 1,0<br />

Weitere leichte Abnahme<br />

(2005–2006)<br />

7 3,29 3,0 6 2,33 2,0<br />

Insgesamt 30 3,07 3,0 37 1,68 2,0<br />

Die in Hypothese H2 vermutete Abnahme der dargestellten Höhe der Risiken wurde<br />

damit bezogen auf den gesamten Zeitraum widerlegt. Nicht alle Informationsbereiche<br />

nehmen ab, wie mit Hypothese H3 vermutet. Werden die Häufigkeiten des ersten<br />

Zeitraums (1995 bis 1997) und des vierten Zeitraums (2005 bis 2006) miteinander<br />

verglichen, ist zu erkennen, dass die Informationen zu Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten<br />

sowie zu ehrenamtlichem Engagement und Spendensammeltätigkeiten<br />

seltener werden. Differenziert nach den Präventionsstufen 21 zeigt sich für die Informationen<br />

zu Prävention und Ansteckungswegen, dass der Anteil der Informationen<br />

zu Primär-Prävention stetig steigt, der Anteil sekundär-präventiver Informationen<br />

hingegen sinkt (Vgl. Abb. 4).<br />

Die Artikel weisen in den ersten Jahren nach Einführung der HAART häufiger positive<br />

<strong>als</strong> negative Emotionen auf (vgl. Abb. 5). 22 Zwischen 2005 und 2006 dominieren<br />

jedoch erneut negative Emotionen in den Artikeln. Der Anteil der positiven Emotionen<br />

steigt im gesamten Untersuchungszeitraum sehr leicht, aber kontinuierlich,<br />

an. Ein Grund für diese Entwicklungen könnte sein, dass die HAART fortlaufend<br />

verbessert wurde und mit ihr die Aussichten auf ein längeres Leben mit der HIV-<br />

Infektion. Der erneute Anstieg des Anteils negativer Emotionen gegen Ende des Untersuchungszeitraums<br />

könnte auf die zunehmenden HIV-Neuinfektionen zurückzuführen<br />

sein (vgl. Kap. 2). Damit muss Hypothese H4 für den letzten Zeitraum <strong>als</strong><br />

widerlegt gelten.<br />

21 Es gibt drei Präventionsstufen. Primär-Prävention hat zum Ziel, die Infektion mit HIV<br />

zu verhindern. Sekundär-Prävention will verhindern, dass das Vollbild Aids bei HIVpositiven<br />

Menschen ausbildet. Tertiär-Prävention zielt auf die Verhinderung des Tods<br />

von Aids-Patienten und versucht, akute Symptome zu lindern. Vgl. Mayer, Alexander:<br />

Prävention. Regensburg, 1995. S. 14.<br />

22 Innerhalb des ersten Zeitraums ‚Rapider Rückgang‘ der Aids-Inzidenz entfällt nur ein Artikel<br />

mit positiven Emotionen auf die Zeit vor Juli 1996, <strong>als</strong>o die Phase in der noch keine<br />

HAART verfügbar war.<br />

Dis | kurs 43


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

40%<br />

Abbildung 4: Relative Häufigkeit der Informationsbereiche (n=1<br />

35%<br />

Primär-Prävention<br />

30%<br />

Sekundär-Prävention<br />

25%<br />

Beratungs- und Hilfsmöglichke<br />

20%<br />

Ehrenamt / Spenden<br />

15%<br />

10%<br />

5%<br />

0%<br />

Rapider Rückgang Leichte Abnahme Stagnation auf niedrigem<br />

Niveau<br />

Zeiträume der Aids-Inzidenz<br />

Zeiträume der Aids-Inzide<br />

Weitere leichte Abnahme<br />

Abbildung 4: Relative Häufigkeit der Informationsbereiche (n=128)<br />

Hypothese H5 vermutet eine Abnahme der Thematisierung von Nicht-staatlichen<br />

Hilfs- und Selbsthilfe-Maßnahmen. Die relative Häufigkeit des Unterthemas ‚Hilfsmaßnahmen<br />

(nicht-staatlich) für (potentiell) Betroffene‘ zeigt ein recht konstantes<br />

Bild. Sie bewegt sich zwischen 40 und 50 % mit einer sehr leicht steigenden Tendenz.<br />

‚Folgen der HIV-Infektion und der Aids-Erkrankung‘ werden in der Prä-HAART-<br />

Phase bis Juni 1996 noch in sieben von zwölf Fällen thematisiert. Ihr Anteil liegt<br />

nach der HAART-Einführung nie mehr über 40 %. Somit kann die Hypothese H5<br />

insgesamt nur für den ersten Themenblock <strong>als</strong> widerlegt gelten.<br />

6. Fazit<br />

Die in dieser Studie widerlegten Hypothesen widersprechen der Vorstellung einer<br />

uneingeschränkt harmloseren Darstellung von HIV und Aids. Weder überwiegen<br />

positive Emotionen in den Artikeln, noch nehmen die Information zu primärer<br />

Prävention ab. Bis auf eine Phase zwischen 1998 und 2002 wird dieses Risiko einer<br />

HIV-Infektion <strong>als</strong> konstant ‚hoch‘ beschrieben. Die HAART wird zwar zunächst erwartungsgemäß<br />

abnehmend riskant dargestellt. In den Jahren 2005 und 2006 wird<br />

sie dann aber riskanter <strong>als</strong> je zuvor beschrieben. Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten<br />

wurden konstant in etwas weniger <strong>als</strong> der Hälfte aller Artikel erwähnt, was ebenfalls<br />

nicht vermutet wurde.<br />

Nicht widerlegt werden konnten hingegen die Vermutungen zur Dominanz des<br />

Kontextes ‚Leben‘. Dieser Kontext belegt HIV und Aids mit der Bedeutung einer behandelbaren,<br />

chronischen und nicht-tödlichen Krankheit. Dieser Kontext überwog<br />

den Bedeutungshorizont des alten Aids, den ‚Tod‘. Gleichzeitig verliert aber die<br />

44 Dis | kurs


Innenpolitik<br />

Abbildung 5: Relative Häufigkeit von Artikeln mit Emotionsfärbung in % (n=<br />

50%<br />

40%<br />

Überwiegend positive Emotion<br />

Ausgeglichene Emotionsfärbun<br />

30%<br />

Überwiegend negative Emotion<br />

Keine Emotionen<br />

20%<br />

10%<br />

0%<br />

Rapider Rückgang Leichte Abnahme Stagnation auf niedrigem Weitere leichte Abnahme<br />

Niveau<br />

Zeiträume der Aids-Inzidenz<br />

Zeiträume der Aids-Inzide<br />

Abbildung 5: Relative Häufigkeit von Artikeln mit Emotionsfärbung in % (n=128)<br />

Unterscheidung zwischen Leben und Tod an Bedeutung: Ab 2003 findet sich in der<br />

absoluten Mehrheit aller Artikel keiner der beiden Kontexte. Ebenfalls nahmen,<br />

wie vermutet, die Anteile der Artikel mit Informationen zu Hilfs- und Beratungsmöglichkeiten,<br />

zu ehrenamtlichem Engagement und Spendenmöglichkeiten sowie<br />

zu sekundärer Prävention ab. Folgen von HIV und Aids für Patienten wurden nach<br />

Einführung der HAART nie mehr so häufig thematisiert wie vorher.<br />

Auch wenn sich in dieser Studie gezeigt hat, dass ein Vorwurf an den Journalismus,<br />

er verharmlose HIV und Aids seit Einführung der HAART, zumindest für die Siegessäule<br />

nicht haltbar ist, muss selbstverständlich weiter nach den Ursachen für die<br />

steigenden HIV-Neuinfektionen gesucht werden. Auch mit dieser Studie ist die journalistische<br />

Darstellung der Immunschwächekrankheit noch nicht ‚aus dem Schneider‘.<br />

Beispielsweise muss ihr Zusammenspiel mit Präventionskampagnen weiter untersucht<br />

werden. In der Forschung zur Health Communication, die sich vorwiegend<br />

um strategische Gesundheitskommunikation kümmert, 23 einem Feld der Public<br />

Relations, wird die journalistische Berichterstattung oft nur <strong>als</strong> ‚Kanal‘ für Aufklärungsbotschaften<br />

betrachtet. 24 Dieses Verständnis lässt fundamentale Funktionen<br />

des Journalismus, wie Selektion und Kritik außer Acht. Angesichts der Verlautbarungen<br />

der Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) aus der Schweiz, erfolgreich<br />

behandelte und dauerhaft kontrollierte HIV-Patienten seien nicht infektiös,<br />

23 Vgl. Signitzer, Benno: ‚Health Communication‘. Konstanz 1994. S. 293, 297.<br />

24 Vgl. Kreps, Gary L.: Trends and Directions in Health Communication Research. In: Medien<br />

und Kommunikationswissenschaft. Vol. 51, Nr. 3–4, 2003. S. 355–357.<br />

Dis | kurs 45


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

forderte beispielsweise die Zeitschrift ‚blu‘ (ein Berliner Konkurrenzblatt der Siegessäule):<br />

„Aidshilfe muss umdenken“. 25 Welchen Einfluss solch eine offensichtlich nicht<br />

stromlinienförmige Weitergabe von Präventionsbotschaften auf die Umsetzung präventiver<br />

Maßnahmen hat, müssen nachfolgende Studien untersuchen.<br />

Literatur<br />

Früh, Werner: Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. Konstanz, 5. Auflage, 2004.<br />

Kamps, Bernd Sebastian: Einleitung. In: Hoffmann, Christian; Rockstroh, Jürgen Kurt;<br />

Kamps, Bernd Sebastian (Hrsg.): HIV.NET 2007. Wuppertal-Beyenburg, 2007. S. 27–46.<br />

http://www.hiv.net/hivnet2007.<strong>pdf</strong> (Abrufdatum: 09.04.2008).<br />

Kitzinger, Jenny: The role of the mass media in the prevention of AIDS. In: Friedrich, Dorothee;<br />

Heckmann, Wolfgang (Hrsg.): Aids in Europe. The Behavioural Aspect. Band 1, General<br />

Aspects. Berlin, 1995. S. 103–113.<br />

Mayer, Alexander: Prävention. Definition, Entwicklung, Organisation. Regensburg, 1995.<br />

Robert Koch Institut (Hrsg.): Epidemiologisches Bulletin. Diverse Ausgaben. http://www.rki.<br />

de/ Menüabfrage: Infektionskrankheiten A–Z > HIV/AIDS > Veröffentlichungen > Epidemiologisches<br />

Bulletin (Abrufdatum: 03.04.2008).<br />

Signitzer, Benno: ‚Health Communication‘. Ansätze und Forschungsfelder einer neueren<br />

kommunikationswissenschaftlichen Teildisziplin. In: Bentele, Günter; Hesse, Kurt R. (Hrsg.):<br />

Publizistik in der Gesellschaft. Konstanz, 1994. S. 287–302.<br />

25 Alp, Olaf (Hrsg.): blu. Berlin. Vol. 12, Nr. 129, 2008. S. 1.<br />

46 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

Bürgerethos und Amtsverantwortung <strong>als</strong> Lebenselixier<br />

einer republikanischen Ordnung<br />

Karl-Heinz Breier<br />

Hochschule Vechta (IBS), Vechta<br />

E-Mail: karl-heinz.breier@uni-vechta.de<br />

Schlüsselwörter:<br />

Republik, Herrschaft, Repräsentation<br />

Jede Republik – Ernst Vollrath nennt eine Republik „die Institution der Institutionen“ 1<br />

– ist nur so machtvoll, wie sie intellektuell, emotional und habituell verankert ist,<br />

sprich wie sie in den Köpfen, Herzen und Gewohnheiten präsent ist. Eine Republik,<br />

in der die Bürger den Anspruch erheben, sich selbst zu regieren – und Selbstregierung<br />

kann selbstverständlich auch in repräsentativ verfassten Ordnungen praktiziert<br />

werden –, ist die bei weitem anspruchsvollste politische Ordnung. Während Willkürherrschaften,<br />

die sich Herrschaft anmaßen, in ihrem Kern unpolitisch sind, muss eine<br />

machtvolle Freiheitsordnung in den Denk- und Handlungsgewohnheiten möglichst<br />

vieler Bürger verankert sein. Nur so wird die politische Ordnung mächtig. Und wohlgemerkt,<br />

machtvoll zu sein, bedeutet nicht, gewalttätig zu sein. Das gerade Gegenteil<br />

ist der Fall: „Das Maß der Gewaltanwendung ist ein Maßstab für das Schwinden einer<br />

Autorität.“ 2 Je machtvoller eine politische Ordnung ist, desto weniger muss sie auf<br />

Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zurückgreifen. Gerade Regime, die ihre<br />

1 Ernst Vollrath: Revolution und Konstitution <strong>als</strong> republikanische Grundmotive bei Hannah<br />

Arendt, in: Baule, B. (Hrsg.): Hannah Arendt und die Berliner Republik. Fragen an das<br />

vereinigte Deutschland, Berlin 1996, S. 137.<br />

2 Karl Jaspers: Wahrheit und Bewährung, München 1983, S. 31.<br />

Dis | kurs 47


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Ohnmacht erfahren, die <strong>als</strong>o an Zustimmung verlieren und die keine Unterstützung<br />

erfahren, stehen in der Versuchung, die ihnen entzogene Macht durch Gewaltmittel<br />

ersetzen zu wollen. Doch innere Annahme lässt sich nicht erprügeln.<br />

Macht bildet sich, wenn die politischen Institutionen intakt sind, und intakt sind<br />

sie in einer freiheitlichen Ämterordnung, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger in<br />

den Institutionen zum politischen Handeln gleichsam einladen. Eben hierin liegt das<br />

Betriebsgeheimnis jeder föderal verfassten politischen Ordnung. Macht konstituiert<br />

sich durch die Teilhabe möglichst Vieler, und zwar mit der wundersamen Folge, dass<br />

das politische Handeln einzelner Amtsinhaber eingehegt, begrenzt, ja genau genommen<br />

entsouveränisiert wird. Sich <strong>als</strong> Einzelner etwa zum Souverän zu erheben, ist<br />

höchst unpolitisch. Denn der Souverän einer jeden Freiheitsordnung ist ein Plural;<br />

es sind die Bürgerinnen und Bürger, die all den unterschiedlichen Amtsinhabern<br />

Macht überhaupt erst anvertrauen. Und die Anvertrauung der Macht geschieht nicht<br />

willkürlich, sondern geordnet, nämlich nach den Grundsätzen und Regeln der gemeinsamen<br />

Verfassung.<br />

Mit Aristoteles gesprochen heißt dies: Die Verfassung, sprich die Ordnung der Ämter<br />

hinsichtlich der unterschiedlichen Kompetenzen, ist das heilige Buch einer wohlgeordneten<br />

Polis. 3 Und Bürger kann nur sein, wer nicht in einer Tyrannis lebt. Denn<br />

unter angemaßter Herrschaft zu leben und Bürger zu sein, ist nicht miteinander vereinbar.<br />

„Angemaßte Herrschaft und anvertraute Macht“ 4 schließen sich kategorisch<br />

aus. Eine republikanische Ämterordnung lebt von anvertrauter Macht, und jede angemaßte<br />

Herrschaft, die eine Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte spaltet, negiert<br />

das gemeinsame Gut einer auf dem Recht beruhenden Bürgerordnung. 5<br />

Der Herrschaftssoziologe Max Weber hingegen stellt den Herrschaftsbegriff ins Zentrum<br />

seines politischen Denkens: „Der Staat ist […] ein auf das Mittel der legitimen<br />

Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.“ 6 Max<br />

Weber denkt in den Bahnen von Thomas Hobbes, dessen Leviathan den prägnantesten<br />

Ausdruck eines durch Gewalt gesicherten Herrschaftsverhältnisses darstellt.<br />

Dem Staat <strong>als</strong> dem Gewaltmonopol kommt die Aufgabe zu, all diejenigen Mittel in<br />

Anwendung zu bringen, die dazu dienen, den Herrschaftsunterworfenen ihren individuellen<br />

Sicherheitsraum zu gewähren. Folgt man dem Denken von Leo Strauss, so<br />

3 Vgl. Aristoteles: Politik, 1278 b 9 ff.<br />

4 Karl-Heinz Breier: Leitbilder der Freiheit. Politische Bildung <strong>als</strong> Bürgerbildung, Schwalbach/Ts.<br />

2003, S. 11 ff.<br />

5 Vgl. ebd., S. 145 ff.<br />

6 Max Weber: Politik <strong>als</strong> Beruf, in: ders.: Gesammelte Schriften zur Politik, hrsg. von<br />

Johannes Winckelmann, 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 507.<br />

48 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

basiert dieses neuzeitliche Sekuritätsdenken auf einer Umdeutung des Naturbegriffs. 7<br />

Natur beinhaltet nicht mehr das telos, auf das hin sich zu ordnen humane Existenz in<br />

der Lage ist. Vielmehr wird mit dem Naturbegriff jener Naturzustand umschrieben,<br />

der Ausdruck von Anarchie und Ordnungslosigkeit ist. Der Mensch ist nach Hobbes<br />

eine matter in motion, die hauptsächlich von den beiden Grundantrieben fear and<br />

desire bewegt wird. Damit ist nicht mehr die Vernunft das Ordnungszentrum des<br />

Menschen und seiner Existenz in Gesellschaft, sondern es ist die Leidenschaftsdynamik<br />

der Gesellschaft, die sich aus den rivalisierenden Interessen speist. 8<br />

Die Konsequenzen sind gravierend. Denn mit diesem begrifflichen Inventar ändert<br />

sich der kategoriale Zugang, und politische Phänomene werden in anderer Bedeutung<br />

zu Bewusstsein gebracht. Während das Politische bei Platon und Aristoteles in<br />

seiner wesentlichen, die Menschen in ihrer gesamten Existenz ansprechenden Qualität<br />

gedacht wird, so wird Politik im neuzeitlichen Denken lediglich <strong>als</strong> ein Subsystem<br />

verortet –neben anderen Subsystemen wie etwa Wirtschaft, Gesellschaft und<br />

Kultur. 9 Den antiken Denkern würde es nicht in den Sinn kommen, den Menschen<br />

ausschließlich <strong>als</strong> technisch versierten homo faber zu denken, der gleich einem Ingenieur<br />

einen künstlichen Leviathan herstellt und damit die Ordnungslosigkeit zu<br />

ordnen versucht. Ganz im Gegenteil, der Mensch ist zur Aktualisierung seiner humanen<br />

Natur wesentlich auf die Polis verwiesen. Insofern kann menschliche Existenz<br />

gar nicht ohne politische Ordnung gedacht werden. Politische Ordnung kommt<br />

– so sehen es die Antiken – nicht künstlich und damit nachträglich dem menschlichen<br />

Leben hinzu, sondern sie ist immer schon verknüpft mit der konkreten Existenz<br />

von Menschen in Gesellschaft. Isoliertes Menschsein entspräche einer Existenz<br />

auf animalischem Niveau. Wer aufwächst, muss in einer wie auch immer gearteten<br />

Ordnung menschlichen Zusammenlebens aufwachsen. Das heißt, die Frage nach der<br />

Ordnung ist unserem Menschsein inhärent. 10<br />

Es ist in der Tat nicht beliebig, in welchen Lebenszusammenhängen und in welcher<br />

politischen Ordnung wir leben. Die Sinnhorizonte, in den wir Menschen leben, und<br />

die Ziele, um deren willen Menschen Ordnung etablieren, sollten vergegenwärtigt<br />

und im Bewusstsein präsent gehalten werden. Wird demgegenüber politische Ordnung<br />

mit Staatlichkeit gleichgesetzt und damit auf ihr Gewaltmonopol reduziert, so<br />

bewegt man sich allein auf der Ebene der Mittel. Die Frage nach den Zielen und der<br />

7 Vgl. Leo Strauss: Hobbes' politische Wissenschaft, Neuwied am Rhein/Berlin 1965,<br />

S. 154 ff.<br />

8 Vgl. Karl-Heinz Breier: Leitbilder der Freiheit, S. 162 ff.<br />

9 Vgl. Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, 4. Aufl. Weinheim/München<br />

1996.<br />

10 Vgl. Karl-Heinz Breier/Alexander Gantschow: Einführung in die Politische Theorie,<br />

Berlin 2006, S. 26 ff.<br />

Dis | kurs 49


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

damit verbundenen Qualität der politischen Ordnung wird konsequent ausgeblendet.<br />

Max Weber folgt in der auf Durchsetzung ausgelegten Herrschaftszentrierung<br />

nicht nur dem Denken von Thomas Hobbes, sondern darüber hinaus teilt er jene<br />

nietzscheanische Auffassung, der zufolge hinter allen Erscheinungen nichts Wesentliches<br />

sei. Für Weber ist klar: Eine rationalisierte Welt ist eine durch und durch<br />

entzauberte Welt, in der das Faktische dominiert. Das Faktische sind die Machtverhältnisse.<br />

Sie allein können in ihrer Wirkkraft erfahren und in ihrem empirischen<br />

Gehalt wissenschaftlich abgebildet werden. Aus Metaphysik wird Physik, und die<br />

Metaphysik der Sitten mutiert zu einer Physik der Sitten 11 . Das Politische reduziert<br />

sich demnach auf das „Streben nach Macht“ 12 , und Politik zu betreiben, bedeutet<br />

folgerichtig: „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung,<br />

sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen,<br />

die er umschließt.“ 13 Macht heißt daher „jede Chance, innerhalb einer sozialen<br />

Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf<br />

diese Chance beruht.“ 14 So plausibel es ist, dass Menschen danach streben sich<br />

durchzusetzen und andere zu dominieren, so einleuchtend ist es zugleich, dass eine<br />

allein auf Überwältigungsmacht basierende Ordnung auf tönernen Füßen steht. Dieses<br />

hat Max Weber im Sinn, wenn er die Kategorie der Herrschaft einführt. Um das<br />

menschliche Zusammenleben nicht der Beliebigkeit faktischer Machtverhältnisse zu<br />

überantworten, geht der Herrschaftssoziologe den institutionellen Zusammenhängen<br />

nach, die das Zusammenleben auf Dauer stellen. Und da ist es klar: Je mehr<br />

es der politischen Ordnung gelingt, Loyalität und Gehorsam zu organisieren, desto<br />

stabiler und tragender ist ihr Fundament.<br />

Ganz empirisch möchte Weber aufweisen, wie die Ressource Gehorsam gehoben und<br />

zutage gefördert werden kann: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten<br />

Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden […].“ 15 Im Gegensatz<br />

zur kruden Macht, die sich <strong>als</strong> pure Überwältigung manifestiert, zeigt sich Herrschaft<br />

geradezu <strong>als</strong> Kunst. Es ist die Kunst, Gefolgschaft zu organisieren. So lautet Webers<br />

Frage daher: „Auf welche inneren Rechtfertigungsgründe und auf welche äußeren Mit-<br />

11 Vgl. Emile Durkheim: Die Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie<br />

der Moral, hrsg. von Hans-Peter Müller, Frankfurt am Main 1991. Diesen Hinweis sowie<br />

weitere hilfreiche Anregungen verdanke ich meinem akademischen Freund Alexander<br />

Gantschow.<br />

12 Max Weber: Politik <strong>als</strong> Beruf, S. 546.<br />

13 Ebd., S. 506.<br />

14 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg.<br />

von Johannes Winckelmann, 1. Halbband, 5. Aufl. Tübingen 1976, S. 28.<br />

15 Ebd.<br />

50 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

tel stützt sich diese Herrschaft?“ 16 Was sind die Gründe für Loyalität und Gehorsam?<br />

Als Antwort gibt er drei idealtypische Legitimitätsgründe von Herrschaftsordnung<br />

an: die traditionale Herrschaft, die charismatische Herrschaft und die legale Herrschaft.<br />

Während die einen Gehorsam leisten, weil sie sich einer Tradition zugehörig fühlen,<br />

folgen andere der außeralltäglichen Gnadengabe eines Führers, und wiederum andere<br />

gehorchen den <strong>als</strong> verbindlich erachteten Regeln einer gegebenen Satzung. Als<br />

Soziologe beschreibt Weber die empirischen Beweggründe, die Menschen veranlassen,<br />

Loyalität einzufordern und Gehorsam zu leisten. Entscheidend dabei ist, dass es<br />

ihm nicht um den normativen Gehalt der Gehorsamsgründe geht. Welcher Tradition,<br />

welchem Charismatiker oder welcher Satzung Menschen Folge leisten sollen,<br />

erörtert der Soziologe nicht.<br />

Dolf Sternberger, der <strong>als</strong> Heidelberger Politikwissenschaftler den geistigen Spuren<br />

des Heidelberger Soziologen folgt, denkt in entscheidender Hinsicht weiter. Für Dolf<br />

Sternberger verengt sich die Frage nach der politischen Ordnung nicht auf ihre herrschaftssoziologische<br />

Perspektive. Denn wo Weber die politische Ordnung allein <strong>als</strong><br />

Herrschaftsverhältnis sieht, das sich über die Mittel der legitimen Gewaltsamkeit definiert,<br />

da erweitert Sternberger die Frage nach der politischen Ordnung. Die Frage<br />

nach der politischen Ordnung lässt sich für ihn nicht hinreichend über die Mittel<br />

erörtern, sondern sie muss zurückgebunden werden an die Ziele, für die die Mittel<br />

eingesetzt werden. Nicht das Organisieren von Herrschaftsverhältnissen, <strong>als</strong>o Staatlichkeit<br />

an sich, steht im Vordergrund seiner Betrachtung, sondern es ist die Frage<br />

nach den Zielen der Herrschaftsorganisation, d. h. die Frage nach der Verfassung. So<br />

hebt Sternberger in seiner Antrittsvorlesung hervor, dass ein Verfassungsstaat nicht<br />

um der Herrschaft oder Beherrschung willen existiert. Vielmehr ist es die spezifische,<br />

ihn auszeichnende, Eigenart, aus der er seine Existenzberechtigung bezieht. „Auch<br />

eine Regierung des bürgerlichen Einverständnisses und der bürgerlichen Anvertrauung<br />

erteilt Befehle und übt Zwang aus, aber sie tut es vermöge einer fundamentalen Vereinbarung<br />

– wir nennen sie die Verfassung. Sie herrscht nicht über Menschen. Regierung<br />

ist nicht Herrschaft.“ 17 Im Unterschied zu bloßer Herrschaft, in der „sich <strong>als</strong>o die beherrschten<br />

Menschen der beanspruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen“ 18 ,<br />

beruht die bürgerliche Rechtmäßigkeit von Regierung darauf, dass die Regierungsbefugnisse,<br />

sprich die Ämter und deren Kompetenzen, den Regierenden und Amtsinhabern<br />

von den Regierten für eine festgelegte Zeit übertragen und – im wahrsten<br />

Sinne des Wortes – anvertraut werden. Die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns<br />

16 Ders.: Politik <strong>als</strong> Beruf, S. 507.<br />

17 Dolf Sternberger: Herrschaft und Vereinbarung. Über bürgerliche Legitimität, in: ders.:<br />

„Ich wünschte ein Bürger zu sein“. Neun Versuche über den Staat, Frankfurt/Main 1967,<br />

S. 67.<br />

18 Max Weber: Politik <strong>als</strong> Beruf, S. 507.<br />

Dis | kurs 51


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

ist stets daran gebunden, dass die Repräsentanten die anvertraute Macht verfassungsgemäß<br />

ausüben und die mit dem Amt verbundene politische Weisungsbefugnis<br />

nicht missbrauchen. Indem Sternberger die Existenzberechtigung einer Ordnung auf<br />

ihre verfassungsmäßigen Qualitäten zurückführt, republikanisiert er gleichsam den<br />

Herrschaftsanspruch der Ordnung. Er erklärt die Bürgervereinbarung zum unabdingbaren<br />

Legitimitätsfundament der politischen Ordnung, die darüber erst zu einer<br />

originär politischen wird. So wird jede bloß herrschaftszentrierte Engführung aufgebrochen.<br />

Damit knüpft Sternberger an das aristotelische Politikverständnis an. Denn<br />

auch für Aristoteles kommt es entscheidend auf die Qualität politischer Institutionen<br />

und Einrichtungen an. Eine gelungene politische Ordnung, die die Gesellschaft nicht<br />

von vornherein in Herrscher und Beherrschte spaltet, ist nach Aristoteles die Regierungsform,<br />

in der „Freie und Gleichgestellte“ 19 sich wechselseitig regieren. Allein wo<br />

das Zusammenleben in einer freiheitlichen Ordnung organisiert ist und wo die gemeinsame<br />

Sache der Bürger im Zentrum der Politik steht, lässt sich sinnvoll von polis<br />

und im römischen Sprachgebrauch später von res publica sprechen. 20 Der Begriff<br />

res publica weist auf das gemeinsame öffentliche Gut hin, das das Zusammenleben<br />

prägt. Im Gegensatz dazu verweist der neuzeitliche Staatsbegriff auf einen Zustand,<br />

auf einen status. „Für den praktischen Ordnungsdenker Hennis“ 21 ist darin die begriffliche<br />

Normativität, welche der res publica noch eingeschrieben ist, definitiv verloren<br />

gegangen. 22 Demgegenüber steht im Zentrum von Aristoteles' Überlegungen gerade<br />

die Qualität der politischen Ordnung. Sie steht auf dem Prüfstand und sie muss sich<br />

vor den Bürgern <strong>als</strong> Bürgerordnung ausweisen. 23 Es ist nach Aristoteles die Verfassung<br />

einer politischen Ordnung, die <strong>als</strong> gemeinsames Gut das Verbindende unter<br />

den in ihrer Freiheit gleichen Bürgern ausdrückt. Als verbindliche Bürgerordnung<br />

schützt sie die Bürger vor den Anmaßungen rechtloser Willkürherrschaft. „Denn im<br />

Gehorsam gegen die Verfassung zu leben, darf man nicht <strong>als</strong> Knechtschaft auffassen,<br />

sondern <strong>als</strong> Rettung der Verfassung.“ 24 Die Diskrepanz zwischen dem antiken und<br />

dem modernen Ansatz tritt deutlich hervor. Während die politischen Denker der<br />

Antike die Frage nach dem guten Leben stellen und damit die Tyrannis <strong>als</strong> größte<br />

Bedrohung ansehen, so versuchen die modernen, in der liberalen Denktradition<br />

19 Vgl. Aristoteles: Politik, 1255 b 19.<br />

20 Vgl. Giovanni Sartori: Demokratietheorie, Darmstadt 1997, S. 285.<br />

21 Stephan Schlack: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik,<br />

München 2008, S. 10.<br />

22 Vgl. Wilhelm Hennis: Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion<br />

der politischen Wissenschaft, in: ders.: Politikwissenschaft und politisches Denken.<br />

Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, S. 1 ff.<br />

23 Aristoteles: Politik, 1278 b 9 ff.<br />

24 Ebd., 1310 a 34 ff.<br />

52 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

stehenden Theoretiker, Vorkehrungen gegen die Anarchie zu treffen. Die Frage nach<br />

der Qualität der regierenden wie auch der regierten Bürger ist aus dieser Perspektive<br />

zweitrangig. Hier geht es in der Hauptsache um die Aufrechterhaltung des Frieden<br />

und Sicherheit gewährenden Gewaltmonopols.<br />

Der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper verleiht dieser neuzeitlichen Sichtweise<br />

deutlichen Ausdruck, wenn er das F<strong>als</strong>ifikationsprinzip des Kritischen Rationalismus<br />

auf die Politische Theorie anwendet: „Es ist daher f<strong>als</strong>ch, wenn man die Betonung<br />

auf die Frage legt (wie es von Platon bis Marx und auch später immer wieder getan<br />

wurde): ‚Wer soll regieren? Das Volk (der Pöbel) oder die wenigsten Besten? Die (guten)<br />

Arbeiter oder die (bösen) Kapitalisten? Die Mehrheit oder die Minderheit? Die Partei<br />

von links oder die Partei von rechts oder eine Partei der Mitte?' Alle diese Fragen sind<br />

f<strong>als</strong>ch gestellt. Denn es kommt nicht darauf an, wer regiert, solange man die Regierung<br />

ohne Blutvergießen loswerden kann.“ 25 Jede Regierung kann nach Popper wie eine<br />

Theorie widerlegt werden. Man wählt sie einfach ab und man erteilt einer neuen<br />

Exekutive das Mandat. So wie in der Wissenschaftstheorie jeder theoretische Absolutheitsanspruch<br />

vermieden werden kann, so wird in der Demokratie jeder praktische<br />

Absolutheitsanspruch ausgebremst. Die Frage nach der Qualität und den Fähigkeiten<br />

der Amtsinhaber jedoch wird nicht gestellt. Gemäß der<br />

Stückwerk-Sozialtechnologie reicht es vollkommen aus, die Bedingungen, unter denen<br />

ein System angemessen funktioniert, anzugeben. Das Politische wird nicht „<strong>als</strong><br />

Reflexionsform eines sittlichen Lebenszusammenhangs begriffen“ 26 , sondern <strong>als</strong> ein purer<br />

Funktionszusammenhang, der einen reibungslosen Regierungswechsel – wie<br />

Popper es nennt – „ohne Blutvergießen“ ermöglichen soll. Ganz anders sieht dies Wilhelm<br />

Hennis. In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung zum Thema Amtsgedanke und<br />

Demokratiebegriff 27 betont er die große Bedeutung des Amtsbegriffs für ein angemessenes<br />

Verständnis politischer Praxis. Wer demgegenüber etwa das Problem der so<br />

genannten Willensbildung ins Zentrum seiner Überlegungen rückt und wer gleichsam<br />

schablonenhaft politische Repräsentanten zu exekutierenden Funktionären des<br />

Wählerwillens degradiert, versperrt sich nach Hennis den originären Zugang zum<br />

Verständnis einer repräsentativen Demokratie. 28 Als mehrstufig verfasste Ämterordnung,<br />

die in der Vielzahl der öffentlichen Ämter die Vielzahl politischer Verantwort-<br />

25 Karl R. Popper: Alles Leben ist Problemlösen, 3. Aufl. München 1997, S. 208.<br />

26 Jürgen Habermas: Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders.: Die Einbeziehung<br />

des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1999, S. 277.<br />

27 Vgl. Wilhelm Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders.: Politikwissenschaft<br />

und politisches Denken, S. 127 ff.<br />

28 Vgl. Wilhelm Hennis: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik<br />

politischer Umfragen, in: ders.: Regieren im modernen Staat. Politikwissenschaftliche<br />

Abhandlungen I, Tübingen 1999, S. 64 ff.<br />

Dis | kurs 53


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

lichkeiten und Kompetenzen widerspiegelt, kann die politische Ordnung erst in den<br />

Blick kommen, wenn das Amt die Mitte des politischen Denkens ausmacht und die<br />

Amtsführung im Zentrum des politischen Urteilens steht. In Artikel 39 der Federalist<br />

Papers erläutert James Madison die mit einer Ämterordnung verbundenen „charakteristischen<br />

Züge der republikanischen Regierungsform“ 29 : „Wenn wir bei der Suche<br />

nach einem Kriterium auf die verschiedenen Prinzipien zurückgreifen, auf denen die<br />

verschiedenen Regierungsformen basieren, können wir die Regierung <strong>als</strong> Republik definieren<br />

oder zumindest mit dem Namen versehen, die all ihre Befugnisse direkt oder<br />

indirekt vom gesamten Volk herleitet und von Personen geführt wird, welche ihre Ämter<br />

nach Ermessen für begrenzte Zeit innehaben oder solange sie ihr Amt korrekt ausüben.“ 30<br />

Entscheidend ist offensichtlich, dass die verfassungsmäßig gebundene Macht der Repräsentanten<br />

sich aus der gesamten Bürgerschaft herleitet und nicht etwa aus einer in<br />

sich abgeschlossenen, privilegierten Schicht. 31 Darüber hinaus ist es für die republikanische<br />

Form von Selbstregierung kennzeichnend, dass die Bürger ihre Macht nicht<br />

basisdemokratisch und direkt ausüben, sondern dass sie ihre Macht ausgewählten<br />

Mitbürgern, d. h. Amtsinhabern übertragen. „Die beiden großen Unterschiede zwischen<br />

einer Demokratie und einer Republik sind erstens: die Übertragung der Regierungsverantwortung<br />

in der Republik auf eine kleine Anzahl von Bürgern, die von den<br />

übrigen gewählt werden, zweitens: die größere Anzahl von Bürgern und das größere<br />

Gebiet, über die die republikanische Regierung ausgeübt werden kann.“ 32 Indem das in<br />

den Federalist Papers verfochtene Paradigma einer föderalen Republik „die Idee der<br />

Repräsentation zum Leitprinzip der republikanischen Ordnung erhebt“ 33 , treten die<br />

Autoren der Federalist der überlieferten – noch von Montesquieu vertretenen – Auffassung<br />

entgegen, wonach eine Republik sich allein auf ein kleines Territorium erstrecken<br />

und die Zahl der Bürger ein überschaubares Maß nicht überschreiten dürfe.<br />

34 Im Gegenteil, die amerikanischen Verfassungsinterpreten preisen geradezu die<br />

Vorzüge einer großen Bürgerschaft und insbesondere die im Verfassungsentwurf<br />

„angelegte Konzeption der künftigen amerikanischen Republik: ein großräumiges, an<br />

ökonomischem Fortschritt orientiertes, geopolitisch mächtiges System.“ 35 Es mag selt-<br />

29 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers.<br />

von Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, Art. 39, S. 244.<br />

30 Ebd.<br />

31 Vgl. ebd., Art. 22, S. 163.<br />

32 Ebd., Art. 10, S. 98.<br />

33 Jürgen Gebhardt: Selbstregulierung und republikanische Ordnung in der politischen<br />

Wissenschaft der Federalist Papers, S. 327.<br />

34 Vgl. Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, Art. 14,<br />

S. 114 ff.<br />

35 Barbara Zehnpfennig: Die Federalists zwischen Gemeinwohl und Partikularinteresse, in:<br />

Münkler, H. (Hrsg.): Bürgerreligion und Bürgertugend. Debatten über die vorpolitischen<br />

54 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

sam erscheinen, dass die Autoren der Federalist gerade in der Großflächigkeit einer<br />

Republik, in dem – wie sie es nennen – „Experiment einer Großrepublik“ 36 den günstigsten<br />

Nährboden für das Gedeihen von Bürgertugend und Amtsgesinnung ausmachen.<br />

Und doch spricht Einiges dafür: „Die Gründerväter propagieren gewiß kein radikaldemokratisches<br />

Bild vom ‚Bürger‘. Sie wissen um die komplexe Natur des Menschen,<br />

werten politische Betätigung nicht <strong>als</strong> conditio sine qua non eines voll entwickelten<br />

Menschseins, sie glauben, daß ‚Bürgertugend‘ nicht gleichmäßig gestreut, sondern in<br />

der Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist, manche mehr davon, manche weniger<br />

besitzen.“ 37 Die Verfassungsbefürworter sind Realisten. Sie wissen, dass jede Gesellschaft<br />

hinsichtlich der Qualitäten und Tugenden der einzelnen Menschen in sich<br />

geschichtet ist. Denn die Erfahrung zeigt, dass wir Menschen weder in unseren Begabungen<br />

noch in der Aktualisierung unserer Tüchtigkeiten gleich sind. Eben deshalb<br />

steht ja seit Platon die politische Frage nach der Gerechtigkeit auf der Tagesordnung:<br />

Wie werden sich die Wesensgleichen, die aber in ihren Qualitäten so<br />

unterschiedlich sind, in ihrem Zusammenleben wechselseitig gerecht? In Bezug auf<br />

die Ämterordnung gesprochen heißt dies: Wer gelangt in die Ämter, und wie ist es zu<br />

gewährleisten, dass nur geeignete Amtsinhaber Zugang zur Vertretung ihrer Mitbürger<br />

finden und ihnen gegenüber politisch weisungsbefugt sind? Denn darauf scheint<br />

doch der berühmte Philosophen-Königssatz Platons 38 hinauszulaufen, dass nicht<br />

eher Gerechtigkeit in der Polis herrschen werde, bevor nicht diejenigen die Ämter<br />

innehaben, denen aufgrund ihrer maßstäblichen Einsicht die Ämter angetragen werden<br />

sollten. „Dieser Satz meint nicht: die Philosophieprofessoren sollen die Staatsgeschäfte<br />

leiten, sondern: die Grundverhaltensweisen, die das Gemeinwesen tragen und<br />

bestimmen, müssen auf das wesentliche Wissen gegründet sein.“ 39 Allein in dem Maße,<br />

in dem die Ämterbesetzung <strong>als</strong> gerecht erfahren wird, besteht begründete Aussicht<br />

darauf, dass die gemeinsame Ordnung anerkannt wird und dass die Zustimmung zur<br />

eigenen politischen Ordnung wächst. Denn gerade darin besteht nach Platon die<br />

höchst schwierige Herausforderung, nämlich jedermann mit seinen Qualitäten zu<br />

würdigen und aufgrund seiner Würdigkeit einen Ort in der Gesellschaft einzuräumen.<br />

Diese politische Kunst, uns wechselseitig gerecht zu werden, besteht offensichtlich<br />

darin, Ungleiche ungleich und Gleiche gleich zu behandeln. Allein so werden<br />

Grundlagen politischer Ordnung, Baden-Baden 1996, S. 304.<br />

36 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, hrsg. u. übers.<br />

von Barbara Zehnpfennig, Art. 14, S. 118.<br />

37 Hartmut Wasser: Das Leitbild vom ‚Bürger‘ in den USA. Anmerkungen zum politischen<br />

Diskurs der amerikanischen Revolution, in: Hepp, G./Schiele, S./Uffelmann, U. (Hrsg.):<br />

Die schwierigen Bürger, Schwalbach/Ts. 1994, S. 25.<br />

38 Vgl. Platon: Politeia, 473 D ff.<br />

39 Martin Heidegger: Nietzsche, Bd. 1, Pfullingen 1961, S. 194.<br />

Dis | kurs 55


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

wir uns gerecht ist. Während wir uns unter dem Maß der numerischen, gleichsam<br />

demokratischen Gleichheit gleich behandeln, berücksichtigt die proportionale<br />

Gleichheit die Unterschiede, die zwischen uns bestehen. Proportional zu unserer<br />

Ungleichheit versuchen wir uns demnach gleich zu behandeln. „Von der proportionalen<br />

Gleichheit, auf der diese Gerechtigkeit beruht, sagt Platon, sie sei ‚die Scheidung des<br />

Zeus, und den Menschen steht sie immer nur in geringem Maß zu Gebote, alles aber,<br />

was davon etwa den Staaten oder auch einzelnen erreichbar ist, bewirkt alles Gute‘.“ 40<br />

Das heißt: Wer sich im Zusammenleben stets um „die Scheidung des Zeus“ bemüht,<br />

strebt nach Gerechtigkeit, und wenn viele und insbesondere die führenden politischen<br />

Menschen danach streben, ihren Mitbürgern möglichst gerecht zu werden, so<br />

erwächst daraus die Stabilität einer politischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund<br />

ist es einsehbar, dass insbesondere diejenigen Menschen mit führenden Ämtern betraut<br />

werden sollten, die gleichsam die innere Republik voll in sich entwickelt haben.<br />

Wer den gemeinsamen Geist der politischen Ordnung in seinem Sprechen und Handeln<br />

verkörpert, repräsentiert im wörtlichen Sinne. Er bringt in die Präsenz, was <strong>als</strong><br />

Gehalt der politischen Ordnung zu Grunde liegt. So leuchtet es ein, dass Repräsentation<br />

in ihrer originären Bedeutung nicht „im heutigen Sinne einer Stellvertretung des<br />

Volkes, sondern im Sinne der Vergegenwärtigung des Allgemeinen in Personen“ 41 zu<br />

verstehen ist.<br />

In seinem Aufsatz Der politische Begriff der Repräsentation 42 hebt Siegfried Landshut<br />

diesen Sachverhalt deutlich hervor. Er führt aus, dass politische Repräsentanten keine<br />

Ableger des Souveräns im verkleinerten Maßstab darstellen, sondern dass sie in<br />

ihrem Sprechen und Handeln die öffentlichen Angelegenheiten sichtbar machen und<br />

dass sie zur Erscheinung bringen, was die Sache aller ist. „Das Aktualisieren, das Wirksamwerden<br />

der für die politische Lebensgemeinschaft verbindlichen Idee der Gemeinsamkeit<br />

erfordert Personen, Repräsentanten, deren Verhalten, Denken und Gesinnung<br />

von sich aus auf das Allgemeine und Gemeinsame gerichtet ist. Der Repräsentant kann<br />

kein Privatmann sein.“ 43 Repräsentanten bringen nicht zuletzt in ihrer öffentlichen<br />

Selbstauslegung zur Erscheinung, was <strong>als</strong> Gehalt, ja <strong>als</strong> geistig verbindende Idee gemeinsamer<br />

Lebensführung der politischen Ordnung zu Grunde liegt. „Niem<strong>als</strong> können<br />

Personen repräsentiert werden, aber nur Personen können repräsentieren.“ 44 Und<br />

da liegt es auf der Hand, dass im Unterschied zu einer plebiszitären Demokratie ein<br />

40 Reinhart Maurer: Platons ‚Staat‘ und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen<br />

zur politischen Ethik, Berlin 1970, S. 78.<br />

41 Siegfried Landshut: Politik <strong>als</strong> Wissenschaft – Grundbegriffe der Politik, in: ders.: Politik.<br />

Grundbegriffe und Analysen, Bd. I, hrsg. von Rainer Nicolaysen, Berlin 2004, S. 295 f.<br />

42 Ebd., S. 421 ff.<br />

43 Ebd., S. 434.<br />

44 Ebd., S. 433.<br />

56 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

mehrstufig organisiertes Auswahlverfahren von Repräsentanten eine bessere Vorkehrung<br />

gegenüber allen Versuchungen privater Vereinnahmung und borniertesten Interessenverfolgs<br />

darstellt. Jenseits aller plebiszitären Ansprüche auf Willensidentität,<br />

wo die Repräsentanten den Repräsentierten zu Willen sein sollen, ermöglichen erst<br />

die Begriffe der politischen Repräsentation und des Amtes, von vertrauenswürdiger<br />

Behandlung und verantwortlicher Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu<br />

sprechen. „In der plebiszitären, mit sich in allen Stufen identischen Demokratie gibt es<br />

keine Distanz, folglich auch keine Verantwortung, denn Verantwortung ist immer nur<br />

möglich vor einem anderen, in der politischen Welt vor dem, der in ein Amt beruft. Der<br />

Abgeordnete ist dem Wähler verantwortlich und der Regierungschef dem Parlament,<br />

das ihn berufen hat. Nur wo eine klare Differenzierung zwischen denen, die ‚berufen‘<br />

sind, und eine objektive Festlegung der Pflichten durch das Amt gegeben ist, ist Verantwortung,<br />

‚responsible governmen‘, möglich.“ 45 In der Identität eines kollektiven Willens<br />

hingegen, die in den Beherrschten ihren Ausgang nehmen soll, ist alle Pluralität<br />

verschwunden. Wo Herrscher und Beherrschte in der Einheit ihres Willens identisch<br />

sein sollen, kann nicht von politischer Verantwortung gesprochen werden. Denn wer<br />

soll wem gegenüber wofür Verantwortung übernehmen, wenn Regierende und Regierte<br />

in ihrer Willensbekundung stets deckungsgleich sind? „In dem Begriff der Verantwortung<br />

liegt eine doppelte Verweisung: man ist verantwortlich für eine Sache oder<br />

für andere Menschen, und man ist verantwortlich vor einer Instanz, welche den Auftrag<br />

erteilt, der die Verantwortung begründet.“ 46 Amtsinhaber in einer Republik, denen<br />

mit ihrem Amt von ihren Mitbürgern Amtskompetenzen sowie damit verbundene<br />

Rechte und Pflichten übertragen worden sind, sind ihren Mitbürgern gegenüber für<br />

die Art und Weise ihrer Amtsführung verantwortlich. So hängt es entscheidend von<br />

den Qualitäten der Amtsinhaber ab, ob sie das Vertrauen in die gemeinsamen Institutionen<br />

stärken oder ob sie zu Misstrauen gegenüber „denen da oben“ Anlass geben.<br />

In den Federalist Papers wird daher auf den Punkt gebracht, welch hoher Stellenwert<br />

dem Amtsethos in einer intakten Republik zukommt. „Die Annahme, alle Menschen<br />

seien käuflich, ist in der Politik kein sehr viel kleinerer Irrtum <strong>als</strong> die Annahme, alle<br />

Menschen seien redlich. Das Prinzip der Delegation von Macht setzt voraus, daß unter<br />

den Menschen ein gewisses Maß an Tugend und Ehre zu finden ist, das eine vernünftige<br />

Grundlage für Vertrauen bildet.“ 47 Versuchen die Repräsentanten über sachbezogene<br />

und aufrichtige Debatten ihren Mitbürgern die politischen Kontroversen vor Augen<br />

zu führen oder aber versuchen sie durch unernstes Gerede, durch Bemäntelung oder<br />

gar Täuschung das Publikum hinter das Licht zu führen? Laden sie in aufklärender<br />

45 Wilhelm Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 134 f.<br />

46 Georg Picht: Der Begriff der Verantwortung, in: ders.: Wahrheit – Vernunft – Verantwortung.<br />

Philosophische Studien, 2. Aufl. Stuttgart 1996, S. 319.<br />

47 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay: Die Federalist Papers, Art. 76, S. 448 f.<br />

Dis | kurs 57


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Rede und Gegenrede zum Nachvollzug der politischen Alternativen ein oder ergehen<br />

sie sich in Allgemeinplätzen und reden in ihrer Sorge um Machterwerb und<br />

Machterhalt gar die drängendsten Probleme herunter? Karl Jaspers spricht in diesem<br />

Zusammenhang von „zwei Grundgesinnungen in der Politik“ 48 : Die eine erzeugt jene<br />

„Politik aus Verachtung“, die wie auf einem Thron sitzend sich „vermeintlich zum<br />

Herrschen berufen“ sieht, während allein die andere Grundgesinnung, der zufolge<br />

Bürger ihre Mitbürger in allem Ernst in die Politik und die in ihr ausgetragene Auseinandersetzung<br />

einzubeziehen suchen, der Festigung von Bürgerfreiheit dient.<br />

Aus diesem Grund hält Walter Bagehot in seiner klassischen Studie über The English<br />

Constitution die „informing function“ 49 für die nach der Wahlfunktion zweitwichtigste<br />

Aufgabe des britischen Unterhauses. Noch vor der Gesetzgebungsfunktion weist<br />

er dem Parlament die Aufgabe zu, stellvertretend für die gesamte Bürgerschaft jene<br />

Debatten zu führen, die erforderlich sind, damit „die Bürgerschaft sich in der Politik<br />

wiederfindet oder aller erst mit ihr ‚mitkommt‘.“ 50 Dem öffentlichen Austausch und<br />

der pointierten Debatte von Rede und Gegenrede wird in diesem herausgehobenen<br />

Forum der Politik eine das politische Bewusstsein bildende Bedeutung beigemessen.<br />

51 „Die Regierenden umwittert keine Art von Heiligkeit. Es ist umgekehrt erwünscht,<br />

daß sie der schärfsten Kritik ausgesetzt werden. Wer es wagt, solche Stellungen<br />

zu übernehmen, muß sich bewußt sein, daß hohe politische und sittliche Anforderungen<br />

an ihn gestellt werden, daß er sich der hellen Belichtung all seines Tuns aussetzt und<br />

darin bestehen muß, daß von ihm mehr verlangt wird <strong>als</strong> von anderen, nicht aber daß<br />

er in einen geschützten Raum eintritt.“ 52 Als Urheber öffentlichen Handelns stehen<br />

Amtsinhaber der Öffentlichkeit gegenüber in der Antwortpflicht. Amtsinhaber müssen<br />

Rechenschaft ablegen und sie müssen Auskunft darüber geben, warum sie so<br />

und nicht anders handeln. Aufgrund dieser menschlichen Qualität, nämlich Urheber<br />

des eigenen Handelns zu sein 53 , ist das „Rechenschaft-Ablegen“ aufs Engste mit<br />

dem Politischen verbunden. Denn wer in der Ausübung seines Amtes stets handelnd<br />

Neuanfänge in das zwischenmenschliche Bezugsgewebe einwebt, muss in der Tat für<br />

dieses Vermögen einstehen. Als Repräsentant muss er sich für sein öffentliches Tun,<br />

sprich für die Art und Weise seiner Amtsausübung, gegenüber den Repräsentierten<br />

48 Karl Jaspers: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch, München 1981, S. 254.<br />

49 Walter Bagehot: The English Constitution, (first published 1867) London 1968, S. 118 ff.<br />

50 Christian Meier: Die parlamentarische Demokratie, München 2001, S. 162.<br />

51 Vgl. Karl-Heinz Breier/Alexander Gantschow: Das Volumen der Freiheit. Zur symbolischen<br />

Dimension der Reichstagskuppel, in: Parlamentarismus in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Grundlagen und aktuelle Probleme, hrsg. von Gotthard Breit und Peter<br />

Massing, Schwalbach/Ts. 2002, S. 93 ff.<br />

52 Karl Jaspers: Wohin treibt die Bundesrepublik?, 10. Aufl. München 1988, S. 147.<br />

53 Vgl. Aristoteles: NE, 1139 a 20 ff.<br />

58 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

verantworten. 54 „Der ‚consensus‘, die Zustimmung der Beherrschten, ist das, was in<br />

der alten Theorie wesentlich die guten von den tyrannischen Herrschaftsformen unterscheidet.<br />

[…] Dabei ist der Konsens in der repräsentativen Demokratie auf die Ausübung<br />

von Ämtern bezogen, und zwar in einer Art und Weise, daß sie das durch die<br />

Berufung in das Amt bekundete Vertrauen – unter ständiger Kontrolle – rechtfertigt.“ 55<br />

Wer hingegen auf die absurde Idee käme, der Wählerschaft zu versprechen, in all<br />

seinem öffentlichen Handeln den Willen der Wähler auszuführen, entledigte sich<br />

damit jeglicher Verantwortung für sein Tun. Allenfalls kann er um Vertrauen für<br />

seine eigene Vorgehensweise werben. Und darüber hinaus ist er klug beraten, seine<br />

Mitbürger zu bitten, die von ihm ausgehenden Handlungsinitiativen doch wohlwollend<br />

aufzugreifen, mitzutragen und im besten Falle durch tätige Unterstützung zum<br />

– dann auch gemeinsamen – Erfolg zu führen. „Vertrauen ist die seelische Grundlage<br />

der repräsentativen Demokratie, und alle politischen Auseinandersetzungen in ihr<br />

sind weniger Kampf um Willen und Macht <strong>als</strong> um Vertrauen. Jeder Wahlkampf geht<br />

darum, Vertrauen zu erwerben, das Vertrauen in den Gegner in Frage zu stellen.“ 56<br />

Dabei ist es insbesondere die Aufgabe der Opposition, die Regierungsmehrheit zur<br />

öffentlichen Darlegung ihrer Politik zu bewegen. In diesem Sinne stellt das Plenum<br />

den herausgehobenen Ort der stellvertretenden Auseinandersetzung, des Streits der<br />

Worte, des Wettbewerbs der Meinungen und des Ausweisens der Gründe dar. Im<br />

Angelsächsischen wird der Begriff Grund mit reason wiedergegeben, und reason lässt<br />

sich zugleich <strong>als</strong> Vernunft übersetzen. Politisch gesprochen heißt dies, dass all dasjenige<br />

eher einsehbar ist, was die besseren Gründe ausweist.<br />

So wenig es sich bei einer parlamentarischen Debatte um philosophische Wahrheitssuche<br />

handelt und sosehr um Machtpositionen gestritten und gerungen wird, in Parlamenten<br />

wird Macht nicht gewaltsam durchgesetzt – denn Gewalt ist sprachlos. Was<br />

eine verfasste Ämterordnung leisten kann, ist die Offenlegung der Gründe. Und je<br />

einsehbarer und transparenter die Begründungen vermittelt werden, desto weniger<br />

können Vertrauensverlust und die in Politikverdrossenheit zum Ausdruck gebrachte<br />

Distanz der Bürger zu ihrer politischen Ordnung um sich greifen.<br />

Vertrauen und der darauf gründende Zusammenhalt der Bürger machen offensichtlich<br />

das Fundament eines freien Gemeinwesens aus. Denn „[…] wo eines regiert und<br />

das andere regiert wird, gibt es eine gemeinsame Leistung beider.“ 57 In modernen Worten<br />

heißt dies: Leadership und citizenship gehören zusammen.<br />

54 Vgl. Hella Mandt: „Responsible Government“ und kontinentale Demokratietheorie, in:<br />

dies.: Politik in der Demokratie. Aufsätze zu ihrer Theorie und Ideengeschichte, Baden-<br />

Baden 1998, S. 9 ff.<br />

55 Wilhelm Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 137.<br />

56 Ebd., S. 132 f.<br />

57 Aristoteles: Politik, 1254 a 27 f.<br />

Dis | kurs 59


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Sind Demokratien noch zeitgemäß?<br />

Eine einführende Analyse republikanischer und liberaler<br />

Ideen<br />

Ines Weber<br />

Hochschule Vechta, IBS<br />

E-Mail: ines.weber@uni-vechta.de<br />

Schlüsselwörter:<br />

Demokratie, Liberalismus, Republikanismus, Deliberation<br />

Angesichts der immer komplexer werdenden staatlichen Aufgaben von Steuerung<br />

und Integration sowie der zunehmenden bürgerlichen Unkenntnis und sogar Apathie<br />

gegenüber dem politischen System stellt sich die Frage, ob die Demokratie noch die<br />

angemessene Regierungsform ist, um auf diese Probleme zu reagieren. Die Lösung<br />

dieser Probleme ist nicht ohne weiteres anzugeben, denn natürlich muss zunächst<br />

das Verständnis und die Definitionen von Demokratie näher betrachtet werden. Allein<br />

dabei stößt man auf eine lange und uneinheitliche Historie des Begriffs, denn<br />

die Geschichte der Demokratie reicht bis in die Antike zurück und erfuhr während<br />

ihrer Entwicklung ganz unterschiedliche (theoretische) Ausdifferenzierungen und<br />

Konnotationen.<br />

Bereits im antiken Griechenland ist der Begriff Demokratie in den politischen und<br />

philosophischen Schriften zu finden. So besteht Demokratie nach Aristoteles' Ansicht<br />

darin, „dass alle über jeden herrschen und jeder wechselweise über alle“ 1 . Aber<br />

zeitgleich wurde diese Regierungsform zum Beispiel von Platon kritisiert, da sie der<br />

1 Vorländer, Hans: Demokratie, S. 9.<br />

60 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Ausdruck des Verfalls paradigmatischer Gerechtigkeit und vollendeten Glücks sei. 2<br />

Sie hatte über Jahrhunderte nur eine negative Konnotation – die Demokratie galt<br />

<strong>als</strong> instabil, <strong>als</strong> „Herrschaft des Pöbels“ und der Armen. Im Mittelalter und in der<br />

italienischen Renaissance tauchte dann der Begriff der Republik auf, unter dem man<br />

bürgerschaftliche Selbstregierung, Konsens und Zustimmung zu Herrschaft und politischer<br />

Regierung verstand. Hingegen beinhaltet das heutige Demokratieverständnis<br />

3 in vielen Staaten insbesondere liberale Züge. Individuelle Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte<br />

gelten in den Industriestaaten <strong>als</strong> selbstverständlich und werden<br />

mit Demokratie verknüpft. 4<br />

Die republikanische und die liberale Demokratie prägten und prägen die theoretische<br />

Idee von Demokratie. Diese sich mittlerweile konträr gegenüberstehenden<br />

Denkströmungen 5 haben ein vollkommen unterschiedliches Verständnis von Anthropologie,<br />

Freiheit, Partizipation und Zivilgesellschaft sowie Funktion und Aufgabe<br />

von Staatlichkeit, die zunächst eingehender beleuchtet werden sollen. Anschließend<br />

soll ein Lösungsvorschlag für die eingangs angerissenen sozialen Probleme aufgezeigt<br />

und damit eine Antwort auf die Frage nach der (noch) bestehenden Aktualität<br />

von Demokratien gegeben werden.<br />

Republikanismus und Liberalismus – ein Überblick<br />

Die Wurzeln des Republikanismus reichen bis in die Antike zurück. Schon Aristoteles<br />

und Cicero werden von den heutigen Republikanern <strong>als</strong> „Ideen-Gründer“ angesehen.<br />

6 Der Republikanismus vereinigt sehr unterschiedliche Ansätze und kann<br />

deshalb nicht <strong>als</strong> einheitliche Strömung innerhalb der politischen Ideengeschichte<br />

betrachtet werden. Die republikanischen Anknüpfungspunkte erstrecken sich vom<br />

antiken Ideal der athenischen Polis über die römische Res publica, die elitäre Adelsde-<br />

2 Hüttinger, Daniela: Platon (427–347 v. Chr.). In: Maier, Hans/Denzer, Horst (Hrsg.):<br />

Klassiker des politischen Denkens Band 1. Von Plato bis Hobbes, München 2004, S. 25.<br />

3 Seit den ersten antiken Erwähnungen des Demokratiebegriffs lassen sich drei Transformationsebenen<br />

erkennen: die Positivierung, die Futurisierung und die Rationalisierung.<br />

Gemeint ist die Aufwertung des einst negativ besetzten Begriffs, eine politische Zukunftsvision<br />

der möglichen Weiterentwicklung der Demokratie und die Verschiebung von<br />

der „Input“ zur „Output“-Orientierung (Buchstein, Hubertus: Demokratie. In: Göhler,<br />

Gerhard/ Iser, Matthias/Kerner, Ina (Hrsg.): Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe<br />

zur Einführung, Wiesbaden, 2004, S. 57–59). Zur genaueren Erläuterung dieser drei<br />

Transformationsebenen siehe Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk: Das Unbehagen an der<br />

Demokratietheorie. In: Leviathan 31/2003, S. 470–495.<br />

4 So etwa ist eine deutliche Steigerung der Zahl liberal-demokratischer Länder festzustellen.<br />

Pickel, Susanne/Pickel, Gert: Politische Kultur- und Demokratieforschung. Grundbegriffe,<br />

Theorien, Methoden. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 152.<br />

5 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 210.<br />

6 Terchek, Ronald J./Conte, Thomas C.: Theories of Democracy, S. 51.<br />

Dis | kurs 61


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

mokratie Venedigs und der konservativen Gentry in England bis hin zu den sozialen<br />

Bewegungen in den USA nach 1788. 7 Alle Republikaner vertreten die Idee, dass ein<br />

stabiles politisches Gemeinwesen nur durch den Zusammenhalt der Gemeinschaft<br />

existieren kann. Dieser wird durch die Ausbildung von Moralität unter den Bürgern<br />

hervorgebracht. Diese „Tugend“, wie Republikaner jene System stabilisierende Moral<br />

auch oft bezeichnen, ist der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Individuum<br />

und Gemeinschaft: tugendhafte Individuen arbeiten dem Wohl aller entgegen<br />

und schränken dafür auch ihre Privatinteressen ein. Tugendhaftes Handeln ist die<br />

„Bereitschaft zur freiwilligen, durch niemanden erzwungenen Subsumtion der eigenen<br />

Interessen unter das Wohl und die Funktionsimperative des Gemeinwesens“. 8<br />

Durch die Identifikation mit der Gemeinschaft hat auch das partizipatorische Element<br />

einen hohen Stellenwert: Politische Teilhabe ist ein gesamtgesellschaftlicher<br />

Handlungsprozess und der Schlüssel zur Selbstverwirklichung des Menschen. Neben<br />

staatlicher Hoheitsgewalt und dezentralisierter Regelung des Marktes tritt im<br />

republikanischen Verständnis die Solidarität <strong>als</strong> dritte und wichtigste Quelle gesellschaftlicher<br />

Integration. Damit kann der politische Prozess <strong>als</strong> Reflexionsform eines<br />

sittlichen Zusammenlebens begriffen werden. 9<br />

Klassisches liberales Denken entwickelte sich erst im 19.Jahrhundert und damit im<br />

Vergleich zum Republikanismus verhältnismäßig spät. Diese Denkströmung ist jedoch,<br />

genau wie der Republikanismus, sehr vielschichtig – sie wird heute zwischen<br />

Konservatismus auf der Rechten und den Demokraten auf der Linken angesiedelt.<br />

Alle Liberalen verbindet dabei stets der Leitgedanke, die Menschen von unnötigen<br />

Bindungen zu emanzipieren und soviel Freiheit wie möglich im staatlichen und gesellschaftlichen<br />

Leben zu erreichen. 10 Erste liberale Gedanken entstanden in den<br />

USA von den Autoren der Federalist- Papers. 11 Die Anhänger liberaler Ideen schließen,<br />

anders <strong>als</strong> die Republikaner, einen schon vorgegebenen Gesamtwillen, ein<br />

sittliches Gemeinwohl, an dem die Politik oder die Volksvertreter sich orientieren<br />

können, aus. Erst in einem rationalen Diskussions- und Entscheidungsprozess der<br />

Repräsentanten muss ermittelt werden, was <strong>als</strong> allgemein verbindliches Wohl ange-<br />

7 Buchstein, Hubertus/Schmalz-Bruns, Rainer: Nachwort. In: Barber, Benjamin: Starke<br />

Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994.<br />

8 Münkler, Herfried: Politische Tugend, S. 25.<br />

9 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 277 f.<br />

10 Fenske, Hans: Politisches Denken von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart.<br />

In: Fenske, Hans/Mertens, Dieter/Reinhard, Wolfgang/Rosen, Klaus (Hrsg.): Geschichte<br />

der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 2003, S. 380.<br />

11 Döhn, Lothar: Liberalismus, S. 216 f. Die Autoren der Federalist-Papers argumentieren<br />

auch mit dem starken republikanischen Moment des Tugend<strong>diskurs</strong>es für die Herausbildung<br />

des amerikanischen Verfassungsverständnisses.<br />

62 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

sehen wird. Diese Debatte und ihre Abstimmung werden völlig unabhängig getroffen<br />

und dürfen nicht durch ein imperatives Mandat oder direkte Einwirkung der Wähler<br />

beeinflusst werden. Die Parlamentarier, die Elite des Volkes, stehen stellvertretend<br />

für das ganze Volk und treffen rational und frei Entscheidungen, die allgemein verbindlich<br />

sind. 12 Der Kern der liberalen Gedanken liegt dabei auf dem Verständnis,<br />

dass jedes Individuum frei vor ungewünschten Übergriffen von Seiten des Staates<br />

oder anderer Mitmenschen ist. Die Erklärung der Menschenrechte, eine der Säulen<br />

der heutigen Demokratien, lässt sich somit auf Liberale wie John Locke zurückführen.<br />

Aus dem Schutz individueller Freiheitsrechte resultiert die Vorstellung, dass es<br />

rechtlich festgeschriebene Autonomiesphären gibt, die neutral, <strong>als</strong>o dem politischen<br />

Willensbildungs- und Entscheidungsprozess entzogen sind. Der Staat wird „<strong>als</strong> Apparat<br />

öffentlicher Verwaltung, die Gesellschaft <strong>als</strong> System marktwirtschaftlich strukturierten<br />

Verkehrs der Privatpersonen und ihrer gesellschaftlichen Arbeit“ verstanden. 13<br />

Anthropologie<br />

Republikaner vertreten kein homogenes anthropologisches Verständnis. Trotzdem<br />

rekurrieren viele republikanische und heute auch kommunitaristische Auffassungen<br />

auf Aristoteles' anthropologischem Konzept. Er ist einer der ersten und bis heute<br />

wichtigsten Vertreter des Republikanismus. Seiner Ansicht nach gibt es ein objektives<br />

Gut, das der Mensch zunächst <strong>als</strong> Mensch durch Sprache (zoon echon) und durch<br />

Handeln in der politischen Gemeinschaft (zoon politikon) verwirklichen kann. Erst<br />

dadurch kann er sich zu etwas „Übermenschlichem“, „Göttlichem“ entwickeln. 14<br />

Die „Verwandlung“ wird durch die Analyse der menschlichen Seele begründet: sie besteht<br />

für Aristoteles aus einem irrationalen und einem rationalen Teil. Das Irrationale<br />

lässt sich teilweise durch das Rationale kontrollieren. Eine „Anlage“ zur Kontrolle ist<br />

in jedem Menschen. Wenn diese Anlage durch Gewöhnung dem zweiten, rationalen<br />

Teil zugänglich gemacht wird, nennt Aristoteles dieses „Tätigsein der Seele“ 15 ethische<br />

Tugend. 16 Der rationale Teil wird durch Vernunft ausgebildet. Er wird bestimmt<br />

12 Döhn, Lothar: Liberalismus, S. 215–216.<br />

13 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 277.<br />

14 Capurro, Rafael: Menschenbilder. Einführung in die philosophische Anthropologie. In:<br />

Capurro, Rafael/Grimm, Petra (Hrsg.): Medienethik. Menschenbilder in den Medien:<br />

ethische Vorbilder? Stuttgart 2002, Schriftenreihe Medien-Ethik, Bd. 1.<br />

15 Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 29.<br />

16 Die ethischen Tugenden <strong>als</strong> gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen können <strong>als</strong> ein Habitus<br />

bestimmt werden, der uns ermöglicht die Mitte zwischen „Zuviel und Zuwenig“ zu<br />

finden. „Wenn <strong>als</strong>o jede ‚Kunst‘ ihr Werk zur Vollendung dadurch bringt, dass sie auf das<br />

Mittlere blickt und ihr Werk diesem annähert – man pflegt daher beim Anblick vollendeter<br />

Kunstwerke zu urteilen: ‚hier ist nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen‘,<br />

erkennt <strong>als</strong>o an, dass ein Zuviel und ein Zuwenig die Harmonie zerstört, die richtige Mit-<br />

Dis | kurs 63


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

durch die dianoёtischen Tugenden. 17 Beide Tugenden müssen ausgebildet sein und<br />

über das gesamte Leben verfolgt werden, um zum objektiv wahren, höchsten Gut,<br />

zur vollendeten Glückseligkeit, der Eudaimonia zu gelangen. Nur innerhalb der politischen<br />

Gemeinschaft lassen sich diese ethischen und intellektuellen Fähigkeiten und<br />

Fertigkeiten vervollkommnen. Das Gute für die politische Gemeinschaft ist besser<br />

und vollkommener <strong>als</strong> das Gute eines Einzelnen.<br />

Die tugendhafte Lebensführung ist keinesfalls für jeden Menschen konstatierbar<br />

oder gar <strong>als</strong> ein Automatismus zu betrachten, sondern kann nur von Bürgern der<br />

Polis, <strong>als</strong>o Besitzenden, hervorgebracht werden. Sie haben die Möglichkeit sich der<br />

Kontemplation zu widmen, da sie durch ihren Reichtum von der Erwirtschaftung<br />

des Lebensnotwendigen befreit sind.<br />

Besitzt ein Bürger zuviel Reichtum, so sind der Sittenzerfall und damit die Zerstörung<br />

der Tugend vorherbestimmt. Deshalb ist es wichtig nach dem „Optimum des politischen<br />

Zustandes unterhalb des Maximums“ zu suchen. 18 Anders <strong>als</strong> bei Aristoteles ist<br />

zum Beispiel Rousseaus republikanisches Sozialverständnis nicht natürlich angelegt,<br />

sondern wird durch den contrat social begründet. Trotzdem dient ihm einerseits die<br />

griechische Polisverfassung <strong>als</strong> sinnvolles Ordnungsmodell sowie andererseits die<br />

Bürgertugenden der Römischen Republik. 19 Die Stabilität der Rousseauschen Gesellschaft<br />

bemisst sich an der Veredelung des Menschen durch die in der Gemeinschaft<br />

hervorgebrachten Tugenden. Hierbei ist, genau wie bei Aristoteles, eine Formung<br />

und Erziehung vonnöten, die geistig-sittliche Staatsbürger hervorbringt. Da der Bereich<br />

des Politischen in allen Lebensformen verwirklicht ist, hat der „Erzieher“ in der<br />

radik<strong>als</strong>ten Lesart des Republikanismus folglich auch das Recht in sämtliche Lebensbereiche<br />

eines Jeden einzudringen um den Menschen „formen“ zu können.<br />

Der republikanische Ausgangspunkt für das anthropologische Verständnis ist <strong>als</strong>o<br />

te dagegen sie erhält. […] sittliche Tüchtigkeit zielt wesenhaft auf jenes Mittlere ab. Ich<br />

meine natürlich die Tüchtigkeit des Charakters. Denn diese entfaltet sich im Bereiche der<br />

irrationalen Regungen und des Handelns und da gibt es das Zuviel, das Zuwenig und das<br />

Mittlere.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 44). Aristoteles gibt auf den anschließenden<br />

Seiten bestimmte Beispiele: so ist die Tapferkeit die Mitte zwischen Angst und<br />

Verwegenheit (S. 46), Großzügigkeit ist die Mitte zwischen Knausern und Verschwendungssucht<br />

(S. 47), Hochsinnigkeit die Mitte zwischen dummem Stolz und Engsinnigkeit<br />

(S. 47).<br />

17 Sie sind Handlungen, die um ihrer selbst Willen getan werden. Aristoteles nennt folgende<br />

Tugenden: die wissenschaftliche Erkenntnis (Aristoteles: Nikomachische Ethik:<br />

S. 156 f.), das praktische Können (S. 157 f.), die sittliche Einsicht (S. 158 f.), intuitiver<br />

Verstand (S. 160) und philosophische Weisheit (S. 161 f.). Für genauere Erklärungen<br />

siehe Buch IV.<br />

18 Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 282.<br />

19 Braun, Eberhard/Heine, Felix/Opolka, Uwe: Politische Philosophie. Ein Lesebuch. Texte,<br />

Analysen, Kommentare, Reinbek 2002, S. 170.<br />

64 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

immer die Gemeinschaft, durch die die eigentliche „Menschwerdung“ erst vollzogen<br />

werden kann. Die Pflichten des Einzelnen gegenüber seiner Gemeinschaft sind vorrangig.<br />

Erst aus den Pflichten heraus leiten sich auch bestimmte Rechte ab. Das anthropologische<br />

Verständnis der Liberalen setzt nicht das Wohl aller vor das des Bürgers,<br />

sondern betont die höherwertige Stellung des Einzelnen. Viele singuläre Individuen<br />

bilden (durch einen Vertrag, wie etwa in der liberalen Idee von John Locke) einen<br />

gemeinsamen politischen Verbund. Durch vorhandene institutionelle Vorkehrungen<br />

und durch staatliche Macht werden die einzelnen Mitglieder an der prinzipiell<br />

schrankenlosen individuellen Nutzenmaximierung gehemmt. Durch die Schaffung<br />

eines privaten Raumes, ermöglicht durch die Trennung von Staat und Gesellschaft,<br />

wird der Bürger moralisch entlastet. Anstelle der allumfassenden politischen und<br />

moralischen Tugend tritt im Liberalismus eine Trennung von Legalität (im Bereich<br />

des Staates) und Moralität (vorbehalten für den gesellschaftlichen Bereich). 20 Liberale<br />

gehen <strong>als</strong>o bei ihren theoretischen Betrachtungen stets vom Individuum und<br />

seinen Rechten (zum Beispiel das Recht auf Eigentum, individuelle Freiheit und Nutzenmaximierung)<br />

aus und erst untergeordnet ergeben sich daraus Pflichten. 21<br />

Aus vielen liberalen Schriften kann ein geschichtsphilosophischer Verlauf abgeleitet<br />

werden, der sich geradlinig auf einen evolutionären Fortschritt der rationalen Menschen<br />

zu bewegt und damit einhergehend auch die Maximierbarkeit der individuellen<br />

Interessen ermöglicht. Liberale unterscheiden sich jedoch zum Beispiel in Bezug<br />

auf die eingeräumte Einsichtsfähigkeit der Menschen in ihre Interessen. Prinzipiell<br />

ist aber erkennbar, dass selbst der Interessen<strong>diskurs</strong> gezwungen ist eine Auswahl der<br />

Interessen vorzunehmen. Das Ausmaß dieser Selektion ist strittig. Insgesamt sind<br />

aber „wohlverstandene“ und langfristig rationale Interessen entscheidend. Dies bedeutet,<br />

dass nicht jeder egoistische Nutzenmaximierer zugelassen wird, sondern nur<br />

jene, die sich auf lange Sicht ihrer angelegten Interessenrationalität erwiesen haben<br />

und so lange engagiert waren, dass die Sanktionsmechanismen von Markt und Verfassung<br />

sie zu dieser Rationalität „erziehen“ konnten. 22 Bildung und Erziehung werden<br />

<strong>als</strong>o hauptsächlich <strong>als</strong> Aufgabe der staatlichen Institutionen und Organisationen<br />

verstanden.<br />

Freiheit<br />

Die normativ hohen republikanischen Ansprüche setzen voraus, dass der Mensch<br />

nicht seinen Launen oder Leidenschaften unterliegen darf, sondern allein den Geboten<br />

der Vernunft und des Verstandes gehorcht. Der Mensch muss sein „höheres Selbst<br />

20 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 282–84.<br />

21 Münkler, Herfried: Politische Tugend. S. 33.<br />

22 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 283 f.<br />

Dis | kurs 65


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

<strong>als</strong> Geistwesen“ zur Geltung bringen und damit frei werden für eine selbst bestimmte<br />

Lebensform. 23 Für diese Entwicklung müssen Leidenschaften und egoistische Interessen<br />

kontrolliert und unterdrückt und das kollektiv „höhere Selbst“ mithilfe von<br />

Erziehung entwickelt werden. Positive Freiheit beinhaltet dementsprechend auch einen<br />

bestimmten, je nach Theorieansatz variierenden Zwang oder wird von Kritikern<br />

gar <strong>als</strong> Tyrannei bezeichnet. Denn jedem Einzelnen darf der gesellschaftliche Wille<br />

aufoktroyiert werden um die eigene, höhere Freiheit zu erlangen. 24<br />

Diese Idee, Freiheit bedeute Gehorsam gegenüber einem höherem Gesetz ist so alt<br />

wie die ersten Demokratien selbst. „In Europa wurde seit der griechischen Antike –<br />

anderswo möglicherweise früher – von der ‚Versklavung durch die Leidenschaften‘ und<br />

von Freiheit <strong>als</strong> Form der Selbstdisziplin gesprochen. Von Freiheit wurde <strong>als</strong>o auch so<br />

gesprochen, <strong>als</strong> beinhalte sie Gehorsam gegenüber einem höheren Gesetz, einem Gesetz<br />

Gottes oder der Natur.“ 25 Rousseau 26 etwa hat die positive Freiheit <strong>als</strong> Quelle, Maß<br />

und Zweck des Rechts und der politischen Ordnung angesehen. Sobald der Mensch<br />

auf seine Freiheit verzichte, verzichte er gleichzeitig auf seine Eigenschaft <strong>als</strong> Mensch.<br />

Jedoch stellt sich die Frage, wie die Menschen, die voneinander abhängig sind und<br />

die gegenseitig Forderungen aneinander stellen können, frei sind. Es ist nur möglich,<br />

indem die Verpflichtungen, die sie haben, ihrem eigenen (höheren) Willen entsprechen.<br />

Jedoch werden die Verbindlichkeiten nicht von den einzelnen Menschen<br />

bestimmt, sondern von der Gesellschaft auferlegt. Die Lösung des Problems ist die<br />

Kongruenz von eigenem Willen (volonté particulière) und Allgemeinwillen (volonté<br />

générale). Er erstreckt sich auf sämtliche Gemeinschaftsmitglieder, die alle in den<br />

Kreis der gegenseitigen Abhängigkeit eingeschlossen sind. Freiheit kann demnach<br />

nur verwirklicht sein, wenn alle an der Gesetzgebung Anteil hatten.<br />

Partizipation und Freiheit vereinen sich im liberalen Verständnis nicht. Vielmehr<br />

wird das liberale Freiheitsverständnis bestimmt durch den Schutz vor Nichteinmischung<br />

und die Befreiung von Zwang oder einer Behinderung und ist somit das notwendige<br />

konstituierende Element der liberalen Demokratie. Es definiert sich durch<br />

23 Ladwig, Bernd: Freiheit. In: Göhler, Gerhard/ Iser, Matthias/Kerner, Ina (Hrsg.): Politische<br />

Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004, S. 84.<br />

24 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 212–215.<br />

25 Plamenatz, John: „Was nichts anderes heißt, <strong>als</strong> daß man ihn zwingen wird, frei zu<br />

sein.“ In: Brandt, Reinhard/Herb, Karlfriedrich (Hrsg.): Vom Gesellschaftsvertrag oder<br />

Prinzipien des Staatsrechts, Berlin 2000, S. 70.<br />

26 Jean-Jaques Rousseau wird von heutigen Politikwissenschaftlern zu den Republikanern<br />

gezählt. Seine Schriften enthalten aber auch Züge von liberalen Ansätzen. Siehe dazu<br />

Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 215–221; Kersting, Wolfgang: Die Vertragsidee des Contrat<br />

social und die Tradition des neuzeitlichen Kontraktualismus. In: Brandt, Reinhard/Herb,<br />

Karlfriedrich (Hrsg.): Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Berlin<br />

2000, S. 48.<br />

66 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

das Fehlen von Hindernissen für mögliche Wahlentscheidungen oder Betätigungen,<br />

nicht durch die reale Wahl oder die Durchführung selbst.27 Der Bereich der Nicht-<br />

Überwachung und der Ungestörtheit ist begrenzt durch Sicherheits-, Gerechtigkeitsund<br />

sogar durch gewisse Grade von Gleichheitsinteressen.<br />

Die einzelnen liberalen Vertreter hatten jedoch unterschiedliche Vorstellungen über<br />

die Weite der Freiheit, die den Menschen gewährt werden sollte. Benjamin Constant<br />

beispielsweise sprach sich ausdrücklich für die Freiheit der Religion, der Meinungsäußerung<br />

und des Eigentums gegenüber willkürlichen Eingriffen aus. Auch John Locke,<br />

John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville forderten einen bestimmten, relativ<br />

großen persönlichen Freiraum, in dem die Menschen über das für sie Gute, Notwendige<br />

und Richtige reflektieren und es verfolgen können. 28 Diese Freiheit darf unter<br />

keinen Umständen verletzt werden. Eine enger gefasste Freiheitsdimension liefert<br />

John Rawls mit seiner Gerechtigkeitskonzeption, die je nach Auslegung sehr umfassende<br />

staatliche Eingriffe legitimiert. 29 Trotz dieser Unterschiede genießt nach liberaler<br />

Ansicht jeder Mensch ein Mindestmaß an negativer Freiheit, <strong>als</strong>o einen Schutz<br />

vor den Übergriffen anderer. Die Abwehrfunktion fällt in den Aufgabenbereich des<br />

Staates. Das bedeutet jedoch zwangsläufig, dass ein Mensch, und sei der Grund noch<br />

so vernünftig und gut gemeint, zu nichts gezwungen oder bewegt werden darf, was<br />

seinem egoistischen Interesse und Willen zuwiderläuft.<br />

Partizipation und Zivilgesellschaft<br />

Im republikanischen Verständnis ist Partizipation Ziel und Wert an sich. Da die Mitwirkung<br />

und die Entfaltung innerhalb der Gemeinschaft angestrebt wird, ist die politische<br />

Teilhabe Bedingung und Schlüssel für die tugendhafte Veredelung der Bürger.<br />

Partizipation wird verstanden <strong>als</strong> politisch-soziale Anteilnahme in möglichst vielen<br />

Bereichen der Gesellschaft und intendiert die Integration in die Gemeinschaft sowie<br />

die Identifikation mit ihr. Somit ist die republikanische Partizipation konsensorientiert,<br />

kommunitär und expressiv 30 sowie stark auf aktives Handeln ausgerichtet, wie<br />

etwa bei Hannah Arendt.<br />

Gesetze sind nur dann legitim, wenn sie durch ein direktdemokratisches Verfahren<br />

unter der Teilhabe aller ratifiziert wurden. Damit entsteht ein Zusammenhang zwischen<br />

der Selbstbestimmungspraxis des Volkes und der unpersönlichen Herrschaft<br />

27 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 42.<br />

28 Ebd., S. 203–206.<br />

29 Kritisch dazu vgl. Kersting, Wolfgang: Probleme der politischen Philosophie des Sozi<strong>als</strong>taats.<br />

In: ebd. (Hrsg): Politische Philosophie des Sozi<strong>als</strong>taates, Weilerswist 2000.<br />

30 Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation. In: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik.<br />

Band 1: Politische Theorien, München 1995, S. 398.<br />

Dis | kurs 67


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

der Gesetze. 31 Die Zivilgesellschaft wird vom Staat nicht unterschieden, sondern sie<br />

ist zugleich politische Macht und Gemeinschaft der Bürger. Sie ist sowohl im Lebenskreis<br />

der Menschen <strong>als</strong> auch in ihrer Herrschaftsform anzutreffen.<br />

Die negativen Rechte der Liberalen beinhalten nicht zwangsläufig Partizipationsrechte.<br />

In einer liberalen Volksherrschaft ist die Mitwirkung der Bürger am politischen<br />

Geschehen aber eine Bedingung zur Aufrechterhaltung der demokratischen<br />

Strukturen. Die eben schon beschriebenen Ausbildungen des liberalen Demokratieverständnisses<br />

sind auf die Emanzipation der Bürger und die Entfaltung der<br />

ökonomischen Tätigkeit zurückzuführen. Damit geht aber auch die Auflösung der<br />

bürgerlichen Gesellschaft, so wie sie noch im Bürgerhumanismus verstanden wurde,<br />

einher. Nun tritt die Zivilgesellschaft dem Staat gegenüber. Sie reflektiert zum einen<br />

die Entfaltung einer marktförmigen Ökonomie und zum anderen die Entwicklung<br />

einer bürgerlichen Öffentlichkeit für die Legitimation der politischen Herrschaft. 32<br />

Die individuellen Rechte der Bürger werden <strong>als</strong> Gewährleistung für Optionsspielräume<br />

betrachtet. Genauso verhält es sich mit den politischen Rechten: Sie ermöglichen<br />

jedem Staatsbürger seine privaten Interessen so zu präsentieren, dass am Ende mit<br />

Hilfe von Wahlen ein politischer Wille gebildet werden kann, der dann auf die Administration<br />

einwirkt. Dadurch wird den Bürgern eine Art Kontrollfunktion gegeben,<br />

die periodisch die Arbeit der Staatsmacht überprüft. Falls diese nicht im Interesse<br />

der Gesellschaftsbürger ausgeübt wird, haben die Individuen die Möglichkeit der<br />

Abwahl des Parlaments.<br />

Partizipation bedeutet <strong>als</strong>o zielgerichtetes, instrumentelles, auf das politische System<br />

hin ausgerichtetes Handeln. Die individuellen Bedürfnisse und Interessen des<br />

homo oeconomicus sollen von den Entscheidungsträgern in Regierung, Parlament<br />

und Parteien durchgesetzt werden. Hierfür wird oftm<strong>als</strong> eine vom Volk allgemein<br />

gewählte, auf Repräsentation beruhende Elitenherrschaft angesetzt. 33<br />

Funktion und Aufgabe von Staatlichkeit<br />

Die Mitglieder einer Gemeinschaft können vom republikanischen Selbstverständnis<br />

heraus keine eigenen Zwecke verfolgen, sondern nur gemeinschaftliche Teilzwecke<br />

verwirklichen. Das übergeordnete, höherwertige Ziel ist objektiv, bemisst sich am<br />

Wohl der gesamten Polis bzw. des Staates und wird durch tugendhaftes Gemeinschaftsleben<br />

erreicht. Die Gemeinschaft und ihr Wohl sind Anlass und Ziel jeglicher<br />

31 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 281.<br />

32 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 294.<br />

33 Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Politik.<br />

Band 1: Politische Theorien, München 1995, S. 397–398.<br />

68 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

politischer Handlungen. Demnach fällt die Erziehung der Menschen hin zu tugendhaften<br />

Bürgern in den Verantwortungsbereich des Staates. Institutionen, die diese<br />

Aufgabe auch praktisch umsetzen, sind mithilfe von Gesetzen, die durch unpersönlichen<br />

Druck dem vorbildlichen Verhalten zu Hilfe kommen sollen, mit Zwangsmitteln<br />

ausgestattet, die nichttugendhaftes Handeln sanktionieren können. 34 Der Gesetzgeber,<br />

<strong>als</strong>o das am Gesamtwohl orientierte Volk, kann die Institutionen kreieren<br />

um die „menschliche Vortrefflichkeit“ hervorzubringen. 35<br />

Da das Gemeinwohl und das Gute für die Polis der Zweck aller politikwissenschaftlichen<br />

Tätigkeit ist und sich aus der republikanischen Anthropologie die Gemeinschaft<br />

<strong>als</strong> das Höhere ergibt, darf der Staat in sämtliche politisch-sozialen Bereiche<br />

eindringen. Bei Rousseau etwa erstreckt sich die Wichtigkeit des Gemeinwohls soweit,<br />

dass ein Einzelner zum Wohle aller sein Leben lassen muss. Das Ziel der liberalen<br />

Repräsentativdemokratie ist die Verantwortungszuweisung von Entscheidungen<br />

und weniger die Partizipation. Die Parlamentarier sind den Wählern rechenschaftspflichtig,<br />

verantwortlich und in ihrer politischen Herrschaft durch Gesetze limitiert.<br />

Die unterschiedlichen Volksinteressen werden durch die Repräsentanten vermittelt,<br />

interpretiert und antizipiert. 36 Dabei werden individuelle Interessen durch Gegeninteressen<br />

ausbalanciert („checks and balances“). Um eine gute politische Ordnung<br />

zu ermöglichen, benötigt man nach Ansicht der Liberalen keine Tugend, sondern<br />

institutionelle Organisationen, die die Einzelinteressen ausgleichen. Der Staat hat die<br />

Aufgabe diesen Ausgleich mithilfe institutioneller Prozeduren einer demokratischen<br />

Rechtsetzung, die fair im Sinne allgemeiner Zugänglichkeit und egalitärer Partizipationschancen<br />

ist, umzusetzen.<br />

Demzufolge ist die minimalistische Form von staatlich zu schützendem Wohl die<br />

Summe aller Einzelinteressen, die die Verfolgung des individuellen Glücks teilen.<br />

Um dies zu gewährleisten, muss der Einzelne vor moralischen Übergriffen der Gemeinschaft<br />

durch entsprechende Gesetze geschützt werden. 37 Adam Smith etwa<br />

benutzt die Metapher der unsichtbaren Hand um zu verdeutlichen, dass durch das<br />

Streben nach maximalem Eigennutz das Gemeinwohl automatisch ausgebildet wird.<br />

Auch die Autoren der Federalist-Papers sahen durch das individuelle Streben nach<br />

eigenen Interessen, durch welche Verschiedenheit und Freiheit gefördert werden, ein<br />

gemeinwohlorientiertes Gleichgewicht erreicht. Die weitergehenden Staatsaufgaben<br />

sind umstritten. So plädiert Robert Nozick für die Beschränkung der Staatsfunkti-<br />

34 Aristoteles: Politik. Schriften zur Staatstheorie, Stuttgart 2003, S. 370.<br />

35 Voegelin, Eric: Ordnung und Geschichte. Band VII. Aristoteles, München 2003, S. 51.<br />

36 Guggenberger, Bernd: Demokratie/Demokratietheorie. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon<br />

der Politik, Band 1: Politische Theorien, München 1995, S. 41.<br />

37 Seubert, Sandra: Gemeinwohl. In: Göhler, Gerhard/Iser, Matthias/Kerner, Ina (Hrsg.):<br />

Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2004, S. 104 f.<br />

Dis | kurs 69


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

onen auf die Durchsetzung von Verträgen sowie den Schutz vor Gewalt, Diebstahl<br />

und Betrug. Der Smith'sche Staat hingegen umfasst die Gewährleistung von innerer<br />

und äußerer Ordnung und Sicherheit, die Bereitstellung von Transport- und Kommunikationswegen<br />

sowie die Mitwirkung an der Ausbildung. Neuere liberale Denker<br />

wie etwa John Rawls sehen <strong>als</strong> das staatlich zu gewährleistende Gemeinwohl die<br />

Sicherstellung von Gerechtigkeit an. Seiner Ansicht nach haben die Bürger nicht nur<br />

ein instrumentelles Verhältnis zur politischen Ordnung, sondern sind <strong>als</strong> moralische<br />

Wesen mit einem Gerechtigkeitssinn ausgestattet. Dieses Gespür sorgt dafür, dass die<br />

Menschen die Vernünftigkeit einer Gerechtigkeitskonzeption verstehen und akzeptieren<br />

werden. Die Gerechtigkeit besteht darin, dass jedem Bürger möglichst viele<br />

Freiheiten und Grundgüter eingeräumt werden können.<br />

Weder Liberalismus noch Republikanismus…<br />

Die Analyse dieser ideengeschichtlichen Demokratieströmungen lässt nun auch die<br />

Schwächen eines jeden Modells erkennen, die zunächst kurz aufgezeigt werden, damit<br />

eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Demokratie <strong>als</strong> zeitgemäße<br />

Regierungsform möglich ist.<br />

Die republikanische Direktdemokratie wurde im antiken Griechenland und auch<br />

in Florenz durch die Volksversammlungen umgesetzt. Eine Direktdemokratie allein<br />

macht aber noch keine wirkliche Republik, wie sie Aristoteles, Rousseau oder auch<br />

Machiavelli formuliert haben, aus. Hinzu kommt die Ausbildung der Tugend, durch<br />

die der Gemeinwille erst erzeugt werden kann. Das Problem hierbei ist offensichtlich:<br />

Durch die Institution der Volksversammlung allein kann kein Allgemeinwille<br />

im Sinne eines höheren Ganzen, dem Besten für die Gemeinschaft, ermittelt werden.<br />

Jeder Bürger muss dieses höhere Selbst, diese innere Überzeugung, allein und doch<br />

mit Hilfe der Gemeinschaft verwirklichen.<br />

Die praktische Umsetzung bei allen Bürgern, insbesondere bei Menschen unterschiedlicher<br />

kultureller und religiöser Hintergründe, ist unmöglich. Eine Garantie<br />

auf das Vorhandensein des Allgemeinwillens kann von niemandem gegeben werden.<br />

Die Geschichte zeigte auch, dass das höhere Selbst mit Institutionen wie Kirchen,<br />

Nationen, Rassen, Staaten, Klassen, Kulturen oder auch Parteien gleichgesetzt wurde<br />

und die Doktrin der Freiheit zu einer Doktrin der Autorität wurde, zum Teil sogar<br />

bis hin zur Unterdrückung. 38 Die positive Freiheit, das höhere Selbst, die „Erziehung“<br />

der Tugend wurden von vielen Despoten und Tyrannen <strong>als</strong> Rechtfertigung der eigenen<br />

Macht genutzt. So wie auch schon Aristoteles meinte, dass durch Sittenverfall<br />

und Tugendverlust die Demokratie untergeht, so war auch Montesquieu der Ansicht,<br />

dass ohne die Tugend der Bürger eine Republik keinen Bestand hat. Sie ist die Regie-<br />

38 Berlin, Isaiah: Freiheit, S. 46 f.<br />

70 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

rungsform, die die höchsten sozio-moralischen Anforderungen überhaupt stelle. Die<br />

völlige Aufgabe der eigenen Interessen zum Wohle der Gemeinschaft ist schon zu<br />

Zeiten Montesquieus utopisch gewesen, weshalb er der Errichtung von republikanischen<br />

Demokratien skeptisch gegenüberstand. Die Mehrzahl der Menschen würden<br />

den Anforderungen, die eine Demokratie an sie stellt, nicht mehr gerecht werden<br />

können. 39 Und auch Rousseau musste sich eingestehen, dass eine Republik eigentlich<br />

nur von Göttern gemacht werden könne und der gesellschaftliche Geist schon die<br />

Verfassung diktieren müsse, obwohl er erst das Werk der Verfassung sein kann. Die<br />

Menschen müssten schon vor dem Vertragsschluss das sein, was die Republik erst<br />

aus ihnen machen wird, damit das Volk Gefallen an der Verfassung findet und ihre<br />

Grundregeln befolgt. 40<br />

Der gesamte demokratische Prozess hängt <strong>als</strong>o von den tugendhaften Bürgern ab. In<br />

einer heterogenen, sich stets weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft existieren aber<br />

faktische Interessen und Wertorientierungen, die keine Aussicht auf Konsens innerhalb<br />

eines ethischen Diskurses haben und auch nicht für die Identität des Gemeinwesens<br />

konstitutiv sind. Der Interessenausgleich vollzieht sich heute nicht mehr direktdemokratisch<br />

in der Volksversammlung, sondern <strong>als</strong> Kompromissbildung zwischen<br />

Parteien, die über Macht- und Sanktionspotentiale verfügen. 41 Eine Rückkehr zur<br />

Definition eines durch Jeden mithilfe der Tugenden zu erzielenden objektiv Guten<br />

a priori ist utopisch und würde Despotismen und auch Diktaturen wieder möglich<br />

machen. Des Weiteren würde die zum Selbstverständnis gehörende partizipatorische<br />

Freiheit eines jeden Bürgers einen Nation<strong>als</strong>taat schnell an die bürokratischen und<br />

institutionellen Grenzen bringen.<br />

Die negativen Freiheiten des demokratischen Liberalismus sind wesentlich leichter zu<br />

gewährleisten, in den westlichen Demokratien faktische Realität und in vielen anderen<br />

Ländern zumindest formal festgeschrieben. So ist die Charta der Menschenrechte<br />

das klassische Beispiel liberaler Ideen und gilt vielen Bürgern <strong>als</strong> ein wichtiges demokratisches<br />

Element. Die mögliche Gefahr, die aus einem zu hohen Maß an negativer<br />

Freiheit und Eigennutzenmaximierung resultieren kann, liegt im Zusammenbruch<br />

der Gesellschaft <strong>als</strong> Gemeinschaft, der politischen Unkenntnis und der Nichtpartizipation<br />

der Bürger. Die heutige, immer kleiner werdende, liberale Zivilgesellschaft,<br />

die aus homini oeconomici mit kulturell und religiös differierenden Interessen besteht,<br />

lässt kaum einen für alle Individuen akzeptablen Konsens zu, der den sozialen<br />

Zusammenhalt sichern könnte. Somit benötigt auch eine liberale Volksherrschaft<br />

ein Mindestmaß an Gemeinwohl, Bildung und Partizipation um die demokratische<br />

39 Münkler, Herfried: Politische Tugend, S. 30.<br />

40 Rousseau, Jean-Jaques: Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1988, S. 72 f.<br />

41 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 283 f.<br />

Dis | kurs 71


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese Voraussetzungen sind theoretisch jedoch nicht<br />

begründet, sondern werden von Liberalen stillschweigend unterstellt. Der für keinen<br />

Bürger verbindliche Wahlakt wäre im radikalliberalen Sinne schon ausreichende politische<br />

Partizipation. Das Wissen der Bürger über politische Geschehnisse sowie die<br />

Rekrutierung der Abgeordneten werden so immer schwieriger, die Identifikation der<br />

Bürger mit und die Nähe zu ihren Repräsentanten geht verloren.<br />

So stellt denn auch Ansgar Klein das Partizipations- und damit das Demokratieproblem<br />

für beide Modelle treffend heraus: „Der republikanische Begriff positiver Freiheit,<br />

der die politische Partizipation und das Ziel der demokratischen Selbstregierung in den<br />

Mittelpunkt stellt, ist zwar anfällig für Illiberalität und die Tyrannei der Mehrheit, doch<br />

macht er auf die Motivationsprobleme liberaler Demokratien aufmerksam und zusätzlich<br />

darauf, dass bürgerschaftliche Kompetenz <strong>als</strong> ‚unerlässliche Größe politischer Systeme‘<br />

nicht vollständig substituierbar ist.“ 42<br />

Trotz dieser Probleme leben heute etwa 4 Milliarden Menschen in einer Demokratie.<br />

43 Auch die Idee pluralistischer Demokratien westlichen Typs (funktionierendes<br />

Mehrparteiensystem, periodische Wahlen, politische Öffentlichkeit) erhält weltweit<br />

die meiste Wertschätzung und ist keinesfalls in Frage gestellt. 44 Diese grundsätzliche<br />

Zustimmung ist übrigens auch in islamischen Staaten gemessen worden! Somit ist<br />

weniger die polity Demokratie denn der Mangel an demokratischer Praxis das Problem<br />

der Herrschaftsform. Dass Demokratie an sich aber kurz- und wenigstens auch<br />

mittelfristig weiter die dominierende Regierungsform bleiben wird, ist aufgrund der<br />

allgemeinen Zustimmung anzunehmen. Das Argument für die Demokratie, egal ob<br />

republikanisch (/kommunitaristisch) oder liberal konzipiert, liegt denn auch auf der<br />

Hand: die Mitbestimmung und -entscheidung über die eigenen Belange sind von<br />

keinem anderen System eingeräumte Möglichkeiten der Teilhabe am politischen und<br />

sozialen Prozess. Nur in einer Demokratie können anstehende Aufgaben von den<br />

Bürgern selbst durch eine faire Abstimmung und nach ihren Vorstellungen bewältigt<br />

werden. Trotzdem bleiben die Integrations- und Partizipationsprobleme und damit<br />

die Frage des Aufsatzes bisher unbeantwortet.<br />

… sondern Deliberation<br />

Der Ausweg aus der Krise der heutigen westlichen Staaten kann die Zusammenführung<br />

beider Demokratiemodelle sein.<br />

42 Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft, S. 285.<br />

43 Vgl. Bertelsmann Transformations Index 2008.<br />

44 Leggewie, Claus/Bieber, Christoph: Demokratie 2.0. Wie tragen neue Medien zur demokratischen<br />

Erneuerung bei? In: Offe, Claus (Hrsg.): Demokratisierung der Demokratie.<br />

Diagnosen und Reformvorschläge, Frankfurt/Main / New York 2003, S. 127.<br />

72 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Dabei ist nicht wie noch in republikanischer Vorstellung von einer Direktdemokratie<br />

auszugehen, sondern mit Bezug auf die Größe eines Staates von einer Repräsentativdemokratie.<br />

Parteien fungieren <strong>als</strong> Mittler zwischen Bürger und politischem System,<br />

Medien sorgen für den notwendigen Informationsaustausch und für die Bildung von<br />

autonomen Öffentlichkeiten. Der gemeinschaftliche Konsens ist nicht a priori durch<br />

die völlige Selbstaufgabe des Bürgers vorgegeben oder wird durch die Befriedigung<br />

der privaten Glückserwartungen unpolitisch erzeugt, sondern muss in einer Gesellschaft,<br />

insbesondere wenn sie heterogen ist, erst durch ein Verfahren der kommunikativen<br />

Rationalität hergestellt werden.<br />

Die Überwindung der f<strong>als</strong>chen Alternative von republikanischer Gemeinschaft oder<br />

liberaler Gesellschaft liegt im Respekt aller <strong>als</strong> Andere in ihrer Andersartigkeit. Das<br />

solidarische Einstehen für den Anderen „<strong>als</strong> einen von uns“ 45 verbindet sich mit dem<br />

flexiblen „Wir“ einer Gemeinschaft, die sich über die negative Idee der Abschaffung<br />

von Diskriminierung und Leid sowie der Einbeziehung und der wechselseitigen<br />

Rücksichtnahme auf andere definiert. Subjektive Rechte sind <strong>als</strong>o nicht ihrem Begriff<br />

nach nur auf „atomistische und entfremdete Individuen“ bezogen, sondern stehen<br />

in einem internen Zusammenhang. 46 Sie setzen die Zusammenarbeit von Subjekten<br />

voraus, die sich durch ihre gegenseitig anerkannten Rechte und Pflichten <strong>als</strong> freie<br />

und gleiche Rechtsgenossen verstehen. So können sich nur Bürger, die private Freiheit<br />

genießen, aus freien Stücken gegenseitig politische Teilhaberechte zusprechen.<br />

Andererseits sind nur diejenigen, die zu politischer Partizipation berechtigt sind, in<br />

der Lage sich private Räume zuzusichern, auf das das Politische nicht einwirken darf.<br />

Private und politische Freiheit setzen sich <strong>als</strong>o wechselseitig voraus und sind gleichursprünglich.<br />

Der gemeinschaftliche Konsens wird demnach empirisch durch die<br />

ethische Selbstverständigung, durch einen Interessenausgleich, Kompromiss, eine<br />

zweckrationale Mittelwahl, moralische Begründung und durch rechtliche Kohärenz<br />

erwirkt. 47 Das kommunikativ erzeugte „Einverständnis“ transformiert in administrative<br />

Macht ist die Ergänzung beider sich eigentlich ausschließender Modelle zur<br />

deliberativen Demokratie.<br />

Durch die Einhaltung der <strong>diskurs</strong>theoretischen Regeln in den inklusiven politischen<br />

Öffentlichkeiten, die die gesellschaftlichen Problemlagen der Zivilgesellschaft aufnehmen<br />

und weiterleiten, ist eine demokratische Meinungs- und Willensbildung<br />

sowie Entscheidung gesichert und somit das Problem der Zuviel-Partizipation im<br />

republikanischen sowie der Zuwenig-Partizipation und der Unwissenheit über Be-<br />

45 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 7.<br />

46 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und<br />

des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/Main 1998, S. 117.<br />

47 Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen, S. 284.<br />

Dis | kurs 73


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

lange des politischen Systems im liberalen Modell gelöst. Grundrechte und Rechtsstaatsprinzipien<br />

institutionalisieren den Kommunikationsprozess und sind seine Voraussetzungen.<br />

48 Die Kommunikation verläuft nicht mehr nur über Einzelindividuen<br />

wie im Republikanismus oder nur über sich blind vollziehende Machtverhältnisse<br />

wie im Liberalismus, sondern über eine „höherstufige Intersubjektivität“ von Verständigungsprozessen<br />

in politischen Öffentlichkeiten und in Parlamenten. 49 Der Diskurs<br />

ist die Arena zur Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung der sozialen<br />

Gesamtprobleme. 50 Die Kommunikationsvoraussetzungen und -verfahren sind die<br />

wichtigsten „Schleusen“ für die Rationalisierung der Regierungs- und Verwaltungsentscheidungen.<br />

Das bedeutet, dass die administrative Macht stets rückgekoppelt an<br />

die Meinungs- und Willensbildung innerhalb der politischen Öffentlichkeiten bleibt.<br />

Die dem liberalen Demokratiemodell nahe stehende, verfassungsmäßige Institutionalisierung<br />

der Entscheidungsprozesse hängt in der deliberativen Demokratie nicht<br />

mehr von den hinreichend aktiven und kollektiv handelnden Bürgern ab. Trotzdem<br />

orientiert sich das politische System in Habermas' Modell an den Meinungs- und<br />

Willensbildungsprozessen in einer diskutierenden Öffentlichkeit. Die öffentliche<br />

Meinung selbst kann dabei nicht „herrschen“, sondern nur durch ihren zivilgesellschaftlichen<br />

Einfluss „lenken“. 51<br />

Von der Volkssouveränität des Republikanismus ist in diesem Demokratiemodell<br />

eine „Intuition“ geblieben, die sich mit der Ursprungsidee verbindet und jetzt nur<br />

noch „intersubjektivistisch“ gedeutet wird. Die Kommunikation zwischen öffentlicher<br />

Meinungsbildung, institutionalisierten Wahlentscheidungen und legislativen<br />

Beschlüssen gewährleistet, dass die kommunikativ erzeugte Macht in den politischen<br />

Öffentlichkeiten über die Gesetzgebung in administrativ verwendbare Macht umgesetzt<br />

werden kann. Damit gewinnt die deliberative Demokratie die praktische Umsetzbarkeit<br />

aus dem liberalen Modell und zugleich die benötigte demokratische Legitimität.<br />

Die „Rationalisierung“, <strong>als</strong>o der Kompromiss aus bloßer Legitimation und zu<br />

hoher Konstituierung der Macht wird durch die „Programmierung“ und die Kontrolle<br />

der administrativen Macht durch das Volk sichergestellt. Es ergibt sich insgesamt<br />

eine Trennung von Staat und Gesellschaft, in der die Gesellschaft lenkt und der Staat<br />

handelt. Im Vordergrund steht jedoch nicht der blanke Akt der Volksabstimmung,<br />

sondern das Teilhaben und Mitwirken an politischen Entscheidungen – <strong>als</strong>o das eine<br />

Volksherrschaft konstituierende Merkmal. Sind Demokratien <strong>als</strong>o noch zeitgemäß?<br />

Ja! Aber sie müssen sich den Herausforderungen heterogener Gesellschaften stellen<br />

48 Ebd., S. 287.<br />

49 Ebd., S. 288.<br />

50 Ebd., S. 291.<br />

51 Ebd., S. 290.<br />

74 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

und möglichst viele Bürger partizipatorisch in den Integrationsprozess einbinden.<br />

Deliberation hat gute Voraussetzungen diesen Anforderungen gewachsen zu sein.<br />

Literatur (Auswahl)<br />

Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 2004.<br />

Berlin, Isaiah: Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt/Main 1995.<br />

Döhn, Lothar: Liberalismus. Spannungsverhältnis von Freiheit, Gleichheit und Eigentum. In:<br />

Neumann, Franz (Hrsg.): Handbuch Politische Theorien und Ideologien, Bd. 1, Opladen 1998,<br />

S. 159–234.<br />

Habermas, Jürgen: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/Main<br />

1996.<br />

Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Kontexte und demokratische<br />

Bezüge der neueren Begriffsverwendung, Opladen 2001.<br />

Münkler, Herfried: Politische Tugend. Bedarf die Demokratie einer sozio-moralischen<br />

Grundlegung? In: Ebd. (Hrsg.) Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie,<br />

München 1992, S. 25–46.<br />

Terchek, Ronald J./Conte, Thomas C.: Theories of Democracy. A Reader, Maryland 2001.<br />

Vorländer, Hans: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien, München 2003.<br />

Dis | kurs 75


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Geschlechterdemokratie lernen – Politische Partizipation<br />

und „gender“ in didaktischer Perspektive<br />

Martin Lücke<br />

Freie Universität Berlin<br />

E-Mail: martin.luecke@fu-berlin.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Politische Partizipation, gender, Politikdidaktik, Genderkompetenz<br />

Eine gesunde Demokratie – zumindest eine, die sich das Label „Patient“ nicht anheften<br />

möchte – lebt von der aktiven Beteiligung der Menschen, deren Lebensgrundlagen<br />

sie bestimmt. Sie legt Wert darauf, durch politische Bildungsarbeit möglichst<br />

viele ihrer Bürgerinnen und Bürger dazu zu befähigen, am politischen Prozess teilzuhaben.<br />

Wer sich jedoch auf welche Weise beteiligt – und überhaupt erst beteiligen<br />

kann – hängt in modernen Gesellschaften vor allem von den Kategieren „race“,<br />

„class“ und „gender“ ab. Sie durchziehen <strong>als</strong> „Achsen der Ungleichheit“ 1 unsere Gesellschaft<br />

und entfalten eine nachhaltige Wirkung auch auf die Ausgestaltung demokratischer<br />

Prozesse und auf Möglichkeiten politischer Partizipation.<br />

„Unser Staat ist männlichen Geschlechts“, schrieb noch 1855 der Kulturhistoriker<br />

und Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) im dritten Band seiner Na-<br />

1 So der Titel eines im Jahr 2007 erschienenen Bandes von Cornelia Klinger, Gudrun-<br />

Axeli Knapp und Birgit Sauer, die das Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität<br />

in politischen und ökonomischen Ordnungen untersuchen, s. Klinger, Cornelia/ Knapp,<br />

Gudrun-Axeli/ Sauer, Birgit (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse,<br />

Geschlecht und Ethnizität (Politik der Geschlechterverhältnisse Bd. 36), Frankfurt<br />

(Main) 2007.<br />

76 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

turgeschichte des Volkes. Riehl erklärte in diesem Werk die Ungleichheit zwischen<br />

Mann und Frau zu einem Naturgesetz und machte in seiner Schrift eine grundsätzliche<br />

Differenz zwischen Männern und Frauen aus. Der Staat, so konnte er auf Basis<br />

eines solchen Natürlichkeitspostulats feststellen, sei „ein rein männliches Wesen“, er<br />

habe es nur und ausschließlich mit Männern zu tun. 2 Auf diese Weise entwarf der<br />

Volkskundler in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine „politische[…] Topographie der<br />

Geschlechter“, 3 die eine Arena der Politik entstehen ließ, in der sich nur Männer bewegten.<br />

An diesem historischen Beispiel zeigt sich, dass insbesondere die Kategorie<br />

Geschlecht unmittelbar zusammenhing mit den Möglichkeiten politischer Partizipation.<br />

Sie brachte Mechanismen hervor, mit denen Exklusionen und Inklusionen<br />

einhergingen: Nähert man sich dem Partizipationsbegriff von seiner lateinischen<br />

Doppelbedeutung <strong>als</strong> Teilhabe und Teilnahme, 4 so ging es dem Volkskundler Riehl<br />

darum, Frauen qua Ordnung der Natur die Teilhabe am politischen Raum abzusprechen<br />

und ihnen auf diese Weise eine aktive Teilnahme an der Politik nachhaltig<br />

unmöglich zu machen.<br />

Das Postulat von Riehl erscheint heute <strong>als</strong> ein reaktionäres Traktat aus längst vergangenen<br />

Zeiten, zeigt jedoch auf besonders deutliche Weise, wie Geschlecht die Möglichkeiten<br />

politischer Partizipation beeinflussen kann. In diesem Beitrag soll der Frage<br />

nachgegangen werden, auf welche Weise der enge Zusammenhang von politischer<br />

Partizipation und „gender“, der in Riehls Thesen auf überspitze Art zum Ausdruck<br />

kommt, auch heute noch andauert. Es soll gefragt werden, wie ein Wissen um diesen<br />

Zusammenhang für Prozesse politischen und demokratischen Lernens nutzbar<br />

gemacht werden kann. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Zunächst werden mit<br />

gender und politische Partizipation die zentralen Begriffe geklärt, im Anschluss wird<br />

ein von der Politikwissenschaftlerin Gesine Fuchs entwickeltes Modell zum Verhältnis<br />

von Geschlecht und politischer Partizipation vorgestellt. Drittens schließlich<br />

wird die Frage diskutiert, welches didaktische Potenzial diesem Modellvon Fuchs<br />

und dem Zusammenhang von politischer Partizipation und „gender“ insgesamt innewohnt.<br />

2 Riehl, Wilhelm Heinrich: Naturgeschichte des deutschen Volkes <strong>als</strong> Grundlage einer<br />

deutschen Socialpolitik, 1851–1869, Bd. 3: Die Familie, zit. n. Frevert, Ute: „Unser Staat<br />

ist männlichen Geschlechts“. Zur politischen Topographie der Geschlechter vom 18. bis<br />

frühen 20. Jahrhundert, in: dies.: „Mann und Weib und Weib und Mann“. Geschlechterdifferenzen<br />

in der Moderne, München 1995, S. 61–132, hier. S. 61.<br />

3 Frevert, Ute: Staat, S. 61.<br />

4 Auf die lateinische Doppelbedeutung von „participio“ verweist vor allem die Politikwissenschaftlerin<br />

Beate Hoecker in ihrer systematischen Einführung zum Begriff der<br />

politischen Partizipation, vgl. Hoecker, Beate: Politische Partizipation: systematische<br />

Einführung, in: dies.: Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine<br />

studienorientierte Einführung, Opladen 2006, S. 3–20, hier S. 3.<br />

Dis | kurs 77


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Begriffe: Gender und politische Partizipation<br />

Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind sich darin einig, Geschlecht nicht mehr,<br />

wie noch Wilhelm Heinrich Riehl, <strong>als</strong> eine unverrückbare natürliche und biologisch<br />

determinierte Kategorie anzusehen. Nicht <strong>als</strong> natürliche Tatsache, sondern <strong>als</strong> primär<br />

soziale und kulturelle Konstruktion wird Geschlecht in der heutigen Forschungslandschaft<br />

aufgefasst. Hier hat sich das Begriffspaar „sex“ und „gender“ zur analytischen<br />

Fassung dieses Zusammenhangs etabliert. Unter „sex“ wird dabei das biologische<br />

Geschlecht verstanden. Es bezieht sich auf die körperlich-biologische Differenz<br />

zwischen Frauen und Männern <strong>als</strong> den normgebenden Polen einer <strong>als</strong> dichotomisch<br />

gedachten Geschlechterordnung. Eine solche biologisch attestierbare Differenz wird<br />

jedoch mit sozialen und kulturellen Deutungsmustern aufgeladen, so dass nun „gender“<br />

<strong>als</strong> soziales bzw. kulturelles Geschlecht entsteht. Dass auch die „Natur“ bzw. „das<br />

Natürliche“ sozial und kulturell konstruierte Kategorien sind – immerhin wird die<br />

Biologie <strong>als</strong> interessengeleitete Wissenschaft benötigt, um „sex“ zu definieren – hat<br />

insbesondere die Historische Anthropologie gezeigt. In diesem Beitrag soll es jedoch<br />

darum gehen, gerade Mechanismen der sozialen und kulturellen Herstellung von<br />

Geschlecht in den Blick zu nehmen. Die Konstruktion der nur vermeintlich ahistorischen<br />

Kategorie „sex“ ist ein sehr spannendes Thema, jedoch hier nicht zielführend<br />

im Hinblick auf das Thema der politischen Partizipation. 5<br />

Die Art und Weise, wie „gender“ in kulturellen und sozialen Interaktionen hergestellt<br />

wird, beschreibt der Begriff des „doing gender“. Er stammt aus der Ethnologie,<br />

wurde anhand des Phänomens der Transsexualität entwickelt und schnell von den<br />

Sozialwissenschaften übernommen. „Doing gender“ bedeutet, dass Geschlecht sowohl<br />

in alltäglichen Situationen hergestellt wird <strong>als</strong> auch solche alltäglichen Situationen<br />

strukturiert. Das heißt, Individuen sind beim Aushandeln von Geschlecht zum<br />

einen an kulturelle und soziale Vorgaben gebunden, haben aber zum anderen auch<br />

die Handlungsfähigkeit („agency“), selbst und eigenwillig an diesen Aushandlungsprozessen<br />

teilzunehmen. Aushandlung von Geschlecht ist <strong>als</strong>o ein wechselseitiger<br />

Prozess zwischen uns <strong>als</strong> Individuen und dem <strong>diskurs</strong>iven Bett, in dem wir liegen. 6<br />

Prozesse der Herstellung von Geschlecht <strong>als</strong> „doing gender“ zu begreifen, bietet<br />

bereits großes didaktisches Potenzial, da hier Chancen und gleichzeitig Grenzen<br />

menschlichen Handelns im Hinblick auf die vermeintlich natürliche Kategorie Ge-<br />

5 Die Begriffsbildungen „sex“ und „gender“ gehören mittlerweile zum festen Kanon der<br />

in den Kultur- und Sozialwissenschaften verwendeten Begriffe. Vgl. hierzu im Überblick:<br />

Degele, Nina: gender/Queer Studies. Eine Einführung, Paderborn 2008, insb. S. 57–118.<br />

6 Zum Konzept des „doing gender“ dies., S. 78–83; Holzleithner, Elisabeth: Doing gender,<br />

in: Kroll, Renate (Hg.): Lexikon gender Studies / Geschlechterforschung, Stuttgart 2002,<br />

S. 72–73.<br />

78 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

schlecht in den Blick geraten. So kann im Rahmen von Vermittlungs- und Lernprozessen,<br />

die den „doing gender“-Begriff aufgreifen, von Lernenden erkannt werden,<br />

dass Geschlecht eben nicht die unverrückbare biologische Kategorie ist, <strong>als</strong> die sie so<br />

oft erscheint. Es kann gefragt werden, warum es sich überhaupt lohnt, aktiv an der<br />

Umgestaltung von Geschlechterkonzepten mitzuwirken.<br />

Politische Partizipation, der zweite hier grundlegend zu klärende Begriff, ist ein Standardbegriff<br />

der Politikwissenschaft, der in nahezu allen Handbüchern und Politiklexika<br />

auftaucht, oft auch unter dem Stichwort „politische Beteiligung“. Hier nutzbar<br />

gemacht werden sollen die Begriffsbildungen, die zuletzt die Politikwissenschaftlerin<br />

Beate Hoecker vorgelegt hat. Hoecker geht davon aus, dass jede Demokratie unmittelbar<br />

von der Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger lebt und dass politische<br />

Partizipation „neben Freiheit und Gleichheit konstitutiv für eine Demokratie ist“. Sie<br />

stellt „einen Schlüsselbegriff politikwissenschaftlicher Theorie wie politischer Praxis<br />

dar.“ 7 Hoecker benennt zwei Ansätze für politische Partizipation, zunächst ein instrumentelles<br />

bzw. so genanntes „realistisches“ Verständnis. Kennzeichen hiervon ist<br />

ihr zu Folge der Umstand, dass die Beteiligung des Volkes an der Demokratie in erster<br />

Linie durch Wahlen zustande kommt. Politische Partizipation hat dabei in erster<br />

Linie den Zweck, eine stabile Regierung hervorzubringen. Hoecker präzisiert: „Demokratie<br />

ist nach diesem Verständnis somit nicht Herrschaft des Volkes, sondern<br />

Herrschaft der Politiker mit Zustimmung des Volkes.“ 8 Demokratie wird einem solchen<br />

Demokratieverständnis zu Folge in erster Linie auf eine Methode, eben auf ein<br />

Instrument, reduziert. Vielversprechender und gerade auch in didaktischer Hinsicht<br />

anknüpfungsfähiger ist jedoch ein Partizipationsverständnis, das in der politischen<br />

Teilnahme einen Wert an sich erkennt. Politische Partizipation ist hier „zugleich ein<br />

Wert und ein Ziel“. Hoecker definiert ein solches „normatives Politikverständnis“ in<br />

Anlehnung an den Politikwissenschaftler Rainer-Olaf Schultze:<br />

„Die aktive Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess stellt den Schlüssel zur<br />

Selbstverwirklichung des Menschen dar. Es setzt auf den Prozess des Zusammenhandelns,<br />

geht über die Sphäre des Politischen hinaus und zielt auf politisch-soziale<br />

Teilhabe in möglichst vielen Teilen der Gesellschaft.“ 9<br />

Politische Partizipation wird hier eng verknüpft mit sozialer Partizipation. Ein solches<br />

normatives Partizipationsverständnis verlangt anspruchsvolle politische Kompetenzen<br />

der Bürgerinnen und Bürger. Am politischen Prozess teilnehmen zu kön-<br />

7 Hoecker, Beate: Politische Partizipation, S. 3.<br />

8 Ebd., S. 4.<br />

9 Ebd., S. 6. Hoecker bezieht sich auf Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation, in: Nohlen,<br />

Dieter/Schulze, Rainer Olaf (Hg.): Politische Theorien (Lexikon der Politik Bd. 1). München<br />

1995, S. 396–406.<br />

Dis | kurs 79


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

nen (und zu wollen) ist einem solchen Modell zu Folge auch das Ergebnis politischer<br />

Bildung. Es manifestiert sich jedoch erst durch partizipatorische Praxis, <strong>als</strong>o durch<br />

das konkrete Tun. Ähnlich wie beim „doing gender“ zeigt sich hier ein wechselseitiges<br />

Verhältnis: Partizipation muss nicht nur ganz abstrakt gelernt werden, etwa<br />

durch strenge Lektionen zu Wahlrecht oder Parteiensystem, sondern entfaltet sich<br />

vor allem ganz konkret durch aktive Teilhabe an der sozialen und politischen Realität<br />

einer Gesellschaft.<br />

Greift man einen solchen normativen Ansatz auf, so gerät politische Partizipation<br />

sowohl zum Gegenstand von politischem <strong>als</strong> auch von demokratischem Lernen. Unter<br />

politischem Lernen versteht die Politikdidaktik in erster Linie die Kenntnis der<br />

politischen Strukturen, in denen Partizipation stattfinden kann. „Es hat“, wie der Politikdidaktiker<br />

Georg Weißeno zusammenfasst, „das Zusammenleben der Menschen<br />

<strong>als</strong> Bürger/innen zum Gegenstand. Es ist gerichtet auf die Frage, wie dieses Leben<br />

unter institutionellen (polity), prozeduralen (politics) und sachlich-materiellen Gesichtspunkten<br />

(policy) allgemein verbindlich geregelt ist.“ 10 Demokratisches Lernen<br />

hingegen befasst sich mit der subjektiven Ebene von politischer Partizipation. Der<br />

Politikdidaktiker Horst Biedermann präzisiert:<br />

„Kinder und Jugendliche sollen nicht nur darüber informiert werden, wie das Leben<br />

in einer parlamentarischen Demokratie funktioniert, sondern insbesondere<br />

lernen, den Prinzipien der westlichen Demokratie zuzustimmen, die Demokratie<br />

wirklich <strong>als</strong> ihre eigene Sache und sich selbst <strong>als</strong> Subjekte des politischen Prozesses<br />

zu begreifen“ 11<br />

Politische Partizipation und „gender“ in politikwissenschaftlicher<br />

Perspektive<br />

Die Politikwissenschaft hat zum engen Zusammenhang von politischer Partizipation<br />

und „gender“ zahlreiche Studien vorgelegt. In didaktischer Hinsicht überaus<br />

anschlussfähig sind dabei die eine Systematisierung, die Gesine Fuchs unter der<br />

Überschrift „Politische Partizipation von Frauen in Deutschland“ 12 präsentiert hat.<br />

Zwar fasst sie das große Thema „gender“ sehr eng, indem sie sich primär mit Frauen<br />

10 Weißeno, Georg: Politisches Lernen, in: Reinhardt, Volker (Hg.): Inhaltsfelder der<br />

Politischen Bildung (Basiswissen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Bd. 3),<br />

Baltmannsweiler 2007, S. 13–19, hier S. 13.<br />

11 Biedermann, Horst: Demokratisches Lernen, in: Reinhardt, Volker (Hg.): Inhaltsfelder<br />

der Politischen Bildung (Basiswissen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Bd. 3),<br />

Baltmannsweiler 2007, S. 20–31, hier S.<br />

12 Fuchs, Gesine: Politische Partizipation von Frauen in Deutschland, in: Hoecker, Beate<br />

(Hg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte<br />

Einführung, Opladen 2006, S. 235–260.<br />

80 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

und nicht mit der Wirkungsmächtigkeit von Geschlecht <strong>als</strong> solchem befasst. Sie geht<br />

insgesamt davon aus, dass Partizipation an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen<br />

eine zentrale Voraussetzung für die Legitimität demokratischer Herrschaft ist<br />

und ordnet ihre Konzeptionalisierung auf diese Weise einem normativen Partizipationsverständnis<br />

zu.<br />

Fuchs arbeitet heraus, dass die Trennung in Öffentlichkeit und Privatsphäre und die<br />

geschlechtliche Kodierung dieser beiden Sphären auch heute noch ein Herrschaftsmechanismus<br />

ist, der nachhaltig dazu beiträgt, politische Partizipation von Frauen<br />

zu begrenzen. Politikwissenschaftliche Analysen zu politischer Partizipation müssen<br />

sich Fuchs zu Folge deshalb immer auch mit der geschlechtsspezifischen Strukturierung<br />

dieser beiden Sphären beschäftigen. 13 Fuchs entwirft ein so genanntes „magisches<br />

Dreieck“, mit dessen Hilfe sie den interdependenten Zusammenhang von<br />

Geschlecht und politischer Partizipation beschreibt. Sie entwickelt auf diese Weise<br />

eine geeignete Analysefolie, mit dessen Hilfe die komplexen Inklusions- und Exklusionsmechanismen,<br />

die die Kategorie Geschlecht generiert, erfasst und in ihrer<br />

Wechselwirkung verstanden werden können.<br />

Als erste der drei Ecken ihres „magischen Dreiecks“ nimmt sie sozioökonomische<br />

Faktoren wie Bildung, Erwerbsarbeit und Einkommen in den Blick. Die politische<br />

Partizipationsforschung ist sich darin einig, dass diejenigen, die viel von diesen Ressourcen<br />

besitzen, auch über einen hohen Grad an Teilhabe und Teilnahme am politischen<br />

System verfügen. Frauen – so hebt Fuchs hervor – verfügen immer noch<br />

über weniger dieser Ressourcen <strong>als</strong> Männer, so dass hier einer geschlechtergerechten<br />

politischen Partizipation ein Riegel vorgeschoben wird. 14<br />

Ähnliche Mechanismen zeigen sich an der zweiten Ecke des Dreiecks, dem Bereich<br />

der politischen Kultur: Zu Beginn dieses Beitrags war bereits die Rede davon, dass<br />

der politische Raum in seiner historischen Genese ein männlich konnotierter Raum<br />

war. Hier galten männlich konnotierte Verhaltensweisen <strong>als</strong> vorbildlich. Dementsprechend<br />

konnte und kann das Bewegen im politischen Raum <strong>als</strong> eine Form von „doing<br />

gender“ begriffen werden, in dem in erster Linie vorbildliche Männlichkeit generiert<br />

wird und ein vorbildlich-männliches Verhalten mit einem Mehr an Partizipation belohnt<br />

werden kann. 15 Zum Bereich der politischen Kultur gehört in einer modernen<br />

Mediendemokratie zudem die massenmediale Inszenierung von Geschlechterbildern.<br />

Dass gerade solche massenmedial produzierten Geschlechterbilder ein ganzes<br />

Bündel an Ein- und Ausschlussmechanismen bereit halten, die nicht nur in der<br />

Arena der Politik, sondern insbesondere in den Etagen des Top-Managements ihre<br />

13 Vgl. ebd., S. 236–237.<br />

14 Ebd., S. 240–241.<br />

15 Ebd., S. 241–243.<br />

Dis | kurs 81


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Wirkung entfalten, hat zuletzt die Geschichtsdidaktikerin Bärbel Völkel aufgezeigt. 16<br />

Drittens schließlich ist der Bereich der institutionellen Faktoren von Relevanz. Zwar<br />

weisen heute fast alle großen demokratischen Staaten die gleichen rechtlich verbürgten<br />

institutionellen Partizipationsmöglichkeiten für Männer und Frauen auf, gerade<br />

die Praxis der Rekrutierung politischen Person<strong>als</strong> etwa durch Parteien, mit Hilfe von<br />

Geschlechterquoten oder so genannten Reißverschlussverfahren bei der Bildung von<br />

Listen für Wahlen können jedoch Mechanismen entstehen lassen, die es schwierig<br />

oder einfach machen, geschlechtergerecht politisch partizipieren zu können. 17<br />

Gerade durch das Ineinanderwirken der drei von Fuchs benannten Faktoren entsteht<br />

hier ein Netz, das auch heute noch dafür verantwortlich ist, dass Frauen weniger und<br />

anders politisch partizipieren <strong>als</strong> Männer. Führt man sich die Ausgangsthese von<br />

Fuchs vor Augen, dass Partizipation zentrale Voraussetzung für die Legitimität einer<br />

demokratischen Ordnung ist, so deckt sie hier <strong>als</strong>o ein Faktorenbündel auf, durch<br />

das Partizipation in geschlechtlicher Hinsicht begrenzt wird.<br />

Politikdidaktische Perspektiven<br />

Was haben die bisherigen Überlegungen mit dem didaktischen Potenzial von gender<br />

und politischer Partizipation zu tun?<br />

In Anlehnung an den Politikdidaktiker Georg Weißeno kann <strong>als</strong> die zentrale Aufgabe<br />

von Politikdidaktik gelten, „inhaltsbezogene Kompetenzen und Wissensstrukturen<br />

zu beschreiben, mit denen die Schüler/-innen die grundlegenden Handlungsanforderungen<br />

künftiger Bürger/-innen bewältigen können.“ 18 Der Themenkomplex<br />

von politischer Partizipation und gender lässt sich dabei sowohl im Bereich des politischen<br />

Lernens, das eher institutionenorientiert ist, <strong>als</strong> auch im Bereich des demokratischen<br />

Lernens – eher handlungsorientiert – verorten. Geschlechtergerecht<br />

politisch partizipieren zu können (und zu wollen) und geschlechtergerecht Politik<br />

und Demokratie zu lernen, ist dann vor allem Kennzeichen von Gender-Kompetenz.<br />

Eine an die bisherigen Überlegungen zu politischer Partizipation überaus anschlussfähige<br />

Definition von Gender-Kompetenz hat zuletzt die Erziehungswissenschaftlerin<br />

Margitta Kunert-Zier vorgelegt:<br />

„Genderkompetenz meint das Wissen und die Erfahrung über die Entstehung von<br />

Geschlechterdifferenzen, über komplexe Strukturen der Geschlechterverhältnisse<br />

und ihrer Konstruktion. Durch dieses Wissen werden differenzierte Analysen z. B.<br />

16 Völkel, Bärbel: Der glass ceiling effect und das „subversive Gelächter“ aus der Geschichte<br />

– oder: Was gehen die Probleme der Managerinnen die historischen genderforscher/<br />

innen an? in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2008.<br />

17 Fuchs, Gesine: Politische Partizipation, S. 243–244<br />

18 Weißeno, Georg: Politisches Lernen, S. 15.<br />

82 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

der gesellschaftlichen und persönlichen Machtzugänge, der Ressourcenverteilung,<br />

der gesellschaftlichen Arbeitsteilung u. a. möglich.“ 19<br />

Insbesondere die Ergebnisse von Gesine Fuchs zeigen, dass eine Beschäftigung mit<br />

Gender und politischer Partizipation zunächst politisches Lernen fördern können.<br />

Der Blick auf ihr so genantes „magische Dreieck“ hat gezeigt, dass gerade die Möglichkeiten<br />

von Machtzugängen auch auf ihre geschlechtliche Dimension hin untersucht<br />

werden müssen, um eine viel präzisere Vorstellung davon zu bekommen, wie<br />

genau das politische Zusammenwirken von Männern und Frauen funktioniert. Unterrichtspraktisch<br />

bieten sich hier sehr viele Anknüpfungspunkte an, etwa die Analyse<br />

von rein statistischen Daten zu Gender-Aspekten, die Analyse von institutionellen<br />

Mechanismen wie Quotenregelungen, insbesondere aber auch die mediale Wahrnehmung<br />

von Männern und Frauen im politischen Raum.<br />

Anknüpfungspunkte ergeben sich aber auch für den Bereich des demokratischen<br />

Lernens. Demokratisches Lernen in Bezug auf „gender“ und politische Partizipation<br />

muss in diesem Zusammenhang insbesondere heißen, dass sich Schülerinnen<br />

und Schüler im Rahmen eines handlungsorientierten Unterrichts eben auch <strong>als</strong> geschlechtliche<br />

Subjekte wahrnehmen und erkennen, dass auch die politische Kultur<br />

moderner westlicher Gesellschaften geschlechterbezogene Mechanismen bereit hält,<br />

die zu wirkungsmächtigen Ein- und Ausschlussmechanismen führen können.<br />

Literatur<br />

Frevert, Ute: „Unser Staat ist männlichen Geschlechts“. Zur politischen Topographie der<br />

Geschlechter vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert, in: dies.: „Mann und Weib und Weib und<br />

Mann“. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995, S. 61–132.<br />

Fuchs, Gesine: Politische Partizipation von Frauen in Deutschland, in: Hoecker, Beate (Hg.):<br />

Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte Einführung,<br />

Opladen 2006, S. 235–260.<br />

Hoecker, Beate (Hg.): Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte<br />

Einführung, Opladen 2006.<br />

Klinger, Cornelia/ Knapp, Gudrun-Axeli/ Sauer, Birgit (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum<br />

Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität (Politik der Geschlechterverhältnisse Bd.<br />

36), Frankfurt (Main) 2007.<br />

Schultze, Rainer-Olaf: Partizipation, in: Nohlen, Dieter/Schulze, Rainer Olaf (Hg.): Politische<br />

Theorien (Lexikon der Politik Bd. 1). München 1995, S. 396–406.<br />

Weißeno, Georg: Politisches Lernen, in: Reinhardt, Volker (Hg.): Inhaltsfelder der Politischen<br />

Bildung (Basiswissen für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Bd. 3), Baltmannsweiler<br />

2007, S. 13–19.<br />

19 Kunert-Zier, Margitta: Erziehung der Geschlechter. Entwicklungen, Konzepte und genderkompetenz<br />

in sozialpädagogischen Feldern, Wiesbaden 2005, S. 283.<br />

Dis | kurs 83


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Problematizing Pluralism<br />

Chris O`Kane<br />

University of Sussex<br />

E-Mail: theresonlyonrchrisokane@gmail.com<br />

Keywords<br />

Pluralism, Citizenship, Marx<br />

I<br />

The importance of Karl Marx's On the Jewish Question has re-emerged in light of the<br />

myriad of recent scholarship on what is variously termed pluralism or the politics of<br />

difference. 1 Marx's early polemic against Bruno Bauer addresses the question of how<br />

to integrate the Jews into German society. In marked contrast to Bauer's argument<br />

that political incorporation and the renunciation of religion will solve the matter,<br />

Marx draws a distinction between political and human emancipation and argues that<br />

political emancipation does not fully resolve the oppression of Jewish identity. Marx<br />

argues this is because political emancipation does not account for the mediating influence<br />

of the historic conditions of civil society, which creates the antagonistic identities<br />

of the German and the Jew. 2 For Marx, it is only human emancipation that will<br />

1 See for instance the work of Darrow Schecter: Sovereign State or Political Communities?<br />

And Beyond Hegemony Towards a New Philosophy of Political Legitimacy. Machester<br />

2000. My reading of „On The Jewish Question“ follows Schecter, Andrew Chitty and<br />

others in asserting that while Marx does focus on religious identity, his argument can<br />

broadened to encompass other identities and contexts.<br />

2 Crucially, in this early work Marx's notion of civil society is Hegelian and encompasses<br />

84 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

do away with this antagonism;<br />

All emancipation is a reduction of the human world and relationships to man<br />

himself. Political emancipation is the reduction of man, on the one hand, to a member<br />

of civil society, to an egoistic, independent individual, and, on the other hand,<br />

to a citizen, a juridical person. Only when the real, individual man re-absorbs in<br />

himself the abstract citizen, and as an individual human being has become a species-being<br />

in his everyday life, in his particular work, and in his particular situation,<br />

only when man has recognized and organized his „own powers“ as social powers,<br />

and, consequently, no longer separates social power from himself in the shape of<br />

political power, only then will human emancipation have been accomplished. 3<br />

In his lecture on „Negative Universal History,“ Theodor W Adorno makes a parenthetical<br />

critique of pluralism that I will try to show has a devastating impact on pluralist<br />

democratic theory. This is because despite the fact that many pluralists utilize<br />

Adorno's notion of the particular to advocate their politics of difference, Adorno<br />

critiques pluralism as ideological. Following Marx, Adorno asserts that instead of<br />

addressing the conditions in civil society that oppress these divergent and antagonistic<br />

identities, pluralism operates ideologically because it taking these conditions as<br />

a given and f<strong>als</strong>ely reconciles them with the very conditions that oppress them. Here<br />

Marx's notion of the inadequacy of political emancipation absorbs pluralism;<br />

The term ‚pluralism‘ is acquiring increasing currency in our own time. It is presumably<br />

the ideology describing the centrifugal tendencies of a society that threatens<br />

to disintegrate into unreconciled groups under the pressure of its own principles…<br />

As a minor by-product of these lectures I would like to recommend that you adopt<br />

an extremely wary attitude towards the concept of pluralism, which like the similar<br />

concept of ‚social partners,‘ is preached at us on every street corner. To transfigure<br />

and ideologize the elements of discontinuity or of social antagonisms in this way is a<br />

part of the general ideological trend. In the same way, it is very characteristic of our<br />

age that the very factors that threaten to blow up the entire world are represented as<br />

the peaceful coexistence of human beings who have become reconciled and have outgrown<br />

their conflicts. This is a tendency which barely conce<strong>als</strong> the fact that mankind<br />

is beginning to despair of finding a solution to its disagreements. 4<br />

the social and economic sphere.<br />

3 Marx, Karl: On the Jewish Question. Available at www.marxists.org as well as McClellan,<br />

David (ed.): Karl Marx Selected Writings. London 2000. pg. 64. For an illuminating<br />

discussion of Marx's concept of species-being cf. Chitty, Andrew: Species-Being and<br />

Capital. Paper delivered to the ‚Studies of Modern Capitalism‘ Conference, Changshu<br />

Institute of Technology, 9–10 November 2006, subsequently published in Social Sciences<br />

in Nanjing 2, 2007, pp. 1–10.<br />

4 Marx, Karl: On the Jewish Question. p. 93.<br />

Dis | kurs 85


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

This paper examines how Adorno's critique problematizes the new pluralist democratic<br />

theory. It will utilize the distinguished work of Iris Marion Young and Will<br />

Kymlicka as examples of this scholarship. By updating Adorno's critique to address<br />

the new pluralist democratic theory, I will argue that Young and Kymlicka reify the<br />

repression of pluralist identities created by the historical conditions in civil society by<br />

treating them as a given and incorporating them into the democratic political sphere.<br />

But, this political emancipation is not human emancipation. For under Young and<br />

Kymlikca's democratic model, oppressed groups are still subject to the historical, social<br />

and economic conditions that created the antagonisms that led to their oppression.<br />

In other words, a political pluralism that allows for the heterogeneity that diverse<br />

groups demand is inadequate because by arguing for a democratic solution in the political<br />

sphere, it masks the root cause of oppression, forcing the oppressed groups to<br />

be reconciled with the historical social and economic conditions that oppress them.<br />

Following Adorno's use of Marx's concepts of use-value and exchange-value as normative<br />

concepts, I will argue that these democratic models meets Adorno's definition<br />

of ideology because Young and Kymlicka's reified arguments for incorporation conflate<br />

use-value with exchange-value, ultimately perpetuating the problem they are<br />

trying to solve. 5<br />

This is because Kymlicka and Young's models modify the liberal democratic sphere<br />

to include oppressed group identities. In doing so they assume that participation<br />

in a modified liberal democratic model has an inherent use-value for these groups.<br />

(Democracy will meet the needs of the oppressed groups because it is democracy.)<br />

But, on the basis of my prior distinctions between political and human emancipation<br />

and the political and civil sphere, I contend that this is actually exchange-value. This<br />

is because instead of identity functioning qualitatively as a use-value to meet the<br />

needs of the individual's identity, it is absorbed into the political realm where it functions<br />

as a quantity; it becomes one vote. 6 But, for reasons already explained this vote<br />

does nothing to satisfy the needs of oppressed people with these identities. Therefore,<br />

following Adorno and in contrast to Young and Kymlicka, these oppressed groups<br />

should actually demonstrate the f<strong>als</strong>e reconciliation of the capitalist totality and the<br />

impossibility of the argument for a political solution. They should serve as the basis<br />

for an argument for human emancipation. But, due to the ideological nature of the<br />

5 Marx's definition of use-value-something that consists in its fitness to supply the necessities,<br />

or serve the conveniences of human life – can be read as a continuation of his<br />

concept of species-being. This gives it a normative and humanist concept rather like<br />

Adorno's. For examples of Adorno's use of exchange-value (sometimes called exchangerelation)<br />

and use-value see for instance Baby with the Bath Water.In: Adorno, Theodor<br />

W.: Minima Moralia. New York 2005. pp. 44 ff.<br />

6 Incidentally this can be observed all the time when they breakdown the exit polls about<br />

how Obama, Clinton et al did among black or Hispanic voters.<br />

86 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

new pluralism, they are bartered for a stake in pre-existing conditions. Pre-existing<br />

conditions that do not entail the creation of a society that instead of oppressing these<br />

groups (in the civil sphere) and treating them as any other (in the political sphere)<br />

will provide for them and treat them as they desire.<br />

But, this critique is not meant to dismiss the problem of heterogeneity. It is obviously<br />

an important contemporary issue that must be adequately addressed by including a<br />

critique of civil society in arguments for human not political emancipation. In briefly<br />

turning to the works of Žižek, Angela Davis and Said I hope to demonstrate that this<br />

is possible.<br />

II<br />

In Polity and Group Difference 7 , Iris Marion Young's pluralist democratic theory is<br />

fundamentally ambiguous. This ambiguity results in (a) a model that undercuts itself<br />

by failing to examine the logical repercussions of some of its own premises, leading<br />

to (b) the failure to use some of her premises to examine what she posits as a given,<br />

which (c) results in a model that advocates the self acknowledged futile effort of<br />

incorporating these givens into the democratic sphere, despite the fact that for her<br />

oppression is inevitable. Here, I will try to demonstrate that by failing to examine<br />

the logical repercussions of some of her assumptions, Young reifies the oppression of<br />

group difference and ultimately advocates a model that fails to resolve this problem.<br />

This is because rather then argue for human emancipation, her pluralist democratic<br />

model settles on a form of political emancipation, which functions as an ideological<br />

abdication of the logical extension of her own argument. The result is a model that<br />

forsakes quality for quantity while undercutting her argument for particularity by<br />

advocating its absorption into the negative universal totality.<br />

Young's model is fundamentally ambiguous because she equivocates on the question<br />

of what is responsible for the continued oppression of different identities and what<br />

should be done to stop this oppression. In her brief introduction, Young frames her<br />

core issue; why when „citizenship rights have been formally extended to all groups in<br />

liberal capitalist societies“ do „some groups still find themselves treated as secondclass<br />

citizens“ 8 by stating that „part of the answer is straightforwardly Marxist.“ But,<br />

in the course of her argument she fails to examine the ramifications of the „important<br />

and correct Marxist diagnosis“ to focus on a reason more „intrinsic to the meaning of<br />

7 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. A Critique of Universal Citizenship. In:<br />

Ronald Beiner (ed.): Theorizing Citizenship. New York 1995. This ambiguity can <strong>als</strong>o be<br />

seen in her treatment of universal citizenship through out the essay. On one hand she<br />

critiques the concept, but on the other uses it as the basis for her argument.<br />

8 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 176.<br />

Dis | kurs 87


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

politics and citizenship as expressed in modern thought.“ 9 Yet, when Young defines<br />

this intrinsic factor – how the homogenous concept of universality does not allow<br />

for difference – it is posited as a historical development. In this model of historical<br />

development there is much discussion of how the history of gender relations, cultural<br />

relations and „the moral division of labour“ led to the creation of the concept of<br />

universal citizenship, but the Marxist part of the answer has been dropped. No consideration<br />

is given to the mediating effects of civil society. Furthermore, in contrast to<br />

the historical definition of universality, group difference is treated as an a-historical<br />

given which possesses the ontological nature of Heideggarian thrownness.<br />

The neglected Marxist part of the answer is then turned against when Young lays out<br />

her model of group representation. This is because Young contends that Marxism is<br />

a utopian viewpoint that does not account for contemporary reality. In doing so, she<br />

conflates the Marxist viewpoint that a utopian possibility exists within the existing<br />

conditions, with her the contention that it operates from a utopian viewpoint;<br />

Perhaps in some utopian future there will be a society without group oppression and<br />

disadvantage. We cannot develop political principles by starting with the assumption<br />

of a completely just society, however, but we must begin from within the general<br />

historical and social conditions in which we exist. The means that we must develop<br />

participatory democracy…on the assumption that there are group differences and<br />

that some groups are actually or potentially oppressed or disadvantaged. 10<br />

The result of these attitudes to the Marxist part of the answer is that rather then operating<br />

in the historical and social conditions and treating them as historical, Young<br />

treats them as a given just like her a-historical notion of the permanence of group<br />

difference.<br />

These givens then serve as the basis of Young's democratic model of differentiated<br />

citizenship. The model is three-point program that is meant to implement the general<br />

principle of specific representation for oppressed groups. It does this, essentially, by<br />

amending the liberal political sphere to include different opinions through guarantees<br />

of self-organization, „voicing a group's analysis of how social policy affects them“<br />

and veto power. Yet, Young even acknowledges this model as „academic […] since<br />

we live in a society with deep group oppressions the complete elimination of which<br />

is only a remote possibility.“ 11<br />

The question then, is why and how Young settled on the „academic“ model she undercuts?<br />

I believe the answer lies in her failure to incorporate the ramifications of<br />

9 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 176<br />

10 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 188.<br />

11 Young, Iris Marion: Polity and Group Difference. p. 189.<br />

88 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

the Marxist part of the answer she neglected. For, if she had utilized Marxism in her<br />

part of the answer, the historical development of the oppressive concept of universal<br />

citizenship would be examined from the viewpoint of a historical totality. This would<br />

account for the cultural and gendered influence of the concept of universal citizenship,<br />

as well as the mediating influence civil society had on the creation of the subject.<br />

It would <strong>als</strong>o give a historical context to the creation of oppressed identities, rather<br />

then treating them as an a-historical given. Lastly, by utilizing the above and choosing<br />

the Marxist utopian viewpoint – rather then the ersatz „academic“ utopia Young<br />

settles on – Young would not see oppression as an inevitable given to be remedied<br />

in the democratic sphere. Rather, she would side with Marx and Adorno in seeing<br />

democratic pluralism as an inadequate solution because of its failure to address the<br />

mediating influence of civil society. Instead, by failing to integrate the two parts of<br />

her answer, and treating the concept of universal citizenship and group oppression<br />

a-historically, Young reifies them.<br />

This results in a democratic model that fits Adorno's notion of ideology. For, rather<br />

then addressing the totality of historical conditions that created the problems Young<br />

is addressing, Young focuses solely on the democratic sphere. The consequence is<br />

an argument for political rather then human emancipation, which on the basis of<br />

its own givens attempts to reconcile oppressed groups with the very conditions that<br />

created their oppression. Here, the qualitative use-value that the utopia of human<br />

emancipation could provide these oppressed groups is sacrificed for the lesser quantitative<br />

model of political integration where oppressed groups are assured of their<br />

status as exchange-value, in a model even the author sees as an inevitably flawed<br />

lesser utopia.<br />

III<br />

Kymlikca's Multicultural Citizenship argues for a liberal basis for multicultural citizenship.<br />

This puts his liberal assumptions at odds with Marx and Adorno's assumptions<br />

and the assumptions of this paper. This is because Kymlicka's liberal basis attempts<br />

to „manage“ the problem of multiculturalism by absorbing suitable cases into his<br />

liberal framework. His argument for „toleration and its limits“ is a straightforward<br />

argument for liberal democratic reconciliation. For, while certain civil and political<br />

exceptions are made for different cultures, like allowing Sikh police officers to wear<br />

their traditional head dress instead of a helmet, no room is allowed for ill-liberal, let<br />

alone radical egalitarian social demands. 12<br />

Kymlicka's liberal assumptions give precedence to the individual and individual<br />

12 In the beginning of the book he does assert that social justice is inherently liberal. But<br />

this is not defined and does not reappear in the remainder of the work.<br />

Dis | kurs 89


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

choice. For him the state and the political sphere exist to protect and represent these<br />

choices as rights. But, these assumptions fail to address social and economic factors.<br />

In other words, Kymlicka operates from a framework that can address political<br />

emancipation but cannot consider human emancipation. This results in a contention<br />

similar to Young's; that the concept of political rights – and what he calls „majoritarian<br />

decision-making“ – have rendered „cultural minorities vulnerable to significant<br />

injustice at the hands of the majority“ 13 and must be modified to incorporate these<br />

groups.<br />

But, in what some may see as irony, Kymlicka uses the liberal idea of freedom of individual<br />

choice and equality to modify these rights. He does so by arguing that that<br />

the cultural context of a nation or culture are „cultural preconditions“ for the „liberal<br />

value of freedom of choice.“ 14 Culture is seen as a prerequisite for choice „because<br />

it provides options and makes them meaningful to us.“ Here culture is liberalised.<br />

It is conceived as something that helps you choose „the good“, provided this choice<br />

meets standards available within the liberal framework. But, the problem with this<br />

argument is that on one had it raises the question of how multi-cultural and pluralist<br />

Kymlicka's model is and on the other how effective it is in resolving the difficult circumstances<br />

that lead to theorizing about politics of difference in the first place.<br />

This is evident when Kymlicka moves to using his liberal basis to deal with empirical<br />

instances of multiculturalism. Here, he creates neat analytical distinctions to<br />

define different forms of multi-culturalism, such as „multi-national“ and „polyethnic“<br />

states. For the former, such as Quebec, Kymlicka offers a set of propos<strong>als</strong> for<br />

self-government. For the later, he offers a set of group rights similar to Young's. In<br />

addition to choice, these measures are justified because they ensure equality in what<br />

Kymlicka calls „the cultural marketplace“ and where they „promot[e] cultural diversity<br />

within the mainstream culture.“ 15 But here, and elsewhere, Kymlicka's theory<br />

comes up against „hard cases“ where his liberal model does not work.<br />

These hard cases fall into two categories. The first stem from cultures that are not<br />

liberal. Here Kymlicka's solution is to talk of „toleration and its limits.“ His solutions<br />

to this dilemma are rather opaque and restrictive. In the case of non-liberal nations<br />

„the aim of liber<strong>als</strong> should not be to dissolve non-liberal nations, but rather to seek to<br />

liberalize them.“ 16 In the case of internal non-liberal minority cultures, they must be<br />

13 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship: A Liberal Theory of Minority Rights. Oxford<br />

1995. p. 5.<br />

14 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 76.<br />

15 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 6.<br />

16 Cf. Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 94. What he means by this is not made<br />

clear.<br />

90 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

forced to meet his liberal standards. In these hard cases Kymlikca's liberal multiculturalism<br />

is not multicultural. The second category of hard cases stem from demands<br />

that do not fit into Kymlicka's liberal model or his neat analytical categories. Here, in<br />

the case of involuntary immigrants who had no choice in immigration, Kymlicka is<br />

forced to relegate his liberal model to an „ideal theory.“ 17 In this instance, Kymlicka<br />

leaves the political sphere to state that „the only long-term solution is to remedy the<br />

unjust international distribution of resources.“ 18 Yet, in doing so he has undercut his<br />

own argument by demonstrating the inapplicability of his liberal model to cases that<br />

make the question of pluralism necessary.<br />

What then is there to conclude about a model that cannot meet its own standards<br />

and how does it relate to this papers critique? I believe the answers coincide. For in<br />

resting on liberal assumptions that fail to take the mediating influence of the historical<br />

social and economic considerations into consideration, Kymlicka settles on his<br />

liberal multicultural political answer. But, as we have seen, the consequence of this<br />

is a model that is not multicultural and which is forced to resort to an extra-liberal<br />

answer when faced with hard cases created by the factors that mediate political life,<br />

such as the socio economic sphere. In failing to adapt his model to the logical conclusions<br />

of these two failings Kymlicka treats his other cases in bad faith.<br />

This result then meets Adorno's criteria as an ideological model because the attempted<br />

forced reconciliation, of liberal pluralist incorporation into the liberal democratic<br />

state, does not address the external factors that created these demands, nor does it<br />

assure that political representation will meet these demands or end these injustices.<br />

Instead, the quality of an individu<strong>als</strong> cultural identity is truly transformed into the<br />

quantitative liberal individual where, on the nature of its own assumptions, the only<br />

answer to what a liberal multicultural politics will be can be through the avenue of a<br />

multicultural liberal politics that fails to meet its own weak aspirations.<br />

IV<br />

So how do we approach the politics of pluralism while accounting for its mediating<br />

factors? Here it seems, Jameson was partially right. 19 Not only is Adorno relevant<br />

now, but the proof of this is actualized in Žižek and Angela Davis's work on the politics<br />

of difference.<br />

This is evident in the newest manifestation of Žižek's critique of multiculturalism/<br />

17 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 99.<br />

18 Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship. p. 99.<br />

19 Jameson, Frederic: Late Marxism: Adorno or the Persistence of the Dialectic. London<br />

2007.<br />

Dis | kurs 91


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

tolerance/pluralism. 20 In these recent articles and talks, Žižek critiques multiculturalism/tolerance/pluralism<br />

from the perspective of the lost cause of the universal<br />

critique of capitalism. He argues that calls for pluralism and tolerance alleviate the<br />

symptoms of racism, sexism etc. without addressing the structure that creates these<br />

symptoms. In The Liberal Utopia, for instance, he identifies this structure as the neoliberal<br />

capitalist totality. He further argues that this totality functions as a negative<br />

universality. This makes heterogeneous individu<strong>als</strong> – interpreted as givens by the<br />

liberal politics of difference – a fragment or particular aspect of this universality; it<br />

makes the politics of difference an expression of capitalism's antagonisms.<br />

Parallels with Adorno and Žižek can <strong>als</strong>o be drawn in the work of Angela Davis.<br />

In her classic works such as Women and Capitalism: Dialectics of Oppression and<br />

Liberation and Race and Criminalization 21 Davis extends a Marxian analysis to the<br />

oppression of women, the creation of institutional racism etc. In tying the oppression<br />

of these disparate identities to historical circumstances and arguing that only human<br />

emancipation can lead to reconciliation, Davis extends the critique of her former<br />

teacher, Adorno, to the plural politics of today.<br />

Here, Žižek, and Davis meet Said's humanism, which can be summed up in his frequent<br />

use of CLR James famous quote. 22 For contra the pluralist democratic theory<br />

of Kymlicka and Young, Žižek, Davis, Said and James argue that it is imperative to<br />

realize that you can't have a rendezvous without the victory.<br />

the work of man is only just beginning and it remains to conquer all the violence<br />

entrenched in the recess of our passion and no race possesses the monopoly of beauty,<br />

of intelligence, of force, and there's a place for all at the rendezvous of victory. 23<br />

V<br />

This paper has utilized Marx's On the Jewish Question and Adorno's critique of pluralism<br />

to interrogate modern pluralist democratic theory. Following Marx and Adorno,<br />

I have argued that Young and Kymlicka reify the repression of pluralist identities<br />

created by the historical conditions in the Hegelian conception of civil society.<br />

I have argued Young and Kymlicka have done this by treating the conditions that<br />

20 As seen in his recent articles such as Žižek, Slavoj: Resistance is Surrender. London<br />

Review of Books. Available at www.lrb.co.uk and lectures such as Žižek, Slavoj: The<br />

Euthanasia of Tolerant Reason. Talk given May 1, 2006 – Tilton Gallery, NYC; and Žižek,<br />

Slavoj: The Liberal Utopia. Talk given at the University of Athens on 4 Oct 2007.<br />

21 Both in James, Joy (ed.): The Angela Y. Davis Reader. Mass. 1998; see <strong>als</strong>o Women,<br />

Politics and Culture and Race, Woman, Race and Class by the same author.<br />

22 For a detailed examination of Said's humanism and it relation to pluralism see O'Kane,<br />

Chris: Edward Said's Humanism. MA dissertation, University of Sussex, 2005.<br />

23 Said, Edward W.: Culture and Imperialism. London 1994.<br />

92 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

create the oppression of these disparate identities as a given by constructing theoretical<br />

models that incorporate these givens into the democratic political sphere. The<br />

consequence for these democratic theories is that they argue for political emancipation<br />

and not human emancipation. For under Young and Kymlikca's democratic<br />

models, oppressed groups will still be subject to the historical, social and economic<br />

conditions that created the antagonisms that oppressed them in the first place. In<br />

other words, their political pluralism – which allows for a heterogeneity that diverse<br />

groups demand – is inadequate because by arguing for a democratic solution in the<br />

political sphere, it ideologically masks the root cause of oppression, forcing the oppressed<br />

groups to be reconciled with the historical social and economic conditions<br />

that oppress them. In Young's case I argued that by failing to examine the logical<br />

repercussions of what she calls the Marxist part of the answer, Young ends up reifying<br />

the oppressive historical grounds of group difference, ultimately advocating a model<br />

that even she acknowledges fails to resolve this problem. This is because rather then<br />

argue for human emancipation, her pluralist democratic model has settled on a form<br />

of political emancipation, which functions as an ideological abdication of the logical<br />

extension of her own argument. This results in a model that has forsaken the qualitative<br />

needs her politics of difference is trying to address for a quantitative form of<br />

assured political participation, but a political participation with almost nothing in<br />

the way of guarantees that will address the needs of disparate groups let alone rectify<br />

the factors that have created the conditions that have led to their oppression.<br />

In Kymlicka's case I argued that his liberal form of multicultural citizenship failed to<br />

meet its go<strong>als</strong> of being (a) multicultural and (b) addressing the problems of pluralism<br />

through liberalism. I tried to show that this is because of the inherent nature of his<br />

liberal assumptions, which (a) fail to address the mediating influence of the historical<br />

social and economic considerations and (b) believe liberal democracies normative<br />

value is self-evident. We have seen the repercussions of how these assumptions<br />

played out in the inability of Kymlicka's model to solve the hard cases where disparate<br />

groups hold ill-liberal values or the nature of a group's circumstances cannot be<br />

solved by liberalism. For, in these cases – which seem to be the cases that create the<br />

question of the politics of pluralism – Kymlicka's privileging of liberal values, his<br />

advocacy of converting non-liber<strong>als</strong> to liberalism and refusal to tolerate their cultural<br />

practices are the anti-thesis of a fully realized multi-culturalism. Additionally, his<br />

move to address the extra-liberal aspects of social-economic factors and regulation of<br />

his model to an ideal model when confronted with the problem of forced immigration<br />

completely undermines the ability of liberalism to address the problem of group<br />

oppression. The consequence of this is a model that is not multicultural and which<br />

is forced to resort to an extra-liberal answer when faced with hard cases created by<br />

the factors that mediate political life, such as the socio economic sphere. The result<br />

Dis | kurs 93


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

is ideological because Kymlicka's model obscures the problems that ultimately undermine<br />

it. This attempted forced reconciliation does not address the external factors<br />

that created these demands, nor does it assure that political representation will meet<br />

these demands or end these injustices. Instead, the quality of an individu<strong>als</strong> cultural<br />

identity is truly transformed into the quantitative liberal individual where, on the<br />

nature of its own assumptions, the only answer can be through the avenue of a multicultural<br />

liberal politics that fails to meet its own weak aspirations.<br />

Utilizing Adorno's use of Marx's concepts of use-value and exchange-value as normative<br />

concepts, I further argued that Young and Kymlicka's democratic models have<br />

met the definition of ideology Adorno lays out in his critique of pluralism. I have<br />

sought to demonstrate this by arguing that Young and Kymlicka's reified arguments<br />

for incorporation have conflated use-value with exchange-value, which ultimately<br />

perpetuates the problem they are trying to solve.<br />

This is because in (1) modifying the liberal democratic sphere to include oppressed<br />

group identities, Young and Kymlicka, assume that participation in a modified liberal<br />

democratic model has an inherent use-value for these groups. But, (2) through<br />

the utilization of the distinction between political and human emancipation and the<br />

political and civil sphere, I contended that this was actually exchange-value, with (3)<br />

the consequence that identity is absorbed into the political realm where it functions<br />

as a quantity rather functioning as a qualitative use-value that meet the needs of<br />

the individu<strong>als</strong> identity. But, as I have hopefully demonstrated, this form of political<br />

emancipation is not sufficient for satisfying the needs of oppressed people with<br />

these identities. Instead, I hope, the oppressed groups in Young and Kymlicka's models<br />

have demonstrated the impossibility of the argument for a solely political solution.<br />

This being the case, they should serve as the basis for an argument for human<br />

emancipation. But, instead, due to what I have designated as the ideological nature of<br />

Young and Kymlicka's pluralist democratic theory, these groups have been bartered<br />

for a stake in pre-existing conditions. Pre-existing conditions that do not entail the<br />

creation of a society that instead of oppressing these groups (in the civil sphere) and<br />

treating them as any other (in the political sphere) will provide for them and treat<br />

them as they desire.<br />

Thus, rather then addressing the capitalist antagonism that creates these groups,<br />

Young and Kymlicka have reconciled these groups with their conditions. Exchangevalue<br />

has been substituted for use-value further perpetuating negative universality.<br />

What then for the politics of difference? I hope this paper has not minimized the problem<br />

of heterogeneity that confronts the modern world. But, I do hope I have shown<br />

that in the case of oppressed groups, addressing the issue from a strictly political<br />

framework is ineffective. This why I believe the work of Žižek and Davis is invaluable.<br />

94 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

For them a reformed democracy does not automatically serve needs because it bears<br />

the name democracy. Instead social and political movements and theories must create<br />

a politics that serves these needs. Only then will the rendezvous and the victory<br />

coincide and meet the utopia of non-identity Adorno advocates over and against the<br />

pluralists who utilize him;<br />

To sum up in a rather bolder way, an achieved identity, in other words, the elimination<br />

of conflict, the reconciliation of all those who are opposed to one another<br />

because their interests are irreconcilable, an achieved identity does not mean the<br />

identity of all subsumed beneath a totality, a concept, an integrated society. A truly<br />

achieved identity would have to be the consciousness of a non-identity, or, more<br />

accurately perhaps, it would have to be the creation of a reconciled non-identity. 24<br />

Bibliography<br />

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. New York 2005.<br />

Adorno, Theodor W.: History and Freedom. MA 2006.<br />

Chitty, Andrew: Species-Being and Capital. Paper delivered to the ‚Studies of Modern Capitalism‘<br />

Conference, Changshu Institute of Technology, 9–10 November, 2006, subsequently<br />

published in Social Sciences in Nanjing 2, 2007, pp. 1–10.<br />

James. C.L.R.: C.L.R. James On the Negro Question. MI 1996.<br />

James, Joy (ed.); Davis, Angela Y.: The Angela Y. Davis Reader. MA 1998.<br />

Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship: A Liberal Theory of Minority Rights. Oxford 1995.<br />

Mcllelan, David (ed.); Marx, Karl: Karl Marx Selected Writings. Oxford 2005.<br />

Marx, Karl: Capital Volume 1. New York 1997.<br />

O'Kane, Chris: Edward Said's Humanism. MA dissertation University of Sussex, 2006.<br />

Said, Edward W.: Culture and Imperialism. New York 1994.<br />

Schecter, Darrow: Beyond Hegemony: Towards a new Philosophy of Political Legitimacy.<br />

Manchester 2005.<br />

Schecter, Darrow: History of the Left from Marx to the Present: Theoretical Perspectives.<br />

New York 2007.<br />

Schecter, Darrow: Sovereign States or Political Communities? Civil Society and Contemporary<br />

Politics. Manchester 2000.<br />

Young, Iris Marion: Polity and Group Difference; a Critique of Universal Citizenship. In Ronald<br />

Beiner Ed. Theorizing Citizenship. New York 1995.<br />

Žižek, Slavoj (ed.): Mapping Ideology. New York 1995.<br />

Žižek, Slavoj: The Euthanasia of Tolerant Reason. Talk given May 1, 2006 – Tilton Gallery,<br />

NYC. Available at http://video.google.com/videosearch?q=zizek+euthanasia+of+tolerant+reas<br />

on&hl=en&sitesearch=.<br />

Žižek, Slavoj: The Liberal Utopia. Talk given at the University of Athens on 4 Oct 2007.<br />

Available at http://video.google.com/videosearch?q=zizek+liberal+utopia&hl=en&sitesearch=<br />

Žižek, Slavoj: Resistance is Surrender. London Review of Books. Available at www.lrb.co.uk.<br />

24 Adorno, Theodor W.: History and Freedom. Mass. 2006. p. 55.<br />

Dis | kurs 95


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Fortwährende Banalität des Bösen und<br />

sozialpsychologische Entschuldigung<br />

Nadine Niemann<br />

Hochschule Vechta, IBS<br />

E-Mail: nadine_niemann@arcor.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Gehorsam, Verantwortung, Autorität, Demokratie<br />

Heinar Kipphardt, <strong>als</strong> gesellschaftskritischer Autor durch In der Sache J. Robert Oppenheimer<br />

(1964) bekannt, schrieb ein Buch über „ein[en] ziemlich durchschnittliche[n]<br />

junge[n] Mann“ 1 , der „wie viele andere“ 2 gewesen sei. Dieser Mann, Adolf Otto Eichmann,<br />

wurde 1961 wegen aktiver Beihilfe zum Völkermord in Jerusalem angeklagt<br />

und vor Gericht gestellt. Er plädierte auf „nicht schuldig“, da er eine „reine Weste“<br />

und kein Blut an den Fingern habe. Schließlich sei er nur ein befehlsempfangendes<br />

Opfer gewesen und da er nur ein kleines Rädchen im Getriebe (Hannah Arendt) der<br />

nation<strong>als</strong>ozialistischen Vernichtungsmaschinerie gewesen sei, wäre seine Aufgabe<br />

im Falle seiner Weigerung, die sogenannte Endlösung der Judenfrage, von jemand<br />

anderem übernommen worden.<br />

Wegen dieser exemplarischen Gefährlichkeit von Eichmann und <strong>als</strong> Warnung vor<br />

seinen Verwandten im Geiste, die ähnlich grausam, realitätsfern, eifrig und gewissenhaft<br />

handeln könnten, schrieb Kipphardt das Drama Bruder Eichmann. Denn „nicht<br />

die Kläglichkeit [d]es durchschnittlichen Lebens, sondern das Exemplarische dieser<br />

1 Kipphardt, 1984, S. 141.<br />

2 Wucher, 1961, S. 9.<br />

96 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Durchschnittlichkeit“, die „funktionale Haltung des durchschnittlichen Bürgers“, der<br />

das „Gewissen […] an den Gesetzgeber oder an die Befehlsgeber delegiert“ 3 hat, macht<br />

das Böse banal.<br />

Die Öffentlichkeit sah Eichmann, nicht <strong>als</strong> Opfer, sondern <strong>als</strong> „Monster“. Seine Taten<br />

seien grausam und unmenschlich, ein normaler Mensch würde so nicht agieren.<br />

Diese Meinung ist noch immer weit verbreitet, aber laut Stanley Milgram ist diese<br />

moralisch richtige Entscheidung empirisch nicht haltbar.<br />

Eine sozialpsychologische Entschuldigung?<br />

Milgram führte von 1960 bis 1963 ein Experiment zum Thema Gehorsam durch und<br />

erhob vor dem Experiment die erwarteten Resultate bezogen auf die Gehorsamsbereitschaft<br />

und Abbrecherquote, von Personen aus den unterschiedlichsten Milieus<br />

eingeschätzt.<br />

Das Ergebnis dieser Erhebung prophezeite eine hohe Abbrecherquote, welche im<br />

Experiment nicht annähernd erreicht wurde. 4 Milgrams Schlussfolgerung aus dem<br />

erschreckenden Resultat ist, dass „ganz gewöhnliche Menschen, […] nur schlicht ihre<br />

Aufgabe erfüllen, selbst wenn ihnen die zerstörerischen Folgen ihres Handelns vor Augen<br />

geführt […] und klar bewusst gemacht“ werden. 5 Demnach würden Personen wie<br />

du und ich mit großer Wahrscheinlichkeit ähnlich handeln, ähnlich einem Eichmann<br />

oder Jonathan Littells SS-Offizier, Dr. Max Aue. Warum ist aber diese Haltung so<br />

schwer nachzuvollziehen? Unsere Erziehung lässt uns von außen die richtige Entscheidung<br />

treffen, während wir in der Situation ähnlich handeln würden. Die Situation<br />

ist demnach von großer Bedeutung, nicht aber der gute oder schlechte Charakter<br />

einer Personen. So können zum Beispiel Familienväter im Krieg (auf Befehl) Säuglinge,<br />

Kinder und Frauen töten, wie beim Massaker von My Lai 6 . Doch was macht<br />

solche Situationen aus, was unterscheidet sie von anderen?<br />

Stehen wir im Zusammenhang mit einem System hierarchischer Ordnung und somit<br />

unter einer Autorität, sind wir erst einmal Befehlsempfänger. In Milgrams Experiment<br />

waren die Versuchspersonen ebenfalls Befehlsempfänger und befanden sich<br />

deshalb in einem Dilemma. Sie waren den gegensätzlichen Kräften ausgesetzt, sich<br />

entweder der Autorität zu beugen oder der Besorgnis um den schockempfangenden<br />

„Schüler“ nachzugeben. „Dilemma“ ist gleichbedeutend mit einer (körperlichen)<br />

3 Kipphardt, 1984, S. 142.<br />

4 Die Befragten äußerten sich, dass sie alle oder bis auf ca. 2 % (eine pathologische Randgruppe)<br />

alle an einem bestimmten Punkt abbrechen würden (Milgram, 1974, S. 43–47),<br />

doch benahe die Hälfte der Versuchspersonen folgte der Autorität zu wider ihrer Grundsätze<br />

(ebd. S. 56).<br />

5 Milgram, 1974, Einband.<br />

6 Ebd. S. 211–214.<br />

Dis | kurs 97


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Spannungssituation, wodurch kein ruhiger und entspannter Blick auf die Situation<br />

gewährleistet ist. Das Augenmerk ist nicht mehr so leicht, wie in der von außen betrachteten<br />

Situation, auf den Schüler gerichtet. Die Abbrüche des Experiments fallen<br />

geringer aus, <strong>als</strong> es sozial erwünscht ist. Milgrams Versuchspersonen erscheinen<br />

nach außen, <strong>als</strong>o für den neutralen Beobachter, in ihrem Feld-Wald-und-Wiesen-<br />

Verständnis (Stanley Milgram) wie Bestien.<br />

Für die scheinbaren Monster ist das Experiment eine ziemlich reale Situation. Das<br />

Dilemma, die Entscheidung zwischen den gegensätzlichen Polen zu treffen, wird in<br />

physische Prozesse, zum Beispiel Schwitzen und Zittern, umgewandelt. Dieser Aspekt<br />

der physischen Umwandlung der Spannung spricht auch für die Glaubhaftigkeit<br />

des Experiments. Die Versuchspersonen gehen davon aus, dass sie, wenn sie der Autorität<br />

nicht gehorchen, das Experiment vereiteln und die Wissenschaft behindern.<br />

Von großer Bedeutung sind demnach der Gehorsam, die institutionelle Einbindung<br />

(Yale University) und die Erziehung, die Erwartungen zu erfüllen (das Experiment<br />

beenden), ebenso wie die Aspekte der Verantwortung(sverschiebung) und der Autorität<br />

(ihrer Präsenz und ihrer Position). „Er handelt so, weil das Gewissen, das triebhafte<br />

Aggressionshandlungen reguliert, beim Eintritt in eine hierarchische Struktur<br />

durch Unterdrückung abnimmt.“ 7<br />

Autorität – Verantwortung – Gehorsam<br />

Gehorsam ist dann gegeben, wenn ein Untergebener die Befehle der entsprechenden<br />

Autorität befolgt, wobei Personen grundsätzlich ruhiger werden, wenn ihnen eine<br />

Autorität übergeordnet ist. Sie geben die Verantwortung ab und nach Blaise Pascal<br />

tue man „[n]iem<strong>als</strong> […] so vollständig und gut das Böse, <strong>als</strong> wenn man es mit gutem<br />

Gewissen tut.“ 8 Die abgegebene Verantwortung sorgt für ein verschobenes moralisches<br />

Urteil. 9 Es ist nicht mehr entscheidend, ob meine Handlungen Glück oder Leid<br />

bringen, sondern ob man der Autorität gehorcht. „Im Leben lernt der Mensch zuerst<br />

gehen und sprechen. Später lernt er dann, still zu sitzen und den Mund zu halten.“ 10<br />

So lernen die Menschen in Schule und Militär, dass, wenn man sich konform der<br />

entsprechenden Gruppe verhält und der Autorität gehorcht, man überlebt oder andernfalls<br />

(schwer) bestraft wird. Milgrams Experiment zeigte, dass gehorsame Personen<br />

ruhiger leben. Nicht dass für Personen, die den Gehorsam verweigerten, dieser<br />

Schritt nicht ohnehin schon schwer genug war, sie haben auch noch Gewissensbisse.<br />

7 Milgram, 1974, S. 155.<br />

8 Kipphardt, 1984, S. 5.<br />

9 Vgl. mit einer Tiefschlafsphase, in der die Hör- und Sehfähigkeit herabgesetzt ist und<br />

durch einen Reiz. mit entsprechender Intensität (z. B. Wecker), wieder voll funktionsfähig<br />

wird (Milgram, 1974, S. 181).<br />

10 Marcel Pagnol. In: Zitate.net URL: http://zitate.net/zitat_1786.html vom 06.07.2008.<br />

98 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Sie tragen eine Bürde, da sie mit der Autorität gebrochen haben. Sie haben die vorher<br />

(unbewusst) vereinbarten Aufgaben und Anforderungen nicht erfüllt (Ziele des<br />

Experiments beziehungsweise der Wissenschaft). Widerstand oder Verweigerung ist<br />

somit, nach Milgram und Arendt, nicht von vielen zu erwarten oder zu leisten. Es<br />

existiert noch kein Unterdrückungsmechanismus, bezogen auf die Gehorsamsbereitschaft,<br />

wenn diese ein solch grausames Ausmaß annimmt oder anzunehmen droht.<br />

Tritt der Mensch in eine hierarchische Struktur ein, gibt er zum einen Verantwortung<br />

ab, zum anderen wird sein moralisches Urteil auf einen anderen Fokus gerichtet. Aus<br />

seiner Sicht handelt das Individuum dennoch moralisch. Einen ähnlichen Zustand<br />

beischreibt Hannah Arendt.<br />

Arendts Machtpyramide<br />

In der Machtpyramide ist eine zunehmende Realitätsferne zu verzeichnen, je höher<br />

die Personen in der hierarchischen Struktur stehen. Ein Adolf Eichmann, fleißig und<br />

diszipliniert, ging vollkommen in seiner bürokratischen Arbeit auf, musste er jedoch<br />

das Leid in den Konzentrationslagern sehen, wurde ihm buchstäblich übel. Dieser<br />

Schreibtischtäter (routinierter Verwaltungsmassenmord) handelte, ähnlich wie die<br />

Versuchspersonen in Milgrams Experiment: Wenn diese das Leid des Schülers nicht<br />

mehr sehen konnten, sahen sie einfach weg, lasen lauter und betonter (eventuell mit<br />

Hilfestellungen) oder vertieften sich in das Drücken der Knöpfe oder in die Technik.<br />

Psychologisch gesehen eine Art der Verdrängung und Leugnung, ebenso wie das<br />

„Schönreden“ 11 des Experiments und seines Ziels, auch im Nachhinein.<br />

Der Bruch mit der Autorität ist zum einen auch deshalb so schwierig, weil man sich<br />

eingestehen müsste, dass die vorherigen Taten f<strong>als</strong>ch waren. Zum anderen muss<br />

die Beziehung zur Autorität neu definiert werden, was das wohlgeordnete System<br />

(kurzfristig) zerstören würde. Alles hat den Hauch von „Gesetzlosigkeit“ und drastisch<br />

formuliert, handeln gehorsame Menschen „unmenschlich“, weil sie versuchen<br />

entsprechend der Gesellschaft und ihrer Normen zu handeln (Gehorsam). „Warum<br />

jemand tut oder lässt, warum er etwas tut und anderes lässt, das hängt damit zusammen,<br />

wie erlebt. Wie er aufgewachsen ist und wer ihn begleitet hat.“ 12 Nach dem Verständnis,<br />

solch gefolgsamer Personen, wäre Widerstand von der gesellschaftlichen<br />

Norm abweichendes Verhalten, weswegen sie Angst vor Sanktionen haben und sich<br />

vor Vergeltung, in Form von Rache oder einem Gerichtsprozess, fürchten. Es passt<br />

außerdem nicht in ihr Selbstbild, festzustellen bzw. zuzugeben eine grausame Person<br />

zu sein. Es stellt sich <strong>als</strong>o die Frage, inwieweit solch Kadavergehorsam unabhängig<br />

11 „Lieber Gott, jetzt ist er tot; <strong>als</strong>o schön, bringen wir ihn ganz um.“ (Milgram, 1974,<br />

S. 107).<br />

12 Bertold/Grüber: Erzieherinnen sind doof, Berlin, 1998, S. 15.<br />

Dis | kurs 99


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

vom Experiment oder dem Nation<strong>als</strong>ozialismus geschehen kann oder ob eine Demokratie<br />

gegen Missbrauch geschützt ist?<br />

Bietet die Demokratie einen Schutz vor „blindem Gehorsam“?<br />

Die repräsentative Demokratie ist eine Regierungsform, in der das Volk seine souveräne<br />

Macht auf Abgeordnete überträgt, damit die Interessen des Einzelnen in der<br />

Gesellschaft besser umgesetzt werden können. Jeder Einzelne mag zwar zählen, doch<br />

sind die Bürger nur gemeinsam stark. 13 Sie seien der „Humus“ des politischen Systems<br />

und ersetzen dieses nicht. 14 In der Praxis sieht das folgendermaßen aus: Einerseits<br />

initiieren Politiker zum Beispiel Hürden für Volksentscheide oder setzen<br />

Mindestzahlen bei Unterschriften-Aktionen, die teilweise unerreichbar scheinen<br />

und abschrecken sollen. Der Schutz der Demokratie und der Gesellschaft, dass nicht<br />

jeder alles jederzeit durchsetzen kann, hält auch andere, die es gut meinen, von ihren<br />

Taten ab. Andererseits ist das Volk „geplagt“ von politischer Faulheit. So hält sich<br />

zum Beispiel die Wahlbeteiligung meist sehr gering (an Hochschule Vechta 2008 bei<br />

26,24 %), denn es ist einfacher zu folgen und sich der Mehrheit anzupassen. Gerade<br />

für den Menschen <strong>als</strong> Herdentier ist es bequemer zu folgen und sich an der<br />

möglichen, meist ungenutzten, Partizipation zu freuen. Es schleicht sich die besagte<br />

politische Faulheit ein, und so kann Demokratie schnell ins Gegenteil umschlagen 15 ,<br />

besonders wenn der Diktator charismatisch und mit der richtigen Ideologie bewappnet<br />

ist. Selbst „die Idee der Diktatur basiert auf der Vorstellung vom Glück der größten<br />

Zahl, es gibt quer durch die Weltgeschichte keinen einzigen Diktator, der behauptet<br />

hätte, seine Diktatur sei errichtet worden, um die Untertanen zu unterdrücken oder<br />

sogar unglücklich zu machen.“ 16<br />

Doch irgendwie muss man ja dafür sorgen können, dass die angestrebten, guten Taten<br />

gut bleiben, unabhängig davon, was gut ist. Die Menschenrechte zum Beispiel,<br />

was jedoch auf eine andere Debatte verweist. Wie können nun aber die demokratischen<br />

Werte geschützt werden? Setzt man Wahlen und Partizipation mit Zwang<br />

nach, wird Demokratie absurd, nimmt totalitäre Züge an und steht dem Grundrecht<br />

der Freiheit entgegen. Was lässt sich daraus ableiten? Dass die Möglichkeiten gegeben<br />

sein müssen, das Volk auch über seine Möglichkeiten aufgeklärt ist und weiß, wo<br />

solche Informationen zu Rechten und Pflichten zu finden sind. Es wird somit vom<br />

Volk verlangt sich zu informieren und seine Möglichkeiten (zum Beispiel auf Widerstand)<br />

auszuschöpfen. Doch der Mensch <strong>als</strong> „Herdentier“ folgt lieber der Masse und<br />

13 Vgl. Limbach: Die Demokratie und ihre Bürger, München, 2003, S. 113.<br />

14 Ebd. S. 150.<br />

15 Demokratie zwischen den Extremen: Anarchie & Diktatur.<br />

16 Slaweski, 2001, S. 33.<br />

100 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

verhält sich gruppenkonform, denn Widerstand ist oder scheint schwerer. Deshalb<br />

sprechen so viele, wie auch Jonathan Littells SS-Offizier, davon, dass sie keine Reue<br />

spüren. Wofür auch, denn sie handelten entsprechend des Systems und so plädierte<br />

Eichmann auf „nicht schuldig“. 17<br />

Warum lässt sich das für uns so schwer akzeptieren? Macht es denn die sozialpsychologische<br />

Entschuldigung nicht verständlicher? Unabhängig von den subjektiven Antworten<br />

auf diese Fragen, lässt sich festhalten, dass die Situation den Menschen gut<br />

oder böse macht. Die Sozialpsychologie zeigt, dass Eichmann nicht <strong>als</strong> Totengräber<br />

der Demokratie oder Monster verstanden werden kann und sich das „Böse“ generell<br />

einfacher und bequemer durchsetzen lässt. Arendt und Milgram beschönigen diese<br />

Problematik nicht, wonach das Böse banal ist und wie Milgrams Experiment zeigt,<br />

die Mehrheit nicht die psychische Kraft hat, den Gehorsam zu verweigern. Was lässt<br />

sich daraus, unter anderem für die Pädagogen, <strong>als</strong>o für Menschen, die mit der Erziehung<br />

und Sozialisation beauftragt sind, ableiten? Da das „Phänomen“ immer noch<br />

aktuell ist (zum Beispiel Neuauflage durch Galileo und andere Wissenschaftler in<br />

anderen Ländern 18 ; „Das Experiment“ / „Stanford Prison“), scheinen (pädagogische)<br />

Konsequenzen notwendig. 19 Zivilcourage, Mut zur Aufmüpfigkeit und Selbstvertrauen<br />

müssen gestärkt werden, denn nur stabile und gefestigte Persönlichkeiten können<br />

die notwendige emotionale Kraft aufbringen, Widerstand zu leisten. Außerdem muss<br />

der Grundsatz vermittelt werden, dass sich jeder jederzeit für etwas entscheiden und<br />

das Beste aus einer Situation machen kann. Es ist nie zu spät für Veränderungen.<br />

Sollten mir die Gesetze in meinem Land nicht gefallen und ich gehöre eventuell der<br />

Minderheit an, habe keine „Chancen“ etwas zu ändern, weil die Sanktionen zu gefährlich<br />

sind oder ich fühle mich einfach nicht in der Lage, dann steht es mir frei, zu<br />

emigrieren. Ich kann ebenso vor den (negativen) Konsequenzen meiner Gehorsamsverweigerung<br />

fliehen.<br />

Kipphardt appelliert <strong>als</strong>o aus gutem Grund an jeden Einzelnen, auf „Eichmänner“<br />

und seine Verwandten zu achten bzw. so selbstreflektierend und selbstverantwortlich<br />

zu sein, um keiner von ihnen zu werden. Milgram zeigte mit seinem Experiment<br />

auch, dass das Böse nicht typisch deutsch ist.<br />

17 Aus dem Plädoyer von Eichmanns Anwalt: „im Auftrag des Staates, dessen Ordnung verbrecherisch<br />

war. Das Verbrechen war [somit] legal, die menschliche Handlung illegal.“<br />

(Kipphardt, 1984, S. 119).<br />

18 Z. B. David Mark Mantell (1971); Sheridan und King (1972).<br />

19 Eine immer noch aktuelle Debatte ist der Umgang mit Rechtsextremisten und Neonazis,<br />

die sich in der Tradition der Nation<strong>als</strong>ozialisten sehen. Hier gibt es derzeit auch einige<br />

Kampagnen, die sich unter anderem mit diesem Thema beschäftigen: „Hingucken“;<br />

„Bunt statt braun“; „Hingucken – Denken – Einmischen“; „Sport gegen Gewalt“; „FCM:<br />

Fairness Courage Mut“ und andere.<br />

Dis | kurs 101


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Nicht zu vergessen ist, dass Widerstand notwendig für die Entwicklung der Gesellschaft<br />

ist und nur dadurch Veränderungen stattfinden können. Wenn Minderheiten<br />

beharrlich genug sind, in sich geschlossen und über längere Zeit aktiv, können sie<br />

ihre Forderungen durchsetzen. Ein gutes Beispiel sind die feministischen Bewegungen<br />

der 50er und 60er Jahre. Die Rechte der Frauen werden seitdem ganz anders<br />

gehandhabt, auch wenn sie noch nicht vollends gleichgestellt sind, was jedoch eine<br />

andere Debatte eröffnet.<br />

Literaturauswahl<br />

Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München.<br />

1992.<br />

Kipphardt, Heinar: Bruder Eichmann. Rowohlt Henschelverlag. Kunst und Gesellschaft.<br />

Berlin. 1984.<br />

Milgram, Stanley: Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autoritäten.<br />

Hamburg. 1974.<br />

Salewski, Michael: Diktatur zum Paradies. In: Timmermann/ Gruner (Hrsg.): Demokratie<br />

und Diktatur in Europa. Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen.<br />

Band 95. Berlin. 2001.<br />

Wucher, Albert: Eichmanns gab es viele. Ein Dokumentarbericht über die Endlösung der<br />

Judenfrage. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München. 1961.<br />

102 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

Russland: Demokratie „auf russische Art“<br />

oder Autoritarismus?<br />

Christoph Krakowiak<br />

Eberhard-Karls Universität Tübingen<br />

E-Mail: ckrakowiak@gmx.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Russland, Demokratiebegriff, Autoritarismus, Klassifizierung politischer<br />

Systeme<br />

Seit Mai 2008 sind die zwei Amtszeiten Präsident Wladimir Putins abgelaufen. Sein<br />

gewählter Nachfolger und politischer Weggefährte Dimitri Medwedew ist nun der<br />

Herr im Kreml, während er selbst das Weiße Haus, den Sitz des Premierministers,<br />

bezogen hat. Über die Bilanz der vergangenen acht Jahre ist viel geschrieben worden,<br />

auch und vor allem über das politische System Russlands. Bemerkenswert dabei ist,<br />

dass es eine enorme Anzahl verschiedener Begriffe gibt, die benutzt werden, um es zu<br />

charakterisieren: defekte Demokratie, unvollkommene Demokratie, imitation democracy,<br />

gelenkte Demokratie, Demokratie auf russische Art und schließlich Diktatur<br />

oder Autoritarismus. Während mehr und mehr Forscher in der Literatur Russland<br />

ein autoritäres Regime konstatieren 1 , sind noch immer einige der Ansicht, es genüge,<br />

der Demokratie ein Adjektiv hinzuzufügen oder eine Klasse „hybrider Systeme“ 2<br />

zu erfinden, um das politische System Russlands adäquat zu beschreiben. All diese<br />

Begriffe suggerieren, dass Demokratie in einem Staat, der zwischen Autokratie und<br />

1 Vorbei sind die Zeiten, in denen es bei den meisten noch hieß: „Russia still avoids black<br />

or white answers.“ Aus: Shevstova, Lilia: Putin's Russia, Washington 2003, S. 275.<br />

2 Knobloch, Jörn: Hybride Systeme – Politische Praxis und Theorie am Beispiel Rußlands,<br />

Hamburg 2006.<br />

Dis | kurs 103


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Oligarchie dahinschwelt, überhaupt existieren kann. Dies scheint mir nicht richtig zu<br />

sein. Denn Demokratie muss <strong>als</strong> Gegenpol zur „Selbstherrschaft“ durch eine zentrale<br />

Kraft oder der „Herrschaft weniger“ verstanden werden. Auch wenn es in unterschiedlichen<br />

Demokratien Abstufungen in der Intensität der Beteiligung der Bürger<br />

an der Politik gibt, so kann Demokratie nicht mit Autokratie und Oligarchie in einem<br />

politischen System koexistieren. Daher soll hier dargelegt werden, dass Begriffe<br />

wie „Demokratie auf russische Art“ 3 eine unangebrachte Überdehnung des Begriffs<br />

Demokratie sind und ihn sinnlos machen. Denn genauso gut könnte man von „Demokratie<br />

auf chinesische Art“, „Demokratie auf iranische Art“ oder „Demokratie auf<br />

zimbabwer Art“ sprechen, nur weil diese Staaten gewisse, meist sehr schwach entwickelte<br />

Elemente einer Demokratie haben – obwohl von vornherein klar sein sollte,<br />

dass es sich dabei um autoritäre politische Systeme handelt.<br />

Im Falle Russlands mag die Klassifizierung auf den ersten Blick schwieriger sein: Die<br />

Russische Föderation ist laut Verfassung ein „demokratischer föderativer Rechtsstaat<br />

mit republikanischer Regierungsform“ 4 mit Gewaltenteilung, freien Wahlen, Pluralismus<br />

und allen Freiheiten, die die demokratischen Staaten Europas auch haben.<br />

Jedoch kann die Wirklichkeit bei einem solchen Mangel an „public contestation“ 5 der<br />

Regierungsmacht, wie ihn Kozyrev korrekt beschreibt, von der Verfassungsnorm<br />

abweichen und so gilt es, das Land nach spezifischen, für alle Demokratien gleich<br />

bleibenden, Kriterien zu untersuchen. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung<br />

zunächst einmal zu klären, welche elementaren Eigenschaften eine de facto (d.h.<br />

nicht nur de jure!) Demokratie aufweisen muss. Dies soll im ersten Teil des Artikels<br />

herausgearbeitet werden, um eine solide Untersuchungsgrundlage zu schaffen. Im<br />

zweiten Teil werden diese an das politische System Russlands angelegt um zu erfahren,<br />

ob sie vorhanden sind oder nicht. Schließlich werden die Ergebnisse im dritten<br />

Teil der Arbeit zu einem abschließenden Urteil zusammengefügt.<br />

Klassifizierung politischer Systeme<br />

Natürlich gibt es verschiedene Arten von Demokratien und autoritären Systemen,<br />

die sich untereinander in vielen Merkmalen nicht nur unterscheiden, sondern auch<br />

überschneiden können. Doch letztendlich wird man um eine zwar simplifizierende,<br />

aber klare Antwort nicht herumkommen. Denn da es in der Geschichte und Gegenwart<br />

unzählige verschiedene Realtypen politischer Systeme gab und gibt, müssen<br />

sie zur Reduktion dieser empirischen Komplexität in möglichst wenigen Idealtypen<br />

klassifiziert werden. Dadurch werden einerseits unzählige willkürliche Neologismen<br />

3 Kozyrev, Illya: Demokratie ohne Demokraten in „Putins Russland“, S. 56–60.<br />

4 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Artikel 1.1.<br />

5 Nach Dahl, Robert: Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971.<br />

104 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

vermieden, andererseits kardinale Unterschiede im Systemcharakter begrifflich abgebildet,<br />

bewusste oder unbewusste Verfälschungen <strong>als</strong>o vermieden. Die Trias politischer<br />

Systeme von Demokratie, Autoritarismus und Totalitarismus scheint mir die<br />

sinnvollste Einteilung zu sein. Doch sind die Grenzen nicht leicht zu definieren; viele<br />

politische Systeme weisen Merkmale verschiedener Klassen auf, so auch Russland. Es<br />

bedarf erst genauer Kriterien, deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung eine eindeutige<br />

Zuordnung ermöglicht.<br />

Was macht Autoritarismus aus?<br />

Das Wesen eines autoritären Regimes wird auf verschiedene Weise aufgefasst: Während<br />

Freedom House 6 das fehlen von Freiheiten und Rechten ins Auge fasst, stellen<br />

andere die Organisation und das Verhalten des Regimes in den Mittelpunkt. 7 Doch<br />

die heutzutage meistverwendete Definition stammt von Juan J. Linz und besagt, dass<br />

Autoritäre Regime politische Systeme seien, die einen begrenzten, nicht verantwortlichen<br />

politischen Pluralismus haben, die keine ausgearbeitete und leitende Ideologie,<br />

dafür aber ausgeprägte Mentalitäten besitzen und in denen keine extensive oder<br />

intensive Mobilisierung, von einigen Momenten in ihrer Entwicklung abgesehen,<br />

stattfinde und in denen ein Führer oder manchmal eine kleine Gruppe die Macht<br />

innerhalb formal kaum definierter, aber tatsächlich recht vorhersagbarer Grenzen<br />

ausübe. 8 Man sieht dieser Definition deutlich an, dass sie <strong>als</strong> Abgrenzung zu den<br />

anderen beiden Regimetypen entwickelt wurde. Dabei ist ihr zentrales Kriterium,<br />

nämlich der begrenzte (aber dennoch vorhandene!), nicht verantwortliche politische<br />

Pluralismus, auch gleichzeitig der wichtigste Unterschied zur Demokratie mit ihrem<br />

schier unbegrenzten Pluralismus. 9 Folglich müssen ihm auch die nachfolgend<br />

herausgearbeiteten Untersuchungskriterien entsprechen. Würden diese dann nicht<br />

erfüllt, wäre das Hauptmerkmal der Linz'schen Definition gegeben und damit der<br />

Typ des politischen Systems Russlands bestimmt.<br />

Was macht Demokratie aus?<br />

Eine ebenso gleichzeitig weite und präzise Definition von Demokratie zu finden ist<br />

weitaus schwieriger. Im Laufe der Geschichte wurde eine Vielzahl von Demokratietheorien<br />

entwickelt und jede von ihnen „vermittelt wichtige Einsichten in den ideen-<br />

6 Vgl. http://www.freedomhouse.org.<br />

7 Meloen, Jos D.: Die Ursprünge des Staatsautoritarismus. In: Rippl/Seipel/Kindervater<br />

(Hrsg.): Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung,<br />

Opladen 2000, S. 220.<br />

8 Vgl. Linz, Juan J.: Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000, S. 192.<br />

9 Ders.: Autoritäre Regime, in: Nohlen, Dieter; Schulze, Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politik,<br />

Band 1, München 2004, S. 55.<br />

Dis | kurs 105


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

geschichtlichen Hintergrund, die Struktur, Funktionsvoraussetzungen und die Auswirkungen<br />

der Demokratie.“ 10 Doch können meines Erachtens – um nur zwei Beispiele<br />

zu nennen – weder Dahls Polyarchie-theorie in ihren Dimensionen der „inclusiveness“<br />

und „public contestation“ 11 noch die von Huntington vorgeschlagene Definition<br />

der Demokratie <strong>als</strong> „a political system, in which it's most powerful collective decision<br />

makers are selected through fair, honest and periodic elections in which candidates freely<br />

compete for votes and in which virtually all the adult population is eligible to vote“ 12<br />

diesen Typus politischer Systeme befriedigend abbilden. Daher wird hier das Regime<br />

der Russischen Föderation nicht auf seine Übereinstimmung mit einer der Demokratietheorien<br />

untersucht. Stattdessen werden an dieser Stelle die wichtigsten Kernkriterien<br />

für eine Demokratie, die in den einzelnen Theorien mehr oder weniger<br />

stark ausgeprägt sind, herangezogen. Dies sind natürlich längst nicht alle Merkmale<br />

einer Demokratie; es gibt noch unzählige weitere. Aber die folgenden stellen notwendige<br />

Bedingungen dar, die ein politisches System erfüllen muss, um in die Kategorie<br />

der Demokratien aufgenommen werden zu können. Ist auch nur eine nicht erfüllt,<br />

so werden auch die anderen beeinträchtigt, was die Demokratie <strong>als</strong> Ganzes gefährdet<br />

bzw. unmöglich macht:<br />

(1) Bürgerrechte und Rechtsstaat: „Citizens are the most distinctive element in democraties.“,<br />

bemerken Schmitter und Karl zu Recht. „All regimes have rulers and a public<br />

realm, but only to the extent that they are democratic do they have citizens“ 13 Die<br />

Demokratie <strong>als</strong> „Regierungsform bürgerschaftlicher Selbstregierung“ 14 kann nur funktionieren,<br />

wenn die Menschen über freiheitliche Rechte verfügen (und von ihnen<br />

ungehindert Gebrauch machen können), die sie zu Bürgern machen. Dazu zählen<br />

Meinungs-, Versammlungs-, Glaubensfreiheiten, etc. und in erster Linie das Recht<br />

auf Leben, Würde und Freiheit des Einzelnen. Die Garantie dafür, dass alle Bürger<br />

diese Rechte auch wahrnehmen können, gibt ein funktionierender Rechtsstaat. Er<br />

schützt den Einzelnen vor staatlicher Willkür oder dem unrechtmäßigen Verhalten<br />

anderer. Doch ohne das tatsächliche Primat des Rechts vor der Macht existieren die<br />

Bürgerrechte nur auf dem Papier.<br />

(2) Freie Wahlen und Parteien: Wenn die Menschen ihre Überzeugungen ohne<br />

Angst in die Öffentlichkeit tragen können, dann erst machen Wahlen einen Sinn.<br />

10 Schmidt, Manfred G.: Demokratietheorien. Eine Einführung, 3. überarbeitete Auflage,<br />

Opladen 2000, S. 540.<br />

11 Dahl, Robert: Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971, S. 4.<br />

12 Huntington, Samuel P.: The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century,<br />

London 1993, S. 7.<br />

13 Karl, Terry Linn/Schmitter, Philippe C.: What Democracy Is … And Is Not, in: Journal<br />

Of Democracy, Nr. 2 1991, S. 77.<br />

14 Informationen zur politischen Bildung Nr. 283 (2003): Demokratie, Bonn, S. 38.<br />

106 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Doch müssen die Bürger nicht nur in freien, fairen und geheimen Wahlen ihre politische<br />

Führung bestimmen und damit zwischen Ideen- und Handlungsalternativen<br />

entscheiden können, sondern auch die Möglichkeit haben, selbst gewählt zu werden<br />

und sich am politischen Prozess aktiv zu beteiligen. „Politische Parteien wirken <strong>als</strong><br />

Bindeglied zwischen Gesellschaft und Staat und sind die wichtigsten Vehikel der politischen<br />

Willensbildung, die sie im Parlament wie in der Regierung zur Ausdruck und<br />

zur Durchsetzung bringen und damit wiederum der Identifikation der Bürger mit den<br />

von ihnen gewählten Abgeordneten respektive Regierungsmitgliedern dienen.“ 15 Daher<br />

ist ein funktionierendes Mehrparteiensystem eine wichtige Voraussetzung für den<br />

durch die Bürgerrechte ermöglichten politischen Pluralismus. 16<br />

(3) Machtverteilung und Verantwortlichkeit: Doch auch eine frei und fair gewählte<br />

Führung darf nicht tun und lassen können, was sie will. Eine übermäßig große<br />

Machtkonzentration kann den demokratischen Prozess verzerren. Daher sollte<br />

die Macht innerhalb des politischen Systems auf verschiedene Institutionen verteilt<br />

sein (checks and balances). 17 In diesem Zusammenhang ist es auch besonders<br />

wichtig, dass die, die tatsächlich entscheiden, vor den Bürgern Verantwortung für<br />

ihr Handeln übernehmen müssen. Informelle oder nicht demokratisch legitimierte<br />

Entscheidungszentren haben in einer Demokratie keinen Platz. Letztendlich muss<br />

jede politische Führung „be held accountable for their actions through fair and regular<br />

process.“ 18<br />

Bürgerrechte und Rechtsstaat in der russischen Realität<br />

Nun gilt es, die herausgearbeiteten definierenden Merkmale einer Demokratie an<br />

das heutige politische System der Russischen Föderation anzulegen: Im zweiten Kapitel<br />

der russischen Verfassung werden die „Rechte und Freiheiten des Menschen und<br />

Bürgers“ 19 der Russischen Föderation benannt. Sie entsprechen auch allen nominellen<br />

Voraussetzungen, die für eine Bürgergesellschaft vonnöten sind. Besonders elementar<br />

sind die in Artikel 29 und 30 festgehaltene Meinungs- und Versammlungsfreiheit;<br />

sie erst ermöglichen es, die Rechte und Freiheiten aktiv zu nutzen und sind<br />

für den Pluralismus unverzichtbar. Daher kann ihr Status gute Rückschlüsse über die<br />

tatsächliche Lage einer Demokratie geben und so ist zu untersuchen, ob der Staat sie<br />

vielleicht einzuschränken versucht.<br />

15 Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />

in Putins Russland, S. 189.<br />

16 In der Tat gibt es keine moderne Demokratie auf der Welt, die ohne Parteien auskäme.<br />

17 Informationen zur politischen Bildung Nr. 283 (2003): Demokratie, Bonn, S. 37 f.,<br />

Punkt 3.<br />

18 Karl, Terry Linn / Schmitter, Philippe C.: What Democracy Is …, S. 84.<br />

19 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Überschrift Kapitel 2.<br />

Dis | kurs 107


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Die Meinungsfreiheit in Massendemokratien lebt in der heutigen Zeit der vielen verschiedenen<br />

Kommunikationstechnologien vor allem von dem ungehinderten Zugang<br />

und der ungehinderten Verbreitung von vielen verschiedenen freien (d.h. politisch<br />

und wirtschaftlich unabhängigen) Massenmedien, vor allem Fernsehen, Presse und<br />

Internet. Nur diese können mit ihrer freien Berichterstattung einer Manipulation der<br />

öffentlichen Meinung vorbeugen, damit sich die Bürger ihr eigenes Urteil über einen<br />

bestimmten Sachverhalt bilden können. In Russland gibt es hinsichtlich des Zugangs<br />

zum Internet und seines Inhalts keinerlei Beschränkungen. Die volle Unabhängigkeit<br />

von Fernsehen und Presse muss jedoch in Zweifel gezogen werden. „Der Staat<br />

und der mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche Gaskonzern Gasprom kontrollieren<br />

inzwischen die großen Fernsehkanäle und Radiosender sowie Nachrichtenagenturen,<br />

mehrere zentrale und unzählige lokale Printmedien. Was übrig bleibt, haben Großgeschäftemacher,<br />

Oligarchen, unter sich aufgeteilt.“ 20 Auch wenn dies nicht gleich eine<br />

echte Zensur bedeuten muss, so ist es zumindest für eine Selbstzensur förderlich,<br />

da ein Abhängigkeitsverhältnis der Journalisten zu mächtigen Gruppierungen besteht,<br />

denen das Wohlwollen der öffentlichen Meinung sehr wichtig ist. Zudem wird<br />

die staatliche Kontrolle über regierungskritische Medien weiter ausgebaut, wie die<br />

Übernahmen des „Kommersant“, der „Komsomolskaja Prawda“ und vor allem der<br />

Traditionszeitung „Iswestija“ durch Gasprom zeigen. 21 Da fast alle Russen fernsehen<br />

22 , Zeitung lesen und ein Drittel auch eine Zeitung abonniert hat 23 , ergibt sich<br />

ein mächtiges Beeinflussungspotential der öffentlichen Meinung. Dies mag kritische<br />

Ansichten zwar nicht direkt unterdrücken 24 , sie aber aus dem öffentlichen Leben<br />

ausschließen oder zumindest beschränken. Für die Meinungsfreiheit sind das keine<br />

förderlichen Bedingungen.<br />

Die Versammlungsfreiheit, ein weiteres Merkmal der Bürgergesellschaft, manifestiert<br />

sich vor allen in vielen verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs),<br />

die sich in unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens betätigen<br />

und so für eine aktive Ausgestaltung der Demokratie durch ihre Bürger sorgen. Ihre<br />

Arbeit (sofern sie denn friedfertig ist), sollte vom Staat nicht beeinträchtigt werden.<br />

Der russische Staat ist an einem Dialog mit diesen Organisationen und deren Arbeit<br />

interessiert, wie die Organisation eines „Bürgerforums“ 25 oder die Unterstützung von<br />

20 Siegl, Elfie: Zwischen staatlicher Kontrolle und Selbstzensur. Zur Lage der Massenmedien<br />

im heutigen Russland, Russlandanalysen Nr. 58, Bremen 2005, S. 58.<br />

21 Vgl. http://www.n-tv.de/735679.html.<br />

22 Statistik in: Russlandanalysen Nr. 58, S. 9.<br />

23 Statistik in: Russlandanalysen Nr. 79, S. 14.<br />

24 Solche Versuche werden von Präsident Medwedew abgelehnt, Vgl.: http://www.russland.<br />

ru/mainmore.php? tpl=Medien+%26+Netzwelt&iditem=999.<br />

25 Vgl. Mommsen, Margareta: Wer herrscht in Russland? Der Kreml und die Schatten der<br />

108 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

„Stiftungen der örtlichen Gemeinschaft“ 26 zeigen. Gleichzeitig jedoch hegt er ihnen<br />

gegenüber Misstrauen; besonders wenn sie vom Ausland finanziert werden. Dies ist<br />

auch nicht ganz ungerechtfertigt, da russische NGOs tatsächlich zu Spionagezwecken<br />

missbraucht. 27 Auch dürfte die derzeitige Machtelite nicht vergessen haben, dass die<br />

Elitenwechsel in Georgien und der Ukraine zu großen Teilen durch Spenden aus<br />

dem westlichen Ausland finanziert wurden, deren Empfänger auch NGOs waren,<br />

die an diesen „farbigen Revolutionen“ großen Anteil hatten. 28 Daher wird die Arbeit<br />

der NGOs zwar toleriert, doch werden ihnen auch Steine in den Weg gelegt, wie<br />

das NGO-Gesetz von 2006 zeigt. 29 Letzten Endes bleibt unklar, ob die verschiedenen<br />

Gruppen dabei nun für die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen unterstützt<br />

werden – falls sie überhaupt unterstützt oder zumindest toleriert werden – oder auch<br />

ins Machtgefüge des Staates eingebunden und instrumentalisiert werden sollen. 30 .<br />

Die gewalttätigen Auflösungen kleiner Demonstrationen in vergangener Zeit lassen<br />

jedoch darauf schließen, dass NGOs zunehmend <strong>als</strong> Feinde des Regimes angesehen<br />

werden. Wie oben beschrieben, bildet ein funktionierender Rechtsstaat die Grundlage<br />

für alle bürgerlichen Rechte und Freiheiten. Die aus der Sowjetunion, in der die<br />

Unabhängigkeit des Gerichtswesens unbekannt war, hervorgegangene Russische Föderation,<br />

erfüllt auch hier alle formalen Kriterien. 31 Aber ebenfalls hier unterscheiden<br />

sich Norm und Wirklichkeit noch voneinander, denn die Gerichte sind nicht immer<br />

in der Lage, unparteiisch und effizient Recht zu sprechen. Zwar „unternimmt die politische<br />

Führung Anstrengungen, die Situation durch Kodifizierungen, Umbau der Juristenausbildung<br />

und Einbindung in eine gemeineuropäische Rechtskultur zu verändern.<br />

Allerdings tragen in sich widersprüchliche rechtliche Regelungen, Scheinargumentationen,<br />

eine zum Teil mehr quantitativ <strong>als</strong> qualitativ ausgerichtete Rechtsproduktion und<br />

nach wie vor bestehende Vollzugsdefizite dazu bei, dass das Erbe des Rechtsnihilismus<br />

so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird.“ 32 Konterkariert werden diese Bemühungen<br />

jedoch vom Bestreben, zumindest die höheren Gerichte vollends in die „vertikale<br />

der Macht“ einzugliedern, allen voran das Verfassungsgericht, welches dazu<br />

Macht, München 2003, S. 124.<br />

26 Ehlers, Kai: Russland: Aufbruch oder Umbruch? Zwischen alter Macht und neuer Ordnung.<br />

Gespräche und Impressionen, Dornach 2005, S. 77.<br />

27 Vgl. http://www.moscowtimes.ru/article/850/49/223321.htm.<br />

28 Dazu Siegert, Jens: Spezoperazija. Das neue NGO-Gesetz, in: Russlandanalysen Nr. 82,<br />

Bremen 2005, S. 7.<br />

29 Vgl. http://www.russland.ru/ngo/morenews.php?iditem=12.<br />

30 Vgl. Schröder, Hans-Henning: Putin <strong>als</strong> demokratischer Reformer?, S. 61. Oder Mommsen,<br />

Margareta: Putins „gelenkte Demokratie“, S. 240 f.<br />

31 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Kapitel 7.<br />

32 Nußberger, Angelika: Zur Entwicklung der Rechtskultur in Russland, in: Russlandanalysen<br />

Nr. 32, Bremen 2004, S. 1.<br />

Dis | kurs 109


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

degradiert wurde, die Rezentralisierung der Macht im Kreml zu legitimieren – was<br />

sogar das Entgegenhandeln zu seinen eigenen früheren Entscheidungen beinhaltet. 33<br />

So kann im Falle Russlands das erstaunliche Phänomen einer Professionalisierung<br />

der Akteure des Rechtssystems bei gleichzeitiger Rückentwicklung hin zur alten Tradition<br />

des Primats der Macht vor dem Recht beobachtet werden. Unter solchen Bedingungen<br />

ist das Entstehen eines echten Rechtstaats natürlich sehr zweifelhaft.<br />

Freie Wahlen und Parteien in der russischen Realität<br />

Das russische politische System ist dem französischen Modell des Semipräsidentialismus<br />

nachempfunden. 34 Damit hat das Russische Volk auf Föderationsebene alle<br />

vier Jahre sowohl den Staatspräsidenten <strong>als</strong> auch die Staatsduma 35 zu wählen. Das<br />

russische Wahlgesetz entspricht den formalen Anforderungen jedes demokratischen<br />

Landes 36 , doch muss auch an dieser Stelle ein kritischer Blick auf Wahlen in Russland<br />

– hier: auf die Duma- 2007 und den Präsidentschaftswahlen 2008 – geworfen werden<br />

um zu gucken, ob es auch eingehalten wurde:<br />

Die Dumawahlen endeten bei einer rund 64 %-igen Wahlbeteiligung mit einem beeindruckenden<br />

Sieg der Kreml-Partei „Einiges Russland“, die 64 % der Stimmen erhalten<br />

hat. Die zweite Kreml-Partei „Gerechtes Russland“ landete mit 8 % auf Platz<br />

3; genau wie die rechtspopulistische „Liberal-Demokratische Partei Russlands“. Die<br />

einzige ernstzunehmende Konkurrentin der Kreml-Parteien, die „Kommunistische<br />

Partei der Russischen Föderation“ lag mit 12 % auf Platz zwei, während die sozialliberale<br />

„Jabloko“-Partei und die liberal-konservative „Union der rechten Kräfte“ nicht<br />

einmal über 2 % kamen und damit sowohl ihr Ergebnis der letzten Wahlen mehr<br />

<strong>als</strong> halbierten, <strong>als</strong> auch erneut an der 7 %-Hürde scheiterten. 37 Die Wahlen verliefen<br />

zwar frei, doch ob sie auch fair waren, muss angezweifelt werden. Denn mit der erdrückenden<br />

Medienmacht in Staatshand konnte „Einiges Russland“ (und in geringerem<br />

Maße auch „Gerechtes Russland“) erhebliche Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten<br />

gewinnen. 38 Gleiches gilt für den Präsidentschaftswahlkampf, den Putins<br />

33 Dazu ausführlich: dies.: Das Russische Verfasungsgericht zwischen Recht und Politik,<br />

in: Buhbe, Matthes / Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute – Rezentralisierung des<br />

Staates unter Putin, Wiesbaden 2007.<br />

34 Vgl. Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />

in Putins Russland, S. 179.<br />

35 Diese ist Teil der Bundesversammlung, deren andere Hälfte der Föderationsrat ist, in<br />

denen je zwei Mitglieder durch die 88 Subjekte der Russischen Föderation entsandt<br />

werden. Duma und Rat sind zusammen für die Gesetzgebung zuständig.<br />

36 Auszüge davon in: Pleines, Heiko/Schröder, Hans-Henning: Putin auf dem Weg in die<br />

zweite Amtszeit. Nachwirkung und Politikgestaltung, Bremen 2004, S. 47.<br />

37 Vorm<strong>als</strong> 5 %-Hürde. Alle Ergebnisse in: Russlandanalysen Nr. 153, S. 16 ff.<br />

38 Schröder, Hans-Henning: Genügend Legitimation für einen „Schattenpräsidenten“?, in:<br />

110 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Wunschkandidat Medwedew mit noch beeindruckenderen 70,3 % 39 gewann – und<br />

damit nur knapp ein Prozent hinter Putins Rekordergebnis von 2004 zurückblieb.<br />

Solch hohe Zahlen ließen schon dam<strong>als</strong> den Vorwurf der Manipulation laut werden,<br />

doch ist dieser (bis auf die Problematik mit den Medien) wahrscheinlich gegenstandslos.<br />

„Mit seiner jugendlich-sportlichen Erscheinung, seiner Spontaneität und<br />

Durchsetzungsfähigkeit symbolisiert W. Putin Dynamik und Effizienz, er signalisiert<br />

der Öffentlichkeit, mit energischer Hand Ruhe und Ordnung ins Haus Russland zu<br />

bringen, mit neuen Gesetzen das Wirtschaftsleben zu regeln und die Weichen für eine<br />

Modernisierung des Landes zu stellen sowie international Russlands verlorene Stärke<br />

wiederzuerlangen.“ 40 Da Putin zweifelsohne auch nach acht Jahren Amtszeit noch<br />

immer <strong>als</strong> Garant von Ordnung und Stabilität des Landes gesehen wird, ist es kein<br />

Wunder, dass sein Wunschnachfolger Medwedew von seinen Wählern problemlos<br />

akzeptiert wurde, erhoffen diese sich davon ja eine Beibehaltung des bisherigen Kurses.<br />

Problematisch dabei ist jedoch, dass die hohe Zustimmung der Bevölkerung zu<br />

Putins und Medwedews hartem Kurs, gepaart mit den beträchtlichen Machtbefugnissen<br />

der Exekutive und der Ohnmacht der parlamentarischen Opposition (von der<br />

außerparlamentarischen ganz zu Schweigen), zu einer Art „gelenkten demokratischen<br />

Wettbewerb“ 41 geführt hat: Die ganz kremlkritischen Parteien (Jabloko, Union der<br />

Rechten Kräfte, Kommunisten) werden durch die Medienmacht des Staates marginalisiert,<br />

während „Einiges Russland“ und ihr linkskonservatives Pendant „Gerechtes<br />

Russland“, beides Pro-Präsidiale Parteien, in Scheingegensatz zueinander<br />

gebracht und <strong>als</strong> einzige „wählbare“ Parteien dargestellt werden, um die Herrschaft<br />

der jetzigen politischen Elite für Jahrzehnte zu sichern. Denn egal, welche der beiden<br />

Parteien die Mehrheit hätte, an den realen Machtverhältnissen würde sich nichts ändern.<br />

42 Zudem steht die russische postsowjetische Gesellschaft politischen Parteien<br />

sehr kritisch gegenüber (keine 10 % der Bevölkerung vertrauen ihnen! 43 )und zweifelt<br />

daran, dass sie tatsächlich in der Lage sind, die Interessen der Gesellschaft auszudrücken.<br />

44 Zusammen mit wenig vorhandener Bereitschaft, sich politisch zu engagieren,<br />

Russlandanalysen Nr. 152, Bremen 2007, S. 2 f.<br />

39 Statistik in: Russlandanalysen Nr. 160, S. 15 ff.<br />

40 Gorzka, Gabriele: Einführung. In: Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter W. (Hrsg.): Russlands<br />

Perspektive. Ein starker Staat <strong>als</strong> Garant von Stabilität und offener Gesellschaft?, Bremen<br />

2002, S. 9.<br />

41 Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />

in Putins Russland, S. 188. Wobei eigentlich nur der Wahlakt selbst das Prädikat<br />

„demokratisch“ verdient hat.<br />

42 Schulze, Peter W.: Souveräne Demokratie, S. 306 ff.<br />

43 Vgl. Statistik in: Russlandanalysen Nr. 84, S. 7.<br />

44 Dazu Makarenko, Boris I.: Gesetzmäßigkeiten der Krise des russischen Parteiensystems,<br />

in: Gorzka, Gabriele; Schulze, Peter W. (Hrsg.): Wohin steuert Russland unter Putin? Der<br />

Dis | kurs 111


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

ergibt das ein geringes Maß an „public contestation“. Zwar sind die Möglichkeiten<br />

vorhanden, doch sie werden wenig genutzt; stattdessen wird ganz auf das Können<br />

der neuen Doppelspitze vertraut. Diese macht seine Sache in den Augen der Bevölkerungsmehrheit<br />

zwar gut, doch letztendlich „lebt die politische und demokratische<br />

Entwicklung eines Landes aber vom Widerspruch, von der gestaltenden kritischen<br />

Mitwirkung politischer Opposition.“ 45 Von daher ist es durchaus berechtigt, von einer<br />

Krise des russischen Parteiensystems zu sprechen, wie es Makarenko tut.<br />

Machtverteilung und Verantwortlichkeit in der<br />

russischen Realität<br />

Die Verfassung der russischen Föderation räumt dem Staatspräsidenten eine sehr<br />

starke Stellung ein. Er legt die Grundlagen der Politik fest, leitet die Außenpolitik,<br />

ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, kann Dekrete und Verfügungen erlassen<br />

und ernennt den Ministerpräsidenten, der in erster Linie ihm verantwortlich ist, da<br />

nur er – und nicht die Staatsduma – ihn entlassen kann. Zudem kann der Präsident<br />

diese auflösen oder ein Veto gegen Gesetze einlegen. 46 Auch werden die Richter des<br />

Verfassungsgerichtes vom Föderationsrat 47 auf Vorschlag des Präsidenten ernannt. 48<br />

Manche Kommentatoren gehen deswegen sogar so weit, das russische politische System<br />

<strong>als</strong> eine Art „elected monarchy“ 49 oder „hyperpresidency“ 50 zu bezeichnen. Doch<br />

war Präsident Putin <strong>als</strong> bislang zweifelsohne stärkster Präsident Russlands weder ein<br />

Monarch noch ein Diktator; seine starke Stellung innerhalb des Systems war eher<br />

auf das Fehlen anderer ernsthafter politischer Gegenspieler zurückzuführen. Wie<br />

Mommsen schon 2004 richtig bemerkte, kamen die in der Verfassung enthaltenen<br />

Potentiale für eine größere Rolle der Regierung und des Parlaments in der Regierungszeit<br />

Jewgenij Primakows 1998/99 zur Geltung 51 ; gleiches sieht man jetzt – in<br />

noch verstärktem Maße – unter Premier Putin. Dies zeigt, dass die Auslegung der<br />

autoritäre Weg zur Demokratie, Frankfurt am Main 2004, S. 220 ff.<br />

45 Schulze, Peter W.: Demokratiedefizit <strong>als</strong> Legitimationsproblem im Neuen Russland,<br />

S. 35.<br />

46 Vgl. Schaubild in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 281 (2003): Russland, Bonn,<br />

S. 17.<br />

47 Der (neben der Staatsduma) zweiten Kammer der Bundesversammlung, in die je zwei<br />

Mitglieder der 88 Subjekte der russischen Föderation entsandt werden.<br />

48 Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993, Artikel 128.1.<br />

49 Shevstova, Lilia: Putin's Russia, Washington 2003, S. 272.<br />

50 Shevstova, Lilia: Russia – Lost in Transition, S. 52. Wobei Shevstova diese „hyperpresidency“<br />

von inneren Machtkämpfen in der Handlungsfreiheit des Präsidenten stark<br />

beschränkt sieht, <strong>als</strong>o nur nach Außen omnipotent.<br />

51 Vgl. Mommsen, Margareta: Präsident Putins prekäre Allmacht, in den Russlandanalysen<br />

Nr. 13, Bremen 2004, S. 2.<br />

112 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Verfassung stark von den Persönlichkeiten der Amtsinhaber abhängig ist. Wie die<br />

reale Machtverteilung innerhalb des Tandems Medwedew-Putin ist, kann allerdings<br />

niemand von Außen abschätzen, daher kann hier nicht näher darauf eingegangen<br />

werden.<br />

Wesentlich ist vielmehr der Faktor, dass es dem – trotz aller Kritik am Wahlgang eindeutig<br />

durch die Entscheidung des Volkes legitimierten – Präsidenten und seinem<br />

starken Premiers wegen der Dominanz von „Einiges Russland“ und „Gerechtes Russland“<br />

sowohl in der Staatsduma, <strong>als</strong> auch in den einzelnen Föderationssubjekten 52<br />

(die auch über die Zusammensetzung des Föderationsrates, der zweiten Kammer<br />

der Bundesversammlung, bestimmen) an realen Gegengewichten fehlt. Von einzelnen<br />

konkurrenzfähigen Persönlichkeiten ganz zu schweigen. Dieser Errichtung<br />

einer „Vertikale der Macht“, bei der alle politischen Entscheidungsinstanzen direkt<br />

vom Staatspräsidenten, Premierminister und der Präsidialverwaltung abhängig sind,<br />

diente sowohl die Einführung eines neuen, viel stärker auf die Wahl über Parteilisten<br />

<strong>als</strong> Direktkandidaten ausgerichteten Wahlgesetzes 53 <strong>als</strong> auch die Abschaffung der<br />

Gouverneurswahlen, so dass diese nun direkt vom Präsidenten eingesetzt werden. 54<br />

Bedenklich ist in dieser Hinsicht auch die Rolle der Präsidialverwaltung, die keine<br />

Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk besitzt, aber großen Einfluss auf die Politik<br />

des Landes nehmen kann. Unter dem vorherigen Präsidenten Boris Jelzin war dies<br />

besonders ersichtlich. 55 In ihr hatten die sog. „Oligarchen“ eine sehr starke Stellung<br />

und konnten so ihren Partikularinteressen gegenüber dem gesundheitlich angeschlagenen<br />

Präsidenten viel Gehör verschaffen. Wladimir Putin hat diese Gruppierungen<br />

zwar aus dem Machtzentrum erfolgreich verdrängt 56 , doch sind an ihre Stelle neue<br />

Strukturen aus Vertretern der Staatsanwaltschaft, des Geheimdienstes und Militärs<br />

entstanden. Für sie hat sich der Begriff der „Silowiki“ (die Kräftigen, Mächtigen) eingebürgert<br />

57 , der viel über die Bedeutung der Hausmacht des Premiers im politischen<br />

System der russischen Föderation aussagt. Inwiefern Medwedew, der <strong>als</strong> „Liberaler“<br />

gilt, sich gegen diese Strukturen durchsetzen kann und will, bleibt abzuwarten.<br />

52 Vgl. Statistiken in: Russlandanalysen Nr. 149, S. 4 ff.<br />

53 Dazu Makarenko, Boris I.: Gesetzmäßigkeiten der Krise des russischen Parteiensystems,<br />

S. 223 ff. Das neue Wahlgesetz soll vor allem eine weitere Dominanz von „Einiges Russland“<br />

gewährleisten – und dies höchst erfolgreich, wie die letzten Wahlen bewiesen.<br />

54 Vgl. Golosov, Grigorii V.: Die Abschaffung der Gouverneurswahlen, in: Russlandanalysen<br />

Nr. 74, Bremen 2005, S. 2 ff.<br />

55 Andreeva, Andrea: Russlands langer Weg in den Rechtsstaat. Verfassung und Gesetzgebung,<br />

Opladen 2002, S. 265.<br />

56 Schröder, Hans-Henning: Machtverschiebung im Kreml, in: Russlandanalysen Nr. 4,<br />

Bremen 2003, S. 2 ff.<br />

57 Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />

in Putins Russland, S. 187.<br />

Dis | kurs 113


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Fazit: Demokratie „auf russische Art“ oder Autoritarismus?<br />

Formell gesehen existieren in Russland alle für eine Demokratie wichtigen Bürgerrechte<br />

und auch ihr Schutz ist durch den Rechtsstaat gewährleistet. Doch in Wirklichkeit<br />

kommt es immer wieder – und immer häufiger – zu indirekten Einschränkungen<br />

der bürgerlichen Freiheiten, indem ein Großteil des Informationsflüsse in<br />

Rundfunk, Fernsehen und Presse unter staatliche Kontrolle geraten sind. Gleichzeitig<br />

zeigt der Staat eine ambivalente bis misstrauische Haltung gegenüber den aktiven<br />

Ausdrucksformen einer Zivilgesellschaft, da über diese Kanäle eine Einflussnahme<br />

des Auslands auf die inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation gefürchtet<br />

wird. Der Rechtsstaat, der diese Eingriffe des Staates ins gesellschaftliche Leben<br />

reglementieren könnte, wurde fest in die „Vertikale der Macht“ integriert, ist aber<br />

immerhin wieder funktionsfähig. Letzteres kann zwar <strong>als</strong> Fortschritt im Vergleich<br />

zur „rechtlosen“ Jelzin-Ära, in der es faktisch „keinen Schutz der Rechte und Freiheiten<br />

des Bürgers gegen die tonangebenden Interessen der Machteliten, der Bürokratie<br />

und des organisierten Verbrechens“ 58 gab, gewertet werden. Doch da das Widererstarken<br />

staatlicher Ordnungsmacht mit der zunehmenden Beeinträchtigung von Bürgerrechten<br />

einhergeht, muss das erste Kriterium, Bürgerrechte und Rechtsstaat, <strong>als</strong><br />

nicht erfüllt betrachtet werden.<br />

Freie Wahlen und Parteien gibt es in der Russischen Föderation, doch haben sie nicht<br />

die Bedeutung, die sie in einer Demokratie haben sollten: Während die beiden letzten<br />

Duma- und Präsidentschaftswahlen mangels ernsthafter Konkurrenz und Nutzung<br />

der „administrativen Ressource“ zu einem Plebiszit über die Politik Wladimir<br />

Putins geworden sind, haben die politischen Parteien, ein Hauptmerkmal moderner<br />

Demokratien, weiter an Bedeutung verloren. Sie dienen weder <strong>als</strong> Mechanismus zur<br />

Regierungsbildung noch <strong>als</strong> Bindeglied zwischen Staat und Gesellschaft, welche sich<br />

ihnen abgewandt hat und ganz auf die Integrationsfigur des Präsidenten bzw. Premierministers<br />

setzt. Daran konnte auch die Neugestaltung der Parteienlandschaft „von<br />

oben“ nichts ändern. Das zweite Kriterium, freie Wahlen und Parteien, kann hier<br />

zwar formell <strong>als</strong> erfüllt angesehen werden. Doch wird es in der Wirklichkeit verzerrt<br />

und seiner Bedeutung <strong>als</strong> Ausdrucksform des politischen Pluralismus nicht gerecht.<br />

Im Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander hat sich eine Art autoritärer Präsidialherrschaft<br />

etabliert 59 , in der die größte Macht beim Staatsoberhaupt und in der<br />

Präsidialadministration liegt, von der Teile inzwischen einfach in die Premiersadministration<br />

„umgezogen“ sind. Damit einhergehend, kam es zu einer Rezentralisie-<br />

58 Schulze, Peter W.: Demokratiedefizit <strong>als</strong> Legitimationsproblem im Neuen Russland,<br />

S. 36.<br />

59 Vgl. Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />

in Putins Russland, S. 177.<br />

114 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

rung des Staates auf Kosten der vertikalen Gewaltenteilung. Die Verantwortlichkeit<br />

gegenüber dem Bürgern wiederum konzentriert sich zunehmend in der Person des<br />

direkt gewählten Präsidenten, über den andere politische Institutionen, wie Regierung<br />

und Gouverneure, nur noch indirekt vom Volk legitimiert sind und sich diesem<br />

gegenüber nicht direkt verantworten müssen. Somit muss insbesondere das dritte<br />

Kriterium einer Demokratie, Machtverteilung und Verantwortlichkeit, <strong>als</strong> nicht erfüllt<br />

gewertet werden.<br />

Alle drei Kernkriterien einer Demokratie sind, wenn man von der Verfassung der<br />

Russischen Föderation ausgeht, <strong>als</strong> formal gegeben zu sehen. Doch müssen sie in der<br />

Realität <strong>als</strong> nicht erfüllt betrachtet werden: Das Primat des Rechts vor der Macht hat<br />

sich nicht etabliert; die öffentliche Meinung wird vom Staat manipuliert, die Parteien<br />

stecken in einer Krise und die Gewaltenteilung existiert de facto nur auf dem Papier.<br />

All dies bedeutet natürlich Einschränkungen für den politischen Pluralismus, der<br />

unter solchen Bedingungen nur sehr beschränkt zur Geltung kommen kann. Deswegen<br />

kann Russland nicht <strong>als</strong> Demokratie gewertet werden. Es kann keine der hier<br />

vorgestellten notwendigen Bedingungen erfüllen, weist aber das Hauptmerkmal des<br />

Autoritarismus auf. Daher kann im Falle der Russischen Föderation auch nicht von<br />

„Demokratie auf russische Art“ oder ähnlichem gesprochen werden; es ist bei näherer<br />

Betrachtung eindeutig ein autoritäres politisches System.<br />

Das „System Putin“, jetzt mit Doppelspitze, legitimiert sich weiterhin nur über die Personen<br />

des Präsidenten und Premierministers. Alle anderen, für eine funktionierende<br />

Demokratie unerlässlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen treten in<br />

den Hintergrund und genießen nur sehr wenig Vertrauen der Bevölkerung. 60 Medwedew<br />

und Putin gelingt es zwar, das Wirtschaftswachstum aufrecht zu erhalten, die<br />

Kriminalität und Armut zu bekämpfen, die Sozi<strong>als</strong>ysteme einigermaßen am Laufen<br />

zu halten und Russlands Bedeutung in der Welt zu vergrößern. 61 Doch der Aufbau eines<br />

demokratischen politischen Systems und einer gereiften Bürgergesellschaft, den<br />

sich beide zumindest offiziell verschrieben haben 62 , kommt seit Jahren nicht voran.<br />

Stattdessen sind mehr und mehr Rückschritte zu verzeichnen. Bei einem solchen<br />

System von einer Sonderform der Demokratie zu schreiben, wie dies einige tun, ist<br />

wirklichkeitsverzerrend und gefährlich. Denn erstens wird der Begriff der Demokra-<br />

60 Schröder, Hans-Henning: Akzeptanz, Protest, Legitimität? Die russische Gesellschaft<br />

und das System Putin, in: Russlandanalysen Nr. 20, Bremen 2005, S. 2 ff.<br />

61 Ob Letzteres in positiver oder negativer Hinsicht, ist natürlich umstritten.<br />

62 Dazu ein Auszug aus Putins Botschaft an die Föderalversammlung „Gleichzeitig müssen<br />

wir den Zustand unserer Demokratie auch kritisch bewerten. Ist das politische System<br />

in seiner heutigen Form ein Instrument der echten Macht des Volkes? Wie produktiv ist<br />

der Dialog zwischen der Macht und der Gesellschaft? […] Wir müssen zugeben, dass<br />

wir ganz am Anfang des Weges stehen.“ (in: Russlandanalysen Nr. 29, S. 11). Vgl. auch<br />

Medwedew unter http://www.russland.ru/mainmore.php?tpl=Politik&iditem=20208.<br />

Dis | kurs 115


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

tie ausgedehnt und ausgehöhlt, was ihn unbrauchbar macht. Zweitens verschleiern<br />

solche Begriffe die eigentlichen Herrschaftsstrukturen und helfen so, sie zu festigen.<br />

Oder wie Giovanni Sartori schreibt: „Die Demokratie hat immer noch ihre Feinde;<br />

doch heute umgeht man Demokratie am besten in ihrem eigenen Namen oder mit<br />

Hilfe ihres eigenen Namens.“ 63<br />

Literatur (Auswahl)<br />

Dahl, Robert: Polyarchy. Participation and Opposition, New Haven 1971.<br />

Karl, Terry Linn / Schmitter, Philippe C.: What Democracy Is … And Is Not, in: Journal Of<br />

Democracy, Nr. 2 1991, S. 75–88.<br />

Kozyrev, Illya: Demokratie ohne Demokraten in „Putins Russland“, in: Internationale Beziehungen<br />

– Studentische Beiträge, Nr. 1 2007, S. 56–60.<br />

Lauth, Hans J.: Vergleichende Regierungslehre. Regimetypen: Demokratie – Autoritarismus<br />

– Totalitarismus, Wiesbaden 2002.<br />

Linz, Juan J.: Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2000.<br />

Makarenko, Boris I.: Gesetzmäßigkeiten der Krise des russischen Parteiensystems, in:<br />

Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter W.: Wohin steuert Russland unter Putin? Der autoritäre Weg<br />

zur Demokratie, Frankfurt am Main 2004, S. 215–242.<br />

Mommsen, Margareta: Autoritäres Präsidi<strong>als</strong>ystem und gelenkter politischer Wettbewerb<br />

in Putins Russland, in: Gorzka, Gabriele/Schulze, Peter W. [Hrsg.]: Wohin steuert Russland<br />

unter Putin? Der autoritäre Weg zur Demokratie, Frankfurt am Main 2004, S. 177–189.<br />

Mommsen, Margareta: Putins „gelenkte Demokratie“: „Vertikale der Macht“ statt Gewaltenteilung,<br />

in: Buhbe, Matthes/Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute – Rezentralisierung des<br />

Staates unter Putin, Wiesbaden 2007, S. 235–252.<br />

Schröder, Hans-Henning: Putin <strong>als</strong> demokratischer Reformer?, in: Gorzka, Gabriele/Schulze,<br />

Peter W. (Hrsg.): Russlands Perspektive. Ein starker Staat <strong>als</strong> Garant von Stabilität und<br />

offener Gesellschaft?, Bremen 2002, S. 39–66.<br />

Schulze, Peter W.: Demokratiedefizit <strong>als</strong> Legitimationsproblem im Neuen Russland, in: Gorzka,<br />

Gabriele/Schulze, Peter W. (Hrsg.): Russlands Perspektive. Ein starker Staat <strong>als</strong> Garant<br />

von Stabilität und offener Gesellschaft?, Bremen 2002, S. 15–38.<br />

Schulze, Peter W.: Souveräne Demokratie: Kampfbegriff oder Hilfskonstruktion für einen<br />

eigenständigen Entwicklungsweg? – Die ideologische Offensive des Vladislav Surkov, in:<br />

Buhbe, Matthes/Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute – Rezentralisierung des Staates<br />

unter Putin, Wiesbaden 2007, S. 293–311.<br />

Shevstova, Lilia: Russia – Lost in Transition. The Yeltsin and Putin Legacies, Washington<br />

2007.<br />

Russlandanalysen .<br />

Verfassung der Russischen Föderation < http://www.constitution.ru/de>.<br />

63 Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, Darmstadt 1997, S. 12.<br />

116 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

Demokratische Staatsbürgerschaft ohne<br />

nationale Identität?<br />

Betrachtungen zu möglichen Ursachen<br />

interkultureller Konflikte in Estland<br />

Julia Shestakova<br />

Humboldt-Universität Berlin<br />

E-Mail: Julia.shestakova@gmail.com<br />

Schlüsselwörter<br />

Estland, Europa, Nation, Minderheitenrechte, interkulturelle Konflikte<br />

Die Verfassungen der modernen Nation<strong>als</strong>taaten Europas setzen die Gleichheit beziehungsweise<br />

die Gleichberechtigung aller ihrer Staatsbürger voraus: Eine Gleichberechtigung<br />

unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat<br />

und Herkunft, Glauben, religiöser Anschauung und politischen Ansichten. 1 Diese<br />

Gleichberechtigung bildet die scheinbar sichere Grundlage moderner liberaler Staaten.<br />

Eine auf diese Weise verstandene Gleichberechtigung soll eine ‚freie Entfaltung‘<br />

der Persönlichkeit eines jeden Bürgers garantieren. 2 Das liberale Prinzip der Gleichberechtigung<br />

birgt jedoch eine Gefahr, und zwar die Gefahr eines ‚differenz-blinden‘<br />

(Taylor) Verhaltens. Denn der Liberalismus der allgemeinen Menschenwürde, auf<br />

die sich die Gleichberechtigung eines jeden Staatsbürgers gründet, vermag nicht aus-<br />

1 Eine erste Fassung dieses Aufsatzes wurde vorgestellt im Rahmen des 7. Workshops<br />

Ethik „Partikulare Kulturen – universelle Moral – positives Recht. Die moralische und<br />

rechtliche Regelung interkultureller Konflikte“ (18.–20. Februar 2008 in Arnoldhain/<br />

Taunus). Der Aufsatz wurde während meiner Stipendiumszeit am Forschungsinstitut für<br />

Philosophie in Hannover verfasst. Mein Dank gilt für Informationen Dmitri Platonov und<br />

für kritische Hinweise Mirko Wischke sowie Christian Möckel.<br />

2 Vgl. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 2.<br />

Dis | kurs 117


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

zuräumen, dass die „faire Gesellschaft auf eine subtile, ihr selbst nicht bewusste Weise<br />

diskriminierend ist“ 3 , obgleich sie „aufgeschlossen gegenüber der nationalen und kulturellen<br />

Differenz“ ist. Denn sie kann nicht gewährleisten, „was die Angehörigen von Gesellschaften<br />

mit besonderem Charakter in Wirklichkeit anstreben: ihren Fortbestand“. 4<br />

Die neu- beziehungsweise wiedergegründeten Nation<strong>als</strong>taaten Ost-Europas sind mit<br />

dem Problem einer ‚verspäteten Nation‘ konfrontiert: sie streben nicht nur nach Erhalt<br />

ihres Fortbestandes, sondern wollen ihn auch gesetzlich verankern und sichern.<br />

Auf diese Weise glaubt man, sich vor einem Trauma befreien zu können: dem der<br />

Verlierer. Einerseits will man sich in der Galerie der geschichtlichen Sieger einreihen;<br />

andererseits will man auch ein Musterschüler der modernen europäisch-liberalen<br />

Gesellschaft sein; die Fortschritte des europäischen Liberalismus sollen sich in den<br />

Verfassungen der jungen Nation<strong>als</strong>taaten Ost-Europas widerspiegeln.<br />

Diese Ambivalenz illustriert die Verfassung der Republik Estland: zum einen sind<br />

alle Bürger vor dem estnischen Gesetz gleichberechtigt (§ 12), zum anderen dient<br />

die Verfassung primär <strong>als</strong> Garantie zur „Erhaltung des estnischen Volkes und der estnischen<br />

Kultur durch alle Zeiten“ 5 hindurch. Diese beiden Aspekte der estnischen<br />

Verfassung scheinen auf den ersten Blick einander nicht auszuschließen, es sei denn,<br />

man übersieht, dass Estland kein mononationaler, sondern ein multinationaler Staat<br />

ist: fast ein Drittel seiner Bevölkerung gehören nämlich unterschiedlichen nationalen<br />

Minderheiten an. 6<br />

Diese Minderheiten wollen nicht lediglich toleriert, das heißt geduldet, sondern auch<br />

in ihrer kulturellen, sprachlichen und religiösen Unterschiedlichkeit (Differenz) anerkennt<br />

werden: „Die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen anerkennen schließt<br />

ein, das wir sie nicht nur leben lassen, sondern auch ihren Wert anerkennen sollen.“ 7<br />

Angesichts des estnischen Grundgesetzes ist das Problem der Anerkennung von<br />

Minderheiten nicht ohne Komplikationen: Einerseits werden nationalen Minderheiten<br />

zwar das Recht zugesprochen, „im Interesse ihrer Volkskultur […] Selbstverwaltungseinrichtungen<br />

zu gründen“ 8 , andererseits kann dies jedoch für die Erhaltung des<br />

estnischen Volkes und der estnischen Kultur Gefahren heraufbeschwören.<br />

3 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993,<br />

S. 34.<br />

4 Ebd., S. 55.<br />

5 Vgl. Präambel zum Grundgesetz der Republik Estland.<br />

6 Laut aktuellen Angaben des Bevölkerungsregisters leben in Estland 1,361 Millionen Menschen,<br />

davon bilden 68,5 % Esten, 25,5 % Russen, 2,1 % Ukrainer, 1,2 % Belorussen<br />

und 0,8 % Finnen.<br />

7 Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993,<br />

S. 59.<br />

8 S. § 50 des Grundgesetzes der Republik Estland.<br />

118 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Kompliziert ist das Problem der Bevölkerung Estlands, weil zu einer Minderheit laut<br />

dem Gesetz über kulturelle Autonomie der Minderheiten ausschließlich (Staats-)Bürger<br />

der Republik Estland zählen, und das Ausländergesetz teilt die Bevölkerung Estlands<br />

mehr oder minder in zwei Gruppen. Zu der einen gehören die Bürger der ersten<br />

Republik Estland (1918–1940) samt ihrer Nachkommen, zu der anderen Gruppe<br />

zählen die Einwanderer aus der Zeit ab 1940 beziehungsweise 1944, <strong>als</strong> Estland Teil<br />

der Sowjetunion wurde. Während die erste Gruppe automatisch einen Anspruch auf<br />

die Staatsbürgerschaft der zweiten Republik Estland hat, fallen die Angehörigen der<br />

zweiten Gruppe in die Rubrik der „Ausländer“ beziehungsweise Staatenlosen, die das<br />

Recht haben, <strong>als</strong> staatenlose Bürger einen Pass mit Wohn- und Arbeitserlaubnis in<br />

Estland zu beantragen –, es sei denn, sie entscheiden sich für die Staatsbürgerschaft<br />

der Russischen Föderation. Der russischsprachige Teil der Bevölkerung wurde somit<br />

in Bürger geteilt, die zur eigentlichen rechtmäßigen Minderheit gehören, und in<br />

Staatenlose beziehungsweise Bürger der Russischen Föderation, wobei im offiziellen<br />

Sprachgebrauch die Unterscheidung nicht zutrifft. Alle diejenigen, die zur russischen<br />

Nationalität gehören beziehungsweise Russisch zur Muttersprache haben, gelten <strong>als</strong><br />

Russen. Ferner wird deshalb das Wort Minderheit im Sinne von der nationalen kulturellen<br />

Minderheit, zu denen eigentlich alle Russen beziehungsweise russischsprachigen<br />

Einwohner unabhängig von ihrem staatlichen Status gehören, gebraucht.<br />

Geschichtlicher Hintergrund des Minderheitenproblems<br />

in Estland<br />

Um die Rechtsmäßigkeit der Rede von einer kulturellen statt einer staatlichen Minderheit<br />

zu verstehen, sowie die in den oben genannten Gesetzen verborgene Möglichkeit<br />

der Spaltung der estnischen Gesellschaft nach der ethnischen Zugehörigkeit<br />

zu erläutern, ist es notwendig, die Geschichte Estlands kurz zu skizzieren, weil dies<br />

die geschichtlichen Wurzeln des sogenannten Minderheitenproblems in Estland aufzuzeigen<br />

vermag.<br />

Die moderne Republik Estland umfasst knapp das Territorium Niedersachsens, hat<br />

jedoch nur 1,3 Mio. Einwohner. Knapp 30 % der Bevölkerung bildet die russische<br />

Minderheit, die aus Russen (25,7 %), Ukrainer, Weißrussen, Tataren und anderen<br />

besteht. Die Geschichte der Minderheiten Estlands ist nicht von der Geschichte Estlands<br />

zu trennen. Die Geschichte des Territoriums, an dem seit Jahrhunderten Esten<br />

gelebt haben, ist reich an Kriegen und Machtkämpfen, die es seiner hervorragenden<br />

Lage an der Ostseeküste, der Wegkreuzung von Ost nach West und von Süden nach<br />

Norden, verdankt. Die verschiedenen Teile Estlands gehörten seit dem 13. Jahrhundert<br />

dem Deutschen Orden, Dänemark, sodann Schweden und dem Großreich Polens<br />

und Litauens an, bis das gesamte Territorium des modernen Estlands nach dem<br />

Nordischen Krieg (1700–1721) an das Russische Reich fiel. Erst in Folge des Ersten<br />

Dis | kurs 119


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Weltkriegs und des bolschewistischen Machtwechsels in Russland wurde 1918 die<br />

Republik Estland ausgerufen. In der Zeit zwischen den Weltkriegen war Estland kein<br />

mononationaler Staat, die Minderheiten machten knapp 12 % der Bevölkerung aus.<br />

Die drei größten ethnischen Minderheiten Estlands – Russen, Deutsche und Schweden<br />

– konnten (unabhängig von ihrer geringen Anzahl) dank der Verfassung von<br />

1920 (die bis 1938 galt) uneingeschränkt ihre verbrieften Rechte in Anspruch nehmen.<br />

Sie hatten zum Beispiel „das Recht, sich schriftlich in ihrer Sprache an die staatlichen<br />

Zentralinstitutionen zu wenden“. 9 1939 fiel Estland im Geheimprotokoll des<br />

Stalin-Hitler-Paktes in die sowjetische Interessensphäre. Es folgte im Juni 1940 die<br />

militärische Besatzung und Annexion der Republik Estland durch die Sowjetunion.<br />

Im Juni 1941 erfolgte die erste Massendeportation von Esten nach Sibirien. Während<br />

des zweiten Weltkrieges wurde Estland durch die deutsche Wehrmacht besetzt. Nicht<br />

nur zahlreiche Balten-Deutsche, sondern auch viele Esten sind in die deutsche Wehrmacht,<br />

insbesondere in SS-Einheiten, eingetreten, weil sie entweder an die Befreiung<br />

Estlands von der sowjetischen Macht und an eine erneute Unabhängigkeit glaubten<br />

oder den Kommunismus <strong>als</strong> das „größte Übel“ ansahen. Dies führte zur Spaltung der<br />

estnischen Bevölkerung, da ein Teil an der Seite der Roten Armee und der andere an<br />

der Seite der deutschen Wehrmacht kämpfte. Als 1944 Estland durch die Rote Armee<br />

von der deutschen Wehrmacht befreit wurde, verlor Estland (wie Lettland und Litauen)<br />

seine Souveränität, im Unterschied zu anderen Staaten Osteuropas, die ebenso<br />

wie Estland vor dem Zweiten Weltkrieg unabhängig waren.<br />

Die niedrige Geburtenrate der Nachkriegsjahre, eine zweite Massendeportation 1949<br />

und die Politik der sowjetischen Regierung in Richtung eines einheitlichen, starken<br />

Staates veränderte das ethnische Bild Estlands. Zahlreiche Einwohner anderer sowjetischer<br />

Republiken, vor allem aus Russland, der Ukraine und Weißrussland wurden<br />

ermutigt, ganz oft auch gezwungen, nach Estland umzusiedeln. Während der folgenden,<br />

sowjetisch geprägten Jahrzehnte war Estland eine der ökonomisch erfolgreichsten<br />

sowjetischen Republiken. Weil mit der raschen industriellen Entwicklung<br />

Estlands der Bedarf an Arbeitskräften wuchs, kamen viele Arbeiter aus anderen sowjetischen<br />

Republiken beziehungsweise wurden nach dem Abschluss des Studiums<br />

zur Arbeit in estnischen Betrieben verpflichtet. Das betraf vor allem das Gebiet von<br />

Nord-Ostestlands, wo die wichtigsten industriellen Betriebe entstanden. Die Anzahl<br />

der „russischsprachigen“ Minderheiten wuchs von gut 8 % im Jahre 1934 auf<br />

knapp 30 % im Jahre 1989 in Gesamtestland, wobei im Nord-Osten die Anzahl der<br />

Nicht-Esten oft fast bis zu 90 % der Bevölkerung anstieg. Zum Beispiel gehören in<br />

der drittgrößten Stadt Estlands, nämlich der Stadt Narva, die zurzeit die Grenzstadt<br />

der Europäischen Union ist, ca. 95 % der Bevölkerung zur russischsprachigen Min-<br />

9 Vgl. Grundgesetz der Republik Estland vom 15. Juni 1920, § 23.<br />

120 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

derheit. Im Jahre 1989 wurde die letzte sowjetische Bevölkerungszählung in Estland<br />

durchgeführt. Danach zählte die Bevölkerung Estlands fast 1,6 Millionen Einwohner,<br />

wovon gut 0,5 Millionen Nicht-Esten waren.<br />

Mit dem Prozess der „Perestrojka“ (1986–1991) und der „Singenden Revolution“<br />

(1987–1992) kam die Frage nach dem Verständnis des Beitritts Estlands zur Sowjetunion<br />

am Ende des Zweiten Weltkrieges auf. Die nach und nach in der öffentlichen<br />

Meinung überwiegende Interpretation dieses Ereignisses <strong>als</strong> Okkupation versteht<br />

die Anwesenheit und die wachsende Anzahl der russischsprachigen Bevölkerung in<br />

Estland <strong>als</strong> eine der Folgen dieser Okkupation, das heißt, dass dieser Teil der Bevölkerung<br />

aus Sicht einiger estnischer Politiker kein Recht hat über die Zukunft (eines<br />

freien) Estlands zu urteilen und zu entscheiden. 10<br />

Minderheitenpolitik im modernen Estland und der<br />

‚Denkmalkrieg‘<br />

Im Jahre 1991 erlangte Estland erneut die Unabhängigkeit. Die am 20. August 1991<br />

ins Leben gerufene Republik Estland knüpfte an die Traditionen der ersten Republik<br />

Estland (1918–1940). Es wurden die wichtigsten Gesetze Estlands beziehungsweise<br />

Teile von Gesetzen aus der Zeit der 30er Jahre kopiert, und zwar ohne Rücksicht auf<br />

die Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und demografischen Situation in<br />

den fast 50 vergangenen Jahren. Das Grundgesetz der neugegründeten Republik Estland<br />

hebt formal das Grundgesetz der ersten Republik Estland vom 1938 auf. 11 Die<br />

ethnozentrische Präambel von 1938, die „die Erhaltung des estnischen Volkes und der<br />

estnischen Kultur“ durch das Grundgesetz garantiert, erhält bei der Anzahl der Nicht-<br />

Esten von fast einem Drittel der Bevölkerung eine ganz andere Bedeutung <strong>als</strong> bei dem<br />

Verhältnis von 88 % zu 12 %. Das Gesetz über Staatsbürgerschaft ist die Version, die<br />

bis zum 16. Juni 1940 gültig war. 12 Laut diesem Gesetz bekommt ein Kind die Staatsangehörigkeit<br />

Estlands nach seiner Geburt, und zwar in dem Fall, wenn ein Elternteil<br />

dieses Kindes bereits Staatsbürger Estlands ist. Die Kinder der Einwanderer, die in<br />

der sowjetischen Ära geboren worden waren, hatten demnach keinen Anspruch auf<br />

die vererbte estnische Staatsbürgerschaft, da ihre Eltern (rechtsmäßig) keine Bürger<br />

der Republik Estland waren. Die Einwanderer aus sowjetischer Zeit mussten eine<br />

10 Astrov, Alexander: Selbsterschaffene Gemeinschaft: Minderheitenpolitik oder kleine<br />

Politik. Russische Ausgabe. Tallin 2007, S. 52.<br />

11 Vgl. die Präambel des Grundgesetzes der Republik Estland vom 28. Juni 1992: „In unerschütterlichem<br />

Glauben und standhaften Willen, den Staat zu entwickeln […] hat das<br />

estnische Volk aufgrund § 1 des 1938 in Kraft getretenen Grundgesetzes […] folgendes<br />

Grundgesetz angenommen.“<br />

12 Dazu § 1 des Erlasses über Einführung der Gesetz über Staatsbürgerschaft vom 26. Februar<br />

1992.<br />

Dis | kurs 121


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Niederlassungs- und Arbeitserlaubnis beantragen. Um die Einbürgerung zu bekommen,<br />

müssen sie Sprachkenntnisse sowie Kenntnisse des Grundgesetzes in Form<br />

einer Prüfung nachweisen. Nicht nur Prüfungen, sondern auch umfangreiche Fragebogen<br />

zur Niederlassungserlaubnis, und zwar ausschließlich auf estnischer Sprache,<br />

stellen für viele ältere Leute ein unlösbares Problem dar. Deshalb wurden sie zu Besitzern<br />

eines staatenlosen Passes (es sei denn, sie entscheiden sich für die Staatsbürgerschaft<br />

der Russischen Föderation), ohne die politischen und sozialen Rechte eines<br />

Staatsbürgers. Sprachkenntnisse normieren auch das Arbeitsleben. Für bestimmte<br />

Berufe muss man bestimmten Sprachprüfungen nachweisen. Das bedeutet, dass ein<br />

Arbeitsplatz nicht für immer gesichert ist, weil die ‚Sprachpolizei‘ die Benutzung<br />

der Amtssprache am Arbeitsplatz sehr streng kontrolliert. Die Kandidaturen für<br />

führende politische und wirtschaftliche Positionen wurden ebenso an die estnische<br />

Sprachkenntnis gebunden. Der letzte Schritt der staatlichen Integrationspolitik war<br />

2007 die Einführung der estnischen Sprache im Unterricht an russischsprachigen<br />

Schulen, ungeachtet des § 37 des Grundgesetzes, laut dem „die Unterrichtssprache in<br />

Bildungseinrichtungen der Minderheiten die Lehreinrichtung“ selbst auswählt. Die<br />

Anzahl des Unterrichtstunden soll sich jedes Jahr steigern, so dass absehbar ist, wie<br />

lange es noch russischsprachige Schulen in Estland geben wird.<br />

Nicht nur wurden gesetzliche Maßnahmen gegen Einwanderer aus der sowjetischen<br />

Ära und deren Nachkommenden durchgeführt, es wurde auch das alltägliche Leben<br />

durch die öffentliche Meinung erschwert. Während derzeit manche restriktive Gesetze<br />

dank der Bemühungen internationaler Organisationen, wie der Organisation<br />

für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, abgemildert wurden, sind Russen<br />

– unabhängig davon, ob sie alt oder jung sind, ob sie in der Roten Armee waren<br />

oder schon in unabhängigen Estland aufgewachsen sind –, einer starken Verurteilung<br />

ausgesetzt, hauptsächlich in der Form, dass man sie für die gesamte sowjetische<br />

Zeit schuldig und verantwortlich für die schrecklichen Jahre der Okkupation macht.<br />

Diese Zeit wird allgemein <strong>als</strong> Okkupation bezeichnet. Demzufolge sind alle Russen<br />

Besatzer. Solche rechtextremistischen Meinungen erfreuen sich in Estland großer<br />

Popularität. Oft kann man in angesehenen Zeitungen und Zeitschriften Artikel finden,<br />

die sich gegenüber den in Estland lebenden Russen verachtend beziehungsweise<br />

missachtend äußern und in ihnen allein die alten Feinde von 1944 sehen. Die<br />

russische Minderheit ist praktisch aus dem öffentlichen Leben ausgestoßen: es gibt<br />

nur einzelne russische Abgeordnete, einen russischen Minister gab es nur ein einziges<br />

Mal. Führende Positionen in Politik, Wirtschaft, Kultur sind für Angehörige der<br />

Minderheiten eher die Ausnahme. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Integrationspolitik<br />

zu keiner öffentlichen Diskussion geführt hat: Verabschiedete Gesetzte oder<br />

Maßnahmen hatten keine Resonanz in der Gesellschaft gefunden, sie sind eine partikulare<br />

Angelegenheit der russischen Minderheit geblieben. Die wenigen russischen<br />

122 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Politiker haben in den letzten Jahren das Vertrauen der Minderheit eher verloren,<br />

weil sie keine Kraft für den Schutz von deren Interessen waren.<br />

Die staatliche Politik der Integration war und ist im Grunde genommen eine offensive<br />

Politik der Assimilation, da sie nicht die „Zustimmung zu den Prinzipien der<br />

Verfassung innerhalb des Interpretationsspielraumes, der durch das ethisch-politische<br />

Selbstverständnis der Bürger und die politische Kultur der Bürger bestimmt“ ist,<br />

sondern die „Einübung in die Lebensweise, in die Praktiken und Gewohnheiten der<br />

einheimischen Kultur“ fordert. 13 In philosophischer Hinsicht ist mit Matthias Kaufmann<br />

festzuhalten, dass bei der Politik der Assimilation eine ‚Erlaubnis-Version‘ der<br />

Toleranz in Spiel kommt, „bei der ein Fürst oder eine in ihrer Dominanz ungefährdete<br />

Mehrheit einer Minderheit Toleranz gewähren, sei dies aus prinzipiellen oder pragmatischen<br />

Gründen, das heißt aus moralischer Überzeugung oder um der Friedenssicherung<br />

willen“. 14 Diese Auffassung von Toleranz läuft darauf hinaus, dass die Mehrheit der<br />

Bevölkerung mit einer „völligen Assimilation belohnt zu werden beansprucht“, hingegen<br />

von der Minderheit „die Forderung nach Akzeptanz erhoben wird“. 15<br />

In Estland gab und gibt es deshalb nach 1991 keinen Dialog der Bevölkerungsgruppen<br />

und keine Integration, sondern eine systematisch betriebene Unterdrückung<br />

einer Bevölkerungsgruppe durch eine andere. Da die Identität der Gemeinwesen in<br />

Estland seit 1991 stets „in den ethischen Grundorientierungen einer im Lande vorherrschenden<br />

kulturellen Lebensform festgemacht wurde“ 16 , konnte die estnische Gesellschaft<br />

nicht der Gefahr der eigenen Segmentierung entgehen. Die estnischen Russen<br />

haben sich marginalisiert beziehungsweise wurden zwangsläufig infolge der Politik<br />

der Assimilation de jure und de facto aus dem öffentlichen Raum ausgestoßen. 17 Der<br />

13 Habermas, Jürgen: Annerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles<br />

Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993, S. 183.<br />

14 Kaufmann, Matthias: Toleranz ohne Indifferenz – Integration und die Rückseite der<br />

Akzeptanz. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie vol. 91 (2005) <strong>Heft</strong> 1, S. 40.<br />

15 Ebd.<br />

16 Habermas, Jürgen: Annerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles<br />

Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993, S. 184.<br />

17 Das Mitglied des Europäischen Parlaments, Sahra Wagenknecht, hat die Minderheitenpolitik<br />

der Republik Estland <strong>als</strong> hochproblematisch charakterisiert. Laut Wagenknecht<br />

ist das eine „Politik, die auf die Spaltung der Gesellschaft setzt und alles dafür tut, die<br />

russischsprachige Bevölkerung, […] zu entrechten und marginalisieren“. Ferner schreibt<br />

sie: „Es ist ein Skandal, dass sich die Europäische Union im Fall von Estland bislang auf<br />

die Position zurückzieht, es handele sich um innere Angelegenheiten des Landes. Die<br />

eklatanten Verstöße Estlands gegen grundlegende Normen, u. a. was den Schutz und die<br />

Rechte von Minderheiten betrifft, die rechtsstaatlichen Mängel, die im Prozess gegen die<br />

vier Angeklagten zum Ausdruck kommen, der offene Einfluss der Politik auf die Justiz –<br />

all dies widerspricht elementaren Prinzipien der Europäischen Union, zumindest soweit<br />

sie in den Europäischen Verträgen verankert sind. Es ist höchste Zeit, von Estland das<br />

einzufordern, wozu es sich beim Beitritt zur EU verpflichtet hat: die Einhaltung demokra-<br />

Dis | kurs 123


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

letzte Schritt dieser Spaltung der Gesellschaft waren die Ereignisse im April 2007, die<br />

den so genannten Denkmalkrieg zu einem dramatischen Ende gebracht haben. Der<br />

Ablauf des Denkmalkrieges lässt sich wie folgt skizzieren. Im Sommer 2002 wurde<br />

in der Kurort-Stadt Pärnu ein Denkmal zu Ehren der estnischen Soldaten, die im<br />

zweiten Weltkrieg für das freie Europa gekämpft hatten, wenige Tage nach der Einweihung<br />

infolge einer Entscheidung der Regierung der Republik demontiert. Die<br />

Regierung Estlands hatte dieses Denkmal <strong>als</strong> schädlich für das internationale Image<br />

des Landes empfunden. Dennoch wurde das gleiche Denkmal, das einen Soldaten<br />

im Uniform der Waffen-SS mit dem Eisernen Kreuz mitsamt dem Kreuz der Freiheit<br />

Estlands sowie mit einer deutschen Maschinenpistole zeigt, zwei Jahre später in der<br />

kleinen west-estnischen Stadt Lihula zum Jahrestag der erneuten Unabhängigkeit<br />

Estlands eingeweiht. Die Inschrift des Denkm<strong>als</strong> lautete: „Für die estnischen Männer,<br />

die in den Jahren 1940 bis 1945 gegen den Bolschewismus und für die Unabhängigkeit<br />

Estlands gekämpft haben.“ Dieses Denkmal wurde trotz polizeilichem Verbot<br />

auf dem Friedhof gegenüber dem Massengrab und dem Denkmal für sowjetischen<br />

Soldaten enthüllt. Zu der Enthüllung kamen Veteranen der Waffen-SS sowie junge<br />

Neonazis. In knapp zwei Wochen wurde dieses Kriegsdenkmal erneut durch die Entscheidung<br />

der Regierung demontiert, da man Kritik der EU befürchtete. Die ethnische<br />

Mehrheit und die ethnische Minderheit der Bevölkerung haben die Demontage<br />

unterschiedlich betrachtet: Während 58 % der Esten die Entscheidung der Regierung<br />

<strong>als</strong> ungerecht einschätzten, haben 64 % der Russen sie für richtig gehalten.<br />

Die Enthüllung und die Demontage des Denkm<strong>als</strong> haben die ethnischen Spannungen<br />

in der estnischen Gesellschaft vertieft. Die Gesellschaft wurde von nun an in die<br />

Gegner des „Denkmalkrieges“ gespalten, wobei sich die Neonationalisten gewaltsam<br />

betätigt haben. Während eine Seite die Denkmäler für die sowjetischen Soldaten aus<br />

dem zweiten Weltkrieg massenhaft beschädigten, bewachten russische Aktivisten die<br />

Denkmäler, besonderes das Hauptdenkmal des sogenannten Bronzenen Soldaten im<br />

Zentrum der Hauptstadt. Zahlreiche nationalistisch geprägte Aktionen haben die<br />

Politiker in den folgenden Jahren nicht zum Nachdenken über mögliche Auswege<br />

aus diesen Krisen und zu Versuchen der Konsolidierung der Gesellschaft angeregt.<br />

Stattdessen hat man sich entschlossen, den Bronzenen Soldaten aus dem Stadtzentrum<br />

Tallinns auf den Militärfriedhof am Stadtrand umzusiedeln. Die Demontage des<br />

Denkm<strong>als</strong> führte zu Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Menschen,<br />

die das Denkmal schützen wollten; es kam zu Krawallen im Zentrum von Tallinn,<br />

wobei die Polizei brutal vorging, da sie Demonstranten, unabhängig davon, ob sie getischer<br />

und rechtsstaatlicher Standards!“ Wagenknecht, Sahra: Estland: Prozess beenden<br />

– rechtsstaatliche Standarts durchsetzen! Presseerklärung vom 31.01.2008, http://www.<br />

sahra-wagenknecht.de/de/article/240.estland_prozess_beenden_rechtsstaatliche_standards_durchsetzen.html<br />

vom 12.02.2008.<br />

124 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

walttätig waren oder einfache Passanten, willkürlich verhaftete und brutal misshandelte.<br />

Nach Angaben von Zeugen ist die Eskalation der Ereignisse „durch unmäßige<br />

und brutale Vorgehensweise der Polizei und weiterer estnischer Sicherheitsorgane, vor<br />

allem der Geheimpolizei, provoziert worden“. 18<br />

Mythologisierung der Geschichte und Nichtverarbeitung der Vergangenheit<br />

<strong>als</strong> Ursachen der interkulturellen Konflikte<br />

Dieser Krieg hat nicht erst mit der Enthüllung des Soldaten-Denkm<strong>als</strong> in Pärnu<br />

2002 angefangen, vielmehr wurde die neu gegründete Republik Estland regelrecht<br />

in diesem ‚Krieg‘ geboren. Durch das Verbot des totalitären sowjetischen Staates, die<br />

Geschichte der ersten Republik Estland sowie die Geschichte des Zweiten Weltkriegs<br />

und die Rolle Estlands in dieser Ära wissenschaftlich historisch zu untersuchen und<br />

aufzuarbeiten, sind diese Bereiche in das private kollektive Gedächtnis der Esten<br />

abgedrängt worden. Fast nur mündlich gesprochen, ist diese Geschichte zu einem<br />

Mythos geworden, den man sorgfältig aufbewahrt und der, wie jeder Mythos, auf<br />

einer deutlichen Unterscheidung von Gut und Böse basiert. Ein solches partikulares<br />

kollektives Gedächtnisbild der Esten wurde dann 1991 zur offiziellen Geschichte des<br />

neuen Staates erhoben. Der Mythos bedeutet hier mit Aleida Assmann gesprochen<br />

„die affektive Aneignung der eigenen Geschichte […], die nicht durch Historisierung<br />

vergeht, sondern mit einer andauernden Bedeutung ausgestattet wird, die die Vergangenheit<br />

in der Gegenwart einer Gesellschaft präsent hält und ihr eine Orientierungskraft<br />

für die Zukunft abgewinnt.“ 19 Der Mythos ist im modernen Estland mit der offiziellen<br />

Geschichtsdeutung so verschmolzen, dass nicht mehr unterschieden wird, wo eine<br />

private und kollektive Erinnerung aufhört und die Geschichte anfängt. Die Mythologisierung<br />

ist sicherlich einer der Wege der Bildung einer Nation 20 , kann jedoch zu<br />

den populistischen Nationalismusansichten führen, die für die Teile der Bevölkerung,<br />

die nicht zur herrschenden Nation gehören beziehungsweise kein Anteil an der<br />

mythisch fundierten Vergangenheit haben, schädlich sein kann.<br />

Die mythologisierende Anknüpfung der zweiten beziehungsweise der – wie man<br />

es im offiziellen Sprachgebrauch nennt – wiederhergestellten Republik Estlands an<br />

die Geschichte der ersten Republik ist symptomatisch für die gesamte Periode nach<br />

1991. Diese Anknüpfung spielt eine entscheidende und problematische Rolle auch<br />

in der Minderheitenpolitik, insbesondere für die Umgangsweise mit den Einwanderern<br />

aus der sowjetischen Zeit und ihren Nachkommen. Die Jüngsten unter deren<br />

18 Wagenknecht, Sahra: Estland: Prozess beenden – rechtsstaatliche Standards durchsetzen!<br />

Presseerklärung vom 31.01.2008.<br />

19 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.<br />

München 2006, S. 40.<br />

20 Ebd., S. 41.<br />

Dis | kurs 125


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Nachkommen sind im unabhängigen Estland aufgewachsen und ausgebildet. Das<br />

ändert jedoch nichts an ihrem rechtlichen staatsbürgerlichen Status. Während die<br />

Zeit vor dem zweiten Weltkrieg sowie die Zeit des Wehrdienstes von Esten in der<br />

deutschen Wehrmacht – die laut der offiziell-staatlichen Version ein Befreiungskrieg<br />

gegen die sowjetische Besatzung Estlands geführt hat –, <strong>als</strong> die eigentliche und die<br />

wahrhaft nationale estnische Geschichte angesehen werden, gilt die Geschichte der<br />

Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik <strong>als</strong> die Zeit der dunklen und tragischen<br />

Jahre der Okkupation, mit denen die wahren Bürger Estlands nichts gemein haben.<br />

Die Einwanderer aus dieser Zeit, einschließlich ihrer Nachkommen, verkörpern den<br />

ganzen Schrecken des totalitären Sowjetregimes.<br />

In diesem spannungsvollen Verhältnis zwischen der ersten Republik Estland und der<br />

Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik ist eine Betrachtung der Vergangenheit<br />

aktiv, die Friedrich Nietzsche <strong>als</strong> kritisch charakterisiert hat. Man zieht die sowjetische<br />

Vergangenheit vor Gericht, „peinlich inquirirt, und endlich verutheilt“. 21 Dieser<br />

Prozess hat zwei Seiten: Während eine Vergangenheit kritisch betrachtet und verurteilt<br />

wird, wird zugleich der Versuch unternommen, sich eine andere Vergangenheit<br />

zu geben, „aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt“. 22<br />

Die offizielle neue Republik Estland möchte nur aus einer Vergangenheit stammen,<br />

und zwar aus der Vergangenheit der ersten Republik Estland. Es wird vergessen, dass<br />

zur Vergangenheit der neuen Republik auch die Sowjetische Sozialistische Republik<br />

Estland gehört. Denn nicht nur Russen tragen die Verantwortung für die totalitäre<br />

sowjetische Zeit, sondern auch Esten, die all die Jahre nicht bloß ‚Opfer‘, sondern<br />

auch ‚Täter‘ waren. Nietzsche betont zu Recht, dass „es nicht möglich [ist,] sich ganz<br />

von dieser Kette zu lösen“, von der Kette der eigenen Vergangenheit und „ihrer Verirrungen,<br />

Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen“. 23<br />

Diese Anknüpfung an die „gute“ Vergangenheit und deren mythologische Angliederung<br />

ist meines Erachtens von Bedeutung nicht nur für Estland, sondern auch für<br />

andere postkommunistische Staaten Osteuropas. Der Nationalismus tritt <strong>als</strong> einer<br />

der Erben des Kommunismus auf, in dessen Namen versucht wurde, brüderliche<br />

und einheitliche Staaten aufzubauen. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die Estland<br />

in der unblutigen ‚Singenden Revolution‘, in den Massenprotesten der Arbeiter der<br />

Großbetriebe, in den schweigenden Verurteilung des Hitler-Stalin-Paktes durch eine<br />

das ganze Baltikum durchziehende Menschenkette erlangt hat, sind für dieselben<br />

Menschen aus dieser Kette – für Esten und Russen – zu einer schwierigen Prüfung<br />

21 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: ders.<br />

Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. III/1. Berlin/<br />

New York 1972, S. 265.<br />

22 Ebd., hier: S. 266.<br />

23 Ebd.<br />

126 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

des Zusammenlebens und gegenseitigen Verstehens geworden. Für die Politiker, die<br />

zum großen Teil selbst noch ihre Wurzeln in der sowjetischen Vergangenheit haben,<br />

war es leichter, sich in der Zeit der wirtschaftlichen Umwälzungen und der Suche<br />

eigener Wege ins neue Europa mit der Hexenjagd zu beschäftigen und eine bequeme<br />

Vergangenheit auszudenken, <strong>als</strong> sich mit der aufwandreichen „Aufarbeitung der<br />

Vergangenheit“ zu konfrontieren, zumal man auf diese Weise über die eigene historische<br />

Verantwortung nicht nachdenken musste. Die Kinder der sowjetischen Propaganda<br />

haben einer ihrer wichtigsten Unterrichtsstunden gut im Gedächtnis behalten:<br />

Nichts anderes konsolidiert die Gesellschaft so gut, wie die ruhmreiche Geschichte<br />

und der Feind dieser Gesellschaft und ihrer Geschichte. Hinzu kommt die Dialektik<br />

des Erinnerns und Vergessens, wobei nur das erinnert wird, was bequem und nützlich<br />

ist, vergessen hingegen wird alles Schmerzhafte und Unangenehme. Das Erinnerungswürdige<br />

wird vergegenwärtigt und mythologisiert.<br />

Der Denkmalkrieg in Estland hat eine gespaltete Gesellschaft offenbart und die Minderheitenpolitik<br />

der 90er Jahre in Frage gestellt. Die Minderheitenpolitik, die offiziell<br />

Integrationspolitik genannt wurde, konnte nicht die Russen in die estnische Gesellschaft<br />

integrieren, für die sie laut der Geschichtskonzeption einen feindlichen Fremdkörper<br />

darstellten. Durch Sprachkenntnisse und die erworbene Staatsbürgerschaft<br />

konnten die russischsprachigen estnischen Bürger sich ihren estnischen Nachbahren<br />

nähern: die Gedächtniskluft, der durch die politische Öffentlichkeit zur Geschichtskluft<br />

wurde, hat sie wieder getrennt. Die estnischen Russen, die in sowjetischen Zeiten<br />

entweder areligiös oder mäßig religiös waren, haben sich, nachdem sie aus der<br />

öffentlichen Kultur des modernen Estland ausgestoßen wurden, an die alten Werte<br />

erinnert. Einer dieser Werte ist der Sieg im zweiten Weltkrieg. Im modernen Estland<br />

wurde dieser Sieg zu einem der tragischen Ereignisse des estnischen Volkes gezählt.<br />

Die offizielle Geschichte sieht im Siegesfest eine unangemessene Feier von Leuten,<br />

die Estland erneut okkupierten. Der Soldat, der Europa vom Faschismus befreit hat,<br />

ist nur ein Besatzer – ohne wenn und aber. Das Denkmal dieses Soldaten kann nicht<br />

im Herzen des Landes stehen. Für die russische Minderheit kommt die Demontage<br />

dieses Denkm<strong>als</strong> einer Demontage ihrer Rechte <strong>als</strong> Minderheit gleich. Konkret heißt<br />

das: die strikte Ablehnung des Dialoges und die weitere Spaltung der Gesellschaft<br />

durch eine Marginalisierung der Minderheiten. Die Befreiung und die Okkupation<br />

sind für Russen wie Esten zwei Seiten der Medaille des modernen estnischen Staats.<br />

Das nationalistisch geprägte und mythologisierte Gedächtnisbild soll wissenschaftlich<br />

<strong>als</strong> Geschichte aufarbeitet werden. Zu dieser Geschichte gehört auch die der russischen<br />

Minderheit, wenn man frei in die Zukunft blicken will und nicht gekränkt<br />

an eigenen traumatischen Erinnerungen hängen will. Sonst kann man die immer<br />

näher rückende Frage nach einer möglichen zukünftigen Zuwanderung in Estland<br />

nicht lösen. Mit dem Wirtschaftswachstum bis zu 10 % in den letzten Jahren und der<br />

Dis | kurs 127


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

hohen Anzahl von Auswanderern ist Estland bereits jetzt mit dem Problem fehlender<br />

Arbeitskräfte konfrontiert. Fremdenfeindlichkeit ist keine Lösung für dieses Problem.<br />

Die unaufgearbeitete Vergangenheit, die Neigung der estnischen Gesellschaft,<br />

sich eine „gute“ Vergangenheit zu erschaffen und die ‚schlechte‘ Vergangenheit zu<br />

verurteilen und abzuweisen, spiegelt sich auch in der Gesetzgebung der Republik<br />

Estland wider. Die Prämisse der schon erwähnten Gesetze – das Grundgesetz der Republik<br />

Estland und das Ausländergesetz – ist nicht ‚liberal‘, sondern ‚republikanisch‘.<br />

Die Staatsbürgerschaft wird nämlich nach der Zugehörigkeit zu einer sich selbst bestimmenden<br />

ethisch-kulturellen Gemeinschaft konzipiert. Die Bürger bilden „ihre<br />

persönliche und soziale Identität […] im Horizont gemeinsamer Überlieferungen und<br />

anerkannter politische Institutionen“ 24 aus. Daraus folgt, dass Gesetze in der republikanischen<br />

Tradition eine bestimmte Bevölkerungsgruppe mit kulturell-sprachlicher<br />

Identität gegenüber anderen privilegieren. Das führt nicht nur zu interkulturellen<br />

Konflikten, sondern auch, wie das Beispiel von Estland zeigt, zu sozialen Spannungen,<br />

weil das Prinzip der nationalen Differenzierung das liberale Gleichheitsprinzip<br />

unterläuft, und zwar im Zeichen des liberalen Prinzips der (scheinbaren) Nichtdiskriminierung.<br />

Wie solche interkulturellen Konflikte und sozialen Spannungen bereits<br />

im Vorfeld entschärft werden könnten, wird deutlich, wenn man die Auffassung<br />

von Jürgen Habermas ernst nimmt, dass die „demokratische Staatsbürgerschaft nicht<br />

in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt zu sein“ braucht, jedoch ungeachtet<br />

„der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen“ die „Sozialisation aller Staatsbürger<br />

in einer gemeinsamen politischen Kultur“ verlangt. 25 Arbeitet eine politische Partei<br />

(im Sinne des von ihr verkündeten Programms) darauf hin, bestimmten Gruppen<br />

(anderer Nationalitäten) Grundrechte und Grundfreiheiten abzusprechen, so ist mit<br />

John Rawls zu ergänzen, 26 wird bestimmten Staatsbürgern aufgrund ihrer nationalen<br />

und sprachlichen Differenz die Sozialisierung in einer gemeinsamen politischen Kultur<br />

(und Sprache) durch besondere Gesetze verwehrt oder eingeschränkt.<br />

Ausblick ins neue Europa<br />

Das Problem der Benachteiligung der Staatsbürger durch rechtliche Regelungen in<br />

der Sozialisation und Teilhabe an einer ‚gemeinsamen‘ politischen Kultur ist nicht<br />

allein nur für Estland, sondern für Europa insgesamt von Bedeutung. Populistische<br />

Fundamentalismen, Fremdenfeindlichkeit, Mythisierung der Vergangenheit der<br />

herrschenden Nation auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen und Homophobie<br />

24 Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: ders. Faktizität und<br />

Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats.<br />

Frankfurt/M. 1992, S. 640.<br />

25 Ebd., S. 643. Hervorhebung von mir.<br />

26 Ralws, John: Fairneß <strong>als</strong> Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 2006, S. 26.<br />

128 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

kann man in Lettland, Ungarn, Rumänien, Serbien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina,<br />

Griechenland und in der Türkei, die nach Europa strebt, beobachten. Diese<br />

Phänomene gehören längst zum „neuen“ Europa, ob es das will oder nicht, und die<br />

sich daraus ergebenen Probleme zu bewältigen, heißt einen neuen Weg für ein gemeinsames<br />

Europa zu finden: einen neuen Weg, und zwar angesichts von Amerika<br />

und China, der aufgehenden Supermacht des 21. Jahrhunderts. Wie Slavoj Žižek mit<br />

gutem Grund betont, hat man „‚Europa‘ neu zu definieren, damit es für das stehen<br />

kann, was sowohl der amerikanische <strong>als</strong> auch chinesische Weg verwerfen, nämlich für<br />

das emanzipatorische Potenzial der Aufklärung mit seinem Grundgedanke egalitäruniversalistischer<br />

Gerechtigkeit […]. Einer Gerechtigkeit, die auch politische Rechte,<br />

das heißt die Rechte jedes Einzelnen, sich in öffentliche Belange einzumischen, zu den<br />

Menschenrechten zählt. Eine Gerechtigkeit, die Freiheit <strong>als</strong> die Freiheit versteht, an dem<br />

teilhaben zu können, woran das Schicksal unserer Art hängen wird: an unserer gemeinsamen<br />

natürlichen Substanz (Ökologie, Genetik) und unserer geteilten kulturellen<br />

Substanz.“ 27 Man kann es minimalistisch mit Goethe auch so formulieren: „Toleranz<br />

sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung<br />

führen. Dulden heißt Beleidigen.“ 28<br />

Literatur<br />

Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.<br />

München 2006.<br />

Astrov, Alexander: Selbsterschaffene Gemeinschaft: Minderheitenpolitik oder kleine Politik.<br />

Russische Ausgabe. Tallin 2007.<br />

Goethe, Johann Wolfgang v.: Maximen und Reflexionen, Nr. 875.<br />

Habermas, Jürgen: Annerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat. In: Charles Taylor,<br />

Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993, S. 147–196.<br />

Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: ders. Faktizität und<br />

Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats.<br />

Frankfurt/M. 1992, S. 632–660.<br />

Kaufmann, Matthias: Toleranz ohne Indifferenz – Integration und die Rückseite der Akzeptanz.<br />

In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie vol. 91 (2005) <strong>Heft</strong> 1, S. 36–48.<br />

Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: ders. Werke.<br />

Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. III/1. Berlin/New York<br />

1972, S. 239–330.<br />

Ralws, John: Fairneß <strong>als</strong> Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 2006.<br />

Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M. 1993.<br />

Wagenknecht, Sahra: Estland: Prozess beenden – rechtsstaatliche Standarts durchsetzen!<br />

Presseerklärung vom 31.01.2008, http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/240.estland_<br />

prozess_beenden_rechtsstaatliche_standards_durchsetzen.html, 12.02.2008.<br />

Žižek, Slavoj: Im Takt des türkischen Marsches. In: Die Zeit, Nr. 2, 3. Januar 2008, S. 37.<br />

27 Žižek, Slavoj: Im Takt des türkischen Marsches. In: Die Zeit, Nr. 2, 3. Januar 2008, S. 37.<br />

28 Goethe, J. W. v.: Maximen und Reflexionen, Nr. 875.<br />

Dis | kurs 129


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Rechtsextremismus in Deutschland<br />

Wurzeln und aktuelle Erscheinungen vor dem Hintergrund<br />

des gesellschaftlichen Wandels und der Multikulturalität<br />

Sonja Meyer<br />

Hochschule Vechta, IBS<br />

E-Mail: sonja.meyer@mail.uni-vechta.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Rechtsextremismus, Multikulturalität, gesellschaftlicher Wandel<br />

„Ich betrachte das Nachleben des Nation<strong>als</strong>ozialismus in der Demokratie <strong>als</strong> potenziell<br />

bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Unterwanderung<br />

bezeichnet ein Objektives; nur darum machen zwielichtige Figuren ihr<br />

Comeback in Machtpositionen, weil die Verhältnisse sie begünstigen.“ 1<br />

Diese Ende der fünfziger Jahre von Theodor Wiesengrund Adorno (1903–1969) formulierte<br />

Warnung beschreibt in eindrücklicher Weise die Gefährdung der Demokratie<br />

durch den Nation<strong>als</strong>ozialismus und den Zusammenhang zwischen den sozialen<br />

Verhältnissen in einer Demokratie und der Begünstigung faschistischer Tendenzen<br />

durch die in der Gesellschaft herrschenden Verhältnisse. Welche Ursachen hat aber<br />

der in der Gegenwart existierende Rechtsextremismus, mit ihm der Hass auf das Unbekannte<br />

und in welchen Formen tritt er in der deutschen Gesellschaft auf? Welche<br />

Rolle spielen in diesem Zusammenhang die in Deutschland gegenwärtig zu konstatierenden<br />

sozialen Verhältnisse? An dieser Stelle sollen einige Zahlen erwähnt werden,<br />

welche die gegenwärtige Einstellung der Deutschen zum Antisemitismus widerspiegeln<br />

und keiner Kommentierung bedürfen: Laut einer Umfrage im August 2006<br />

1 Adorno, bei: Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 19.<br />

130 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

sind 21 % der Deutschen der Auffassung, dass Juden einen zu großen Einfluss haben,<br />

19,4 % meinen, dass Juden eine Mitverantwortung an ihrer Verfolgung tragen 2 .<br />

Extremismus<br />

Die sprachliche Herkunft des Wortes „Extremismus“ liegt in den lateinischen Begriffen<br />

extremus (dt. äußerst, entferntest, der ärgste, gefährlichste, schlechteste, verächtlichste)<br />

und extremitas (dt. der äußerste Punkt, Rand).<br />

Aus dieser normativen Sicht leitet sich der Extremismusbegriff ab, der alle Einstellungen,<br />

Verhaltensweisen, Institutionen und Ziele, die sich gegen den demokratischen<br />

Verfassungsstaat richten, umfasst 3 .<br />

In diesem Zusammenhang ist der Entstehungskontext des Grundgesetzes der Bundesrepublik<br />

Deutschland, welches am 23. Mai 1949 verabschiedet wurde, zu skizzieren:<br />

Aufgrund der Erfahrungen der Weimarer Republik (1918–1933), in welcher antidemokratische<br />

Kräfte im Schutz der Verfassung die Republik zerstörten, entschied<br />

sich der Parlamentarische Rat dazu, Vorschriften in die Verfassung aufzunehmen, die<br />

ihren Wesenskern, die freiheitlich-demokratische Grundordnung 4 , vor Übergriffen<br />

schützt 5 . Der politische Extremismus hat immer die Destabilisierung des liberalen<br />

Verfassungssystems zum Ziel. Dabei hat er ein Interesse an der Eskalation der gesellschaftlichen<br />

Konflikte und der Gewalt, da diese Eskalation Wege zur Abschaffung<br />

des verhassten Systems eröffnen. Die Instrumentalisierung der verschiedenen gesellschaftlichen<br />

Konfliktfelder und Konfliktthemen stellt somit ein wesentliches Element<br />

2 Vgl. Zick, Andreas/Küpper, Beate: Antisemitismus in Deutschland und Europa. In:<br />

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte (31/2007),<br />

S. 12–19, S. 16.<br />

3 Vgl. Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus. Einige<br />

Anmerkungen zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen,<br />

2000, S. 14.<br />

4 Die Definition des Begriffes der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch das<br />

Bundesverfassungsgericht im Jahr 1952: „So lässt sich die freiheitlich-demokratische<br />

Grundordnung <strong>als</strong> eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und<br />

Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung<br />

des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und<br />

Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens<br />

zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor<br />

allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität,<br />

die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der<br />

Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit<br />

für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung<br />

und Ausübung einer Opposition“ Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus<br />

– Linksextremismus 2000, S. 14 f.<br />

5 Vgl. ebd., S. 14.<br />

Dis | kurs 131


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

des politischen Extremismus dar 6 . Gemeinsame Charakteristika aller Extremisten<br />

stellen ihr Alleinvertretungsanspruch, ihre Ablehnung pluralistisch-demokratischer<br />

Systeme, ihr Dogmatismus, ihr Freund-Feind-Denken und ihr Fanatismus dar 7 .<br />

Als Rechtsextremismus gilt diejenige Form des Extremismus, die „das Prinzip<br />

menschlicher Fundamentalgleichheit negiert“ 8 . Dabei werden diejenigen extremistischen<br />

Bestrebungen, die ihre Wurzeln in nationalistischem und rassistischem Gedankengut<br />

haben, <strong>als</strong> rechtsextremistisch bezeichnet 9 . Nationalismus, die Überhöhung<br />

der eigenen Nation über andere, in aggressiver Form, verbunden mit Feindschaft<br />

gegen Ausländer, Hass gegen Minderheiten, fremde Völker und Staaten, militantdeutschnationalem,<br />

deutschvölkischem oder alldeutschem Gedankengut, sind dabei<br />

charakteristisch 10 .<br />

Ursprünge des Rechtsextremismus in Deutschland<br />

Der Ausdruck Antisemitismus wurde zeitlich kurz nach der Weltwirtschaftskrise von<br />

1873 durch den deutschen Schriftsteller Wilhelm Marr geprägt und ist ein Ausdruck<br />

für eine feindselige Einstellung gegenüber Menschen jüdischen Glaubens. Ferner<br />

kann der Begriff Antisemitismus <strong>als</strong> eine „verbindende Ideologie, welche die Welt <strong>als</strong><br />

von Juden dominiert und manipuliert erklärt“ bezeichnet werden 11 .<br />

Aus der deutschen Sprache fand der Ausdruck schnell Eingang in andere europäische<br />

Sprachen. Auch entstanden in Frankreich und Österreich zeitweilig antisemitische<br />

Massenorganisationen. Dennoch kann man sagen, dass antisemitische Tendenzen,<br />

Stimmungen und Argumente insgesamt überall verteilt waren. Es gab nur wenige<br />

entschiedene Gegner des Antisemitismus. Hintergründe dieser Einstellung sind von<br />

jeher religiöse, wirtschaftliche und fremdenfeindliche Motive. Im Laufe des 19. Jahrhunderts<br />

wurden die Juden zunehmend nicht mehr nur <strong>als</strong> Händler, Spekulanten<br />

oder Geldverleiher abgelehnt, sondern viele Menschen begriffen sie <strong>als</strong> „unheilvolle<br />

Schwungkräfte der Modernisierung und des Kapitalismus“ 12 . Als Hauptanklage-<br />

6 Vgl. Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche<br />

Straftaten in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe, 2002, S. 155.<br />

7 Vgl. Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus, S. 14.<br />

8 Vgl. ebd.<br />

9 Vgl. ebd., S. 15.<br />

10 Vgl. Benz, Wolfgang: Gewalt und Ideologie. Tradition und Strukturen rechtsextremen<br />

Denkens. In: Reinalter, Helmut/Petri, Franko/Kaufmann, Rüdiger (Hrsg.): Das Weltbild<br />

des Rechtsextremismus. Die Strukturen der Entsolidarisierung. Innsbruck/Wien 1998,<br />

S. 35–50, S. 40.<br />

11 Vgl. Maegerle, Anton: Rechtsextremistische Gewalt und Terror, 2002, S. 162.<br />

12 Vgl. Fenske, Hans/Mertens, Dieter/Reinhard, Wolfgang/Rosen, Klaus: Geschichte der<br />

politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1996, S. 488 f.<br />

132 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

punkte wurde ihnen vorgeworfen, die europäischen Völker kulturell zu überfremden<br />

und ein zu großes wirtschaftliches Gewicht zu besitzen. In Deutschland existierten<br />

antisemitische Tendenzen schon vor beziehungsweise während der Kaiserzeit, insbesondere<br />

während der Wilhelminischen Ära (1890–1918). Seinen grausamen Höhepunkt<br />

fand der deutsche Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus im<br />

Nation<strong>als</strong>ozialismus des „Dritten Reiches“ (1933–1945). Der Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

war eine seit 1919 bestehende politische Bewegung, die nach dem von Deutschland<br />

verlorenen Ersten Weltkrieg von revanchistischen und biologistischen Vorstellungen<br />

(wie dem Sozialdarwinismus, dem Rassismus und dem Antisemitismus) ausging 13 .<br />

Der Nation<strong>als</strong>ozialismus setzte sich zum Ziel, alles Fremde, „Nicht-Arische“ und<br />

„Schwache“, sowie alle Andersdenkenden, zum Beispiel Sozialdemokraten, zu vernichten.<br />

So lebte der Nation<strong>als</strong>ozialismus von Anfang an vom Feind-Prinzip (und<br />

der Identifizierung des jeweiligen Feindes mit bestimmten Wesenszügen) und der<br />

nationalistischen Ideologie. Diese Umstände führten schließlich zur Ermordung von<br />

zehntausenden von Geisteskranken, hunderttausenden von Sinti und Roma, sechs<br />

Millionen europäischer Juden sowie Millionen sowjetischer Kriegsgefangener 14 .<br />

Im Nation<strong>als</strong>ozialismus stand von Anfang an die kollektive Identität, im Sinne einer<br />

nationalistischen Ideologie, im Vordergrund. Die kollektive Identität wurde über<br />

die persönliche Identität gestellt. Dieser Umstand kommt unter anderem in dem im<br />

„Dritten Reich“ allgemeingültigen Grundsatz und Ausspruch „Du bist nichts, dein<br />

Volk ist alles“ zum Tragen. Ein weiteres Charakteristikum des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

stellten von Anfang an Mythen dar, welche <strong>als</strong> „nicht logisch nachvollziehbare Argumente“<br />

die „typischen Kommunikationsformen in rechtsextremen Diskursen“<br />

darstellen 15 . So kann an dieser Stelle beispielhaft der Mythos der „deutschen Mutter“<br />

im „Dritten Reich“ angeführt werden, welcher die Mutter im Sinne der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Ideologie mit ganz bestimmten Attributen <strong>als</strong> positiv besetzte 16 .<br />

Rechtsextremismus im Allgemeinen zeichnet sich durch das Zusammentreffen von<br />

bestimmten Charaktereigenschaften, wie Akzeptanz und Bereitschaft zu extremer<br />

Gewalt, Fremdenhass und Nationalismus und dem Bedürfnis nach einem Führer<br />

13 Vgl. Rüger, Felicia: Rechtsextremismus, 2001, S. 143.<br />

14 Vgl. Brumlik, Micha: Nation<strong>als</strong>ozialismus. In: Greiffenhagen, Martin/Greiffenhagen,<br />

Sylvia (Hrsg.): Handwörterbuch zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Wiesbaden 2002, S. 286–289, S. 287. vgl. Schubert, Klaus/Klein, Martina: Das Politiklexikon.<br />

In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Schriftenreihe (Band 497). Bonn<br />

2006, S. 204.<br />

15 Vgl. Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 19.<br />

16 So galt es für die „deutsche Mutter“ im Nation<strong>als</strong>ozialismus beispielsweise <strong>als</strong> erstrebenswert,<br />

dem „Führer“ viele Kinder zu gebären und ein Gefühl des Stolzes zu empfinden,<br />

wenn ihr Sohn <strong>als</strong> Soldat für das Vaterland sein Leben lässt.<br />

Dis | kurs 133


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

und bedingungsloser Unterordnung aus 17 . Mit dem Führerprinzip in einem totalitären<br />

Staat wie dem Dritten Reich ist auch das Prinzip der Masse zu erwähnen, welches<br />

ein wesentliches Moment totalitärer Systeme darstellt.<br />

Heutige Erscheinungsformen und Elemente<br />

Heute existiert in Deutschland ein ausdifferenzierter Neonazismus, welcher seinen<br />

politischen Ausdruck in Form unterschiedlicher rechtsextremer Parteien, wie der<br />

Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), der Deutschen Volksunion<br />

(DVU) oder der Republikaner findet.<br />

Seit dem Jahr 1946 existieren rechtsradikale Parteien in Deutschland. Die erste war<br />

die Deutsche Reichspartei (DRP), von welcher sich im Jahr 1949 die Sozialistische<br />

Reichspartei (SRP) abspaltete. Im Jahr 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei<br />

vom Bundesverfassungsgericht <strong>als</strong> Nachfolgeorganisation der NSDAP verboten. Im<br />

Jahr 1964 entstand in Hannover aus dem Zusammenschluss der Deutschen Reichspartei<br />

mit verschiedenen Rechtsgruppen die NPD, welche zum Sammelbecken für<br />

rechtsextreme, neofaschistische Kräfte wurde. Die politischen Leitbilder der NPD<br />

können <strong>als</strong> Mischung aus Nationalismus, Rassismus und autoritär-romantischem<br />

Staatsdenken des 19. Jahrhundert bezeichnet werden. Ihre Ziele, Forderungen waren<br />

zu Beginn ihres Bestehens unter anderem die Rückgabe der Ostgebiete und die Beendigung<br />

der NS-Prozesse. Seit den 70er Jahren treten wieder verstärkt Gewaltaktionen<br />

seitens der Gruppierungen der NPD, der DVU und der Republikaner zu Tage. Auch<br />

ist der Umstand anzumerken, dass seit Ende der 80er Jahre wieder große Erfolge<br />

dieser Parteien bei Landtags- und Kommunalwahlen, vor allem in den von einer<br />

besonders hohen Arbeitslosigkeit geprägten Neuen Bundesländern, zu verzeichnen<br />

sind 18 .<br />

Gründe für eine besonders starke Rechte in den Neuen Bundesländern ergeben sich<br />

aus der Geschichte des von 1949 bis 1989 zweigeteilten Deutschlands. So war die<br />

DDR – im Gegensatz zur BRD – von Anfang an von der Mentalität einer bedingungslosen<br />

Treue zum Vaterland geprägt, da der Osten Deutschlands kurz nach 1945<br />

erneut in eine Diktatur, eine sozialistische Diktatur, geriet 19 . So erzielte die NPD<br />

bei der Kommunalwahl in Mecklenburg-Vorpommern am 17. September 2006 ein<br />

Wahlergebnis von 7,3 % (59.674 Stimmen). Dieses Ergebnis erlaubte ihr den Einzug<br />

17 Vgl. Rüger, Felicia: Rechtsextremismus, 2001, S. 143.<br />

18 Vgl. Müller, Helmut M.: Schlaglichter der deutschen Geschichte. In: Bundeszentrale für<br />

politische Bildung (Hrsg.): Schriftenreihe (Band 402). Leipzig/Mannheim 2003, S. 376 f.<br />

(siehe gesamter Absatz).<br />

19 Vgl. Heitmeyer, Wilhelm: Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Empirische<br />

Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen Sozialisation.<br />

Weinheim/München 1995, S. 230.<br />

134 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

in den Schweriner Landtag 20 . Der Neonazismus lebt nach wie vor stark vom Feind-<br />

Prinzip. So stellen Neonazis heute beispielsweise die soziale Gruppe der Einwanderer<br />

<strong>als</strong> Verursacher für gesellschaftliche Konflikte (wie zum Beispiel eine hohe Arbeitslosenquote)<br />

dar 21 . Starke kollektive Identität steht nach wie vor im Vordergrund.<br />

Man identifiziert sich über sein „Deutsch-Sein“ in einer Art und Weise, die diesen<br />

Wesenszug über alles andere stellt. Diese Denkrichtung im Sinne einer „Integration<br />

durch Ausschluss“ 22 , auch <strong>als</strong> „Ethnozentrismus“ 23 bezeichnet, kann <strong>als</strong> Überfremdungsrhetorik<br />

zu den „Kernelementen“ jeder rechtsextrem-ethnozentrischen Propaganda<br />

gezählt werden: „Sie ist gleichermaßen in antisemitischen Pamphleten seit<br />

dem 19. Jahrhundert wie in zahlreichen rechtspopulistischen Bekundungen von heute<br />

enthalten“. Auch die Argumentation mit Hilfe des Sozialdarwinismus stellt nach<br />

wie vor einen großen Teil rechtsextremen Gedankenguts dar 24 .<br />

Als weitere zentrale Elemente des Rechtsextremismus müssen Aggressivität und<br />

Gewalt genannt werden. Zum Gewalt-Begriff kann zunächst allgemein festgehalten<br />

werden, dass sie <strong>als</strong> ein „Handeln von Individuen oder Gruppen, das auf andere Individuen,<br />

Gruppen oder Gegenstände auf destruktive Weise einwirkt“ 25 verstanden wird.<br />

Gewalt umfasst <strong>als</strong>o sowohl die verbale <strong>als</strong> auch die körperliche beziehungsweise<br />

materielle Destruktion. Sie wird auch <strong>als</strong> „ultimatives Mittel der Machtausübung im<br />

Rahmen einseitiger Über- oder Unterordnungsverhältnisse“ 26 aufgefasst. Gewalt setzt<br />

folglich eine auf Unverhältnismäßigkeit aufbauende soziale Verbindung voraus. Im<br />

Rechtsextremismus gilt Gewalt <strong>als</strong> im vornherein positiv besetzt. So wird sie, <strong>als</strong> Mittel<br />

zur Durchsetzung politischer Ziele, beispielsweise in neonazistischen Publikationsorganen,<br />

offen gerechtfertigt 27 .<br />

20 Vgl. http://www.bpb.de/themen/ZMQY70.html vom 27.09.06.<br />

21 Vgl. Inowlocki, Lena: Aus Familiengeschichte lernen? Zur Bedeutung und Geltung von<br />

„Herkunftswissen“ bei rechtsextremen Jugendlichen und Kindern von Arbeitsmigranten.<br />

Zwei Fallstudien. In: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Lieberz-Groß, Till (Hrsg.): „Erziehung<br />

nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische<br />

Annäherungen. Weinheim/München 2000, S. 67–86, S. 69.<br />

22 Heitmeyer, Wilhelm: Entsicherungen, Desintegrationsprozesse und Gewalt. In: Beck,<br />

Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in<br />

modernen Gesellschaften. Frankfurt/Main 1994, S. 376–401, S. 398.<br />

23 Heitmeyer, Wilhelm: Das Desintegrations-Theorem. Ein Erklärungsansatz zu fremdenfeindlich<br />

motivierter, rechtsextremer Gewalt und zur Lähmung gesellschaftlicher Institutionen.<br />

In: Ders. (Hrsg.): Das Gewalt-Dilemma. Frankfurt/Main 1994, S. 29–72, S. 31.<br />

24 Vgl. Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 19.<br />

25 Vgl. Kühnel, Wolfgang: Entstehungszusammenhänge von Gewalt bei Jugendlichen im<br />

Osten Deutschlands, 1994, S. 404.<br />

26 Vogel, 1989, S. 252, bei: Kühnel, Wolfgang: Entstehungszusammenhänge von Gewalt<br />

bei Jugendlichen im Osten Deutschlands, 1994, S. 404.<br />

27 Vgl. Maegerle, 2002, S. 160. So kann ein starker Anstieg von durchschnittlich circa 1300<br />

Dis | kurs 135


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Als ein weiterer bedeutender Faktor im Auftreten rechtsextremistischer Gruppierungen<br />

in der Öffentlichkeit gilt heute das Internet. So stellt es für Rechtsextreme eine<br />

Plattform zur Verbreitung ihrer Behauptungen dar und fungiert <strong>als</strong> Informationsund<br />

Schaltstelle für die Neonazi-Szene 28 . Auch ermöglicht das Internet eine schnelle<br />

Verbreitung von rechtsextremen Inhalten, zum Beispiel in Form von Gewaltvideos,<br />

Gewalt verherrlichender Musik mit fremdenfeindlichen Inhalten und Aufrufen zu<br />

Gewalttaten gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen 29 .<br />

Lange Zeit galten insbesondere die Anhänger aus so genannten „bildungsfernen“<br />

Schichten <strong>als</strong> empfänglich für rechtsextremes Gedankengut 30 . Doch heute ist auch<br />

das Phänomen zu beobachten, dass nicht nur Mitglieder der so genannten „bildungsfernen“<br />

Schichten die typischen Anhänger rechtsextremen Gedankenguts bilden. So<br />

verzeichnen rechtsextreme Parteien einen verstärkten Zulauf von Mitgliedern aus<br />

sich durch hohe Bildung auszeichnenden gesellschaftlichen Schichten, die äußerlich<br />

häufig nicht mehr <strong>als</strong> Rechte zu erkennen sind. Diese – vom Verfassungsschutz <strong>als</strong><br />

solche bezeichneten – „Wölfe im Schafspelz“ 31 folgen dem Prinzip der „kulturellen<br />

Subversion“, mit der sie das Ziel verfolgen, auf dem Weg durch die Institutionen<br />

maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft und somit die Kultur zu nehmen 32 . Hierbei<br />

bedienen sie sich einer Taktik, die darin besteht, Bürgernähe (zum Beispiel durch<br />

das Angebot von Kinderfesten und Sportturnieren) zu vermitteln und nicht durch<br />

einschlägige Symbole aufzufallen 33 .<br />

Straftaten jährlich in den 1980er Jahren auf durchschnittlich circa 4000 jährlich in den<br />

1990er Jahren verzeichnet werden (vgl. Willems, 2002, S. 145). „Die Zahl der Gewalttaten<br />

mit rechtsextremistischem Hintergrund (<strong>als</strong>o sowohl Gewalttaten gegen Fremde <strong>als</strong><br />

auch gegen Linke, jüdische Mitbürger und sonstige politische Gegner) hat sich von 624<br />

im Jahre 1996 auf 998 im Jahre 2000 und 980 im Jahre 2001 erhöht“ (BMI, 1999, S. 21;<br />

BMI, 2000; BMI, 2001, S. 35, bei: Willems, 2002, S. 145).<br />

28 Vgl. Parker, Klaus: Rechtsextremismus im Internet, 2002, S. 130.<br />

29 Vgl. ebd., S. 131. Folgende Zahlen für abrufbare Homepages mit rechtsextremen Inhalten<br />

liegen vor: Im Jahr 1996 waren es noch 32. Im Jahr 2000 existieren schon über 800 (vgl.<br />

Parker, 2002, S. 130). Auf diesen Homepages mit rechtsextremen Inhalten werden, <strong>als</strong><br />

Propaganda-Mittel, Hakenkreuze und SS-Runen verwendet, aber auch Tondateien mit<br />

volksverhetzender Zielrichtung veröffentlicht. Des Weiteren werden auf diesen Seiten die<br />

Opfer der NS-Diktatur verhöhnt und verächtlich dargestellt. Als weiteres Element ist die<br />

Leugnung von Völkermordhandlungen Nazi-Deutschlands zu nennen (vgl. ebd.).<br />

30 Vgl. Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche<br />

Straftaten in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe, 2002, S. 141.<br />

31 Ebd., S. 5.<br />

32 Vgl. Ramelsberger, Annette: Erkundungen in Ostdeutschland, 2005, S. 4 f. So ruft<br />

beispielsweise das Internetforum „Störtebeker-Netz“ die Rechtsextremisten dazu auf,<br />

sich <strong>als</strong> Schöffen zur Verfügung zu stellen, um dem „individuellen Rechtsempfinden“ einzelner<br />

Bürger im Rahmen eines Gerichtsbeschlusses Raum zu verleihen (vgl. ebd., S. 5).<br />

33 Vgl. Decker, Oliver/Brähler, Elmar: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, 2005,<br />

S. 16; vgl. Ramelsberger, Annette: Erkundungen in Ostdeutschland, 2005, S. 3 ff. (siehe<br />

136 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Des Weiteren sind in diesem Zusammenhang Gruppierungen zu nennen, die von einer<br />

Weltverschwörung ausgehen und rechtsextremistisches Gedankengut propagieren.<br />

Beispielhaft sei an dieser Stelle Lyndon LaRouche erwähnt. Zunächst war er Mitglied<br />

einer trotzkistischen Partei, zog sich dann jedoch vollkommen ins rechte Lager<br />

zurück. Seit dem Jahr 1976 kandidierte er bei allen US-Präsidentschaftswahlen. Ihm<br />

untersteht ein regelrechtes Finanzimperium. Er verbreitet seine Ideen sowohl in den<br />

USA <strong>als</strong> auch in Australien und Europa über Zeitschriften und Bücher. In Deutschland<br />

gründete er des Weiteren die Europäische Arbeiterpartei (EAP) 34 , welche vom<br />

Bundesverfassungsschutz beobachtet wurde. Zudem schuf er weitere Tarnorganisationen<br />

unter zahlreichen unterschiedlichen Namen. Im Jahr 1988 wurde er wegen Betrugs<br />

und Steuerhinterziehung in den USA zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt,<br />

doch bereits im Jahr 1994 entlassen 35 . In seinem Weltbild geht er davon aus, dass eine<br />

Verschwörung dunkler Mächte existiert, die in erster Linie von den Juden und jüdischen<br />

Banken geführt würden. Hierbei bedient er sich antisemitischer Parolen, welche<br />

bereits von den Nation<strong>als</strong>ozialisten eingesetzt wurden, indem sie vom westlichen<br />

Kapitalismus und den Regierungen in London und Washington <strong>als</strong> „Marionetten der<br />

vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung“ 36 sprachen 37 .<br />

Rechtsextremismus im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels<br />

Laut einer Aussage des Politologen Kurt Lenk ist insgesamt ein erstaunlich hoher<br />

Grad an Kontinuität in rechtsextremistischen Argumentationsmustern zu konstatieren.<br />

Dieses Zitat umschreibt deutlich, wie sehr der Rechtsextremismus nach wie<br />

vor von ganz bestimmten Elementen lebt, welche sich wie ein roter Faden durch die<br />

Geschichte des Rechtsextremismus ausgehend vom Nation<strong>als</strong>ozialismus ziehen, wie<br />

zum Beispiel dem Feind-Prinzip, einem „Antimodernismus“, welcher sich vor allem<br />

gegen kulturelle Phänomene richtet, einem „Anti-Intellektualismus“, von „Feindbildern“<br />

oder dem „Sozialdarwinismus“ 38 .<br />

gesamter Absatz).<br />

34 Die EAP tritt gegenwärtig unter dem Namen „Bürgerrechtsbewegung Neue Solidarität“<br />

oder „Patrioten für Deutschland“ vor allem im politischen Geschehen auf http://www.<br />

religio.de/politik/eap/eap.html, Stand: August 2001).<br />

35 Vgl. Gugenberger, Eduard/Petri, Franko/Schweidlenka, Roman: Weltverschwörungstheorien.<br />

Die neue Gefahr von rechts. Wien/München 1998, S. 142 f. (siehe alle Angaben<br />

zur Person LaRouche, bis auf vorherige Literaturangabe).<br />

36 Vgl. Longerich, Peter: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung<br />

1933–1945. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Schriftenreihe<br />

(Band 557). Bonn 2006, S. 160.<br />

37 Vgl. ebd.<br />

38 Vgl. Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, 2005, S. 21 (siehe gesamter<br />

Absatz).<br />

Dis | kurs 137


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Als heute hinzukommende neue Themen rechtsextremer Argumentation kann<br />

erstens die Krise des heutzutage in Deutschland (noch) bestehenden Sozi<strong>als</strong>taates<br />

genannt werden und ein sich hieraus ergebendes für rechtsextremes Gedankengut<br />

empfängliches Klima:<br />

„Die wirtschaftliche Krise und der strukturelle Umbau des Sozi<strong>als</strong>taats erfassen nun<br />

auch Schichten der Bevölkerung mit höherem Bildungsabschluss. Der bundesdeutsche<br />

Mittelstand ist von sozialen Deklassierungen bedroht, wie sie bisher in der Breite nur<br />

Angehörigen bildungsferner Schichten drohten.“ 39 Die aktuellen Umstrukturierungen,<br />

vor allem bezüglich des Sozi<strong>als</strong>taates, führen in ihren Augen zur zunehmenden „Deklassierung“<br />

vieler Angehöriger des deutschen Mittelstandes. Zum Ziel rechtsextremistischer<br />

Argumentation gehört es nun, diese „Modernisierungsverlierer“ 40 für sich<br />

zu gewinnen 41 .<br />

Als zweites für die rechtsextreme Argumentation relevantes Thema kann das Phänomen<br />

der Globalisierung und das aus ihr resultierende Spannungsfeld erwähnt werden:<br />

Die aus dem Prozess der Globalisierung folgende zunehmende internationale<br />

Konkurrenz und die sich hieraus bei vielen Menschen ergebende Angst bietet dem<br />

rechtsextremen Lager einen Raum zur Propagierung einer ihrer zentralen Forderungen:<br />

eine Begrenzung der Einwanderungsmöglichkeiten 42 . Als drittes (und eng mit<br />

dem Phänomen der Globalisierung zusammenhängendes) Thema kann die Erscheinung<br />

des Multikulturalismus genannt werden, welcher sich vor allem aus den Einwanderungsbewegungen<br />

in „reiche“ Industriestaaten (hier Deutschland) ergibt. Die<br />

von aus den unterschiedlichsten sozialen Bereichen stammenden Globalisierungsgegnern<br />

vorgenommene Kritik kann <strong>als</strong> viertes „neues Thema“ der Rechten genannt<br />

werden. Diese „antikapitalistische Globalisierungskritik und der Nahostkonflikt“<br />

stellen zusätzliche „Agitationsfelder und Bündnispartner“ für die rechtsextremistischen<br />

Gruppierungen dar, wobei der Antisemitismus die zentrale Rolle spielt. Das<br />

Judentum stellt folglich einen gemeinsamen Feind der Rechtsextremen und radikalen<br />

Moslems dar 43 . So stellen Rechtsextremisten die Globalisierung im Sinne eines<br />

„amerikanisch-israelitischen Weltherrschaftsanspruchs“ <strong>als</strong> „Amerikanisierung und<br />

Judaisierung“ dar.<br />

39 Decker, Oliver/Brähler, Elmar: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, 2005,<br />

S. 17.<br />

40 Loch, Dietmar: Die radikale Rechte in den westlichen Demokratien: „Geschlossen gegen<br />

die offene Gesellschaft“?, 2001, S. 467.<br />

41 Vgl. ebd.<br />

42 Vgl. Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche<br />

Straftaten in Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe, 2002, S. 155.<br />

43 Vgl. Bergmann, Werner: Antisemitismus im Rechtsextremismus, 2005, S. 27 f.<br />

138 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands in den Augen der<br />

Rechtsextremen<br />

In den Augen Rechtsextremer existieren in einer multikulturellen Gesellschaft drei<br />

zentrale Gefahren: Erstens resultiert die rechtsextreme Argumentation aus der Überzeugung,<br />

dass sie die nationale Identität durch die pluralistische Demokratie und das<br />

westliche Werteverständnis, welches vor allem <strong>als</strong> durch „das Besatzungsregime aufoktroyiertes<br />

Werteverständnis“ aufgefasst wird, gefährdet sieht. Mit der Bezeichnung<br />

des „durch das Besatzungsregime aufoktroyierten Werteverständnisses“ spielen die<br />

Rechtsextremisten auf die Situation Deutschlands kurz nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

an. Die westlichen Alliierten initiierten zur Formulierung einer Verfassung für<br />

Deutschland schließlich die Zusammenkunft des Parlamentarischen Rates. Das vom<br />

Parlamentarischen Rat verabschiedete Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland<br />

legt die Prinzipien, allen voran das Demokratie- und mir ihr das Rechts- und<br />

Sozi<strong>als</strong>taatlichkeitsprinzip, ferner das Föderalismusprinzip, fest.<br />

Auch fassen sie, <strong>als</strong> zweiten Kritikpunkt, die Globalisierung insofern <strong>als</strong> negativ auf,<br />

<strong>als</strong> dass in ihren Augen Zuwanderung und ethnische Minderheiten eine Bedrohung<br />

für die angestrebte „ethnische Homogenität“ darstellen. In rechtsextremistischen<br />

Kreisen versteht man die „Einwanderung der vergangenen Jahrzehnte und die multikulturelle<br />

Gesellschaft <strong>als</strong> ein von ‚Hintergrundkräften‘ gesteuertes Vorhaben zur<br />

Schwächung der ethnischen Substanz Deutschlands“. Folglich ist festzuhalten, dass<br />

sich Rechtsextreme in ihrer Argumentation auch des Instrumentes der Verschwörungstheorie<br />

bedienen. Gleichzeitig schaffen sie sich durch die Bezeichnung „Hintergrundkräfte“<br />

für die Suche nach einem Feind den nötigen Raum.<br />

Die mit den Erscheinungen der multikulturellen Gesellschaft einhergehende kritische<br />

Aufarbeitung der Geschichte des „Dritten Reiches“ stellt für Rechtsextremisten<br />

die dritte zentrale Gefahr dar. Für sie bedeutet diese kritische Aufarbeitung vor allem<br />

eine Entwertung der NS-Ideologie und die Verhinderung eines „positiven Selbstbildes“<br />

der Deutschen 44 .<br />

Ausblick<br />

Moderne Gesellschaften sind durch zunehmende Komplexität in Folge von Prozessen<br />

wie der Individualisierung und der Globalisierung geprägt. Das mit diesen Prozessen<br />

einhergehende Phänomen der Multikulturalität (<strong>als</strong> Ausdruck von Migration)<br />

prägt moderne Gesellschaften, wie die deutsche in hohem Maße. Das sich aus diesen<br />

Prozessen und Phänomenen ergebende Spannungsfeld führt in der Bevölkerung nun<br />

zu Ängsten und Konflikten unterschiedlichster Art. Extremistischen Gruppierungen,<br />

44 Vgl. Bergmann, Werner: Antisemitismus im Rechtsextremismus, 2005, S. 23 ff. (siehe<br />

gesamter Absatz).<br />

Dis | kurs 139


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

wie der rechtsextremen, ist eigen, sich dieser Ängste zu bedienen und sie für ihre Ziele<br />

– allen voran: den Umbruch des bestehenden Staates – zu instrumentalisieren. So<br />

nehmen die Rechtsextremisten bewusst massenwirksame Themen, wie die hohe Arbeitslosigkeit,<br />

zum Anlass, ein für dieses Phänomen in ihren Augen verantwortliches<br />

Feindbild zu entwerfen und somit niedere menschliche Instinkte anzusprechen.<br />

Den Rechtsextremismus zeichnen sowohl Kontinuitäten <strong>als</strong> auch völlig neue Erscheinungen<br />

aus. So lebt er nach wie vor von ganz bestimmten Elementen wie dem<br />

Prinzip des Feindbildes, der Gewalt, dem Fremdenhass und dem Antisemitismus.<br />

Eine neue Erscheinung des Rechtsextremismus ist beispielsweise die zunehmende<br />

Kooperation dieses mit internationalen terroristischen Vereinigungen (wie islamistischer<br />

Terror-Vereinigungen), die ein gemeinsames Feindbild, wie das Judentum,<br />

eint. Der Rechtsextremismus hat <strong>als</strong>o, angesichts der sich durch die Globalisierung<br />

verändernden Situation, neue Ausmaße beziehungsweise Qualitäten angenommen.<br />

Hierbei muss insbesondere die Stellung der Rechtsextremisten gegenüber den Erscheinungen<br />

der Globalisierung ins Auge gefasst werden, wobei sie in erster Linie ein<br />

Agitationsfeld zum „Ausleben“ ihres Antisemitismus sehen. In diesem Zusammenhang<br />

ist ferner das durch Rechtsextreme verwandte Instrument der Verschwörungstheorie<br />

mit zumeist antisemitischem Charakter zu erwähnen.<br />

Heute existieren eine Reihe von Gegebenheiten, die den Rechtsextremismus auch<br />

zukünftig <strong>als</strong> gefährlich für eine multikulturelle Gesellschaft (hier am Beispiel der<br />

deutschen) einstufen lassen. Hierbei kann zum Beispiel die hohe Arbeitslosigkeit<br />

und der absehbare Zusammenbruch (beziehungsweise die Neu-Definition) des gegenwärtig<br />

– noch – existierenden Sozi<strong>als</strong>taats in Deutschland, und der mit dieser<br />

Situation des sozialen Umbruchs gegebene Nährboden für verstärkten Zulauf für<br />

rechtsextremistische Parteien genannt werden.<br />

Auch bedeutet der Rechtsextremismus für multikulturelle Gesellschaften insofern<br />

eine Gefahr, <strong>als</strong> dass deren Anhänger alle Formen von Pluralismus und jede Art von<br />

konstruktivem „Wir-Gefühl“ in einer Gesellschaft verneinen. Somit bedienen sie sich<br />

des Instruments der Unterwanderung, wie in der eingangs erwähnten Warnung Adornos<br />

formuliert, indem sie <strong>als</strong> „Wölfe im Schafspelz“ die Gesellschaft unterwandern<br />

und den Menschen Antworten und Feindbilder präsentieren.<br />

Literatur<br />

Bergmann, Werner: Antisemitismus im Rechtsextremismus. In: Bundeszentrale für<br />

politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus (42/2005),<br />

S. 23–30.<br />

Decker, Oliver / Brähler, Elmar: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. In: Bundeszentrale<br />

für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus<br />

(42/2005), S. 8–17.<br />

Kühnel, Wolfgang: Entstehungszusammenhänge von Gewalt bei Jugendlichen im Osten<br />

140 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Deutschlands. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung<br />

in modernen Gesellschaften. Frankfurt am Main 1994, S. 402–418.<br />

Lenk, Kurt: Rechtsextreme „Argumentationsmuster“. In: Bundeszentrale für politische Bildung<br />

(Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus (42/2005), S. 17–22.<br />

Loch, Dietmar: Die radikale Rechte in den westlichen Demokratien: „Geschlossen“ gegen<br />

die „offene Gesellschaft“? In: Loch, Dietmar/Heitmeyer, Wilhelm, (Hrsg.): Schattenseiten der<br />

Globalisierung, Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in<br />

westlichen Demokratien. Frankfurt am Main 2001, S. 463–496.<br />

Maegerle, Anton: Rechtsextremistische Gewalt und Terror. In: Grumke, Thomas/Wagner,<br />

Bernd (Hrsg.): Handbuch Rechtsradikalismus, Personen – Organisationen – Netzwerke vom<br />

Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen 2002, S. 159–172.<br />

Neugebauer, Gero: Extremismus – Rechtsextremismus – Linksextremismus. Einige Anmerkungen<br />

zu Begriffen, Forschungskonzepten, Forschungsfragen und Forschungsergebnissen.<br />

In: Schubarth, Wilfried/Stöss, Richard (Hrsg.): Rechtsextremismus in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Eine Bilanz. Bundeszentrale für politische Bildung. Schriftenreihe (Band 368).<br />

Bonn 2000, S. 13–37.<br />

Parker, Klaus: Rechtsextremismus im Internet. In: Grumke, Thomas/Wagner, Bernd (Hrsg.):<br />

Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus<br />

bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen 2002, S. 129–140.<br />

Ramelsberger, Annette: Erkundungen in Ostdeutschland. In: Bundeszentrale für politische<br />

Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte. Rechtsextremismus (42/2005), S. 3–8.<br />

Rüger, Felicia: Rechtsextremismus. Zusammenhänge mit der aktuellen Lebenssituation in<br />

Deutschland. Europäische Hochschulschriften. Frankfurt am Main 2001.<br />

Willems, Helmut: Rechtsextremistische, antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten in<br />

Deutschland: Entwicklung, Strukturen, Hintergründe. In: Grumke, Thomas/Wagner, Bernd<br />

(Hrsg.): Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus<br />

bis in die Mitte der Gesellschaft. Opladen 2002, S. 141–158.<br />

Dis | kurs 141


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Öffentlicher Repräsentant – Repräsentant der<br />

Öffentlichkeit.<br />

Das Medium Herold in der ersten Hälfte des<br />

16. Jahrhunderts<br />

Nils Bock<br />

Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />

E-Mail: Nils-Bock@web.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Spätmittelalter, Symbolische Kommunikation, Herold, Öffentlichkeit<br />

Öffentlichkeit im Mittelalter war situationsabhängig. Im Gegensatz zur Öffentlichkeit<br />

der Moderne, bei der jedem einzelnen Bürger eine entscheidende Rolle zukommt,<br />

spricht man im Mittelalter von einer „okkasionellen Öffentlichkeit“. Dabei geht es<br />

um die situationsabhängige Präsenz bestimmter Personen, die durch „repräsentatives“<br />

Handeln die Öffentlichkeit bilden. Ihre Anwesenheit <strong>als</strong> „aktive“ Zeugen ermöglicht<br />

erst die politische Wirksamkeit des Vorgangs. 1 Man unterscheidet innerhalb<br />

der „okkasionellen Öffentlichkeit“ zwischen der „repräsentativen Öffentlichkeit“<br />

mit der exklusiven Partizipation der Herrschenden und der „repräsentierenden Öffentlichkeit“<br />

mit der Teilnahme größerer Kreise der Bevölkerung. Anlässe für das<br />

Zusammentreten von Öffentlichkeit waren vielfältig und erfolgten im Rahmen der<br />

kirchlichen Gemeinde, der Stadt oder der weltlichen Herrschaft. Innerhalb der „repräsentativen<br />

Öffentlichkeit“ der Herrschenden kam es dabei auf die Sichtbarmachung<br />

der Herrschaftsansprüche der Mächtigen an, wohingegen die Legitimation<br />

1 Thum, Bernd: Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von<br />

Öffentlichkeit im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert, in:<br />

Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. von Hedda Ragotzky und<br />

Horste Wenzel, Tübingen 1990, S. 66–70.<br />

142 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

der sozialen Herrschaftsordnung innerhalb der „repräsentierenden Öffentlichkeit“<br />

im Mittelpunkt stand. 2 Das wichtigste Kommunikationsmittel waren in diesem Zusammenhang<br />

Rituale und Zeremonien. Sie wurden bewusst geplant und entworfen<br />

und dienten der symbolischen Kommunikation. Gesten, Handlungen oder Rangordnungen<br />

haben eine symbolische Funktion, durch die Werte und Ordnungen aufgezeigt<br />

bzw. propagiert werden sollten. 3<br />

Eine wichtige Rolle kam dabei den Medien zu, welche die Rolle des Vermittlers<br />

übernahmen. Sie konnten auf Grund ihres spezifischen Zeichenvorrats in den Zeremonien<br />

durch symbolische Kommunikation Bedeutung herstellen und sie der<br />

Wahrnehmung des Gegenübers darbieten. Ein solches Medium war der Herold. Er<br />

entstammt zwar der ritterlich-höfischen Gesellschaft, konnte aber auch neben modernen<br />

Elementen wirken. 4 Dabei darf man ihn allerdings nicht <strong>als</strong> sinnentleertes,<br />

hohles Relikt einer alten Zeit betrachten, das mitgeschleift wurde, sondern <strong>als</strong> semantische<br />

Veränderung des Ursprünglichen. Seine Interaktion mit den modernen<br />

Elementen ermöglicht daher Rückschlüsse auf seine eigene Vitalität. Eine entscheidende<br />

Bedeutung spielen dabei die Herrschaften ‚des letzten Ritters‘ Maxmilian I.<br />

und des ‚Weltenherrschers‘ Karl V., in denen der Wertewandel zwischen Mittelalter<br />

und Früher Neuzeit statt gefunden haben soll. 5 Welchen Einfluss hatte dieser auf den<br />

Einsatz der Herolde? In einem ersten Abschnitt werde ich zunächst einmal darstellen<br />

auf welche Weise die Herolde in der Öffentlichkeit wirkten bzw. eingesetzt wurden.<br />

Danach werde ich der Frage nachgehen, welche Inhalte über den Herold ausgedrückt<br />

wurden und schließlich wie das Medium Herold zu Gunsten seines Herrn in Szene<br />

gesetzt wurde.<br />

Abgesehen von dem reichhaltigen Material der Zeremonieberichte und historiographischen<br />

Quellen, die im zweiten Teil Quellengrundlage sein werden, bietet auch<br />

die Lyrik und Epik interessante Ansatzpunkte. Da Kaiser Maximilian I. selber auch<br />

literarisch tätig war, ist es interessant zu beobachten, welche Funktionen und Platz er<br />

den Herolden in seinen Werken zu kommen lässt. Im Zentrum seiner literarischen<br />

Vorhaben stand das gedechtnus. Dieses sollte unter anderem durch die panegyrische<br />

Darstellung der eigenen Taten in Text und Bild der Nachwelt vermittelt werden. In<br />

diesem Punkt fand sich eine Übereinstimmung mit der humanistischen Vorstellung<br />

2 Schenk, Gerrit Jasper: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen<br />

Reich, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 59–61.<br />

3 Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt<br />

2003.<br />

4 Zur ritterlich-höfischen Gesellschaft siehe: Paravicini, Werner: Die Ritterlich-höfische<br />

Kultur des Mittelalters, München 1994.<br />

5 Vgl. Grün, Anastasius: Der letzte Ritter, München 1830 (Bibliothek der deutschen Literatur).<br />

Zum Wertewandel siehe: Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1969 10 .<br />

Dis | kurs 143


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

vom ewigen Nachruhm in den Werken der Dichter und Künstler. Diese gemeinsame<br />

Wirkungsintention der gedechtnus ist es auch, die eine vergleichende Untersuchung<br />

von unterschiedlichen Gattungstraditionen verhafteten Werken wie Teuerdank, Ehrenpforte,<br />

Magnamimus, Triumphzug rechtfertigt. 6 Für die vorliegende Arbeit werde<br />

ich exemplarisch an Hand des „Triumphzug“ und „Teuerdank“ die Figur des Herolds<br />

in den Werken Maximilians behandeln.<br />

Der „Triumphzug“ ist eine überdimensionale Allegorisierung des kaiserlichen Lebens.<br />

Wie beim antiken Triumphzug auch, so bot dieser Zug viel Platz zur Repräsentation.<br />

Er sollte die Erinnerung an den Hofstaat, das adelige Gefolge und die Verwandten<br />

Maxmilians festhalten sowie seine Überlegenheit in allen höfischen Bereichen rühmen.<br />

Des Weitern sollten die Länder seines Hauses, die Dynastie, die Siege sowie die<br />

Staatsakte für die Ewigkeit festgehalten werden. Dabei prägte allerdings die antike<br />

Form herrscherlicher Selbstdarstellung weder die Kostüme der Personen noch die<br />

Inhalte. Der römische Triumph diente <strong>als</strong> Rahmen zur Darstellung des Herrscherhauses<br />

und der res gestae Maximilians. 7 Über die Position der Herolde, in der von<br />

Maxmilian entworfenen Zugordnung, geben die Aufzeichnungen des kaiserlichen<br />

Geheimschriebers Marx Treitzsaurwein Auskunft:<br />

Reichs Trumeter<br />

Item darnach sollen ai guet Antzal Trumeter vnd paugker reiten mit des Reichs<br />

vanen an Iren Trumeten vnnd die lobkrenntzle aufhaben.<br />

Erholden<br />

Darnach sollen ain Antzal Erholden Reiten mit Iren Erholddrücken, vnn die lobkrenntzle<br />

aufhaben.<br />

Reichspanner<br />

Item darnach des Reichs paner solle Cristof zu Ross fueren im harnasch vnnd das<br />

lob krenntzle aufhaben, vnn solle der Adler mit dem zway heupten sein.<br />

Reichsswert<br />

Item darnach solle der Reichsmarschalk das swert zu Ross fueren, vnd das lob<br />

krenntzle aufhaben vnd kostlichen geklaidt sein.<br />

6 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft Maxmilian I. München 1982<br />

(Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 2), S. 80–95. „Gedechtnus“<br />

meint erstens liturgische memoria in religiösen Stiftungen und Gebetsdienst, zweitens<br />

die überhöhende Darstellung der eigenen Taten in Text und Bild für die Nachwelt, drittens<br />

geht es dabei um die Sicherung und Ergänzung historischer Überlieferung aller Art<br />

und viertens wird auch das Mäzenatentum <strong>als</strong> Ausdruck von gedächtnus angesehen, weil<br />

von Maximilian angeregt, das Reich und Kaisertum, die Dynastie sowie sein eigenes Bild<br />

ins Zentrum ihm gewidmeter Dichtung, Geschichtswerke, Editionen und Übersetzungen<br />

gestellt wird.<br />

7 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 150–153.<br />

144 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Kaisers Tryumpf Wagen 8<br />

(Es folgt eine Beschreibung des Triumphwagens)<br />

In diesem Zug gehen die Ernholde, eine volksethymologische Umformung des Lehnworts<br />

Erald (französisch für Herold), direkt vor dem Reichsbanner, dem Reichsschwert<br />

und dem kaiserlichen Triumphwagen. Da es sich dabei um einen erdachten<br />

Zug aus der Hand des Kaisers handelt, ist der Triumphzug auf seinen Vorstellungen<br />

in Reinform aufgebaut. Diese basieren auf Werten und Ordnungen, die in Symbolen<br />

repräsentiert sind. Das Reichsbanner ist das Hoheitszeichen und das Reichsschwert<br />

ist die symbolische Verkörperung der Macht, Stärke sowie Wehrhaftigkeit der Monarchie.<br />

Dabei drängt sich die Frage auch wofür die Herolde stehen und welche Werte<br />

durch ihre unmittelbare Nähe zum Kaiser ausgedrückt wurden. Des Weiteren ist auf<br />

den Kontrast zwischen Alt und Neu zu achten, der vor allem in der bildlichen Umsetzung<br />

deutlich wird. Während die Herolde und die Reichsinsignien noch ganz in<br />

der Tradition des Mittelalters stehen, erscheint der Kaiser <strong>als</strong> Renaissancefürst in der<br />

Tradition Cäsars auf seinem Triumphwagen.<br />

Im Gegensatz dazu versuchte sich Maxmilian im „Teuerdank“ ganz in der Tradition<br />

der ritterlichen Abenteuerfahrten darzustellen. 9 Der 1517 erstm<strong>als</strong> gedruckte und<br />

1519 öffentlich erschiene „Teuerdank“ ist ein Versepos, das die sogenannten Heldenbücher<br />

der ritterlich-höfischen Epik imitiert. Das Epos erzählt die ritterliche Werbungsfahrt<br />

des Helden Teuerdank zu Erenreich, der Tochter Romreichs. Einzig von<br />

seinem Ernhold begleitet besteht er 88 geferlicheiten, welche die drei verräterischen<br />

Hauptleute der Königin – Fürwittig, Unfallo und Neydelhart – aufgestellt haben.<br />

Nach weitern Kämpfen am Hof erringt er die Hand der Königin. Die drei Hauptleute<br />

werden angeklagt und hingerichtet. Die Hochzeit wird wegen eines bevorstehenden<br />

Kreuzzugs zunächst noch verschoben. Der letzte Holzschnitt zeigt Teuerdank auf<br />

8 Schestag, Franz: Kaiser Maximilian I. Triumph, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen<br />

Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, 1883, Bd. 1, S. 170. Der Triumphzug ist<br />

vom Kaiser selbstständig erdacht und von Marx Treitzsaurwein 1512 schriftlich fixiert<br />

worden. MS k.und k. Hofbibliothek Nr. 2835. Der Triumphzug sollte <strong>als</strong> Holzschnitt<br />

von 57 m Länge ausgeführt werden. 1515 wurden die Arbeiten am Holzschnitt von H.<br />

Burgkmair, A. Altdorfer, H. Springinklee, A. Dürer u. a. zwar aufgenommen, blieben aber<br />

unvollständig. Die fertigen Holzschnitte können in der Edition von Appuhn, Horst: Der<br />

Triumphzug Kaiser Maxmilians I. 1516–1518. 147 Holzschnitte von Albrecht Altdorfer,<br />

Hans Burgkmair, Albrecht Dürer u. a. Mit dem vom Kaiser Maximilian diktierten Programm<br />

und einem Nachwort von Horst Appuhn, Dortmund 1979, betrachtet werden.<br />

9 Die Erstausgabe von 1517 mit ihren 118 Holzschnitten ist <strong>als</strong> Facsimile-Ausgabe 1888<br />

erschienen; Maximilian I.: Der Theuerdank, hg. v. Simon Laschitzer, Wien 1888 (Jahrbuch<br />

der Kunsthistorischen Sammlung in Wien, 8). Weitere Ausgaben: Maximilian I.:<br />

Der Teuerdank, hg. v. Helga Unger, München 1968 (Die Fundgrube, 40) und Maximilian<br />

I.: Der Theuerdank, hg. v. Horst Appuhn, Dortmund 1979 (Die bibliophilen Taschenbücher,<br />

121).<br />

Dis | kurs 145


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

einem Rad oder Kranz aus Schwertern, was unter Einbezug des Titels des Kapitels<br />

<strong>als</strong> Bild für den Triumph des gluckhafftige Held über die Wechselfälle des Schicks<strong>als</strong><br />

steht. In Teuerdanks Ritterfahrt kommt letztlich die dignitas hominis zum Ausdruck,<br />

d.h. die Fähigkeit des Menschen mit Hilfe seiner ratio seine unvollkommende natürliche<br />

Ausstattung zu kompensieren und seine Platz an der Spitze der Schöpfung zu<br />

bewahren. 10 Begleitet wird der Held von seinem Ernhold, der auf fast allen der 118<br />

von Hans Schäufelein, Hans Burgkmair und Leonhard Beck gefertigten Holzschnitte<br />

am Rande zu sehen ist. Seine Aufgabe wird von Teuerdank am Anfang der Fahrt wie<br />

folgt definiert:<br />

Teuerdank sprach: Lieber Ernhold mein,<br />

Gueter und hochvertrauter Knecht,<br />

Vernimm diese meine Wort recht:<br />

Ein edle Künigin hat gesandt<br />

Iren Boten her in mein Land<br />

Und mich gar ser lassen bitten,<br />

Daß ich wöll kommen geritten<br />

Zů ir in ir Land an all Rast,<br />

Dann si von Herzen beger fast<br />

Mein zů der Ee dem Sakrament.<br />

Darumb so rüst dich zů behend,<br />

Wann du auf solcher Reis allein<br />

Mein getreuer Gefert můßt sein,<br />

Damit du künftig mügst darvon<br />

Ein wahrhaftig Kundschaft ton.<br />

Der Erenhold im Antwort gab:<br />

Herr, darumb ich den Namen hab,<br />

Daß ich eins jeden erlich Tat<br />

Soll offenwaren fru und spat,<br />

Und strafen seer in allen Land<br />

Laster, Untugend und die Schand;<br />

Dann alles in der Welt zergeet<br />

Ausgenommen die Eer beleibt steet. 11<br />

Ernhold soll <strong>als</strong> Augenzeuge die Fahrt begleiten und von den Taten berichten. Der<br />

Wahrheit durch seinen Namen verpflichtet, bürgt er öffentlich für die Richtigkeit der<br />

Ereignisse, welche den Ruhm des Helden steigern. Er nimmt an der Handlung teil<br />

10 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 129.<br />

11 Maximilian, Teuerdank, Kap. 11.<br />

146 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

und ist doch nicht aktiv handelnde Person. Der Herold ist Zeuge des Geschehens<br />

und stellt erst durch seine Anwesenheit die nötige Öffentlichkeit zur Anerkennung<br />

des ritterlichen Verhaltens Teuerdanks her. 12 Des Weiteren ist Ernhold <strong>als</strong> Repräsentant<br />

seines Herrn mit dem Wappenrock bekleidet, auf dem das Rad der Fortuna<br />

abgebildet ist, wodurch die Herrschaft Teuerdanks über das Glück <strong>als</strong> domitor fortunae<br />

zum Ausdruck kommt. Seine Auserwähltheit und das glückliche Ende seiner<br />

Fahrt wird dem Leser bzw. viel mehr dem Betrachter der Holzschnitte während des<br />

gesamten Abenteuers in der Person Ernholds illustriert. 13<br />

Der in beiden Werken zu beobachtende diametrale Gegensatz der Funktionen der<br />

Herolde – Akteur/Beobachter – ist dagegen weder der Gattung noch dem Stil des<br />

Arbeit geschuldet, sondern ist Resultat der Entwicklung des Heroldsamtes, auf die<br />

nun eingegangen werden soll.<br />

Der Ursprung des Heroldswesens liegt in der sich herausbildenden Turnierkultur des<br />

Hohen Mittelalters und den aufkommenden heraldischen Gewohnheiten. Diese bildeten<br />

den Ausgangspunkt für die Genese der Herolde aus der Gruppe der fahrenden<br />

Leute. Die Herolde konnten die einzelnen Kämpfer anhand ihrer Wappen und Zeichen<br />

erkennen. Ihr Spezialwissen erwarben sie durch Erfahrung der verschiedensten<br />

Turniere in Europa, die sie zum Bestreiten ihres Unterhaltes besuchten. Sie wurden<br />

im deutschsprachigen Bereich knappen von den wâpen genannt. Neben der Kenntnis<br />

der Wappen und Namen konnten die so Bezeichneten auch die bisherigen Taten und<br />

Erfolge der einzelnen Kämpfer zum Besten geben und ihre Ehre und Würde preisen.<br />

Doch auch die Vergehen und Bosheiten sollten dabei nicht vergessen werden und<br />

wurden in Schmähliedern bestraft. Vor allem auf die Sieger der Turniere dichteten<br />

sie Lobeshymnen und baten so mit den anderen Fahrenden um Geschenke, die diese<br />

wiederum in ihrer Freigiebigkeit gern gaben. 14<br />

Ab dem 14. Jahrhundert veränderte sich die Situation grundlegend, <strong>als</strong> ein Teil der<br />

Herolde in ein festes Dienstverhältnis an fürstlichen Höfen gelangten. Dies förderte<br />

ihre Integration in das höfische Leben. Ausdruck ihres Dienstverhältnisses waren<br />

ihre eigene Amtskleidung und ihre signifikanten Amtsnamen. Der Wappenrock<br />

ihres Herrn und ihr Dienstname dienen immer noch der Identifizierung des Herolds.<br />

Der Dienstname nahm meistens auf eine Herrschaft des Herrn (z. B. Gelre/<br />

Gueldre, Bretagne oder Teutschland), später aber auch auf den Ritterorden, dem sie<br />

12 Zur weiteren Funktion des Ernholds und der „clavis“, vgl. Strohschneider, Peter: Ritterromantische<br />

Versepik im ausgehenden Mittelalter, Frankfurt a. M. (u. a.) 1986 (Mikrokosmos.<br />

Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung, 14), S. 411–413.<br />

13 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 129.<br />

14 Vgl. Conrad von Würzburg (1230–1287), Turnei von Nantheiz, in: Gustav A. Seyler,<br />

Geschichte der Heraldik (Wappenwesen, Wappenkunst, Wappenwissenschaft), Nürnberg<br />

1885/90 (ND 1970) (J. Siebmacher's großes Wappenbuch, Bd. A), S. 24.<br />

Dis | kurs 147


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

dienten (Garter, Toison d'Or), Bezug. Sie avancierten dadurch zu unbestreitbaren<br />

Repräsentanten ihrer Herren. Gleichzeitig kam es zu einer Erweiterung ihres Aufgabenspektrums.<br />

Während des Turniers nahmen der Wappenkönig, die Herolde und<br />

Presevanten zentrale Funktionen bei Zeremoniell und Ablauf, wie bei der Überwachung<br />

des regelhaften (und ehrenhaften) Verhaltens der Kämpfenden ein. Darüber<br />

hinaus erfuhr ihr Aufgabenspektrum eine Erweiterung <strong>als</strong> Boten bzw. später auch<br />

<strong>als</strong> Diplomaten sowie am Hof bei Zeremonien und Unterhaltungen. Des Weiteren<br />

begannen sie auch im Kriegswesen, verschieden Aufgaben zu übernehmen. Sie wurden<br />

eingesetzt, um feindliche Truppenteile anhand ihrer Zeichen zu erkennen, um<br />

Gefangene und Tote zu identifizieren oder um im Vorfeld oder Anschluss an kriegerische<br />

Handlungen <strong>als</strong> Boten und Unterhändler zu fungieren. Dazu waren sie durch<br />

die ihnen zustehende Immunität, d.h. die Unantastbarkeit ihrer Person, besonders<br />

geeignet, auf die ich am Beispiel von Caspar Sturm nochm<strong>als</strong> eingehen werde. Völlig<br />

losgelöst vom Krieg wurde auf ihre Botendienst auch in Friedenszeiten zurückgegriffen,<br />

die ganz ihrer hohen Reisetätigkeit, der Kenntnis der Höfe und des fremden<br />

Adels sowie ihrer Fremdsprachenkenntnisse entsprach.<br />

Ihre literarische Tätigkeit führten die Herolde auch im Folgenden in sogenannten<br />

Ehrenreden fort, welche die tugendhaften Taten und das ritterliche Verhalten verstorbener<br />

Herren priesen und anmahnten. Doch auch das verurteilenswürdige Verhalten<br />

wurde publik gemacht. Fast immer erwähnten sie hierbei auch in ausführlicher Weise<br />

die Wappen und Zeichen der genannten Personen. Die Beschreibung der Wappen<br />

darf jedoch nicht <strong>als</strong> Selbstzweck, sondern muss <strong>als</strong> Ausdruck für die Wahrung der<br />

Einheit von Herrn und Wappen verstanden werden, ohne die das Wappen <strong>als</strong> Repräsentant<br />

von Person und Familie seine Bedeutung verlieren würde. 15<br />

Im Laufe des 15. Jahrhunderts kennt man zur Bezeichnung der Herolde in Deutschland<br />

eine Reihe verschiedenster Begrifflichkeiten: kondiger der wapen, wapen genoiss,<br />

perssofandt, heralt, Ernholdt, Ernknecht, u.v.m. Der in deutschen Quellen häufig verwendete<br />

Begriff Ernhold ist eine am Anfang des 15. Jahrhunderts entstandene volksetymologische<br />

Umbildung des Lehnwortes Erald. Die erste Silbe Ern- steht für Ehre,<br />

15 Eine erste Materi<strong>als</strong>ammlung zur literarischen Tätigkeit der Herolde findet sich für den<br />

deutschsprachigen Raum bei Seyler, Gustav A.: Geschichte der Heraldik (Wappenwesen,<br />

Wappenkunst, Wappenwissenschaft), Nürnberg 1885/90 (ND 1970) (J. Siebmacher's<br />

großes Wappenbuch, Bd. A), S. 25–37 und Berchem, Egon v.: Die Herolde und ihre<br />

Beziehungen zum Wappenwesen. Eine vorläufige Materi<strong>als</strong>ammlung zur Geschichte<br />

des Heroldswesens, in: ders./D. L. Galbreath/Otto Hupp, Beiträge zur Geschichte der<br />

Heraldik, Berlin 1939 (ND Neustadt/Aisch 1972) (J. Siebmacher's großes Wappenbuch,<br />

Band D), S. 113–183. Siehe außerdem Hiltmann, Torsten: Zwischen Heroldsamt und<br />

Adel. Die Kompendien des office d'armes im französischen und burgundischen Spätmittelalter,<br />

München 2009 (Diss.), S. 19–20. Eine umfassende Sammlung der literarischen<br />

Werke der Herolde wird das Projekt „Heraudica“ bieten.<br />

148 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

wohingegen die zweite Silbe –hold für Freund oder Diener steht. 16 Der Ernhold/<br />

Erald ist <strong>als</strong>o ein Diener der Ehre, ein Ernknecht. Zusammenfassend lassen sich zwei<br />

Schlüsselwörtern aus den Heroldsbegriffen extrahieren: Ehre 17 und Wappen. Beide<br />

Begriffe sind für das Amt der Herolde von zentraler Bedeutung, was auch in der Forschung<br />

seinen Ausdruck findet.<br />

Lag der erste Schwerpunkt der Forschung auf den Wappen und der Heraldik, so hat<br />

die Forschung in letzter Zeit den Ehrbegriff ins Zentrum ihrer Arbeiten gesetzt. Ein<br />

Durchbruch im Verständnis der Herolde gelang Werner Paravicini und Gert Melville<br />

in ihren Arbeiten, in denen sie aufzeigen konnten, dass die „Essenz der Tätigkeit“ der<br />

Herolde und damit das verbindende Element zwischen ihren vielfältigen Aufgaben<br />

in der Zuweisung und Kommunikation von Ansehen und Ehre lag. 18 Darauf aufbauend<br />

entwickelte Torsten Hiltmann den Schlüssel zur Erfassung des Amtes, der nicht<br />

der Dienst an der adeligen Ehre, sondern die Verpflichtung zur Loyalität gegenüber<br />

dem Adel und zur Ehre bildet. Greifbar wird sie im Amtsschwur, den jeder Herold<br />

bei seiner Ernennung zu leisten hatte. 19 Wie bei vielen anderen Phänomenen auch<br />

tritt dieser Zusammenhang in der Spätphase der Entwicklung des Heroldsamts am<br />

deutlichsten hervor. Eine Vorstellung davon vermittelt die Bestallungsurkunde des<br />

Herolds Teutschland, Caspar Sturm von 1520. Nach der Auflistung der Herrschaftstitel<br />

Karls V. heißt es dort: 20<br />

Bekennen offentlich mit disem brieff/unnd thun kundt aller mengklich. Als weylandt<br />

unser vorfarn am Reich Römische Keyser unnd künig loblicher gedechtniß biß auff<br />

unß erber verstendig und geschickte personen zu Erenhold gehebt/und gebraucht<br />

die den Standt des adels und der wapens gnossen/so auß erberkeyten/tugend/guten<br />

wercken und thatten herfliessen underhalten und an dere reytzen und bewegen sich<br />

des selbigen standts auch wirdig und teylhafftig zumachen und daransein/das die<br />

16 Vgl. ‚Ernhold‘, in: Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Neubearbeitung<br />

hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie<br />

der Wissenschaften zu Göttingen, Band 7, Stuttgart/Leipzig 1993, Sp. 218 f.<br />

17 Zum Begriff der Ehre: Zunkel, Friedrich, Art.: Ehre, Reputation, in: GG, 2, S. 1–63.<br />

18 Siehe hierzu u. a. Paravicini, Werner: Kultur, S. 77–85; Melville, Gert: Hérauts et héros,<br />

in: Heinz Duchhardt (Hg.): European Monarchy. Its Evolution and Practice from Roman<br />

Antiquity to Modern Times, Stuttgart 1992, S. 81–97 und Melville, Gert: „Un bel office“.<br />

Zum Heroldswesen in der spätmittelalterlichen Welt des Adels, der Höfe und der Fürsten,<br />

in: P. Moraw (Hg.): Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter<br />

(Vorträge und Forschungen, Bd. XLVIII), Stuttgart 2002, S. 291–321.<br />

19 Hiltmann, Torsten: Vieux chevaliers, pucelles, anges, in: Revue du Nord 88, 2006,<br />

S. 503–525.<br />

20 Sturm, Caspar: Eyn kurtzer begriff, 1524. Erstm<strong>als</strong> veröffentlicht durch: Clemen, Otto:<br />

Eine unbekannte Schrift des Herolds Kaspar Strum, in: O. Clemen: Beiträge zur Reformationsgeschichte<br />

aus Büchern und Handschriften der Zwickauer Ratsschulbibliothek,<br />

3. <strong>Heft</strong>, Berlin 1903, S. 1–4.<br />

Dis | kurs 149


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

ere unnd zierd des Adels nit verletzt/sunder gemeret und die laster und mißbreuch<br />

außgereütet werden. […]<br />

Zusammenfassend lässt sich <strong>als</strong>o sagen, dass die Herolde sich dem Adel und der Ehre<br />

gegenüber loyal verhalten sollten, damit sie nicht verletzt, sondern gemehrt werde.<br />

Laster und Missbräuche sollten angezeigt werden, um ihnen zu begegnen und sie<br />

zu beheben. Das Loyalitätsbekenntnis der Herolde in ihren Amtseiden war die Eintrittskarte<br />

in die ritterlich-höfischen Gesellschaft und die Voraussetzung für die Erweiterung<br />

ihres Aufgabenspektrums. Der erwähnte Ernhold Caspar Sturm wächst<br />

zwar unter der Herrschaft Maximilians in der Kurpfalz auf, wird aber erst, wie oben<br />

gesehen, unter Maxmilians Nachfolger Karl V. 1520 zum Ernhold Teutschland erhoben.<br />

21 In seiner Arbeit bleibt er den von Maximilian geschaffenen Strukturen treu,<br />

was vor allem in seinen literarischen Werken deutlich hervortritt. Von sind so gut<br />

unterrichtet, weil er seine Werke mithilfe des Buchdrucks vervielfältigen ließ. Ganz<br />

in der Tradition des Amtes legte Caspar Sturm Zeugnis ab über die großen Taten<br />

seiner Zeit, wobei er sich sensibel für den Wertungswandel der berichtenswerten<br />

Ereignisse zeigte. Der Bericht über den Kriegszug Trier, Hessens und der Pfalz gegen<br />

Franz von Sickingen im Jahre 1523 gehört zwar dem gängigen Thema der Kriegszugsdarstellungen<br />

an, weist aber mit seinem einfachen annalistischen Stil kaum noch<br />

Ähnlichkeit mit jenen des Peter Suchenwirt, welcher der bekannteste Autor der oben<br />

erwähnten Ehrenreden des 14. Jahrhunderts war. Die in den Ehrenreden integrierten<br />

Wappenbeschreibungen fehlen. Dieses „klassische Feld“ der Heroldsliteratur handelte<br />

Caspar Sturm in seinem Wappenbuch ab, auf das er lange Zeit in der Forschung<br />

reduziert wurde. 22 Ein neues literarisches Betätigungsfeld stellten die Berichte der<br />

Reichstage dar. Diese in den Jahren nach 1470 entstandene Institution ordnete das<br />

Verhältnis von Fürsten und König neu und schuf ein weiteres Forum ‚öffentlichem<br />

Interesses‘. 23 Die Herolde nahmen <strong>als</strong> Zeugen teil und verfassten Berichte. Der erste<br />

bekannte Reichstagsbericht eines Herolds stammt von Jörg Brandenburg über die<br />

Versammlung von 1505 in Köln. 24 Caspar Sturm verfasst selber vier kleine Schriften<br />

21 Zu Caspar Sturm siehe: Kolde, Theodor: Der Reichsherold Caspar Sturm und seine<br />

literarische Tätigkeit, in: Archiv für Reformationsgeschichte 4, 1906/07, S. 117–160;<br />

Bartelmeß, Albert: Der Reichsherold Caspar Sturm und Nürnberg, in: Mitteilungen des<br />

Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 69 (1982), S. 185–195.<br />

22 Arndt, Jürgen (Hg.), Das Wappenbuch des Reichsherolds Caspar Sturm, bearb. v. J.<br />

Arndt, mit Beiträgen von H. Angermeier u. a., Neustadt a. d. Aisch 1984.<br />

23 Zum anachronistischen Gebrauch moderner Ausdrücke, siehe: Moos, Peter v.: ‚Öffentlich‘<br />

und ‚privat‘ im Mittelalter: zu einem Problem historischer Begriffsbildung, in: Gert<br />

Melville und Peter von Moos (Hg.): Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln,<br />

Weimar, Wien 1998 (Norm und Struktur, 10), S. 1–83.<br />

24 Brandenburg, Jörg: Beschreibung des Reichstages zu Collen im Jahre 1505, in: D. H.<br />

Chr. Senckenberg: Sammlung ungedruckter=rarer Schriften, Frankfurt a. M. 1745, Bd. I,<br />

150 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

über den Augsburger Reichstag von 1530, 25 in denen es neben den Tätigkeiten Kaiser<br />

Karls V., auch um „klassische“ Themen wie Teilnehmerverzeichnisse, Zeremonien,<br />

Adelserhebungen und Belehnungen ging. 26 Und für den Fall, dass jenem diese Büchlein<br />

nicht zugekommen seien, hat er zusätzlich auf Befehl des Kaisers, zusammen<br />

mit einem weitern Herold, genannt Burgundia, und einem Persevanten aus Hispania<br />

sowie acht kaiserlichen Trompetern in der Stadt Augsburg ein kaiserliches Edikt verkündet.<br />

27 Obgleich sich die Herolde schon früh dem schriftlichen Medium und später<br />

dem Buchdruck zu eigenen gemacht haben, zeigt sich, dass die Herolde auch im<br />

16. Jahrhundert immer noch mit dem traditionellen mündlichen Ausruf das größte<br />

Publikum erreichten.<br />

Die Herolde und insbesondere Caspar Sturm verbindet in ihrer literarischen Tätigkeit<br />

ihr Anspruch auf eine wahrheitsgemäße Darstellung, so wie es ihr Amtseid<br />

von ihnen verlangt. Sie nehmen <strong>als</strong> Zeugen und Berichterstatter an Zeremonien teil<br />

und repräsentieren die „Öffentlichkeit“. Vorraussetzung für die mediale Funktion<br />

der Herolde bilden zum einen der Amtsschwur sowie das damit verbundenen Loyalitätsbekenntnis<br />

und zum anderen die Entpersonalisierung und ihre symbolische<br />

Aufladung durch Stab, Amtsnamen und Wappenrock. Diese Elemente kennzeichnen<br />

sie sowohl <strong>als</strong> Inhaber des Heroldsamts <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Repräsentanten ihres Herren und<br />

seiner Herrschaften. So mit einem Schlüssel für das Verständnis des Heroldsamts<br />

ausgestattet, komme ich nun auf die anfänglich gestellte Frage zurück, welche Inhalte<br />

durch den Herold ausgedrückt werden. Als erstes Beispiel hatte ich den Triumphzug<br />

Maximilians I. angeführt. Die oben erwähnte Textstelle beschreibt zwar die Position<br />

der Ernholde innerhalb des Zugs, ohne aber eine weitere Beschreibung ihrer zu<br />

geben. Dafür waren die Holzschnitte vorgesehen. Auf ihnen sieht man 6 Reihen à 5<br />

Herolde mit den Wappenröcken der habsburgischen Erbländer. 28 Sie bilden die Basis<br />

für die habsburgische Herrschaft im Reich, welche durch das nachfolgenden Reichsbanner<br />

und -schwert repräsentiert wird. Die Anordnung setzt die Herrschaftsgrund-<br />

S. 157 f. Zur offiziellen Reichstagspublizistik siehe, Müller, Jan-Dirk: Publizistik unter<br />

Maximilian I., in: Ute Frevert und Wolfgang Braungart: Sprachen des Politischen. Medien<br />

und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, S. 110–119.<br />

25 Aus der Widmung des Berichts über die Augsburger Tagung an Christoph Eschenfeller<br />

(Eschenfelder) vom 4. November 1530; vgl. Sturm, Caspar: Wiewol hieuor in dreyen<br />

vnderschidlichen buchlein beschriben, vnd im Truck ausgangen, Wie die Rö. Kai. Maie.<br />

Von Inszpruck ausz, zu Schwatz, München, vnd volgends auff angesetzten Reichstag,<br />

Anno etc. 1530. zu Augspurg eingeritten […], Augsburg 1530.<br />

26 Seine bekannteste Schrift ist aber wahrscheinlich eine Flugschrift über Luthers Verhör<br />

auf dem Reichstag zu Worms 1521.<br />

27 Kolde, Theodor: Kaspar Sturm, S. 136 f.<br />

28 Appuhn, Horst: Triumphzug, Nr. 118–120. Über die tatsächliche Zahl der Herolde im<br />

Dienste der Habsburger kann derzeit keine genaue Angabe gemacht werden. Auch hier<br />

müsse weitere Untersuchungen Klarheit bringen.<br />

Dis | kurs 151


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

lage des Königs im Reich anschaulich in Szene. Während der Herrschaft Maximilians<br />

mangelte es nicht an Ereignissen, die einen Rahmen für einen realen Einzug boten.<br />

Die Einzugsordnung, um das schon vorwegzunehmen, bestätigt die Komposition<br />

des fiktiven Zugs. Als erstes Beispiel biete sich der feierliche Einzug Maximilians in<br />

Gent am 18. August 1477 im Zuge seiner Vermählung mit Maria von Burgund an.<br />

Laut der Darstellung von Johann Jakob Fugger hätten sich vor dem Schwertträger<br />

und Maximilian neun Herolde der österreichischen Erbländer sowie die Herolde der<br />

burgundischen Lande befunden. 29 Sinnfälliger konnte die Fusionierung der Herrschaften<br />

nicht dargestellt werden. 30 Über die Krönung Maximilians 1486 in Aachen<br />

liegen mehrere Berichte vor. Es wird berichtet, dass Kaiser Friedrich III. seinen Sohn<br />

an die Hand genommen und ihn in den Dom zu Aachen geführt habe. Vor ihnen<br />

sollen mehrere Herolde in ihren Wappenröcken marschiert sein. Während der Krönungsfeier<br />

hätten die Herolde begleitet von den Trompeten nach dem Te Deum laut:<br />

„Es lebe der römische König!“ ausgerufen. Diese laute Akklamation der Herrschaftsantritt<br />

soll die Teilnehmer, laut Jean Molinet, tief bewegt und zum Weinen gebracht<br />

haben. 31 Nach der Krönung wurde der König ins Rathaus zum Festmahl geleitet. Ein<br />

Teil der Herolde habe sich, laut Aussage der Quellen, zusammen mit den Trompetern<br />

vor der Gruppe um den König befunden. Zu dieser Gruppe habe auch der Wappenkönig<br />

Romreich gehört, der direkt vor dem Reichsapfel, getragen vom Pfalzgrafen,<br />

und dem Reichsschwert, geführt von Herzog Ernst von Sachsen, marschiert sei. 32<br />

Auch hier wird eine unmittelbare Nähe der Reichssymbole hergestellt. Allerdings<br />

findet eine Teilung zwischen den wahrscheinlich landesherrschaftlichen Herolden<br />

auf der einen und dem Reichsherold auf der anderen Seite statt. In einer umfassen-<br />

29 Fugger, Johann Jacob: Spiegel der Ehren des höchstlöblichsten kayser und könglichen<br />

Erzhauses Oesterreich, oder ausführliche Geschicht-Schrift von desselben…, hg. v. Sigmund<br />

Birken, Nürnberg 1668, Buch V, Chap. XXVI, S. 856–857.<br />

30 Wie die Herrschaft so gehen auch die Herolde in den Besitz Maximilians über. Augenfälliger<br />

Ausdruck des Wechsels ist die Auszahlung der „gages“ im Namen Maximilians;<br />

siehe beispielweise die „écrous des gages de l'hôtel de Maximilien de Habsbourg“ (Lille,<br />

Archiv du Nord, B 3442–3449).<br />

31 Molinet, Jean: Chroniques, t. I, chap. CXXIX, S. 491 und 505–511 sowie Eyb, Ludwig v.<br />

der Ältere: Mein Buch, hg. v. Matthias Thumser, Neustadt/Aisch 2002, nr. 25, S. 428–<br />

430. Ludwig von Eyb der Ältere erwähnt im Anschluss in seiner langen Beschreibung<br />

des Krönungsakt leider keinen einzigen Herold: Eyb, Ludwig v. der Ältere: Mein Buch,<br />

nr. 25, S. 430–434.<br />

32 Eyb, Ludwig v. der Ältere: Mein Buch, nr. 25, p. 435–443; Fugger, Johann Jacob,<br />

Spiegel, Buch V, Chap. XXXIII, S. 955; Freher, Marquard: Rerum Germanorum Scriptores,<br />

Straßburg 1717, Bd. 3, S. 32; Huyskens, Albert: Die Krönung Maximilians I. in<br />

Aachen 1486 nach einem noch unbekannten Frühdruck (mit einer Tafel Krönungsmahl<br />

von 1562), in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 64/65, 1951/52, S. 91–92 und<br />

Hebeisen, Gustav: Eine unbekannte Handschrift über die Königskrönung Maximilians<br />

I. im Jahre 1486, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde in<br />

Hohenzollern 51 (1917/18), S. 43–44.<br />

152 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

deren Arbeit müsste untersucht werden, inwieweit auch im Dienstverhältnis eine<br />

Trennung zwischen Reichsherold und Territorialherolden des Kaisers bzw. König zu<br />

finden ist.Anschließend hätten die Herolde ebenfalls am Mahl teil, in dessen Anschluss<br />

ein Herold gefragt habe, wer zum Ritter geschlagen zu werden begehre. 33 Für<br />

die Zeit Karls V. möchte ich zwei Beispiele anführen, nämlich seine Krönung zum<br />

Römischen König in Aachen 1520 und zum Kaiser in Bologna 1530. Beim Einzug<br />

Karls in Aachen 1520 anlässlich seiner Königskrönung seien die königlichen Knaben<br />

voraus gegangen, gefolgt von Trompetern und Heerpaukern sowie sechs Persevanten,<br />

die goldene Münzen unter das Volk wurfen. Als nächstes sei ein Herold im Wappenrock<br />

und mit dem Heroldsstab, der von einem Adler bekrönt wurde, marschiert,<br />

bei dem es sich um Romreich handeln müsste. Auf ihn seien die Reichs- und Kurfürsten,<br />

das Reichsschwert und Karl V. gefolgt. 34 Das Festmahl im Rathaus sei durch<br />

den Einzug von Pfeiffern und Posaunenbläser sowie Herolde eröffnet worden, unter<br />

denen sich auch der englische Herold befunden habe. 35 Caspar Sturm nahm <strong>als</strong> Teil<br />

der Mainzer Delegation ebenfalls an der Krönung teil, in dessen Anschluss er zum<br />

Wappenkönig Teutschland erhoben wurde. Ein Krönungsbericht aus seiner Feder ist<br />

zwar nicht überliefert, könnte aber mit Hinweis auf sein überliefertes Œuvre von ihm<br />

verfasst worden sein. 36 Bei der Kaiserkrönung in Bologna 1530 kann die Einheit von<br />

Herold, Reichsinsignien und Herrscher wieder beobachtet werden. In den Quellen<br />

wird berichtet, dass beim Einzug in die Stadt vor Karl V. vier Herolde und mehrere<br />

spanische sowie italienische Edelleuten marschiert seien, welche den Streitkolben,<br />

das Zepter, die Krone, den Apfel und das Schwert vorangetragen hätten. 37 Beim folgenden<br />

Einzug in die Kirche seien die vier Herolde direkt auf die Edelleute und Karl<br />

V. gefolgt. 38 Die Einheit der Herolde und der Reichsinsignien tritt klar hervor. Die<br />

Amtsnamen der vier Herolde werden leider nicht erwähnt. Lediglich die Anwesenheit<br />

des Wappenkönigs Bourgogne/Burgund ist durch einen Beleg im Reisetagebuch<br />

Karls V. gesichert. 39 Idealerweise würde man sich eine Repräsentation aller Herr-<br />

33 Huyskens, Albert: Krönung Maximilians I., S. 94–96; Freher, Marquard: Rerum German.<br />

Scriptores, S. 40 f. und Eyb, Ludwig v. der Ältere: Mein Buch, nr. 25, S. 435–443.<br />

34 Fromm, Emil: Zeitgenössische Berichte über Einzug und Krönung Karls V. in Aachen, in:<br />

Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 17, 1895, S. 225–235.<br />

35 Maurus, Hartmann: Coronatio Caroli V. caesaris aug. apud Aquisgranum, hg. v. Kaemmerer:<br />

Die Aachener Königs-Krönungen, Brimberg 1961 (Quellentexte zur Aachener<br />

Geschichte, 3), p. 92–95.<br />

36 Kolde, Theodor: Caspar Sturm, S. 121, Fußnote 1.<br />

37 Schnitt, Konrad: Die Kaiserkrönung von Bologna (1530), hg. v. Bernoulli, August: Basler<br />

Chroniken, Leipzig 1902, Bd. 6, S. 180.<br />

38 Ebd., S. 182.<br />

39 Gachard, Louis Prosper (Hg.): Collections des voyages des souverains des pays-bas,<br />

Bd. 2: Itinéraire de Charles-Quint de 1506 à 1531, Journal des voyages de Charles-Quint<br />

Dis | kurs 153


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

schaftsgebiete Karls V. vorstellen. Dies führt noch einmal zurück zur Bestallungsurkunde<br />

von Caspar Sturm. Dieser wird zwar zum Nachfolger des Wappenkönigs<br />

Romreich erhoben, allerdings unter dem neuen Namen Teutschland. Grund dafür<br />

soll die Idee Karls V gewesen sein, ihn von den anderen Herolden, vornehmlich den<br />

„wälschen“ Herolden (bsp. Wappenkönig Burgund) zu unterscheiden und seine Territorien<br />

dadurch besser zu repräsentieren. 40 Nahm Romreich bei der Königskrönung<br />

Karls 1520 noch eine herausragende Stellung ein, so wurde das Wirkungsgebiet des<br />

neuen Herolds ‚Teutschland‘ klarer definiert, seine Universalität genommen und der<br />

Territorialordung Karls V. untergeordnet werden, in dem das Deutsche Reich nur<br />

noch ein Teilgebiet darstellte.<br />

Schluss<br />

Maximilians Bild der Nachwelt reicht vom „letzten Ritter“ bis zum „Modernisierer“. 41<br />

Dieser Dualismus findet sich auch in den literarischen und künstlerischen Werken<br />

des Kaisers. Maxmilian I. nahm sowohl <strong>als</strong> Mäzen <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Autor Einfluss auf das<br />

kulturellen Schaffen seiner Zeit. Das Erbe der Vergangenheit – ritterliches Lebensund<br />

Kunstideal des Mittelalters – verbindet er mit den neuen Ausdrucksformen des<br />

Humanismus und der Renaissance. Dadurch kommt es zu einer Synthese von alten<br />

Inhalten mit den neuen antikisierenden Ausdrucksformen der Renaissance, deren<br />

Verbreitung und Gebrauch unter Karl V. weiter voranschritten. Auch Karl nutzte<br />

die bildene Kunst für seine gedechtnus, ohne jedoch selber <strong>als</strong> Mäzen aufzutreten.<br />

Das vom Vater und Großvater übernommene ‚burgundisch‘-ritterliche Erbe soll ihn<br />

geprägt und politisch motiviert worden sein, wofür immer wieder die Zweikampf-<br />

Aufforderungen an Franz I. von Frankreich <strong>als</strong> Beispiel angeführt werden. 42 Sie<br />

sollten nicht einfach <strong>als</strong> sinnentleerte Floskeln abgetan werden. Die Einbeziehung<br />

von Elementen der ritterlich-höfischen Kultur wirkt nicht befremdend, sondern ist<br />

Ausdruck der am traditionellen Bild legitimer Herrschaft festhaltenden Herrscher.<br />

Die Herolde sind ein notwendiger Teil der herrschaftlichen Repräsentation. Ihr loyales<br />

Verhalten gegenüber dem Adel und zur Ehre sowie ihre Entpersonalisierung<br />

ermöglichte erst ihre symbolische Aufladung durch Stab, Amtsnamen und Wappenrock.<br />

Sie waren sichtbarer Ausdruck der Rückbindung an die ritterlich-höfische Kulde<br />

1514 à 1551, Bruxelles 1874, S. 93.<br />

40 Kolde, Theodor: Caspar Sturm, S. 120, Fußnote 2 (bestellt).<br />

41 Vgl. Hollegger, Manfred: Maximilian I. (1459–1517). Herrscher und Mensch einer Zeitenwende,<br />

Stuttgart 2005 (Urban-Taschenbücher, 442).<br />

42 Vgl. Seibt, Ferdinand: Karl V. Der Kaiser und die Reformation, Berlin 1990. Seibt weist<br />

jedoch die mittelalterlichen Bezüge von Karls Kaisertum mit Hinweis auf die Bezüge<br />

zum antiken Heroen- und Kaisertum zurück. Zur weiteren Forschungsdiskussion siehe:<br />

Kohler, Alfred: Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München 2005, S. 13–27.<br />

154 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

tur und Chiffre von Verkündigung, Verbreitung und Wahrhaftigkeit. Der ständige<br />

Wechsel zwischen den Rollen, in die Maximilian schlüpft, und den Rahmen, in den<br />

die Handlung gestellt wird, lässt vermuten, dass der Akteur sich keiner homogenen<br />

Rollenerwartung gegenüber sah. An der Konzeption der Krönungsfeierlichkeiten<br />

Karls V. lässt sich ablesen, dass sich trotz einiger Veränderungen noch kein neues<br />

Herrscherbild durchgesetzt, das ohne die traditionellen Elemente auskäme. Das<br />

Bild des Herrschers muss dem Erwartungshorizont des Publikums angepasst werden,<br />

wodurch die Heterogenität spätmittelalterlicher Gesellschaftsbilder zum Ausdruck<br />

kommt. 43 Diesen gesellschaftlichen Kräften und Veränderungen sind auch die<br />

Herolde ausgesetzt. Ihre semantische Veränderung findet Ausdruck in der stetigen<br />

Reduktion der Rolle Ernholds <strong>als</strong> bloßer Augenzeuge. Obgleich Caspar Sturms ‚humanistischer‘<br />

Bildungsstand in seinen Schriften zum Ausdruck kommt und durch<br />

seine Mitgliedschaft in der von Conrad Celtis gegründeten Humanismusvereinigung<br />

Sodalitas litteraria Rhenana bestärkt wird, sahen sich die Herolde einem wachsenden<br />

Druck der Hofhistoriographen und Humanisten ausgesetzt, die sich <strong>als</strong> die wahren<br />

Künder fürstlicher Ehre und Ruhms sahen. Beiden gemein sind der Gebrauch des<br />

Drucks, der verstärkte Rückgriff auf Vergangenes, eine wachsende Aufmerksamkeit<br />

gegenüber Altertümern und eine historisierende Strömung, was sich <strong>als</strong> eine zeittypische<br />

Tendenz abzeichnet. Auch die systematische und methodisch disziplinierte<br />

Auseinandersetzung mit der Überlieferung findet sich in beiderlei Arbeitsweise. 44<br />

Dennoch findet im Laufe des 16. Jahrhunderts eine Reduktion der Herolde auf die<br />

Gebiete der Genealogie und Heraldik statt, auf denen sie Spezialisten waren und die<br />

solange das Bild von ihnen geprägt hat. Die Kräfte, die auf den Herold wirken, spiegeln<br />

auf das Beste den Wertewandel zwischen Mittelalter und Moderne wider und<br />

führen ins Zentrum der Diskussion.<br />

Literatur<br />

Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt<br />

2003.<br />

Hollegger, Manfred: Maximilian I. (1459–1517). Herrscher und Mensch einer Zeitenwende,<br />

Stuttgart 2005.<br />

Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus. Literatur und Hofgesellschaft Maxmilian I. München 1982<br />

(Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 2), S. 80–95.<br />

Paravicini, Werner: Die Ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München 1994.<br />

Thum, Bernd: Öffentlichkeit und Kommunikation im Mittelalter. Zur Herstellung von Öffentlichkeit<br />

im Bezugsfeld elementarer Kommunikationsformen im 13. Jahrhundert, in: Höfische<br />

Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, hg. von Hedda Ragotzky und Horste<br />

Wenzel, Tübingen 1990, S. 66–70.<br />

43 Müller, Jan-Dirk: Gedechtnus, S. 211 f.<br />

44 Vgl. Kolde, Theodor: Caspar Sturm, S. 126–148.<br />

Dis | kurs 155


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Von städtischer Spionage und der Bitte, Briefe zu<br />

zerreißen:<br />

Alternative Kommunikationsnetze von Städten<br />

während der Burgundkriege (1469–1477)<br />

Bastian Walter<br />

Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />

E-Mail: walterbastian@gmx.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Spätmittelalter, Diplomatie- und Städtegeschichte, Burgunderkriege<br />

Vorbemerkungen 1<br />

Der Aufbau, Abschluss und vor allem die spätere Pflege von Bündnissen bedürfen<br />

zahlreicher Maßnahmen zu ihrer Sicherung, ihrer Konstituierung und zu ihrer Konsolidierung.<br />

Um diese Maßnahmen wird es im vorliegenden Aufsatz gehen. Einen<br />

wesentlichen Aspekt stellt die gegenseitige Informationsübermittlung der sich noch<br />

nicht bzw. bereits schon <strong>als</strong> Bündnispartner definierenden Gruppen untereinander<br />

dar. Denn jede gegebene Information verlangt nach einer Gegeninformation wie<br />

jede Gabe nach einer Gegengabe 2 . Der gegenseitige Informationsaustausch stellt eine<br />

zweifache Beziehung zwischen dem Gebenden und dem Nehmenden her: Einerseits<br />

entwickelt sich zwischen ihnen eine Beziehung der Solidarität, da derjenige, die In-<br />

1 Der vorliegende Aufsatz stellt Überlegungen zu einem bisher wenig untersuchten Forschungsgegenstand<br />

vor, die im Rahmen meiner von Prof. Dr. Martin Kintzinger (Münster)<br />

betreuten Dissertation entstanden sind (Arbeitstitel: „Träger, Räume und Vollzug.<br />

Koordination und Praxis städtischer Außenpolitik im Kontext der Burgunderkriege<br />

(1468–1477)“. Für zahlreiche Anmerkungen und Gespräche danke ich Martin Kintzinger,<br />

Nils Bock und Marian Füssel (Münster).<br />

2 Zur Theorie des Gabentauschs vgl. Mauss, Marcel: Die Gabe, Frankfurt a. M. 21994.<br />

156 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

formation, die er hat, mit dem Nehmenden teilt. Andererseits entsteht eine Beziehung<br />

der Superiorität, da der die Information annehmende und diese damit akzeptierende<br />

sich gegenüber dem Gebenden in eine Bringschuld begibt. Damit ist er eine<br />

der wesentlichen Bedingungen für die Produktion und Reproduktion von sozialen<br />

Beziehungen. Diese wiederum fungieren <strong>als</strong> Basis eines Bündnisses und stellen die<br />

Bindungen dar, die zwischen Individuen und Gruppen herrschen 3 . Kommunikation<br />

basiert wie der Gabentausch auf Reziprozität. Aus der Stetigkeit des Austausches<br />

erwächst ein Beziehungsgeflecht, das seinen Ausdruck in einem zwischen den Kommunikationspartnern<br />

geschlossenen Bündnis finden kann. Vor diesem Hintergrund<br />

kann verständlich werden, dass der Informationsaustausch gerade durch seinen<br />

Doppelcharakter die idealen Bedingungen für seine Ausübung und Entwicklung in<br />

Bündnissen findet. Denn deren Funktionieren beruht in erster Linie auf der Herstellung<br />

und Aufrechterhaltung persönlicher Beziehungen zwischen den Individuen<br />

und Gruppen, aus denen es sich zusammensetzt. Aber auch der Abschluss des<br />

Bündnisses ist entscheidend, denn schließlich werden in dem von den Parteien aufgesetzten<br />

Bündnistext gegenseitige Verpflichtungen festgelegt, Rollen zu- sowie die<br />

Beziehungen der Partner untereinander und zu anderen festgeschrieben und damit<br />

auf eine andere Ebene gestellt. Das hat weit reichende Folgen für die Beziehungen<br />

der sich nun <strong>als</strong> Bündnispartner definierenden Personen und Gruppen und denen,<br />

die außerhalb des Bündnisses stehen. Schließlich sind Bündnisse vorwiegend<br />

dadurch charakterisiert, Personen oder Gruppen, die nicht <strong>als</strong> aktive Teilnehmer<br />

derselben fungieren, auszuschließen bzw. sich explizit gegen jemanden zu richten.<br />

Der vorliegende Aufsatz wird sich mit den bisher wenig untersuchten alternativen<br />

Kommunikationsnetzen von Kommunikations- bzw. späteren Bündnispartnern am<br />

Beispiel der seit 1474 gegen Burgund verbündeten Städte Basel, Straßburg und Bern<br />

beschäftigen, woraus sich der politische und der zeitliche Rahmen ergibt 4 : Es sind<br />

dies die Auseinandersetzungen mit Karl dem Kühnen im Vorfeld und während der<br />

sog. „Burgunderkriege“ der Jahre 1469–1477 5 . Es wird von der These ausgegangen,<br />

dass gerade die neben dem offiziellen Kommunikationsprozess laufende Kommunikation<br />

eine starke Bindekraft unter den Verbündeten schuf, da durch sie ein neuer<br />

3 Vgl. dazu Godelier, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke und heilige Objekte,<br />

München 1991.<br />

4 Zur Kommunikation der eidgenössischen Städte untereinander vgl. Jucker, Michael:<br />

Gesandte, Schreiber, Akten. Politische Kommunikation auf eidgenössischen Tagsatzungen<br />

im Spätmittelalter, Zürich 2004; Christ, Dorothea A.: Stabilisierende Konflikte und<br />

verbindende Abgrenzungen. Die Eidgenossen und ihre Bündnisse im Spätmittelalter, in:<br />

Hoffmann, Carl A. und Kießling, Rolf (Hgg.): Kommunikation und Region, Konstanz 2001,<br />

S. 139–163.<br />

5 Zu den Burgunderkriegen vgl. Sieber-Lehmann, Claudius: Spätmittelalterlicher Nationalismus.<br />

Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen<br />

1995.<br />

Dis | kurs 157


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

sozialer Raum betreten wurde 6 . Anhand von fünf Beispielnetzwerken soll versucht<br />

werden, diese These zu untermauern. Doch stellt sich die Frage, ob man überhaupt<br />

eine scharfe Trennlinie zwischen offizieller und inoffizieller Kommunikation ziehen<br />

kann.<br />

Als sich am 31. März 1474 die Eidgenossen mit der sog. Niederen Vereinigung, die<br />

sich aus den Reichsstädten Straßburg, Basel, Schlettstadt und Kolmar sowie den<br />

Bischöfen von Straßburg und Basel zusammensetzte, in einem gegen den burgundischen<br />

Herzog gerichteten Bündnis miteinander verbanden, bedeutete dies nicht<br />

einen völligen Wendepunkt in den Beziehungen der sich nun <strong>als</strong> Bündnispartner<br />

begreifenden Städte untereinander. Dem Abschluss vorausgegangen waren zahlreiche<br />

auf Versammlungen von Vertretern der Städte geführte Gespräche und eine hohe<br />

Anzahl von untereinander ausgetauschten Briefen. Diese Maßnahmen verfolgten in<br />

erster Linie das Ziel, Vertrauen zwischen den Partnern aufzubauen, zu konsolidieren<br />

und zu etablieren 7 . Und gerade der Aufbau desselben bedurfte im Fall der eidgenössischen<br />

und oberrheinischen Städte einer besonderen Anstrengung. Denn während<br />

sie 1444 noch gemeinsam die Armagnaken bekämpft hatten, verspielten die Eidgenossen<br />

allen voran Bern ihre Sympathien am Oberrhein mit der durch sie 1468 erfolgten<br />

Verwüstung des am Oberrhein gelegenen Sundgaus im sog. Sundgauerkrieg.<br />

Der damalige österreichische Herzog Sigmund konnte den vollständigen Verlust des<br />

Sundgaus nur durch die Zahlung von 10.000 Gulden Kriegsentschädigung an die<br />

Eidgenossen verhindern, was ihn in den folgenden Monaten nach einem starken<br />

und vor allem finanzkräftigen Partner suchen ließ. Diesen fand er im burgundischen<br />

Herzog Karl dem Kühnen, dem er am 9. Mai 1469 im Vertrag von St.-Omer einen<br />

Großteil seiner am Oberrhein gelegenen Besitzungen, zu denen auch der Sundgau<br />

gehörte, für 50.000 Gulden verpfändete. Im Gegenzug versprach Karl der Kühne, die<br />

Zahlung der 10.000 Gulden Kriegsentschädigung an die Eidgenossen zu übernehmen<br />

und Herzog Sigmund bei der Rückgewinnung von altem nicht unbeträchtlichem<br />

habsburgischem Besitz in der Eidgenossenschaft zu helfen.<br />

Beispiel 1: Netzwerke zwischen Räten<br />

Der Vertragsabschluss zwischen Burgund und Österreich versetzte neben den oberrheinischen<br />

Reichsstädten gleichsam die dam<strong>als</strong> an einer Anerkennung ihres Status<br />

Quo interessierte Eidgenossenschaft in große Aufregung 8 . Vor allem große Teile der<br />

6 Zum „sozialen Raum“ vgl. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“, in: Ders.<br />

(Hg): Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 31995, S. 9–46.<br />

7 Zur Etablierung von Vertrauen in der brieflichen Kommunikation vgl. Jucker, Michael:<br />

Trust and Mistrust in Letters. Late Medieval diplomacy and its Communicational Practices,<br />

in: Mostert, Marco und Schulte, Petra (Hgg.): Trust in Writing, Utrecht 2008.<br />

8 Vgl. dazu Walter, Bastian (gemeinsam mit Martin Kintzinger): Qui desiderat pacem<br />

158 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Führungsgruppen von Basel und Straßburg betrachteten den Sundgau <strong>als</strong> wichtigen<br />

Wirtschaftsraum. Das lag in erster Linie an ihrer Stellung <strong>als</strong> exportorientierte Handelszentren<br />

für Getreide und Wein, die vorwiegend im Sundgau angebaut wurden,<br />

um dann an die Eidgenossen weiterverkauft zu werden, die auf die Zufuhr von Getreide<br />

essentiell angewiesen war. Die daraus erwachsenden wirtschaftlichen Kontakte<br />

hatten bereits knapp fünfzig Jahre zuvor zur Bildung von Handelsgesellschaften<br />

geführt, an denen Kaufleute aus allen drei Städten beteiligt waren. Von diesen ist vor<br />

allem die in den 1420er Jahren in Bern und St. Gallen gegründete Diesbach-Watt-<br />

Gesellschaft zu erwähnen, die Kontore in ganz Europa unterhielt 9 . Die wichtigsten<br />

Teilhaber dieses Konsortiums saßen neben Bern auch in Basel. Im Rahmen seiner<br />

Erziehung und Ausbildung wurde beispielsweise der im betrachteten Zeitraum an<br />

der Spitze der gegen Karl den Kühnen gerichteten Koalition stehende Berner Schultheiß<br />

Nikolaus von Diesbach in der Familie des einflussreichen Basler Rats und Fernhändlers<br />

Werner von Kilchen erzogen, bevor er in den spanischen Kontor der Gesellschaft<br />

nach Barcelona übermittelt wurde 10 . Aus wirtschaftlichen Verbindungen<br />

entwickelten sich auf diese Weise persönliche Beziehungen, die auch später nicht<br />

abbrachen und zum Teil durch Heiraten verankert wurden 11 . Die politischen Führungsgremien<br />

der hier im Vordergrund stehenden Städte rekrutierten sich zu einem<br />

Großteil aus Vertretern genau der Familien, die zwei Generationen zuvor im Handel<br />

reich geworden waren oder aber im betrachteten Zeitraum noch immer aktiv am<br />

Handel partizipierten. Dass sich diese dann in den Jahren nach dem Vertrag von<br />

St.-Omer genau auf den Versammlungen wieder finden lassen, die 1474 maßgeblich<br />

zum Abschluss des gegen Burgund gerichteten eidgenössisch-oberrheinischen<br />

Bündnisses beitrugen, ist daher kein Zufall.<br />

In einer face-to-face-Gesellschaft boten die persönlichen Beziehungen ihrer Amtsträger<br />

den Städten ein wichtiges Instrumentarium zur Beschaffung von Informationen<br />

und Möglichkeiten zur Überzeugungsarbeit neben der offiziellen Kommunikation.<br />

praeperat bellum. Krieg, Frieden und internationales Recht im Spätmittelalter, in: Diskurs<br />

2008/1, S. 39–54.<br />

9 Zur Diesbach-Watt-Gesellschaft vgl. Ammann, Hektor: Die Diesbach-Watt-Gesellschaft.<br />

Ein Beitrag zur Handelsgeschichte des 15. Jahrhunderts, St. Gallen 1928.<br />

10 Zur interessanten Person des „international“ tätigen Diplomaten Nikolaus von Diesbach<br />

vgl. demnächst: Walter, Bastian: Kontore, Kriege, Königshof. Der Aufstieg der Berner<br />

Familie von Diesbach im 15. Jahrhundert im Hinblick auf städtische Außenpolitik, in:<br />

Jucker, Michael und Jörg, Christian (Hgg.): Politisches Wissen, Spezialisierung und<br />

Professionalisierung: Träger und Foren städtischer ‚Außenpolitik‘ während des späten<br />

Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Trier 2008 [im Druck].<br />

11 Zu den Netzwerken von Kaufleuten vgl. Häberlein, Mark, Handelsgesellschaften, Sozialbeziehungen<br />

und Kommunikationsnetze in Oberdeutschland zwischen dem ausgehenden<br />

15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Hoffmann, Carl A. und Kießling, Rolf (Hgg.):<br />

Kommunikation und Region, Konstanz 2001, S. 305–327.<br />

Dis | kurs 159


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Und dieses Instrument wurde wahrscheinlich intensiver genutzt <strong>als</strong> es die Quellenbestände<br />

erahnen lassen. Häufig geben die erhaltenen Briefe nur rudimentäre Hinweise<br />

auf diese alternativen Kommunikationsnetze der Städte. In Bern beispielsweise<br />

wurden in die sog. Missivenbücher nur Entwürfe der Briefe eingetragen, die der Rat<br />

für besonders wichtig hielt 12 . Den Weg zum letztendlich abgesendeten Brief muss<br />

man sich so vorstellen, dass die Berner Räte in einer Sitzung beschlossen, einen Brief<br />

zu schreiben. Mit der Abfassung desselben wurde dann die Kanzlei betraut, die einen<br />

ersten Entwurf anfertigte. Diesen diskutierten dann die Ratsherren, womit sie<br />

Möglichkeiten zur Einflussnahme auf seinen Inhalt wahren konnten. Und von dieser<br />

Möglichkeit machten sie vielfach Gebrauch, wie zahlreiche Zusätze in den erhaltenen<br />

Briefentwürfen belegen. Daraufhin machte sich die Kanzlei daran, fertigte den<br />

Brief mit den gewünschten Änderungen aus und versandte ihn. Während der Großteil<br />

der Briefe den Zusatz enthalten, dass sie unter dem Beschluss des gesamten Ratsgremiums<br />

zustande gekommen waren, wurden einige Briefe auf Wunsch einzelner<br />

Ratsherren abgefasst, wie die unter diesen stehenden Zusätze verraten 13 . Der größte<br />

Teil von diesen wiederum war an auswärtige Ratsgremien in toto gerichtet, doch<br />

wurden einige explizit an einzelne auswärtige Ratsherren geschrieben. Letzteres trifft<br />

auch für die beiden nun etwas eingehender vorgestellten zu, die von der Kanzlei im<br />

Auftrag des bereits erwähnten Berner Schultheißen Nikolaus von Diesbach an seinen<br />

Basler Ratskollegen Heinrich Zeigler geschrieben wurden. Die Familie Zeigler weist<br />

in ihrer Geschichte Parallelen zu der von Diesbach auf. Auch sie war in den 1420er<br />

Jahren durch Handel reich geworden und lässt sich ab den 1430er Jahren kontinuierlich<br />

im Basler Rat belegen. So amtierte Heinrichs gleichnamiger Vater in zahlreichen<br />

politischen Ämtern der Stadt, und auch Heinrich selbst saß seit den 1450er Jahren im<br />

für die Außen- und Kriegspolitik Basels zuständigen Dreizehnerkollegium.<br />

Den ersten Brief schrieb Nikolaus von Diesbach am 30. März 1473 und bedankt sich<br />

bei seinem lieben guoten Frúnd Zeigler für die Briefe, die ihm durch seinen Schwager<br />

Scharnachtal übermittelt worden seien, woran er dessen guoten getruwen Willen erkenne<br />

14 . Aufgrund von Verhandlungen in Basel habe er seinen Schwager beauftragt,<br />

den in diesen Tagen versammelten Eidgenossen die Anliegen des Baslers in grosser<br />

geheimd vorzubringen. Er gibt weiter an, dass er die von Zeigler gegebenen Informationen<br />

mit einigen seiner Amtskollegen diskutiert habe, die ihm zur Antwort geraten<br />

hätten. Um was es dabei ging, erfährt man in den folgenden Zeilen: So müsse man<br />

12 Vgl. Esch, Arnold, Alltag der Entscheidung. Berns Weg in den Burgunderkrieg, in: Ders.<br />

(Hg.): Alltag der Entscheidung. Beiträge zur Geschichte der Schweiz an der Wende vom<br />

Mittelalter zur Neuzeit, S. 9–87.<br />

13 In den Briefen heißt das dann Executum coram toto consilio bzw. z. B. Executum coram<br />

Sculteto von Diesbach.<br />

14 Staatsarchiv Bern (StAB), Deutsche Missiven C 49.<br />

160 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

aufpassen, dass die in militärisch-strategischer Hinsicht günstig am Rhein gelegenen<br />

Städte nicht von der sich gerade intensiver formierenden gegen Burgund gerichteten<br />

eidgenössisch-oberrheinischen Koalition abfielen. Zuletzt bittet er Zeigler noch darum,<br />

ihn, sobald er Neuigkeiten habe, stündlich davon in Kenntnis zu setzen. Doch<br />

was war der politische Hintergrund? Anfang März 1473 hatte der vom burgundischen<br />

Herzog in den verpfändeten Gebieten <strong>als</strong> Landvogt eingesetzte Peter von Hagenbach<br />

versucht, die am Rhein gelegene Stadt Säckingen zu unterwerfen, was aber<br />

aufgrund des großen Protestes aus Basel und Bern misslungen war. Kurz vor der<br />

Abfassung des Schreibens von Diesbach an Zeigler war es in Basel zwischen den<br />

oberrheinischen Reichsstädten und den Eidgenossen zu entscheidenden Verhandlungen<br />

über die Auslösung der verpfändeten Gebiete gekommen. Resultat der Gespräche<br />

war ein Entwurf des ein Jahr später geschlossenen Bündnisses, über den in<br />

diesen Tagen diskutiert wurde. In einem drei Tage später geschriebenen Brief wendet<br />

sich Diesbach aberm<strong>als</strong> an Zeigler und teilt ihm mit, er habe seit seinem letzten Brief<br />

ettliche nuwe Meren, <strong>als</strong>o Neuigkeiten, erhalten 15 . So sei es dem französischen König<br />

gelungen, eine Stadt in der Grafschaft Armagniak einzunehmen, wobei sehr viele<br />

Soldaten umgekommen seien. Außerdem habe der König einen Waffenstillstand mit<br />

dem burgundischen Herzog geschlossen, wovon er jedoch noch keine genaue Kenntnis<br />

besitze. Dies alles verkünde er seinem liebsten Frúnd Zeigler und bittet ihn, es an<br />

die End in geheimd zu bringen, wo es ihm guot beduncke. Zum Schluss wiederholt er,<br />

man müsse unbedingt dafür sorgen, dass die genannten vier Waldstädte nicht vom<br />

Bündnis abfielen und fordert den Basler auf, ihm gleichsam etwaige Neuigkeiten im<br />

Geheimen zu übermitteln.<br />

An den vorgestellten Briefen wird deutlich, dass es gerade bei persönlichen Netzwerken<br />

zwischen einzelnen Ratsherren nicht immer einfach ist, zwischen offizieller und<br />

inoffizieller Kommunikation zu trennen. Vielmehr gingen diese beiden Kommunikationsarten<br />

Hand in Hand, und es war vielmehr so, dass die Netzwerke bewusst<br />

von den Räten im Auftrag ihrer Führung genutzt wurden, um so an Informationen<br />

zu gelangen, die sie sonst nicht erhalten hätten. Gerade für die dam<strong>als</strong> in intensiven<br />

Bündnisgesprächen befindlichen Kommunikationspartner Basel und Bern war es<br />

immens wichtig, Kontakte zu Personen an zentralen Schaltstellen aufzubauen bzw.<br />

zu intensivieren, wie Nikolaus von Diesbach das erfolgreich im gegebenen Beispiel<br />

zum für die Außen- und Kriegspolitik Basels zuständigen Dreizehnerkollegium tat.<br />

Das war umso bedeutsamer, <strong>als</strong> es den späteren Bündnispartnern ermöglichte, ihre<br />

gemeinsame Politik zu koordinieren.<br />

15 StAB, Deutsche Missiven C 51.<br />

Dis | kurs 161


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Beispiel 2: Netzwerke zwischen Verwandten<br />

Standen gerade die persönlichen Netzwerke von Berner und Basler Räten im Vordergrund,<br />

eröffnet ein weiterer vom Berner Unterschreiber Schilling geschriebener Brief<br />

einen weiteren Horizont 16 . An diesem werden verwandtschaftliche Netzwerke zwischen<br />

Bern und Straßburg deutlich. Der Großrat Schilling stand in engem Kontakt<br />

zur politischen Führungsgruppe und tat sich nach den Burgunderkriegen überdies<br />

<strong>als</strong> Verfasser einer Chronik über die Berner Geschichte hervor. Empfänger seines im<br />

Januar 1476 geschriebenen Briefes war sein in Straßburg lebender Vetter Barpfennig<br />

17 . Nach einleitenden Grußworten kommt Schilling gleich auf das Wesentliche zu<br />

sprechen. So habe er Barpfennig in einem seiner letzten Briefe darum gebeten, ihm<br />

nuwe Meren zu schreiben. Dass das bisher noch nicht geschehen sei, wäre insofern<br />

bedauerlich, <strong>als</strong> er ihm zahlreiche Neuigkeiten zukommen lassen habe. Darauf folgen<br />

ausführliche Beschreibungen dam<strong>als</strong> aktueller politischer Ereignisse aus Berner<br />

Perspektive, die Wiedergaben von an Bern geschriebener Briefe und Gerüchten aus<br />

Frankreich. Dann kommt Schilling darauf zu sprechen, man habe in Bern vernommen,<br />

dass sich die Stadtoberen Straßburgs sich dazu entschlossen hätten, ir Stat vast<br />

stark zu machen, mit aufwerfen nuwer Graben und andern dingen, worüber man sich<br />

in der Aarestadt sehr gefreut habe. Zum Schluss bittet Schilling noch um die Ausrichtung<br />

von Grüßen an einige Straßburger Ratsherren und wiederholt seine Bitte<br />

um Neuigkeiten. Auch wenn Schilling in seinem Brief nicht explizit angab, er handle<br />

im offiziellen Auftrag, ist davon auszugehen, dass er von Barpfennig erhaltene Informationen<br />

dem Berner Rat übermittelte. Denn umgekehrt hätte auch sein Brief<br />

nicht den Weg ins Straßburger Archiv gefunden: Barpfennig hat ihn wahrscheinlich<br />

aufgrund seines hohen Informationswertes seinen Stadtoberen übermittelt.<br />

Auch hier lässt sich keine klare Trennlinie zwischen offizieller und inoffizieller Kommunikation<br />

ziehen. Gerade die städtischen Schreiber verfügten über engmaschige<br />

Netze von verwandtschaftlichen und beruflichen Beziehungen außerhalb der Städte,<br />

in denen sie beschäftigt waren. Diese konnten sie im Auftrag ihrer Obrigkeiten gezielt<br />

nutzen. Außerdem waren sie in der Lage, neue Netzwerke, beispielsweise auch<br />

zu Amtskollegen in anderen Städten, aufzubauen. In Ansätzen kann man ein solches<br />

Netz auch bei dem aus einer in Solothurn beheimateten Notarenfamilie stammenden<br />

Schilling vermuten. So war er zunächst <strong>als</strong> Schreiber in Luzern tätig, bis er im Jahr<br />

1460 in die Kanzlei der Stadt Bern wechselte. Interessant ist zudem, dass die erste<br />

Ehefrau von Diebolds Vater aus Hagenau stammte. Zu dieser unweit von Straßburg<br />

gelegenen Stadt unterhielt auch Schilling gute Beziehungen, schließlich hatte er dort<br />

eine Ausbildung zum Buchillustrator in der Werkstadt von Diebold Lauber gemacht.<br />

16 Archives Municipales et Communautaires de Strasbourg (AMS), AA 292, Nr. 33.<br />

17 Zu ihm vgl. Ladner, Pascal: Diebold Schilling d. Ä., in: Verfasserlexikon 8, Sp. 670 ff.<br />

162 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Daher ist davon auszugehen, dass er über persönliche Bindungen zum gemeinsam<br />

mit den Eidgenossen gegen Burgund vorgehenden Oberrhein verfügte, die nun –<br />

gerade in Zeiten des Krieges – eine Intensivierung erfuhren und von den Führungsgruppen<br />

Berns wie Straßburgs unterstützt wurden.<br />

Beispiel 3: Netzwerke des Straßburger Stadtschreibers<br />

Etwas anders verhält es sich mit dem Kommunikationsnetzwerk, das der Straßburger<br />

Stadtschreiber Johannes Meyer mit Martin von Ingelheim, Schreiber des Kriegsrats<br />

von Metz, unterhielt. Explizit auf obrigkeitlichen Auftrag hin hat Meyer den Kontakt<br />

zu dem Metzer gesucht. So gibt Ingelheim wiederholt an, dass Straßburger Amtsträger<br />

bei ihm erschienen seien, die ihn um allerley nüwe meren gebeten hätten 18 . Dem<br />

Wunsch versuche er so gut wie möglich nachzukommen, obgleich er nit zum Rade,<br />

<strong>als</strong>o zum eigentlichen inneren Kreis der Stadt Metz, gehöre. Eine Brisanz bekommt<br />

dieser Briefwechsel insofern, <strong>als</strong> die Metzer Führung im betrachteten Zeitraum stark<br />

unter dem Einfluss Burgunds stand und dessen oberrheinfeindliche Politik unterstützte<br />

19 . Die Serie der knapp 15 von Ingelheim geschriebenen Briefe setzt 1473 ein<br />

und reicht bis ins Jahr 1476. In ihnen berichtet er beispielsweise von burgundischen<br />

Truppenbewegungen in den Vogesen und über Neuigkeiten aus Lothringen.<br />

Ein anderer Informant, der den Straßburger Stadtschreiber gleichsam mit wichtigen<br />

Neuigkeiten aus dem Herzogtum Lothringen versorgte, fürchtete wahrscheinlich um<br />

sein Leben. Nur so wird verständlich, warum dieser leider anonyme Verfasser in den<br />

Briefen, in denen er besonders brisante Informationen übermittelte, diesen Straßburger<br />

darum bat, nicht <strong>als</strong> Informant genannt zu werden, da man in Kriegszeiten<br />

nicht wisse, wem zü getrüwen sy. Dementsprechend richtete er folgenden Wunsch an<br />

Meyer: Ich bitt üch, wann ir dissen Brieff gelesent, zerissen in 20 . Dem kam dieser indirekt<br />

nach, indem er die unter den Briefen stehende Unterschrift einfach ausschnitt.<br />

Der Schutz des Informanten wurde damit gewahrt. Die Briefe stellen einen Überlieferungszufall<br />

dar und sind nur erhalten, weil die in ihnen gegebenen geheimen<br />

Informationen äußerst wichtig für das weitere militärische Vorgehen Straßburgs und<br />

seiner Bündnispartner waren 21 . Denn es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass<br />

Straßburg diese weiterleitete. Man bewegt sich aberm<strong>als</strong> in einer Grauzone zwischen<br />

offizieller und inoffizieller Kommunikation, in denen alternative Netzwerke eine ent-<br />

18 AMS AA 264, Nr. 37.<br />

19 Zu Politik und Geschichte der Stadt Metz im Vorfeld und während der Burgunderkriege<br />

vgl. Schneider, Jean: Metz et la Bourgogne au temps de Charles le Hardi (1467–1477),<br />

in: Mémoires de l´académie nationale de Metz 1976/77, S. 305–335.<br />

20 So in AMS AA 292, Nr. 29, 30 und 31.<br />

21 Vgl. dazu Esch, Arnold: Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall <strong>als</strong> methodisches<br />

Problem des Historikers, in: HZ 240 (1985), S. 529–570.<br />

Dis | kurs 163


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

scheidende Rolle bei der Konstituierung von Bündnissen spielten.<br />

Beispiel 4: Organisierte geheime Netzwerke<br />

Wie auf solchen Wegen erhaltene Informationen verwendet wurden, kann das nächste<br />

Beispiel illustrieren. Mit der Ende Juli 1474 durch Karl den Kühnen durchgeführten<br />

Belagerung der am Niederrhein gelegenen Stadt Neuß wurden die Burgunderkriege<br />

eingeläutet. Der Grund dafür lag im Konflikt um den Kölner Erzbischofsstuhl. Infolge<br />

von Streitigkeiten zwischen der Stadt Köln und dem amtierenden Erzbischof Ruprecht<br />

von der Pfalz, Bruder des Pfalzgrafen bei Rhein und entfernter Verwandter des<br />

burgundischen Herzogs, war Ruprecht abgesetzt und vertrieben worden und suchte<br />

Hilfe bei Burgund. Ebenfalls Ende Juli fand in Basel eine große Versammlung der<br />

oberrheinischen-eidgenössischen Koalition statt. Seinen Gesandten in Basel schrieb<br />

Straßburg am 24. Juli 1473 einen Brief, in dem sie mitteilten, dass den Straßburger Räten<br />

ettliche nüwe Meren angelangt seien, die sie dort, wo es ihnen vorteilhaft erschien,<br />

vorbringen sollten. Verwiesen wird in dem Brief auf einen ingeslossen Zedel, der sich<br />

tatsächlich auch an den Brief geheftet findet. Auf diesem wird angegeben, dass ein<br />

glouplich man uß Lothringen beim Rat in aller geheimd vorgesprochen habe, der mitgeteilt<br />

habe dass Karl dem Pfalzgrafen mit einer großen Anzahl von Soldaten zur Hilfe<br />

komme. Daran wird gleichsam eine weitere Möglichkeit der durch die Städte genutzten<br />

Kommunikationsnetze offenbar. Bei dieser handelte es sich um von der Stadt<br />

für das Einholen von Informationen bezahlte geheime Kundschafter, die den Auftrag<br />

hatten, sich in anderen Städten, auf Märkten und in Grenzgebieten umzuhören und<br />

ihre auf diese Weise gewonnenen Informationen dem Rat in streng geheim gehaltenen<br />

Berichten mitzuteilen. Als Kundschafter kamen alle Personen- und Berufsgruppen<br />

in Betracht. Vor allem aber scheinen Frauen, Wirte, Kaufleute und Priester<br />

scheinen für diese Tätigkeiten herangezogen worden zu sein. Gerade in Kriegszeiten<br />

war man auf die Arbeit dieser <strong>als</strong> Spione zu bezeichnenden Personen angewiesen. So<br />

finden sich zahlreiche Berichte, die ebenfalls einen Überlieferungszufall darstellen.<br />

Auch sie wurden nur aufbewahrt, weil sie wichtig für das weitere außenpolitische<br />

und militärische Vorgehen waren. Denn in Kriegszeiten war jede Bewegung und jede<br />

Handlung des politischen Gegners wichtig. Unter der Überschrift Nüwe Meren uß<br />

Flandern 22 finden sich Aufzeichnungen eines Straßburger Schreibers, in denen er die<br />

von einem Kundschafter, wahrscheinlich einem Händler, übermittelten Informationen<br />

zusammenfasst. Laut diesen habe der Herzog von Burgund auf einem Markt in<br />

Flandern Heringe, ander vngesaltzen Vische vnd Viande kaufen lassen In einem anderen<br />

Bericht berichtet ein Kundschafter namens Klaus selbst 23 . Er gibt an, dass er in<br />

22 AMS AA 266, Nr. 30r.<br />

23 AMS AA 266, Nr. 54r.<br />

164 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Metz gehört habe, dass sich der Herzog von Burgund mit seinen Truppen Richtung<br />

Thionville aufgemacht habe, wo er nun sein Lager aufzuschlagen gedenke. Insgesamt<br />

fünf Tausend Soldaten und zahlreiche Wagen mit Büchssen führe er mit sich. Es folgen<br />

genaue Informationen, wie viele Büchsen es genau seien, wie weit diese schießen<br />

könnten und wie der weitere Weg des Herzogs von Burgund aussehe.<br />

Die Beispiele dieses informellen Kommunikationsflusses und dieser alternativen<br />

Kommunikationskanäle ließen sich problemlos erweitern. Die auf diesem geheimen<br />

Wege übermittelten Informationen wurden den Bündnispartnern in der offiziellen<br />

Kommunikation ohne Nennung des Informanten mitgeteilt. In den Briefen heißt es<br />

dann, ein guter Frúnd, ein glouplich Man oder ein verswigen Knecht hätten dies oder<br />

jenes berichtet. Meist wurde in den Briefen zusätzlich betont, wie geheim diese Informationen<br />

gewonnen seien und dass sie nur für sie, die Bündnispartner, bestimmt<br />

seien. Überdies wurden die Empfänger zum sensiblen Umgang aufgefordert und gebeten,<br />

auch ihrerseits Informationen zu übermitteln. So markierten sie den Aufbau<br />

eines neuen Kommunikationsraumes, der essentiell auf Vertrauen und Reziprozität<br />

basierte.<br />

Beispiel 5: Unerwünschte Netzwerke<br />

Ein letztes Beispiel mag illustrieren, wie wichtig den Räten die Geheimhaltung von<br />

Informationsflüssen gewesen sein muss. Der <strong>als</strong> Schreiber der Straßburger Hauptleute<br />

in den Burgunderkriegen angestellte Hans Düsch, späterer Verfasser einer Chronik<br />

über die Burgunderkriege, schrieb am 20. und am 24. Juli 1475 zwei Briefe aus<br />

dem Lager in der Nähe von L'Isle-sur-le-Doubs 24 . In dem ersten Brief berichtet er<br />

seiner Ehefrau Eva von seinen Erlebnissen in der letzten Schlacht, über die Pläne<br />

der Straßburger Truppen und bittet sie um Ausrichtung von Grüßen an seine Mutter<br />

sowie um Übermittlung von Schreibutensilien 25 . Der zweite Brief ist an den Straßburger<br />

Bürger Jakob Ber gerichtet 26 . Auch diesen informiert er über den weiteren<br />

Weg der Straßburger Truppen und gibt an, er habe vom Verwalter der Kriegsbeute<br />

ein Buch geschenkt bekommen. Düschs Briefe sind nur erhalten, weil es großen<br />

Ärger um sie gab, wovon. Davon legt ein am 29. Juli 1475 verfasstes Schreiben der<br />

empörten Straßburger Führung ins Feld ein eindrückliches Zeugnis ab 27 . Laut diesem<br />

hätte der Rat einen Brief der Hauptleute mit der Information über die letzten<br />

Eroberungszüge erhalten. In diesem habe jedoch nicht gestanden, was sie nun tun<br />

24 Zu Düsch vgl. Schanze, Frieder, Tüsch, Hans Erhart (Johannes Düsch), in: Verfasserlexikon<br />

Band 2, Sp. 1170–1179.<br />

25 AMS AA 281, Nr. 24.<br />

26 AMS AA 281, Nr. 23.<br />

27 AMS AA 275, Nr. 26.<br />

Dis | kurs 165


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

würden. Dies jedoch gehe aus einem Brief hervor, den ihr Schreiber – Düsch – an<br />

seine Ehefrau geschrieben habe. Da es nicht sein dürfe, dass eine Ehefrau früher <strong>als</strong><br />

der Rat von der olitischen Taktik der Straßburger Hauptleute wisse, befiehlt er ihnen<br />

daraufhin ausdrücklich, das ihr Schreiber nyemand anders <strong>als</strong> ihnen schreiben solle.<br />

Erschwerend komme hinzu, dass der städtische Bote bei seiner letzten Rückkehr<br />

insgesamt 46 Briefe mit sich geführt habe, die zum Teil von Privatpersonen an ihre<br />

Familienmitgliedern geschrieben worden seien. Das sei in zweifacher Hinsicht überaus<br />

ärgerlich: So würden erstens die sowieso schon überlasteten städtischen Boten<br />

mit solich Nebengeschrifften aufgehalten. Zweitens sei es keinesfalls im Interesse des<br />

Straßburger Rates, dass vertrauliche Informationen auff der Gassen geseit werden.<br />

Was alles auf den Straßen der Stadt Straßburg gesagt werden konnte und der Rat zu<br />

unterbinden versuchte, zeigt ein Brief eines gewissen Kunzmann von Wittelshausen<br />

an seinen in Straßburg lebenden Vetter 28 . Dieser wurde zwei Tage später <strong>als</strong> der Brief<br />

Düschs an seine Ehefrau geschrieben und stellt wahrscheinlich einen der erwähnten<br />

Briefe von Privatpersonen dar. In diesem wird angegeben, dass die Straßburger<br />

Hauptleute ihre Soldaten gar weydlich beschissen hätten, und dass ihnen gar übel zü<br />

essen gebe. Mit solchen Informationen wäre einerseits die Kriegsmoral der zu Hause<br />

um ihre Ehemänner und Väter bangenden Familien untergraben worden, andererseits<br />

wusste der Rat aus der eigenen politischen Praxis nur zu gut, welche Rolle alternative<br />

Kommunikationsnetze gerade in Kriegszeiten spielten, und dass diese auch<br />

von den politischen Gegnern genutzt wurden.<br />

Schluss<br />

Bei den vorgestellten alternativen Kommunikationsnetzen fällt es schwer, eine<br />

Trennlinie zwischen offizieller und inoffizieller Kommunikation zu ziehen. Vielmehr<br />

scheint, dass sie gerade in Kriegszeiten von den Obrigkeiten gezielt in Dienst<br />

genommen wurden, um auf diese Weise die gemeinsame Politik mit den späteren<br />

Bündnispartnern vor und nach dem Bündnisabschluss zu koordinieren. So sprach<br />

beispielsweise der Berner Nikolaus von Diesbach zunächst mit seinen Ratskollegen<br />

über den Brief, den er vom Basler Heinrich Zeigler erhalten hatte, die ihn zur vorgestellten<br />

Antwort rieten. Aber auch zwischen Verwandten ausgetauschte Briefe, wie<br />

der des Berners Schilling an seinen Straßburger Vetter Barpfennig, blieben nicht<br />

beim eigentlichen Empfänger und wurden aufgrund ihres Informationsgehaltes an<br />

die Stadtoberen übergeben. Daneben versuchten die städtischen Führungsgruppen<br />

gerade in Kriegszeiten, die Informationsbeschaffung und Kommunikationsnetze zu<br />

organisieren, wie die vorgestellten Straßburger Spionage- und Kundschaftersysteme<br />

zeigen können. Die Wege Beschaffung wurden meist verschleiert. Gerade diese al-<br />

28 AMS AA 281, Nr. 25.<br />

166 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

ternativen Kommunikationsnetze sorgten für eine Festigung des Verhältnisses der<br />

Bündnispartner untereinander. Damit kann man ihnen eine wichtige Rolle bei der<br />

Konstituierung und Konsolidierung des Bündnisses attestieren. Schließlich besaßen<br />

sie eine nicht zu unterschätzende integrative Funktion, sorgten für eine Kohäsion der<br />

Verbündeten und waren in der Lage, Vertrauen unter ihnen aufzubauen. Nach relational-konstruktivistischer<br />

Definition sind Räume das Produkt von menschlichen<br />

Wahrnehmungen, Bewertungen und Tätigkeiten 29 . Daran wird deutlich, dass sie sich<br />

<strong>als</strong>o erst über den Menschen konstituieren, statt von vornherein gegeben zu sein 30 . In<br />

diesem Zusammenhang kommt den alternativen Kommunikationsnetzen der Städte<br />

eine entscheidende Bedeutung zu.<br />

Literatur<br />

Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“, in: Ders. (Hg.), Leçon sur la leçon. Zwei<br />

Vorlesungen, Frankfurt a. M. 31995, S. 9–46.<br />

Mauss, Marcel: Die Gabe, Frankfurt a. M. 2 1994.<br />

Jucker, Michael: Gesandte, Schreiber, Akten: Politische Kommunikation auf eidgenössischen<br />

Tagsatzungen im Spätmittelalter, Zürich 2004.<br />

Sieber-Lehmann, Claudius: Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am<br />

Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Göttingen 1995.<br />

29 Vgl. Lefebvre, Henri: La production de l´espace, Paris 1974.<br />

30 Vgl. Füssel, Marian und Rüther, Stefanie: Einleitung, in: Dartmann, Christoph, Füssel,<br />

Marian und Rüther, Stefanie (Hgg.): Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung<br />

gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2004, S. 12.<br />

Dis | kurs 167


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Thema: Patient Demokratie<br />

A) Theoretische Reflexionen<br />

B) (Ver-)Fallstudien<br />

C) Historische Dimensionen<br />

Ein Fest für alle Sinne: Die symbolisch-klangliche<br />

Dimension frühneuzeitlicher Herrschaftsinszenierung<br />

am Beispiel der Herrschereinzüge zum Regensburger<br />

Reichstag von 1653/54<br />

Jochen Missweit<br />

Westfälische Wilhelms – Universität Münster<br />

E-Mail: jochenmissweit@web.de<br />

Schlüsselwörter<br />

Symbolische Kommunikation, Herrschaft, Musik, frühe Neuzeit<br />

„An eine Macht, die zwar vorhanden ist, aber nicht sichtbar im Auftreten des<br />

Machthabers selbst in Erscheinung tritt, glaubt das Volk nicht. Es muß sehen, um<br />

zu glauben“. 1<br />

Die politisch-soziale Ordnung der Vormoderne wurde maßgeblich durch symbolische,<br />

d. h. nonverbale Kommunikation geprägt 2 . Die noch wenig ausdifferenzierte<br />

frühneuzeitliche Gesellschaftsordnung beruhte sehr stark auf der persönlichen Präsenz<br />

der Beteiligten. Die gemeinsame Teilnahme an öffentlichen symbolisch-rituellen<br />

Akten war von enormer Bedeutung, denn erst durch das reziproke Handeln und Agieren<br />

der Akteure konnte die ständisch-hierarchisch gegliederte Gesellschaftsstruktur<br />

1 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums<br />

und der höfischen Aristokratie, Amsterdam 2002, S. 202.<br />

2 Siehe dazu grundlegend Althoff, Gerd / Siep, Ludwig: Symbolische Kommunikation<br />

und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur französischen Revolution, in:<br />

Frühmittelalterliche Studien 34 (2000), S. 391–412; Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische<br />

Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven,<br />

in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527.<br />

168 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

wirkungsvoll inszeniert und damit für alle deutlich erkennbar abgebildet werden.<br />

Gleichzeitig wiesen diese symbolischen Kommunikationsakte einen stark performativen<br />

Charakter auf. Die dargestellte Ordnung gewann erst durch ihre geglückte Inszenierung<br />

an Verbindlichkeit, oder anders ausgedrückt: Die soziale Realität wurde<br />

von den Akteuren mittels symbolischer, performativer Kommunikationsakte stets<br />

aufs Neue geschaffen 3 . Herrschaft und Macht, Ansehen und Rang bedurften daher<br />

in nicht geringer Weise der symbolischen Vermittlung und Konstituierung. Jegliche<br />

Form der Prachtentfaltung – und darauf verweist das obige Zitat von Norbert Elias<br />

– diente stets der herrscherlichen Selbstinszenierung und Legitimation gegenüber einer<br />

Öffentlichkeit. Diese musste sich nicht nur auf die eigenen Untertanen beschränken,<br />

sondern umfasste in der Regel die gemeineuropäische Hochadelsgesellschaft,<br />

die eine überterritoriale höfische Öffentlichkeit bildete 4 .<br />

Symbolische Kommunikation basiert generell auf Zeichen respektive auf ganzen<br />

Zeichensystemen; das frühneuzeitliche Zeremoniell fungierte <strong>als</strong> ein solches. Durch<br />

seine stereotypisierten, d. h. in ihrer äußeren Form normierten Handlungssequenzen<br />

sollte jegliches spontanes, individuelles Handeln der Akteure ausgeschlossen werden.<br />

Erst die so gewonnene Kontrolle über das Handlungsgeschehen ermöglichte die<br />

Abbildung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen 5 . Im Zeremoniell traten soziale<br />

Distinktionen sinnlich in Erscheinung, indem diese für alle Beteiligten in nachvollziehbare,<br />

gleichsam messbare Abstufungen transformiert wurden. Da im Heiligen<br />

Römischen Reich Deutscher Nation Herrschaft auf verschiedenen Ebenen ausgeübt<br />

wurde, mussten die zahlreichen, heterogenen Herrschaftsträger in eine soziale Rangordnung<br />

gebracht werden: angefangen bei den kleineren Territorialherren (Reichsrittern,<br />

Reichsgrafen) über die Reichsfürsten in toto bis hin zu den Kurfürsten und<br />

dem Kaiser sollte idealiter eine sukzessive Rangfolge erstellt werden 6 . Dies war in<br />

der Praxis vor allem immer dann besonders prekär, wenn sich das Alte Reich <strong>als</strong><br />

solches vor großer Kulisse an bedeutenden Schauplätzen konstituierte, wie es etwa<br />

3 Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation, S. 495; vgl. dazu grundsätzlich Berger,<br />

Peter L. / Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine<br />

Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 20 2004, hier bes. S. 55.<br />

4 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung<br />

des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen<br />

zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, N. F. 7 (1997), S. 145–176, hier<br />

S. 148.<br />

5 Stollberg-Rilinger, Barbara: Zeremoniell <strong>als</strong> politisches Verfahren. Randordnung und<br />

Rangstreit <strong>als</strong> Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Kunisch, Johannes<br />

(Hg.): Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997, S. 91–132, hier<br />

S. 94.<br />

6 Vgl. Gotthard, Axel: Das Alte Reich 1495–1806, Darmstadt 2003, hier S. 2 f.; vgl. insgesamt<br />

Stollberg-Rilinger, Barbara: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom<br />

Ende des Mittelalters bis 1806, München 2006.<br />

Dis | kurs 169


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

bei den Reichstagen der Fall war 7 . War das frühneuzeitliche Zeremoniell generell auf<br />

die sinnliche Wahrnehmung aller Beteiligten ausgerichtet, so stellt das obige Zitat<br />

von Elias: das Volk müsse sehen, um zu glauben, eine eigentümlich Verkürzung der<br />

Thematik dar, indem es sich bloß auf die visuelle Dimension des herrschaftlichen<br />

Auftretens bezieht. Vielmehr scheint es plausibel zu sein, das Zeremoniell <strong>als</strong> synästhetisches<br />

Phänomen zu betrachten, das sich mittels aller fünf Sinne realisiert. Fragt<br />

man hingegen nach den Medien, denen sich die Potentaten bei ihrer Herrschaftsrepräsentation<br />

bedienten, so zeigte die bisherige Forschung ein weitaus größeres Interesse<br />

an Zeichen verbaler, visueller, gegenständlicher oder gestischer Art 8 . Dabei wies<br />

das frühneuzeitliche Zeremoniell doch stets auch eine akustische Dimension auf 9 .<br />

Dieser bisher eher vernachlässigten Perspektive soll in diesem Aufsatz an einem<br />

konkreten Fallbeispiel nachgegangen werden: den Herrschereinzügen zum bevorstehenden<br />

Regensburger Reichstag von 1653/54 10 . Das Einzugszeremoniell bietet<br />

sich aufgrund seiner hochgradig formalisierten und standardisierten Handlungsse-<br />

7 Vgl. Luttenberger, Albrecht P.: Pracht und Ehre. Gesellschaftliche Repräsentation und<br />

Zeremoniell auf dem Reichstag, in: Kohler, Alfred/Lutz, Heinrich (Hg.): Alltag im 16. Jahrhundert.<br />

Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten, Wien 1987, S. 291–<br />

326; Stollberg-Rilinger, Barbara: Die Symbolik der Reichstage. Überlegungen zu einer<br />

Perspektivumkehr, in: Lanzinner, Maximilian/Strohmeyer, Arno (Hg.): Der Reichstag<br />

1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeit, Göttingen 2006, S. 77–93.<br />

8 Vgl. u. a. Stollberg-Rilinger, Barbara: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? –<br />

Einleitung, in: Dies. (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005,<br />

S. 9–24; Hahn, Peter-Michael/Lorenz, Hellmut (Hg.): Formen der Visualisierung von<br />

Herrschaft. Studien zu Adel, Fürst und Schlossbau vom 16. bis zum 18. Jahrhundert,<br />

Potsdam 1998; Patze, Hans/Paravicini, Werner (Hg.): Fürstliche Residenzen im spätmittelalterlichen<br />

Europa, Sigmaringen 1991.<br />

9 Jörg Jochen Berns sprach in diesem Zusammenhang von „Klangzeremoniell“ und „politischen<br />

Klangstrategien“. Siehe dazu Berns, Jörg Jochen: Herrscherliche Klangkunst<br />

und höfische Hallräume. Zur zeremoniellen Funktion akustischer Zeichen, in: Hahn,<br />

Peter-Michael/Schütte, Ulrich (Bearb.): Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches<br />

Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit, Berlin 2006, S. 49–64, hier<br />

S. 49.<br />

10 Der Regensburger Reichstag von 1653/54 stellt innerhalb der langen Reichstagsgeschichte<br />

einen Wendepunkt dar: Hatte es sich bis dahin um eine nicht permanent tagende,<br />

oberste reichsständische Versammlung gehandelt – während des Dreißigjährigen<br />

Krieges kam zwischen 1613 und 1640 gar kein Reichstag mehr zustande –, so bestand<br />

der folgende Reichstag von 1663 bekanntlich <strong>als</strong> „Immerwährender Reichstag“ in Regensburg<br />

bis zum Ende des Alten Reiches 1806 fort. Während sich letzterer immer mehr<br />

zu einem Gesandtenkongress entwickelte, basierte der Reichstag von 1653/54 noch auf<br />

jenem gemeinsamen Agieren der persönlich anwesenden Herrschaftsträger, das für den<br />

Reichstag bis dahin so charakteristisch gewesen ist. Vgl. dazu Neuhaus, Helmut: Das<br />

Reich in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte Band 42), München<br />

2003, hier S. 39, 74. Speziell zur Geschichte des Regensburger Reichstages von 1653/54<br />

vgl. Müller, Andreas: Der Regensburger Reichstag von 1653/54. Eine Studie zur Entwicklung<br />

des Alten Reiches nach dem Westfälischen Frieden, Frankfurt a. M. 1992.<br />

170 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

quenzen mit symbolischem Verweischarakter 11 sowie seinem extrem hohen Öffentlichkeitsgrad<br />

ganz besonders an. Bei keiner anderen Gelegenheit trafen Herrscher<br />

und Beherrschte so unmittelbar aufeinander, hatte das gemeine Volk dermaßen großen<br />

Anteil an der Herrscher- und Herrschaftsrepräsentation 12 . Trafen gleich mehrere<br />

Potentaten vor großem Publikum aufeinander, wie es bei Reichstagen der Fall<br />

war, konnte das jeweilige Empfangszeremoniell zu einem regelrechten Gradmesser<br />

fürstlicher Praecedenz werden. Doch inwiefern kann bei solchen Gelegenheiten von<br />

einer klanglichen Herrschaftsinszenierung gesprochen werden? Lässt sich grundsätzlich<br />

eine differenzierte akustische Dimension des Einzugszeremoniells ausmachen?<br />

Wenn ja, wurde eine solche von den Zeitgenossen registriert bzw. findet diese<br />

in Festbeschreibungen und Zeremonialprotokollen Erwähnung? Inwiefern spielten<br />

Klang und Musik bei der Herrschaftsrepräsentation überhaupt eine Rolle? Lässt sich<br />

gar eine zielgerichtete „Klangpolitik“ der Akteure feststellen? An welchen Stellen des<br />

meist mehrstündigen Einzugszeremoniells erklang Musik und welche Instrumente<br />

kamen dabei zum Einsatz? Diesen Fragen soll nun im Folgenden nachgegangen werden.<br />

Der kaiserliche Einzug in die Stadt Regensburg <strong>als</strong><br />

Klangspektakel<br />

Unter einem Einzug – auch <strong>als</strong> Adventus 13 bezeichnet – verstanden die Zeitgenossen<br />

die feyerliche Ankunfft eines Landesherrn in einer seiner Städte bzw. eines hohen<br />

Gastes oder eines Abgesandten 14 . Der Akt der Einholung in die Stadt ist dabei<br />

<strong>als</strong> Ehrenbezeugung für den Einziehenden zu verstehen 15 . Im Einzugszeremoniell<br />

spiegelten sich das Ansehen und die Würde eines Potentaten wider; dieser war seinem<br />

Stande gemäß zu empfangen 16 . Die Vorbereitungen für den kaiserlichen Einzug,<br />

der für den 12. Dezember 1652 erwartet wurde, gestalteten sich demzufolge<br />

äußerst aufwendig und waren das Ergebnis minutiöser Planung. Neben dem Bau<br />

11 Stollberg-Rilinger: Symbolik der Reichstage, S. 80.<br />

12 Vgl. Tenfelde, Klaus: Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzuges, in: Historische<br />

Zeitschrift 235 (1982), S. 45–84, hier S. 55.<br />

13 Zum Terminus „Adventus“ vgl. Schenk, Gerrit Japser: Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge<br />

im spätmittelalterlichen Reich, Köln; Weimar; Wien 2003, S. 59.<br />

14 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften<br />

und Künste …, 64 Bde., Halle u. a. 1732–1754, hier Bd. 8, S. 608.<br />

15 Vgl. Dotzauer, Winfried: Die Ankunft des Herrschers. Der fürstliche „Einzug“ in die<br />

Stadt (bis zum Ende des Alten Reichs), in: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973),<br />

S. 245–288.<br />

16 Vgl. Lünig, Johann Christoph: Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, Oder Historisch=<br />

und Politischer Schau=Platz Aller Ceremonien …, 2 Bde., Leipzig 1719/20, hier<br />

Bd. I, S. 30.<br />

Dis | kurs 171


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

eines Ballhauses sowie des Comedien-Hauses wurde auch eine eigens für diesen Anlass<br />

konstruierte Ehrenpforte aufgerichtet, die den kaiserlichen Einzugsweg säumen<br />

sollte 17 . Gegen Mittag postierte man die Bürgerschaft mit Gewehr und Fahnen entlang<br />

des geplanten Einzugsweges vom Ostentor bis hin zur kaiserlichen Residenz,<br />

dem Bischofshof 18 . Dem alten Herkommen entsprechend 19 rüsteten sich die bereits<br />

vor Ort befindlichen Reichsfürsten, unter ihnen auch die drei geistlichen Kurfürsten<br />

20 , am Tag der kaiserlichen Ankunft, um diesem eine halbe Meile bis vor die Stadt<br />

entgegenzukommen. Zwischen 13 und 14 Uhr setzte sich das Empfangskomitee in<br />

genau geregelter Ordnung, die vom Reichserbmarschall Graf von Pappenheim festgelegt<br />

wurde, in Bewegung. Die dabei eingenommene Auszugsordnung ist in Bezug<br />

auf die hier gewählte Thematik insofern höchst interessant, <strong>als</strong> in ihr eine Musikergruppe<br />

ganz besonders prominent hervorragt: die Trompeter. Der lange Tross an<br />

Pferden, Kutschen und Gefolge, der dem Kaiser entgegenfuhr – in bildlichen Darstellungen<br />

meist <strong>als</strong> serpentinenartiger Festzug visualisiert –, wurde in einzelne Abteilungen<br />

untergliedert, indem zwischen den einzelnen Abordnungen jeweils eine<br />

Gruppe Trompeter in spezieller Livree und dem Wappen ihres Dienstherrn platziert<br />

war 21 . Diese Musikergruppen scheinen eine zeremonielle Ordnungsfunktion bzw.<br />

im übertragenen Sinne eine Art „Interpunktionsfunktion“ für den gesamten Festzug<br />

übernommen zu haben. Wahrscheinlich sollte der Zuschauer in dem Massenspektakel<br />

nicht die Übersicht verlieren und daher kündigten die Trompeter ihren<br />

jeweils nachfolgenden Dienstherrn – vermutlich auch lautstark durch entsprechen-<br />

17 Vgl. dazu Joist, Christa/Kamp, Michael: Der Einzug von Kaiser Ferdinand III., seiner Gemahlin<br />

Eleonora von Gonzaga und König Ferdinands IV. 1652, in: Möseneder, Karl (Hg.):<br />

Feste in Regensburg. Von der Reformation bis in die Gegenwart, Regensburg 1986, S.<br />

200–212. Zur Funktion der „Ehrenpforten“ vgl. Rohr, Julius Bernhard: Einleitung zur<br />

Ceremonial-Wissenschaft der Grossen Herren. Neudruck der Ausgabe Berlin 1733, hrsg.<br />

von Monika Schlechte, Weinheim 1990, S. 611–613.<br />

18 Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 291. Der Magistrat der Stadt hatte eigens für diesen<br />

Anlass eine Stadtgarde von 250 Mann anwerben lassen. Vgl. dazu Joist/Kamp: Der<br />

Einzug von Kaiser Ferdinand III, S. 200.<br />

19 Vgl. Tenfelde: Adventus, S. 56; siehe auch Adlhoch, Gabriele/Joist, Christa/Kamp,<br />

Michael: Die Einzüge, in: Möseneder (Hg.): Feste in Regensburg, S. 31–42, hier S. 35.<br />

20 Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bereits der Abt von Fulda, der Bischof von Paderborn<br />

sowie die drei geistlichen Kurfürsten von Mainz, Köln und Trier in der Stadt. Vgl. Theatrum<br />

Europaeum, Bd. 7, S. 291; sowie Gumpelzhaimer, Christian Gottlieb: Regensburg's<br />

Geschichte, Sagen und Merkwürdigkeiten …, Dritte Abtheilung (1618 bis 1790), Regensburg<br />

1838, S. 1312.<br />

21 Die Trompeter des Bischofs von Regensburg beispielsweise in „violbraunem Gewand<br />

mit blauen Borten“, die Trompeter des Bischofs von Paderborn hingegen im „braunem<br />

Gewand mit Neckerfarben Borten“. Vgl. dazu Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685),<br />

S. 291–292. Vgl. auch Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Grossen Herren,<br />

S. 624 f., der diese Praxis <strong>als</strong> allgemein üblich bestätigt.<br />

172 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

de Signale 22 – an. Bemerkenswerterweise sind hierbei zwischen dem Komitat der<br />

Reichsfürsten und dem der Kurfürsten graduelle Unterschiede festzustellen. Führten<br />

die Reichsfürsten lediglich ein Trompeterpaar an der Spitze ihrer Zugabteilung mit<br />

sich, so wurde bei den drei geistlichen Kurfürsten eine weitere Trompetergruppe in<br />

der Größenordnung zwischen zwei bis sechs Musikern unmittelbar vor der Kutsche<br />

des jeweiligen Kurfürsten eingeschoben – der kurkölnischen Kutsche folgten sogar<br />

noch weitere zwei Trompeter im direkten Anschluss nach 23 . Die Kurfürsten scheinen<br />

sich ganz gezielt mit Trompetenklang umgeben zu haben. Eine mögliche Erklärung<br />

für dieses Phänomen dürfte sich aus den äußeren Bedingungen ergeben. Durch die<br />

Beteiligung mehrerer hundert Menschen samt Pferden und Kutschen muss es verhältnismäßig<br />

laut gewesen sein. Wenn das Zeremoniell grundsätzlich darauf ausgerichtet<br />

war, den Potentaten aus dem Alltagsgeschehen deutlich herauszuheben, so<br />

hatte sich dieser konsequenterweise ebenfalls von kontingenten Geräuschen abzuheben.<br />

Dieser umgab sich daher bei öffentlichen Auftritten mit einer Art „akustischen<br />

Kokon“ 24 . Diese „Klangwolke“ sollte den alltäglich-natürlichen Lärmpegel übertönen<br />

und ihn somit aus der langen Einzugskolonne akustisch herausheben und dadurch<br />

für den Zuschauer, der zugleich immer auch Zuhörer des Geschehens war, zusätzlich<br />

kennzeichnen.<br />

Neben dieser rein praktischen Funktion stellte der Trompetenklang darüber hinaus<br />

auch ein Symbol herrschaftlicher Macht dar 25 : In seiner repräsentativen Funktion war<br />

er ein unmissverständlicher Indikator für den politischen Rang eines Fürsten. Die<br />

Anzahl der Trompeter im Gefolge des Potentaten konnte <strong>als</strong> äußerlicher Ausdruck<br />

seiner Reputation gelten 26 . Trompeter gehörten zum obligatorischen Bestandteil eines<br />

jeden Fürstenstaates 27 . Der Klang der Trompete, so bemerkte es der Verfasser<br />

der ersten Abhandlung über die Geschichte der Trompete, Johann Ernst Altenburg,<br />

sei nicht nur solenner und erhabener <strong>als</strong> andere Klänge, er ließe sich auch vorzüg-<br />

22 Siehe dazu weiter unten.<br />

23 Theaterum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 292.<br />

24 Berns: Herrscherliche Klangkunst, S. 56–57.<br />

25 Vgl. hierzu grundlegend Zak, Sabine: Musik <strong>als</strong> „Ehr und Zier“. Studien zur Musik im<br />

höfischen Leben, Recht und Zeremoniell, Neuss 1979; sowie dies.: „Luter schal und<br />

süeze doene“. Die Rolle der Musik in der Repräsentation, in: Ragotzy, Hedda/Wenzel,<br />

Horst (Hg.): Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990,<br />

S. 133–148.<br />

26 Vgl. Altenburg, Detlef: Untersuchungen zur Geschichte der Trompete, 3 Bde., Regensburg<br />

1973, hier Bd. I, S. 141.<br />

27 Vgl. Altenburg, Johann Ernst: Versuch einer Anleitung zur heroisch= musikalischen<br />

Trompeter= und Pauker= Kunst, zu mehrerer Aufnahme derselben historisch, theoretisch<br />

und praktisch beschrieben und mit Exempeln erläutert. Zwey Theile. Neudruck der Ausgabe<br />

Halle 1795, Dresden 1911, S. 26.<br />

Dis | kurs 173


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

lich im Freien anwenden, um viel Aufsehen zu erregen. Besonders viel Aufsehen sei<br />

dem Fürsten vor allem dann gewiss gewesen, wenn er bei öffentlichen Auftritten<br />

die Trompeter in zwei Chören in prächtiger Livree und mit silbernen Instrumenten<br />

aufstellen ließ 28 . Der explizite Hinweis auf die silbernen Instrumente findet sich auch<br />

in dem vorliegenden Beispiel in Bezug auf die kurfürstlichen Trompeter wieder: So<br />

wird vermerkt, dass der Kurfürst von Trier derer zwei, der Kurfürst von Mainz drei<br />

und der Kurfürst von Köln sogar sechs mit sich geführt hätten 29 . Auf den ersten Blick<br />

mag der Materialhinweis marginal erscheinen, doch gerade den silbernen Instrumenten<br />

kam eine repräsentative Bedeutung zu. So bemerkte Altenburg, man hätte<br />

sich an den großen Höfen ausschließlich silberner Trompeten bedient 30 . Dies sei aber<br />

keineswegs aus klanglichen Gründen geschehen, wie man meinen könnte; oftm<strong>als</strong><br />

wären Messinginstrumente in ihrer Klangqualität sogar wesentlich höherwertiger<br />

gewesen 31 . Die Materialwahl hatte demnach nichts mit klanglichen Vorzügen zu tun,<br />

wohl aber mit dem Rang des jeweiligen Dienstherrn 32 . Die Funktion der silbernen<br />

Trompeten ging <strong>als</strong>o weit über ihren reinen Nutzen <strong>als</strong> Gebrauchsinstrumente hinaus.<br />

Es handelte sich bei ihnen vielmehr um Prunkinstrumente des Fürsten. Dessen<br />

Rang wurde nicht nur durch die prächtigen Livreen seines Gefolges, die aufwendig<br />

gestalteten und dekorierten Kutschen, sondern eben auch durch die silbern-glänzenden<br />

Instrumente optisch unterstrichen 33 .<br />

Konnte bereits für das Mitführen von Trompetern in der Empfangsdelegation zwischen<br />

Kur- und Fürsten ein gradueller Unterschied festgestellt werden, so verstärkt<br />

sich dieser Eindruck noch, wenn man die kaiserliche Entourage näher betrachtet.<br />

Nach der offiziellen Begrüßung des Kaisers vor der Stadt 34 , auf die hier nicht näher<br />

eingegangen werden soll, setzte sich der kaiserliche Einzug in die Stadt fort. Dabei<br />

registrieren die Quellen vier kaiserliche Trompeter unmittelbar vor der Kutsche, in<br />

dem der Kaiser nebst seiner Frau Eleonore von Mantua saß; ein weiterer Kayserlicher<br />

Heerpaucker sowie 8. Kayserl. Trompeter seien ganz am Ende des Zuges nachgefolgt 35 .<br />

28 Ebd., S. 26.<br />

29 Theaterum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 292.<br />

30 Altenburg: Versuch einer Anleitung, S. 10.<br />

31 Ebd., S. 6.<br />

32 Vgl. auch das Lemma „Trompete“ in Zedlers Universallexicon, Bd. 45, Sp. 1105.<br />

33 Zur Symbolkraft von Silber und silbernen Trompeten vgl. Cotte, Roger: Kosmische Harmonien.<br />

Die Symbolik in der Musik, München 1992, S. 55.<br />

34 Gumpelzhaimer: Regensburg's Geschichte, 3. Theil, S. 1313, sowie Theatrum Europaeum,<br />

Bd. 7 (1685), S. 292.<br />

35 Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 293. Neben den Paukern und Trompetern werden<br />

noch 60 weitere Musiker im kaiserlichen Gefolge erwähnt. Dabei dürfte es sich um die<br />

kaiserliche Hofkapelle gehandelt haben, die aber an dem Einzugszeremoniell selbst nicht<br />

aktiv beteiligt war.<br />

174 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

Sollte die Anzahl der mitgeführten Trompeter idealiter den jeweiligen Rang des Potentaten<br />

widerspiegeln, dann stand dem Kaiser folglich die größte Anzahl zu: mit<br />

insgesamt 12 Trompetern und einem Heerpauker wurde die kaiserliche Vormachtstellung<br />

optisch und vermutlich auch akustisch unterstrichen.<br />

Klang- und sanglos lief der kaiserliche Einzug zumindest nicht ab. Dieser wurde<br />

sowohl von dem lautstarken Jubelgeschrei der Stadtbevölkerung <strong>als</strong> auch von dem<br />

dreimaligen Abfeuern der Kanonen auf den Wällen 36 begleitet. Ein erstes Mal feuerten<br />

diese, <strong>als</strong> der Zug auf der Höhe des Straubinger Tores war, ein zweites Mal, <strong>als</strong><br />

er an der Ehrenpforte vorbei kam, und ein letztes Mal, <strong>als</strong> der Kaiser schließlich an<br />

seiner Residenz angelangt war 37 . Dass sich neben der lautstarken Akklamation der<br />

Bürgerschaft und den martialischen Klängen des Kanonendonners 38 – zugleich Symbol<br />

militärischer Herrschaft – die mitgeführten Trompeter ebenfalls lautstark hören<br />

ließen, wird in den Quellen zwar nicht eigens erwähnt, ist aber sehr wahrscheinlich 39 .<br />

Lediglich an einer Stelle des insgesamt zweistündigen Ablaufs findet sich in den Quellen<br />

ein expliziter Hinweis auf eine Musikdarbietung. Die oben erwähnte Ehrenpforte<br />

stellte gleichzeitig eine Art Bühne dar; die Attika war <strong>als</strong> Musikempore ausgebaut 40 .<br />

Als sich nun der Kaiser dieser Stelle näherte, sei auff der Ehren=Pforten eine zimlich<br />

feine Music mit vollem Chor und starck lautenden Instrumenten zu vernehmen gewesen<br />

41 ; die Zeremonialakten des Wiener Oberhofmarschallamts sprechen sogar von<br />

einer schönen Music von allerley Stimmen, Seitnspil, Heerpaukhen und Trompetten 42 .<br />

Um welche Musiker es sich dabei gehandelt hat, ob nun städtische oder kaiserliche,<br />

muss offen bleiben. Auch über die künstlerisch-ästhetische Qualität der Darbietung<br />

schweigen sich die Quellen aus 43 . Nichtsdestotrotz dürfte die Musik aber dazu beigetragen<br />

haben, den Moment des kaiserlichen Erscheinens wirkungsvoll aus der Alltagssphäre<br />

herauszuheben. Zudem ließ sich auch das panegyrische Bildprogramm<br />

der Ehrenpforte, das in Wahlsprüchen, Emblemen, Inschriften und Allegorien Kaiser<br />

Ferdinand verherrlichte, durch den musikalischen Effekt in seiner Wirkung noch<br />

36 Ebd., S. 293.<br />

37 Vgl. Adlhoch/Joist/Kamp: Die Einzüge, S. 38.<br />

38 Von dem sonst üblichen Glockengeläut ist in den Quellen keine Rede.<br />

39 Den Angaben bei Rohr: Einleitung in die Ceremoniel-Wissenschafft der Grossen Herren,<br />

S. 615 zufolge, war es durchaus üblich, dass sich die kaiserlichen Heerpauker und Trompeter<br />

bei kaiserlichen Einzügen „in währenden (sic!) Marsch immer hören“ ließen.<br />

40 Joist/Kamp: Der Einzug von Kaiser Ferdinand III, S. 204.<br />

41 Gumpelzhaimer: Regensburg's Geschichte, 3. Theil, S. 1314; Theatrum Europaeum,<br />

Bd. 7 (1685), S. 293.<br />

42 Haus- Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien, Oberhofmarschallamt, Zeremonialakten (ZA),<br />

Protokollband 1: 1652–1659, Fol. 70.<br />

43 Vgl. dazu Riepe, Juliane: Hofmusik in der Zeremonialwissenschaft des 18. Jahrhunderts,<br />

in: Händel-Jahrbuch 49 (2003), S. 27–52, hier S. 39.<br />

Dis | kurs 175


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

steigern 44 . Beim Einzugszeremoniell kam allem Zeichencharakter zu, was deutlich<br />

wahrnehmbare und womöglich quantifizierbare, nuancierte Abstufungen der beteiligten<br />

Akteure erlaubte. Man musste sich bei diesem Massenspektakel aber nicht nur<br />

sehen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auch hören lassen können. Die unterschiedliche<br />

Anzahl der mitgeführten Trompeter ist in diesem Zusammenhang nicht<br />

in erster Linie auf die musikalischen Vorlieben des jeweiligen Potentaten zurückzuführen,<br />

sondern fungierte vielmehr <strong>als</strong> Sinnbild herrscherlichen Selbstverständnisses.<br />

Obzwar grundsätzlich von der klanglichen Mitwirkung der mitgeführten Trompeter<br />

und Pauker am Zuggeschehen ausgegangen werden kann, bleibt das dabei verwendete<br />

Repertoire relativ im Dunkeln, zumal es sich vorrangig um improvisierte sowie<br />

mündlich tradierte Signale gehandelt hat 45 . Auch wenn daher offen bleiben muss, ob<br />

die Trompeter tatsächlich eine Art „klingendes Wappen“ 46 ihres Herrn darstellten,<br />

indem sie ein charakteristisches Klangsignal oder eine bestimmte Erkennungsmelodie<br />

ihres Fürsten verwendeten, so waren sie es doch zumindest schon rein optisch<br />

durch ihre Livree in den Farben ihres Dienstherrn. Im Idealfall waren sie vermutlich<br />

sichtbares und weithin hörbares Herrschaftssymbol zugleich.<br />

Die öffentliche Behauptung von Rangansprüchen war das eine, die Anerkennung<br />

der anderen Akteure für diese zu erhalten etwas völlig anderes. In der Praxis fielen<br />

Zeichen und Bezeichnetes nicht immer in eins. Davon zeugt die große Zahl an Rangkonflikten<br />

in der Frühen Neuzeit. Inwiefern es dabei auch zu „akustischen Rangstreitigkeiten“<br />

kommen konnte, soll abschließend anhand des Einzugs des Herzogs von<br />

Württemberg erläutert werden.<br />

Der Einzug des Herzogs von Württemberg:<br />

ein „akustischer Zwischenfall“?<br />

In den ersten Tagen und Wochen des Jahres 1653 fanden sich weitere Reichsstände in<br />

Regensburg ein. Trotz des erst kurz zurückliegenden Krieges, der viele Reichsstände<br />

wirtschaftlich ruiniert hatte, versuchten einige Fürsten ihren Einzug ganz besonders<br />

aufwendig zu zelebrieren; der Herzog Eberhard von Württemberg war einer von ihnen.<br />

Dieser sei am 2. Januar mit seiner Frau Gemahlin und vielen fürnehmen Caval-<br />

44 Zum ikonographischen Programm der Ehrenpforte, das in seiner Kernaussage vor allem<br />

Ferdinand <strong>als</strong> Friedensstifter nach den langen Kriegsjahren feierte, vgl. Theatrum Europaeum,<br />

Bd. 7 (1685), S. 291.<br />

45 Vgl. Altenburg, Detlef: Zum Repertoire der Hoftrompeter im 17. und 18. Jahrhundert, in:<br />

Alta musica 1 (1976), S. 47–60, hier S. 48.<br />

46 Tarr, Edward: Die Musik und die Instrumente der Charamela Real in Lissabon, in: Basler<br />

Studien zur Interpretation der Alten Musik, Winterthur (Schweiz) 1980, S. 181–229, hier<br />

S. 183.<br />

176 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

liern und einem ansehnlichen Gefolge von 300 Personen in Regensburg angelangt 47 .<br />

Genau sechs Tage später hält das Theatrum Europaeum für den 8. Januar einen weiteren<br />

Einzug fest: den des pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig. Dieser habe nachmittags<br />

mit seiner Frau Gemahlin und seiner Schwester samt 250 Pferden und ebenso<br />

vielen Personen einen stattlichen Einzug gehalten, bei dem er von der im Gewehr stehenden<br />

Bürgerschafft und der Lösung des Geschützes willkommen geheißen worden<br />

sei 48 . Obgleich beide Reichsfürsten mit großem Gefolge nach Regensburg gekommen<br />

waren, wurde allein dem Kurpfälzer die Ehre zuteil, die dem Herzog von Württemberg<br />

verwehrt wurde: der Empfang der aufgestellten Bürgerschaft in Waffen sowie<br />

das Abfeuern der Geschütze. Diese Ehrerbietung wurde nur dem Kaiser und den<br />

Kurfürsten gewährt 49 . Mit Nachdruck bestätigten die Kanonensalven auch akustisch<br />

die erst jüngst zurück gewonnene Pfälzer Kurwürde, die der geächtete „Winterkönig“<br />

im Dreißigjährigen Krieg an den Bayern-Herzog verloren hatte 50 . Vor diesem Hintergrund<br />

scheint es durchaus legitim zu sein, von einer Art „klanglichen Distinktion“ zu<br />

sprechen. Deutlich hörbar für alle Anwesenden wurde mit den Kanonenschüssen auf<br />

die Ankunft von besonders hohen Persönlichkeiten wie etwa dem Kaiser oder den<br />

Kurfürsten hingewiesen. Der Herzog von Württemberg wurde offensichtlich nicht<br />

<strong>als</strong> eine solch hohe Persönlichkeit angesehen. Dass sein Einzug aber dennoch nicht<br />

gänzlich in der Masse der anderen Reichstagsteilnehmer unterging, dürfte sicherlich<br />

an dem hohen Aufwand gelegen haben, den der Herzog betrieben hat. Obgleich er<br />

sich von den anderen Reichsfürsten absetzten konnte, reichten seine Bemühungen<br />

jedoch nicht aus, um den repräsentativen Anschluss an die Kurfürsten zu erzielen.<br />

Der Kaiser hat die herzogliche Ankunft offenbar ebenfalls genau verfolgt wie ein protokollarischer<br />

Eintrag in den Wiener Zeremonialakten des Oberhofmarschallamts<br />

beweist, wobei ein Detail des Einzugs dabei ganz besonders hervorgehoben wird. Der<br />

Herzog sei am 2. Januar mit 200 Pferden und 250 Personen zu Regensburg eingezogen<br />

und habe durch die Stadt die Trompetten blasen, die bey sich gehabte Hörpauggen<br />

aber erst im Quartiert schlagen lassen; dieses sei vom Kaiser nit zum besten angenommen<br />

worden 51 . Es ist bemerkenswert, dass der kaiserliche Kommentar nicht nur<br />

die Verwendung von Pauken und Trompeten explizit erwähnt, sondern dieses Vorgehen<br />

ferner auch <strong>als</strong> anmaßend tadelt. Dagegen heißt es bezüglich des kurz darauf<br />

erfolgten kurpfälzischen Einzugs lapidar: Dieser sei mit Blasen und Trompetten und<br />

47 Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 339.<br />

48 Ebd., S. 339.<br />

49 Sowohl der Kaiser <strong>als</strong> auch die drei geistlichen Kurfürsten von Mainz, Trier und Köln<br />

waren bei ihrer Ankunft in Regensburg ebenfalls mit Kanonenschüssen begrüßt worden.<br />

Siehe dazu Theatrum Europaeum, Bd. 7 (1685), S. 291 ff.<br />

50 Schmidt, Georg: Der Dreissigjährige Krieg, München 52002, hier S. 35.<br />

51 HHStA Wien, ZA, Fol. 91.<br />

Dis | kurs 177


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Schlagen der Hörpauggen durch die Statt in das Quartier eingezogen 52 . Was beim kurpfälzischen<br />

Einzug wie selbstverständlich Erwähnung findet, hat in Bezug auf den<br />

Herzog von Württemberg kaiserliches Missfallen ausgelöst. Der Hinweis, der Herzog<br />

habe die Heerpauken erst im eigenen Quartier schlagen lassen, deutet obendrein<br />

auf ein genau kalkuliertes Vorgehen hin. Wenn ihm schon die Kanonade seitens der<br />

Bürgerschaft verwehrt wurde, so wollte der Herzog von Württemberg offensichtlich<br />

nicht gänzlich auf eine angemessene klangliche Herrschaftsinszenierung verzichten.<br />

Dass das Vorgehen des Herzogs nicht allein mit egomanischen Zügen erklärt werden<br />

kann, wird aus dem Gesamtzusammenhang deutlich. Der Dreißigjährige Krieg hatte<br />

vor allem auch die innere Ordnung des Alten Reiches tief erschüttert; nicht zuletzt<br />

auch deshalb, weil sich Kaiser und Reichsglieder während des Kriegsverlaufs immer<br />

wieder in wechselnden Bündnissen gegenüber gestanden hatten 53 . Zudem war<br />

es zwischen 1613 und 1640 zu keinem Reichstag mehr gekommen, auf dem sich<br />

das Reich <strong>als</strong> handlungsfähige Einheit hätte repräsentieren können. Vor dem Hintergrund,<br />

dass die frühneuzeitliche Reichsverfassung gerade nicht auf einem abstrakten<br />

Verfassungstext basierte, sondern die Ordnung des Reiches sich maßgeblich<br />

in symbolisch-rituellen Handlungen konstituierte, war das Auftreten der Akteure<br />

auf dem Regensburger Reichstag von ganz besonderer Bedeutung. In der Logik der<br />

Zeitgenossen würde sich gerade auf diesem Reichstag durch das Auftreten der einzelnen<br />

Potentaten entscheiden, wie die zukünftige innere Ordnung des Alten Reiches<br />

aussehen könnte 54 . Aber auch für jeden einzelnen Reichsstand kam es darauf<br />

an, eigene Rangsansprüche wirkungsvoll in Szene zu setzen. Vor allem der Herzog<br />

von Württemberg, der im Krieg seines Herzogtums verlustig ging und dieses erst mit<br />

dem Westfälischen Frieden wiedererlangt hatte 55 , trug das neue Selbstbewusstsein<br />

offen zur Schau. Darüber hinaus war die offensichtlich genau kalkulierte klangliche<br />

Provokation des Herzogs speziell an die Adresse der Kurfürsten gerichtet. Ein wichtiger<br />

Aspekt der komplexen und vielschichtigen Verhandlungsgegenstände, die es in<br />

Regensburg zu erörtern galt, war die Frage der generellen Neuregelung der Königswahl<br />

und der Neuredaktion der Wahlkapitulation 56 . Eine diesbezügliche Änderung<br />

hätte an der traditionellen Präzedenz der Kurfürsten gerüttelt, die u. a. aus ihrem<br />

traditionellen Recht der Königswahl – garantiert in der Goldenen Bulle von 1356 –<br />

52 Ebd., Fol. 101.<br />

53 Vgl. Schmidt: Der Deissigjährige Krieg.<br />

54 Vgl. Stollberg-Rilinger: Zeremoniell <strong>als</strong> politisches Verfahren.<br />

55 Vgl. Press, Volker: Die Herzöge von Württemberg, der Kaiser und das Reich, in: Uhland,<br />

Robert (Hg.): 900 Jahre Haus Württemberg. Leben und Leistung für Land und Volk, Stuttgart<br />

u. a. 1985, S. 412–433; sowie Fischer, Joachim: Herzog Eberhard III. (1628–1674),<br />

in: Ebd., S. 195–209.<br />

56 Vgl. Müller: Regensburger Reichstag, S. 81–137.<br />

178 Dis | kurs


Thema: Patient Demokratie<br />

resultierte 57 . „Lautstark“ postulierte der Herzog von Württemberg bereits bei seinem<br />

Einzug seine Forderung nach gleichberechtigter Rangstellung mit den Kurfürsten.<br />

Die repräsentative Wirkung des Pauken- und Trompetenschalls sollte ihn auf zeremonielle<br />

„Augenhöhe“ mit Letzteren bringen. Dass der Kaiser gerade über den<br />

Einsatz von Pauken und Trompeten verärgert war, bezeugt die repräsentative Wirkung,<br />

die von den Instrumenten ausging; und genau diesen Umstand machte sich<br />

der württembergische Herzog zu Nutzen.<br />

Sollte die Symbolkraft des Pauken- und Trompetenklangs erhalten bleiben, musste<br />

die Exklusivität der Instrumente gewahrt werden. Gerade der Trompetengebrauch<br />

wurde daher seit dem Spätmittelalter immer stärker durch kaiserliche Privilegien<br />

eingeschränkt. Eine Entwicklung, die in der Gründung der Reichszunft der Trompeter<br />

und Pauker von 1623 ihren vorläufigen Abschluss fand 58 . Die rechtliche Beschränkung<br />

reichte aber offensichtlich nicht aus. Wollte man keinen Präzedenzfall<br />

schaffen, musste jeglicher Verstoß gegen das Zeremoniell deutlich zurückgewiesen<br />

werden. In dem vorliegenden Fall hatte es keine weiteren Konsequenzen für den<br />

Herzog. Dennoch wurde dieser „akustische“ Fauxpas vom Kaiser genau registriert<br />

und in den kaiserlichen Zeremonialakten dokumentiert; nicht zuletzt auch deswegen,<br />

damit sich der Kaiser bei zukünftigen Gelegenheiten darauf berufen konnte.<br />

Zusammenfassung<br />

In dem Aufsatz wurde eine Annährung an das Phänomen der akustischen Herrschaftsinszenierung<br />

versucht. Diesbezüglich haben die Einzugsbeispiele gezeigt, dass<br />

akustische Zeichen – wie Kanonendonner, Akklamation der Bürgerschaft oder Musik<br />

im weitesten Sinne – nicht nur feste Bestandteile des frühneuzeitlichen Einzugszeremoniells<br />

waren, sondern auch differenziert, dem jeweiligen fürstlichen Rang gemäß<br />

zum Einsatz kamen. Insbesondere vom Trompetenklang scheint dabei eine Symbolkraft<br />

ausgegangen zu sein, die für die vormoderne symbolische Kommunikation von<br />

Herrschaft von großer Bedeutung war. Neben ihrer Signal- und Gliederungsfunktion<br />

für die Zugordnung hoben die Trompeter und Pauker den Potentaten aus der Sphäre<br />

des Alltäglichen heraus und brachten <strong>als</strong> eine Art „klingendes Wappen“ Herrschaftsund<br />

Rangansprüche zum Ausdruck 59 . Nicht zuletzt in der Anzahl der mitgeführten<br />

Trompeter dokumentierten sich die Rangunterschiede der einzelnen Potentaten. Auf<br />

diese Weise wurde die politisch-soziale Ordnung des frühneuzeitlichen Reiches auch<br />

akustisch wahrnehmbar. Dass der Herzog von Württemberg seine neuen Rangansprüche<br />

gegenüber den Kurfürsten mittels des kalkulierten Einsatzes von Pauken<br />

57 Vgl. ebd., S. 130–134.<br />

58 Vgl. Altenburg: Untersuchung, Bd. I, S. 44.<br />

59 Vgl. auch den Beitrag von Nils Bock über Herolde in diesem Band.<br />

Dis | kurs 179


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

und Trompeten zum Ausdruck brachte, belegt den großen Symbolwert, den die Instrumente<br />

für die Herrschaftsrepräsentation besaßen. Als Fazit ließe sich demnach in<br />

Bezug auf die hier untersuchten Einzugsbeispiele das obige Zitat von Elias wie folgt<br />

erweitern: Das Volk musste eben nicht nur sehen, sondern auch hören, um an die<br />

Macht der Herrschenden glauben zu können.<br />

Literatur (Auswahl)<br />

Berns, Jörg Jochen: Herrscherliche Klangkunst und höfische Hallräume. Zur zeremoniellen<br />

Funktion akustischer Zeichen, in: Hahn, Peter-Michael/Schütte, Ulrich (Bearb.): Zeichen<br />

und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen<br />

Neuzeit, Berlin 2006, S. 49–64.<br />

Cotte, Roger: Kosmische Harmonien. Die Symbolik in der Musik, München 1992.<br />

Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums<br />

und der höfischen Aristokratie, Amsterdam 2002.<br />

Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe<br />

– Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004),<br />

S. 489–527.<br />

Zak, Sabine: Musik <strong>als</strong> „Ehr und Zier“. Studien zur Musik im höfischen Leben, Recht und<br />

Zeremoniell, Neuss 1979.<br />

180 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

Internationale Politik<br />

Taking Indigenous Politics Seriously in the Study<br />

World Politics:<br />

The Limits and Possibilities of Political Vision<br />

Johannes Morrow<br />

State University of New York at Albany<br />

E-Mail: johannesmorrow@gmail.com<br />

Keywords<br />

Indigenous Politics, International Politics, State, Indigenous Communities<br />

as Political Actors<br />

Introduction<br />

„Rumors of my death have been greatly exaggerated,“ Mark Twain once quipped.<br />

Much the same can be said about the representation of indigenous peoples 1 in social<br />

science literature. Despite the explicit and intentional efforts at the physical and<br />

cultural genocide of indigenous peoples throughout the world, their continued existence<br />

and persistence challenges their disappearance or anticipated death in social<br />

science theories, specifically in the discipline of international relations. More fascinating<br />

still, these theories often required their disappearance or eventual disappearance<br />

for the coherence of there narratives. What I identify as the ‚dominant school of<br />

International Relations‘ depends on a conception of the state that the continued exis-<br />

1 Although definitions are highly contested and I do not want to pigeon hole this concept,<br />

some clarification is warranted: „Indigenous political communities“ refers to various<br />

collectivities, alternatively referred to as tribes, nations or peoples that live on territories<br />

claimed to be under, and prior to the jurisdiction of a United Nations recognized state,<br />

but over which they do not have administrative control. The UN definition of ‚indigenous<br />

peoples‘ is helpful but not sufficient; see, UN Draft Declaration on the Rights of Indigenous<br />

Peoples.<br />

Dis | kurs 181


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

tence and persistence of indigenous political communities undermines. To the extent<br />

social science theories depend on this concept of the state they must be analytically<br />

reformulated. In addition, there is a related normative concern, as is usually the case<br />

with IR theory. The normative concern is that this conception of the state is crucial<br />

to reductionist theories that limit the possibility of acting differently than the ways<br />

these theories understand most states to have acted historically. In short, they argue<br />

that ‚practical‘ politics are governed by certain political necessities, like security, order<br />

and progress, that greatly limit and structure the range of political possibility and<br />

who can be included in it.<br />

The „dominant school“ refers to an assemblage of loosely associated theories that<br />

share some family resemblances; including particular conceptions of a state of nature,<br />

the social contract/stages view of human history and state sovereignty as the<br />

assumed conditions of analysis. This is the familiar story of social contact theories.<br />

The state of nature refers to an original state of human affairs before the existence of<br />

any human society. In this situation, individu<strong>als</strong> are presumed autonomous and they<br />

need to respect only those persons and things they naturally fear. This condition is<br />

brutal and individu<strong>als</strong> are said to naturally want to do anything to escape such an<br />

intolerable situation. The social contract/stages view of human history is the process<br />

by which individu<strong>als</strong> escape the condition of the state of nature, by delegating their<br />

authority to a sovereign body. In social contract theory this is how state sovereignty is<br />

created. I call this family of social contract concepts, „the basic concepts.“ Indigenous<br />

peoples have been, and often continue to be, identified as belonging to pre-political<br />

communities, positioned within a state of nature. Consequently, they are of little concern<br />

to the dominant school because of its overwhelming preoccupation with states<br />

as they understand them.<br />

How the Basic Concepts Preclude Indigenous Politics<br />

Indigenous politics are excluded from Bull's analysis of international politics for three<br />

principal reasons. First, indigenous political communities lack characteristics to qualify<br />

as states under Bull's definition. The second reason has to do with the assumption<br />

of sovereignty in the dominant school's conception of the state. This conception of<br />

the state casts indigenous politics as either primitive relics of the past, outside of political<br />

space and time, or as one of many interest groups within the domestic politics<br />

of the state. Finally, Bull's use of „primitives“ or his reading of indigenous politics is a<br />

foil to show how international order is possible, but only a very limited order dominated<br />

by the interests of states. This double move both reinscribes the idea of a state<br />

of nature and eliminates the possibility of indigenous politics altogether.<br />

In the first case, indigenous political communities cannot be studied as states in international<br />

relations because they lack certain characteristics to qualify as states in<br />

182 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

Bull’s definition. Recall that the characteristics of states were government, sovereignty,<br />

population and territory. Even if a political community has government, population<br />

and territory, if it does not have sovereign authority – that is supremacy over<br />

all other authorities within the territory and a monopoly on the use of force – it<br />

cannot qualify as a state. Recall that ‚any independent political community which<br />

merely claims sovereignty (or is judged to have such a right), but cannot assert this<br />

right in practice, is not a state properly so called.‘ 2 Simply claiming sovereignty is<br />

not enough for Bull, even where the perception of state sovereignty was sufficient<br />

in Waltz's analysis. So indigenous political communities are not states „properly so<br />

called,“ but perhaps these political communities could become states by actualizing<br />

sovereignty. This is certainly a possibility. Nevertheless, the strategy of statehood is<br />

likely counter-productive for two reasons. First, statehood would require political,<br />

social and economic reorganizations that would undermine the self-understanding<br />

of many indigenous political traditions. These requirements may be so great that<br />

such a community would likely cease to be considered „indigenous“ even under a<br />

very broad definition of the term. 3 At any rate, whatever outcome of identity resulted,<br />

„actualizing sovereignty“ would eliminate the very difference that I am interested in<br />

here. Second, the strategy of actualizing sovereignty would be counter-productive<br />

because state sovereignty as Bull defines it, is a partial fiction – state sovereignty is<br />

always at best contingent upon institutional practices. It is never so complete and<br />

secure as Bull assumes and Waltz enacts with the social contract.<br />

What in fact the assumption of sovereignty means in the dominant conception of the<br />

state is that all other political „entities“ must be studied by some discipline other than<br />

international relations because they are all lesser authorities under the authority of<br />

some state. So for example indigenous politics could be studied as anthropology or<br />

alternatively as interest group politics. If the politics of indigenous political communities<br />

appear to be very different from other kinds of politics within a state, then they<br />

would be relegated to the domain of anthropology. This is the literature Bull draws on<br />

to highlight the politics of „primitive anarchical societies.“ These societies are relics<br />

of some age long past, and though intellectually interesting, especially in the way they<br />

may disprove Waltz's conclusions about the possibility of order without a sovereign,<br />

they are currently of little consequence to the practice of international relations.<br />

Alternatively if indigenous politics resemble more the political practices of other<br />

2 Bull, Hedley: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics. New York 1977.<br />

p. 8.<br />

3 „Traditional indigenous nationhood stands in sharp contrast to the dominant understanding<br />

of the ‚state‘: there is no absolute authority, no coercive enforcement of decisions,<br />

no hierarchy, and no separate ruling entity.“ cf. Alfred, Taiaiake: Peace, Power, and<br />

Righteousness: An Indigenous Manifesto. Oxford 1999. p. 56.<br />

Dis | kurs 183


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

groups within a state, such as corporations, churches or municipalities, then they<br />

could be studied in terms of interest group politics. Interest group politics involve<br />

groups lobbying the state to maximize their portion of state resources and privileges<br />

forming part of what is often called „civil society.“ While indigenous communities<br />

certainly adopt strategies that are consistent with interest group politics and some<br />

may even understand their actions in those terms, the possibility of being interpreted<br />

differently is precluded if state sovereignty is assumed. So no matter whether indigenous<br />

politics are perceived as primitive others, or as interest groups or as a variation<br />

of both, the assumption of state sovereignty means indigenous political communities<br />

cannot be international actors.<br />

The third way indigenous politics are precluded from study in international relations<br />

is the way Bull's argument for international society recasts indigenous politics to a<br />

state of nature, paralleling Waltz through his treatment of the state of nature. Waltz's<br />

theory the state of nature operates to explain both the necessity of contracting with<br />

a sovereign and the subsequent continuation of the state of nature (international anarchy)<br />

between sovereign states after the social contract. The state of nature is so undesirable<br />

that it necessarily leads to a social contract and the development of a state.<br />

In this setup there is no other way of establishing peace and order. Because of the<br />

conceptual pairing of the state of nature to indigenous societies (Bull's „primitives“),<br />

these societies are imagined to be without politics and without community. Political<br />

community is only possible after a social contract, and a social contract results in a<br />

state with sovereign authority. With a state of nature of this kind, the state, as conceived<br />

by Bull and Waltz, is the only kind of properly political community.<br />

Bull's argument for international society runs parallel to this line of reasoning. Bull<br />

explicitly replaces the state of nature with „primitive society“ and uses anthropological<br />

evidence 4 to revise the thesis that the absence of sovereign authority necessarily<br />

means the absence of all order or anarchy. This evidence grants Bull the conceptual<br />

room for idea of international society and yet he still retains the structure of world<br />

politics presented by Waltz. Yet to retain Waltz's structure, Bull still needs to show<br />

that ‚primitive anarchical society‘ is not applicable to world politics because based on<br />

the anthropological evidence, there is no reason to conclude that this international<br />

society is not preferable to his anarchical society. Bull cannot use the argument that<br />

the state is the only option for political community, because that would undermine<br />

his argument for international society. Instead Bull makes his exclusions with the stages<br />

view of human history: „Primitive anarchical society“ is at a different and lower<br />

4 Bull draws on the work of anthropologists Fortes, M. and Evans-Pritchard, E.E.: African<br />

Political Systems. Oxford 1944; Middleton, J. and Tait, (Eds).: Tribes Without Rulers,<br />

Studies in African Segmentary Systems. London 1958.<br />

184 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

stage of history than „modern“ international society. Recall again this passage where<br />

Bull explicitly lays out what that difference is:<br />

Primitive stateless societies rest not simply on a culture that is homogeneous but <strong>als</strong>o<br />

on one that includes the element of magical or religious belief. International society,<br />

by contrast, is part of the modern world, the secular world that emerged from the<br />

collapse of ecclesiastical and religious authority. 5<br />

Cultural homogeneity in ‚primitive‘ society makes it easier to cooperate and affect<br />

unity without a sovereign, whereas the diversity of viewpoints in modern society<br />

requires greater authority or incentive structures to achieve cooperation. 6 Religious<br />

and magical beliefs restrain individu<strong>als</strong> with various taboos and traditions, whereas<br />

science has erased these superstitions in modern society. Because a scientific and<br />

secular worldview is more accurate, it will eventually erode the restraints of religion<br />

and magic in primitive societies, ushering them into the modern world. When this<br />

inevitably happens, primitive societies will give way and these groups of people will<br />

be added to the global diversity of the modern world. „Primitive anarchical societies“<br />

might be good or even preferable, but only for as long as they last. Eventually<br />

they will be encompassed by modern anarchical society so its rules and procedure<br />

will apply universally, whereas the reverse can never be true. Thus the stages view of<br />

human history works in the same way as the social contract to bring society out of<br />

primitive society (read: state of nature), and consequently exclude the possibility of<br />

indigenous politics in modern world politics. In this way the stages view of human<br />

history is really just a more complex and naturalistic story of the societal departure<br />

from a state of nature.<br />

In summary, the centrality of indigenous communities to this story assures that indigenous<br />

politics are doubly excluded from international politics and <strong>als</strong>o assures their<br />

marginality. First they are excluded with all other political communities that do not<br />

qualify as states, and then a second time because of how they are situated in Bull's<br />

argument for international society. In other words, if indigenous politics are shown<br />

to exist, they are the disconfirming instance of Bull's conception of the state and<br />

consequently the problem of international relations defined by the dominant school.<br />

To have a state there must be sovereign authority and to have sovereign authority<br />

indigenous politics must be extinguished. It follows, then, that if there is a state, indigenous<br />

politics have been extinguished. The impossibility of indigenous politics<br />

5 Bull, Hedley: The Anarchical Society. p. 62.<br />

6 My reading suggests that just the opposite is true. ‚Modern society‘ is increasingly more<br />

homogeneous, while indigenous societies represent and foster incredible diversity as<br />

shown for example in the thousands of indigenous languages. Cf. Rae, Heather: State<br />

Identities and the Homogenization of Peoples. Cambridge 2002.<br />

Dis | kurs 185


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

enables the necessity of international politics as defined by the dominant school. The<br />

necessities of states are the only things that can be addressed in international politics.<br />

Bull's anarchical society is thus the best that can be made of this grim situation with<br />

so many sovereign states. 7<br />

How Indigenous Politics Can Be Included in International Political<br />

Analysis<br />

How can international political analysis be reformulated to include Bull’s insights on<br />

the idea of international society on the one hand, and on the other hand, <strong>als</strong>o still<br />

allow for the possibility of indigenous political communities as actors in world politics?<br />

Can this even be done? These questions are related to larger questions having<br />

to do with the prevalence of positivism in the study of international relations as well<br />

as in the social sciences more generally. It includes rethinking the dominant school's<br />

conception of state, along with its critical terms – the state of nature, the social contract<br />

and the stages view of history and state sovereignty. The binaries of religious and<br />

secular, magic and science, traditional and modern, create epistemological and ontological<br />

exclusions that misrepresent actual histories and political processes. The state<br />

cannot be assumed to be the universal analytic of international politics. However the<br />

state can be replaced with the (post) analytic concepts of tradition and dilemma to<br />

provide an account of structure and agency, continuity and change in world politics.<br />

They can provide a (post) foundation for analysis of international politics from diverse<br />

perspectives. These concepts can enable indigenous and other non-state political<br />

communities the possibility of agency in world politics.<br />

The concept of a tradition excludes the possibility of the social contract concept<br />

of state of nature and so excludes the stories social contract theories tell about the<br />

emergence and qualities of the state. There is no original state of human organization.<br />

Arguments about the character of international relations cannot then rely on a<br />

state of nature, not even a hypothetical one. The concept of a dilemma excludes any<br />

necessary historical developments and changes. Culture changes according to the<br />

dilemmas individu<strong>als</strong> face within their pre-existing traditions and social structures.<br />

Change is contingent and involves local reasoning. The first way the concept of a tradition<br />

invalidates an argument from a state of nature is that there can be no pure or<br />

unmediated human rationality or motivation. All of our impressions embody, at least<br />

in part, the languages and traditions of our community. Recall how Waltz's use of<br />

Rousseau and social contract theory rested on the idea that humans were motivated<br />

7 This critique of Bull is largely indebted to Shaw, Karena: 2002. ‚Indigeneity and the<br />

International,‘ in Millennium: Journal of International Studies (2002). However, she takes<br />

the critique to imply certain limits to the political, while I am arguing that it does not<br />

have to mean that.<br />

186 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

by some fundamental drives or „appetites“ that were only restrained by the appetites<br />

of others. This is a fundamentally mistaken view: all human activities, whether<br />

hunting and gathering, diplomacy or war occurs within contexts that involve webs of<br />

other beliefs in a way that cannot be said to derive from one or several motivations.<br />

Human actions cannot be reduced in this manner for the reason that people are motivated<br />

by a diversity of reasons. The most abstract expression of human rationality is<br />

to say that people act according to the beliefs they hold, at that time; beliefs initially<br />

inherited from traditions. 8 Still someone might say that there must have been a time<br />

when someone first held beliefs from pure experiences. This corresponds to a state<br />

of nature in the hypothetical sense. However, this is still mistaken since there is a<br />

cyclical relationship between individu<strong>als</strong> who hold belief and traditions in a way that<br />

undermines the need for a point of origin. Experiences lead individu<strong>als</strong> to beliefs<br />

only because they already have access to webs of belief in the form of the traditions<br />

of their community.<br />

At some level both Waltz and Rousseau seem to recognize the fictional character of<br />

any state of nature. This can be seen where Waltz quotes an excerpt from the Discourse<br />

on Inequality in his footnotes: „he (Rousseau) refers to the state of nature as ‚a<br />

state which no longer exists, perhaps never did exist, and probably never will exist;<br />

and of which is, nevertheless, necessary to have true ideas.‘“ 9 True ideas for Rousseau<br />

are no doubt his ideas about republicanism and for Waltz the idea of international<br />

anarchy. The common link here is the way the state of nature necessitates the social<br />

contract and state sovereignty, which are crucial to both theories. Be this as it may,<br />

it is still difficult to image how „true ideas“ could be derived from „fictional ones.“ If<br />

this is the case, it would seem to leave any theory requiring a state of nature or social<br />

contract incoherent.<br />

But perhaps Waltz's use of nationalism is sufficient to retain coherency in his sovereign<br />

conception of the state. If this were all his concept of the state rested on, it<br />

would be tautological at best but certainly not analytical. The argument from nationalism<br />

as said before would run like the following: inasmuch as all the people in<br />

the territory of the state declared support and obedience to government policy, then<br />

the effects of sovereignty in international relations might be mimicked. But without<br />

the social contract there cannot necessarily be anarchical relations between states.<br />

In any case the force nationalism creates has little bearing on this study, because<br />

8 This links in with a ‚weak-intentionalist‘ view of meaning. The meaning action is determined<br />

by the thoughts the actor held while performing the act. This corresponds to the<br />

concept of embodiment. Cf. Bevir, Mark: The Logic of the History of Ideas. Cambridge<br />

1999. Chapters 2, 4, and 5.<br />

9 Waltz, Kenneth N.: Man, the State and War: A theoretical Analysis. New York 1954.<br />

p. 176.<br />

Dis | kurs 187


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

I am interested in the possibility of indigenous political communities being agents<br />

in international relations. These communities often contest government's claims to<br />

sovereignty over their territories so they would be cases of the failure of nationalism.<br />

The two examples I illustrate show communities in Canada/United States and Mexico<br />

contesting government's claims to and practices of sovereignty. Thus, nationalism<br />

within Canada or Mexico is not a reason to preclude the possibility that these cases<br />

have international dimensions. In any case, an argument from nationalism is an argument<br />

about what usually happens in states and not what must happen, so it does<br />

not have the logical force to create international anarchy. The absence of the state of<br />

nature is devastating to Waltz's argument that international relations are inherently<br />

anarchic and exclusively the domain of states. States might dominate international<br />

relations but not exactly for the reasons Waltz gives us.<br />

The application of the concept of a tradition to Waltz's construction of state sovereignty<br />

applies equally well to Bull's conception of the state and the dominant school<br />

more generally. Bull gives no additional defense of his conception of the state other<br />

than the fact that states „actually practice sovereignty in various degrees,“ evidence<br />

that may support a historical claim, but not an a priori claim of state sovereignty that<br />

necessarily excludes other forms of political association from agency in international<br />

relations. Nevertheless, Bull's final argument to exclude indigenous politics from<br />

international relations might still provide just such an a priori argument. Recall how<br />

this exclusion involved the idea of stages in history. Indigenous politics involve „magical“<br />

and „religious“ ideas in a way that are inappropriate to international society,<br />

which is based on „scientific“ and „secular“ ideas. 10 International society is superior<br />

to indigenous societies and is the global international society because science<br />

and secularism represent universal advancements in human knowledge and culture.<br />

International society is truly global because its principles are the result of a longer<br />

history of reflection that will eventually be accepted as true by all people. This view is<br />

mistaken for two reasons. First, all knowledge is contextual following from the concept<br />

of a tradition outlined above; and second, people do not necessarily change their<br />

culture according to allegedly universal principles of reason or in any other linear,<br />

necessary or directional way. Rather, people change their beliefs because of specific<br />

dilemmas they face. A dilemma is a new belief that an individual takes to be authoritative<br />

and which poses a question for an individual's current web of beliefs. In order<br />

to accommodate this new belief an individual must extend, adjust or modify his or<br />

her existing web of belief. Traditions have a role in what is taken to be a dilemma and<br />

10 Bull creates a binary relationship here that is probably unacceptable on the merits, but<br />

since I want to follow his logical structure I continue with his premises. For why this is<br />

wrong on the merits see, Deloria, Vine: The Metaphysics of Modern Existence. New<br />

York 1979.<br />

188 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

as well in how it is interpreted. For example, when federal troops defeated the Lakota<br />

Sioux in 1891, the Sioux were expected to understand that their culture was past and<br />

in decay, and to welcome the gifts of „civilization.“ Missionary activity had been intense<br />

at this time and many missionaries explained the Sioux's defeat and deplorable<br />

condition in terms of their lack of the knowledge of Christ in an attempt to pit the<br />

blame on Lakota beliefs and particularly medicine people. Consequently, the Ghost<br />

Dance that swept across the new reservation system incorporated aspects of Christianity<br />

into Native beliefs in a movement of resistance. The Ghost Dance associated the<br />

Second Coming and the Rapture with removal of all non-Indians and the return of<br />

the buffalo and all the dead. 11 This example illustrates the point that no experience or<br />

dilemma can require people to change their beliefs in any one way. 12 Agents use their<br />

own local reasoning when changing their beliefs in creative ways.<br />

The way people change their beliefs depends on the content of their existing web of<br />

beliefs. It follows from this that there is no one necessary manner in which culture<br />

must change. Bull is mistaken in this assumption and so it cannot provide a reason<br />

to categorically exclude indigenous political communities from purview in international<br />

relations. In addition Bull’s use of historical stages is mistaken in another sense<br />

because, in reality, culture is always changing. People must always at least extend<br />

their beliefs to incorporate new experiences even if they only hope to apply their<br />

beliefs exactly as they inherited them. Thus even apparent continuities are always in<br />

flux. All cultures and societies are part of the complex reality in the present; Bull is<br />

thus wrong to suggest that some societies exist in the past in contrast to the supposedly<br />

advanced stages of other cultures that exist in the present or even the future. If<br />

analysis aims to be universal, as international theory necessarily does, it cannot rest<br />

on such assumptions. Bull's idea of international society could still be kept, however,<br />

if it is understood to arise out of the interactions of diverse traditions and the debates<br />

that arise from these interactions; having said that, it must be recognized that those<br />

interactions are not solely among statist traditions. Nor should international society<br />

be understood as necessarily representing an unchanging, progressive or universal<br />

advancement in human relations. Rather, international society is a constitutive part<br />

of how the world is imagined and acted on. For example, one of the foundational<br />

debates in international law was in response to the Spanish invasion of America,<br />

where Las Casas and Victoria famously debated the moral and religious responsibilities<br />

of Spain and the status and rights of the aborigin<strong>als</strong> of the New World. 13 Their<br />

11 Warrior, Robert Allan: Tribal Secrets: Recovering American Indian Intellectual Traditions.<br />

Minneapolis 1995. p. 4–7, 11–12, and 43.<br />

12 Bevir, Mark: The Logic of the History of Ideas. p. 222.<br />

13 Morris, G. T.: „International Law and Politics: Toward a Right to Self-Determination for<br />

Indigenous Peoples,“ in Jaimes, Annette M. The state of Native America. Boston 1992.<br />

Dis | kurs 189


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

arguments greatly influenced and embodied Spanish practices in the Western hemisphere.<br />

In addition, the very idea of states and state sovereignty in their modern usage<br />

arose partly in response to papal imperialism, which was felt by many Europeans to<br />

be an unjust oppression. 14 Following from this, international society would include<br />

„good“ and „bad“ aspects, defined according to our respective traditions, rather<br />

then „good“ international society and „bad“ international anarchy. In other words,<br />

all practices can be traced to traditions, there is no point where practices can be deduced<br />

from „nature.“<br />

Indigenous Political Communities as International Actors<br />

I have addressed the faulty theoretical moves of Waltz and Bull that eliminated the<br />

possibility of indigenous political communities being international actors. I did this<br />

primarily by undermining a mistaken conception of the state underlying the dominant<br />

school and by identifying a faulty assumption about cultural change. But I<br />

have yet to unravel its implications for international political theory. How should<br />

state practices be understood and explained? Based on the concepts of tradition and<br />

dilemma there is no single way to understand and explain state practices. They are<br />

experienced and interpreted in a diversity of ways. The point is what difference particular<br />

traditions make in the understanding and explanation of world politics.<br />

However, this is compounded by the problem that much of the theorizing within<br />

the dominant school is aimed at constructing a single view or structure of states and<br />

world politics and reducing international events to single or a few causes like „balance<br />

of power,“ „the security dilemma,“ „self-help,“ et cetera. This is exemplified by the<br />

search for parsimony or Occam's Razor – where the simplest explanation is taken to<br />

be the best. Waltz's work is a prime example of this; Bull's work is a more nuanced<br />

version of this endeavor that allows for more diversity. These grand theories have become<br />

embodied in state traditions themselves. Consequently, for this paper there are<br />

two points. The first point is to understand the experiences of state practices from an<br />

indigenous perspective. The second point is to see how theories, like those of the dominant<br />

school of international relations, influence the formation of state policy and<br />

practice. In conclusion this is a better explanation of international political events in<br />

comparison with the reductionist theories of the dominant school.<br />

To further understand this relationship between theory, tradition and practice, consider<br />

two contemporary cases of indigenous politics: Mohawk politics along the<br />

Canada and United States border and the Zapatista movement in Chiapas, Mexico.<br />

Chapter 2.<br />

14 Cf. Tully, James: Strange Multiplicity: Constitutionalism in an Age of Diversity. Cambridge<br />

1995. p. 6.<br />

190 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

These are two examples of how indigenous political communities have responded to<br />

the dilemmas presented by the dominant conception of the state and its international<br />

relations.<br />

Mohawk Politics and the ‚Oka Crisis‘<br />

On March 11 th , 1990, Kanesatake Mohawks set up roadblocks to stop plans to extend<br />

a gulf course onto a sixty-acre plot claimed by the Mohawks to be a traditional<br />

Kanesatake burial ground. The contested land was near the town of Oka, just across<br />

the St. Lawrence River from Montreal. On July 11 th , police unsuccessfully raided the<br />

blockade and one policeman was killed. In solidarity, Mohawks in Kahnawake, a<br />

community of 10,000, blocked sections of two highways in their community that<br />

lead to Mercier Bridge. This was a major throughway for Montreal commuters, and<br />

Mohawks threatened to blow it up if there was a second assault. 15<br />

Quebec Native Affairs Minister John Ciaccia, who was called in to negotiate, said<br />

that „other elements“ of the Mohawk demands were „totally beyond the range of<br />

(his) responsibilities and capacities to act.“ These „other elements“ included nationto-nation<br />

negotiations with the Canadian federal government and involving the all<br />

Mohawk communities, including the Akwesasne community in the United States in<br />

any negotiations. Ellen Gabriel, a spokeswomen for the Mohawks at the Oka barricade,<br />

said that the warriors would not give up their weapons as they had „every right,<br />

as a nation, to defend (their) territory to stop encroachment on (their) land,“ although<br />

she insisted that they had shared the land with the Europeans who first came,<br />

and „continue to share the land with the people that are now living in what you call<br />

Canada.“ 16 Also, she reminded an interviewer that, as part of the Iroquois Confederacy<br />

or Haudenosaunee, they had their own laws, traditions and customs. 17<br />

Tom Siddon, the Federal Indian Affairs Minister, outlined the Canadian federal<br />

government position saying that the Warriors „must put down their weapons,“ and<br />

„order must be restored before negotiations“ could begin. 18 In other words Canada's<br />

overarching sovereignty had to be recognized and respected. State sovereignty was<br />

to be the crucial precondition to civil relations with the Mohawks. The possibili-<br />

15 For a detailed examination of this conflict see, Pertusati, Linda: In Defense of Mohawk<br />

Land: Ethnopolitical Conflict in Native North America. Albany 1997.<br />

16 Canadian Broadcasting Company (CBC) online archives: http://archives.cbc.ca/IDD-1-<br />

71-99/conflict_war/oka/.<br />

17 For an in depth and historical examination of Mohawk politics and nationalism, see,<br />

Alfred, Gerald: Heeding the Voices of Our Ancestors: Kahnawake Mohawk Politics and<br />

the Rise of Native Nationalism. Oxford 1995.<br />

18 Canadian Broadcasting Company (CBC) online archives: http://archives.cbc.ca/IDD-1-<br />

71-99/conflict_war/oka/.<br />

Dis | kurs 191


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

ty that jurisdiction can be shared, as Ellen Gabriel understood, as well as exclusive<br />

was missed by Siddon. By August 8 th , over 2,500 Canada troops of the Fifth Mechanized<br />

Brigade, which included tank, artillery and helicopter gunship battalions<br />

were ordered to set up positions near the blockades. 19 The siege lasted seventy-eight<br />

days before the Prime Minister ordered the Canadian Military to forcibly remove<br />

the blockades. About sixty occupiers were detained, only thirty of whom turned out<br />

to be armed combatants. However, in those seventy-eight days the Mohawk communities<br />

had brought condemnation of the European Parliament to the Canadian<br />

federal government and entangled a super power, the United States, in international<br />

negotiations. 20<br />

How is it that such small communities, and even fewer combatants, could elicit such<br />

an overwhelming display of force from one of the most powerful states in the world<br />

and draw the attention of the international community? A few defiant communities<br />

certainly did not imperil the existence of the Canadian State. But what this conflict<br />

did bring into question was the sovereign conception of the Canadian state. It challenged<br />

its legitimacy and perhaps more importantly for a study of international relations,<br />

its effectiveness, the linchpin of sovereignty. The basic Mohawk demand to be<br />

negotiated with on a nation-to-nation basis and to include the Akwesasne community<br />

across the international border in the United States is important for understanding<br />

the Canadian federal government’s response. The Mohawk demands assumed<br />

and asserted the prior and continuing existence of their political communities to the<br />

Canadian and American states, which brought into sharp relief those states' claim to<br />

sovereignty over indigenous territories, in terms of their legitimacy and effectiveness.<br />

As James Tully points out, the argument that exclusive jurisdiction is legitimate and<br />

effective is a hinge proposition; one idea reinforces the other. When state sovereignty<br />

is less than effective, it is defended with the idea that it is legitimate and righteous<br />

and the only viable way to organize society. It was either legitimately established in<br />

the past or it is currently legitimately resolving any challenges to it. However, when<br />

its legitimacy is questioned, state sovereignty is often defended on the grounds that<br />

it is effective or practical. 21<br />

A potential threat to this argument is that indigenous politics only rose to the international<br />

arena with the Oka conflict because Canada is generally one of the most<br />

tolerant states and already allowed its Natives limited autonomy. After all, Canada<br />

is usually considered a leader in the promotion of human rights around the world<br />

19 Hornung, Rick: One Nation under the Gun. New York 1991. p. 236.<br />

20 Ibid. p. 246.<br />

21 Tully, James: The Struggles of Indigenous Peoples for and of Freedom. In: Ivison, Patton<br />

and Sanders(eds.): Political Theory and the Rights of Indigenous Peoples. Cambridge<br />

2000. p. 50–52.<br />

192 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

and in support for United Nations humanitarian programs. Perhaps Oka was just an<br />

overreaction and an exception to the rule. Perhaps this was not a case of indigenous<br />

political community acting in world politics, just an internal mismanagement and a<br />

media exaggeration. In other words, maybe it was a phenomenon restricted to the<br />

advanced industrial First World. To test this possibility, consider the Zapatista movement<br />

in Chiapas, Mexico.<br />

The Zapatista Movement<br />

The Zapatista movement in Chiapas, Mexico engendered a similar government response<br />

and had a similar international dimension. This movement first came to international<br />

attention on January 1 st , 1994, when the Zapatista National Liberation Army<br />

(EZLN) began its insurgency. About 3,000 EZLN insurgents occupied six large towns<br />

and a hundred ranches. They announced that the immediate reason for their rebellion<br />

was the institution of the North American Free Trade Agreement (NAFTA), which<br />

went into effect the same day, but little more was known. This all came as a surprise to<br />

nearly everyone, including Mexican and United States intelligence services. Within<br />

twenty-four hours the Mexican military began bombing suspected rebel indigenous<br />

communities and killing at least 145 people. A cease-fire was declared on January<br />

12 th , and peace talks with the government began in February, but Zapatista communities<br />

overwhelmingly rejected the government's peace proposal. In December the<br />

Zapatistas declared thirty-eight indigenous municipalities to be autonomous. 22<br />

Who were these mysterious revolutionaries and what did they want? Many within<br />

Mexican society speculated that they were traditional Marxist-inspired insurgents<br />

who aimed to seize state power and institute socialist development. Other rumors<br />

circulated that it was all a stunt by Democratic Revolutionary Party (PDR), the main<br />

opposition to the ruling Revolutionary Institutional Party (PRI). People around the<br />

world began learning about the Zapatista movement through its communiqués,<br />

which were uploaded on the internet. As it turned out, rather than taking over the<br />

Mexican state, the EZLN sought self-rule for their mostly Tzotzil, Tzeltal, and Chol<br />

speaking communities in addition to liberty, justice and democracy for all of Mexico<br />

and the world. In other words they understood the state differently from its sovereign<br />

conception. They were seen by many to be truly quixotic rebels in a world that was rapidly<br />

embracing a new capitalist order. 23 Much of the content of Zapatista communications<br />

concerned highlighting the continuity of indigenous peoples in Chiapas (and<br />

the rest of the Americas) and their 500 years of resistance to various forms of domi-<br />

22 Marcos (Subcommandante Insurgente): Our Word is Our Weapon. New York 2001.<br />

pp. 447–449.<br />

23 Cf. Ross, John: Rebellion from the Roots: Indian Uprising in Chiapas. Monroe,<br />

Maine 1995.<br />

Dis | kurs 193


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

nation and exploitation. The latest form of domination was identified with the neoliberal<br />

reforms of NAFTA, which were being instituted through a variety of Mexican<br />

institutions, including the abolition of Article 27 of the 1917 constitution protecting<br />

communal property. The other main themes in Zapatista communications were hope<br />

and possibility. They related how indigenous communities „governed while obeying“<br />

and stressed the possibility and practice of there being „many worlds within one,“<br />

emphasizing the importance of how authority is practiced within community. Subcomandante<br />

Marcos, the EZLN spokesperson, <strong>als</strong>o communicated mythic stories to<br />

illustrate the sensibilities and possibilities within the Mayan cosmos, in contrast to<br />

the alleged necessities of politics within and outside the modern state. 24 The Zapatista<br />

movement continues to enjoy significant international support, which has been partly<br />

responsible for keeping the Mexican government in check. 25<br />

Re-conceptualizing the State in International Politics<br />

These examples show how questioning the right to exclusive jurisdiction within the<br />

territory claimed by states and showing states' control over those territories to be less<br />

than effective, undermines the concept of the state found in the dominant school of<br />

international relations. State sovereignty, rather than being the necessary and abstract<br />

foundation of the international system, is in practice something that must be<br />

continually asserted through instruments of governance, often including force. Thus<br />

if sovereignty is a normative principle that is acted on in practice, it cannot function<br />

as the analytical glue holding together the units of international relations.<br />

But perhaps this conclusion is too hasty; if effective control over territory is taken to<br />

be the baseline measure of a state in international relations, claims to legitimacy cannot<br />

be sufficient. Both Bull and Waltz make claims saying that if state control is ineffective,<br />

it ceases to be a state and so a unit in international relations. But if this was<br />

actually the case, the consequences would lead to conclusions that Waltz and Bull<br />

would never accept. It would imply that every time there was rebellion or conflict,<br />

like in Chiapas where an alternate authority has effective control or when a non-state<br />

authority practices de facto control over a territory as Mohawks do in their trade across<br />

the international border, the state would cease to exist and therefore cease to be<br />

an actor in international relations. In Third World countries, where the institutions of<br />

state are very weak and few, this might be a plausible scenario: However in states that<br />

are recognized to be among the most powerful and stable, like Canada and the United<br />

States, this scenario is implausible. In these cases the institutions of government<br />

24 Cf. Marcos (Subcommandante Insurgente): Our Word is Our Weapon.<br />

25 Jan Rus, Rosalva Aída Hernández Castillo and Shannan L. Mattiace (eds.): Mayan<br />

Lives, Mayan Utopias. New York 2003. p. 171.<br />

194 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

associated with the state have not disappeared, nor has their role in international relations<br />

necessarily diminished; international theorist like Waltz and Bull would never<br />

exclude entities such as these from any global analysis.<br />

It follows then that state sovereignty is an idea that is acted upon, not an ontological<br />

foundation. Precisely because it has been acted upon, it has been central to the<br />

creation of institutions and techniques of government, particularly those associated<br />

with statecraft. Bull is right in saying that international relations are created through<br />

ideas and institutional practices. But he is wrong to assume that international relations<br />

operate on the background of state sovereignty and international anarchy.<br />

They, too, are ideas that shape people’s actions upon and incorporate certain specific<br />

practices. Equally true, however, these practices are not limited to the ideas of state<br />

sovereignty and state sovereignty does not characterize every political relationship; it<br />

is not the only idea upon which people base their political actions. For example, the<br />

governmental practices of mutual recognition, continuity and consent, arise from<br />

other ideas, like pluralism and multiculturalism or simply from pragmatic compromise.<br />

26 Relations among indigenous nations as well as their relations with other nonindigenous<br />

political communities have often been characterized by these kinds of<br />

ideas. 27 However, they are often marginalized by the more dominant practices.<br />

It follows from the inference that state sovereignty is not an ontological foundation<br />

that it cannot create categorical distinctions between the national and the international,<br />

domestic and foreign, as traditionally assumed. This is <strong>als</strong>o illustrated by the two<br />

examples of indigenous politics. Mohawk and Zapatista communities experience the<br />

intrusion of federal militaries on their lands in much the same way as nations occupied<br />

by a recognized foreign power. The weakening of these categorical distinctions<br />

suggests we should look at the traditions that are actually affecting or embodying a<br />

government’s policy (and opposition to it) as the acting units or source of agency in<br />

world politics. Furthermore, the weakening of these conceptual distinctions suggests<br />

we look at the problems or dilemmas agents face in explaining why they depart from<br />

their traditions, rather than explaining everything that happens in world politics<br />

according to the few problems states allegedly face in their international relations.<br />

What international relations theorists refer to as the state and its behavior are actually<br />

the reification of a multiplicity of complex processes; a point that should not be<br />

glossed over but rather opened up in analysis. 28<br />

26 Cf. Tully, James: Strangle Multiplicity.<br />

27 Cf. Williams, Robert A. Jr.: Linking Arms Together: American Indian Treaty Visions of<br />

Law and Peace, 1600–1800. Oxford 1997.<br />

28 Further I think this is a better way of viewing how sovereignty works better than for<br />

example the way the concept is treated by Krasner, Stephen D.: Sovereignty: Organized<br />

Hypocrisy. Princeton 1999; or by Bartelson, Jens: A Genealogy of Sovereignty. Cam-<br />

Dis | kurs 195


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

This analysis suggests that theories of international relations, like the ones of the<br />

dominant school, play a role when governments take state sovereignty to be an imperative<br />

that must be acted on. Tom Siddon's statement about the preconditions for<br />

negotiation with the Oka Mohawks is an excellent example of this. It follows from<br />

this reading of state sovereignty (and as suggested by the examples), that the relations<br />

with indigenous political communities are seen by governments to be only a<br />

temporary means to an end. This is alluded to by Bull in his exclusion of indigenous<br />

politics from international relations; complete sovereignty was expected to eventually<br />

be achieved through assimilation, exclusion or extermination of indigenous<br />

political communities. It follows from the two examples of indigenous politics, that<br />

indigenous communities, as well, see their current situation as a temporary means to<br />

an end; they seek liberation in the form of an end to the unjust relationship with the<br />

dominant society, which many see as a colonial imposition. The dominant school of<br />

international relations, insofar as it necessitates sovereign authority, is a major dilemma<br />

in their effort to change this unjust relationship.<br />

Implications for International Analysis<br />

I have considered two examples of indigenous politics and related them to the abstract<br />

reformulations, and now I would like to take up two propositions that structural<br />

realists like Waltz take to be the most critical points of international political analysis<br />

and respond to them in light of the re-conceptualization of the state that I roughly<br />

sketched, rather than with an internal critique as I began. The first proposition is that<br />

states are the most durable and survivable unit in world politics; and the second proposition,<br />

somewhat following from the first, is that states and their interactions in the<br />

state system best explain 29 what goes on in world politics. 30 These two propositions<br />

are inadequate on at least three criteria of comparison: comprehensiveness, accuracy<br />

and fruitfulness. 31<br />

The first question, in light of the examples of indigenous politics, begs the question of<br />

exactly who and what is durable or survivable about the state? Certainly states have<br />

promoted neither the physical nor cultural survival of indigenous peoples. But most<br />

likely Waltz really means that the form and practice of state making and statecraft<br />

have been particularly successful in eliminating other political forms and so in this<br />

sense might be considered enduring. This may be the case, but as Alfred and Wilmer<br />

bridge 1995.<br />

29 I can agree with Waltz that explanation is the main measure of good theorizing.<br />

30 This is the most recent view of the critical power of structural realism defended by Waltz,<br />

Kenneth N.: Globalization and Governance. In: Political Science and Politics, Vol. 32,<br />

No. 4. (Dec., 1999), pp. 693–700.<br />

31 Cf. Bevir, Mark: The Logic of the History of Ideas. Chapter 3.<br />

196 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

(1997) suggest, this may be a particularly self-destructive strategy in the long term.<br />

The amount of resources to support the economic and political systems supporting<br />

states extracts a toll on the environment and that affects everyone. Indigenous people<br />

may only be more vulnerable than others in the short run. The history of states is relatively<br />

short, only about five hundred years, in comparison to the tens of thousands<br />

of years indigenous political communities have existed sustainably. 32 Traditions can<br />

more accurately explain who and what is surviving and dilemmas can more accurately<br />

explain why they change. A structural realist analysis can only shift the focus of<br />

its analysis to other political entities that behave in the predicted manner in world<br />

politics, but there are no conceptual resources to explain their change as such.<br />

This shifting of focus relates to the second proposition that states and their interactions<br />

in a system of states best explain world politics. This proposition fails to be<br />

adequately comprehensive, because it could only be true if the shifting of focus of the<br />

analysis is taken into account. By this I mean the way the locus of international politics<br />

moves in analysis from ancient Greek city states, to Rome, to imperial Europe,<br />

to imperial America and so on. This rhetorical use of core examples seems to create<br />

a selection problem that would be difficult and disingenuous, to be able to call the<br />

study of world politics. In addition, when governments act on this understanding<br />

through policy, it becomes a self-fulfilling prophecy in practice. Hence, the wholly<br />

synchronic vision of international politics created by selection bias is an insufficient<br />

analysis. Also, if the study of international relations is restricted in this manner, then<br />

the problem of anarchy loses its universal appeal. Why should the anarchy between<br />

states be taken as particularly troubling, when communities within territorial states<br />

experience the same threats to their survival associated with international anarchy,<br />

like war and conflict, as seen in the two examples of indigenous politics? For anarchy<br />

to remain a useful concept in these circumstances these communities would have to<br />

be recast as separate states, which cannot be done without contradicting the two propositions.<br />

For example if Chiapas was considered a state for the purposes of analysis<br />

it would betray the necessity of practicing the kind of politics associated with state<br />

sovereignty, and so the very idea of a system of states. In contrast, unpacking states<br />

and other political communities in terms of traditions and dilemmas can account for<br />

both aspects, so that analysis would be more comprehensive in scope.<br />

Explaining international relations with reference to states interacting in a system can<br />

lead to inaccuracies in an additional sense. Even if international outcomes map on<br />

to those predicted by a neo-realist analysis it may not be accurate because it may<br />

32 Alfred, G. and Wilmer, F.: Indigenous Peoples, States, and Conflict. In: Cament, David<br />

and James, Patrick: Wars in the Midst of Peace: The International Politics of Ethnic Conflict.<br />

Pittsburgh 1997.<br />

Dis | kurs 197


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

misrepresent how and why the outcome actually happened. Policy decisions can be<br />

made for reasons of their own that have nothing to do with problems of anarchy or<br />

considerations of a balance of power. For example, a leader's reasoning to go to war<br />

can affect how the decision is supported, which may affect the outcome; subjectivity<br />

matters in a way that Waltz cannot permit.<br />

Finally, investigating global human relationships in terms of traditions and dilemmas<br />

is a more fruitful research path in comparison to the idea of a system of states<br />

because the former are contingent and suggest possibilities, whereas the latter insist<br />

on limits. By providing analytical concepts capable of recognizing actors other than<br />

states that affect world politics we can see alternative visions and practices of politics,<br />

like Iroquois and Zapatista practices of governance. A structural realist analysis can<br />

only have a defensive response to such deviations from the dominant vision of world<br />

politics. It could not have anything new to say about such developments.<br />

Conclusion<br />

It follows from the fictional character of the state of nature and state sovereignty that<br />

it is possible for indigenous and other non-state political communities to be actors<br />

in world politics. Their ideas and practices <strong>als</strong>o affect the international area, even if<br />

asymmetrically. The international is not a distinct domain of politics, which is exclusively<br />

inhabited by states. However Bull's insight that most international institutions,<br />

like the United Nations, were set up primarily to protect the rights of sovereign states<br />

goes a long way in explaining why international institutions have had such difficulty<br />

in responding to the needs of non-state communities, like indigenous political communities<br />

and their asymmetrical influence in world affairs. Then again, my analysis<br />

shows that concerns about international anarchy need not be a reason for states to<br />

further actualize a sovereign conception. If order and peace are possible without sovereign<br />

authority; and if sovereign authority is no guarantee of order and peace, then<br />

security and order need not be a reason for state sovereignty. This suggests that the<br />

focus of analysis should be shifted to questions of how traditions constitute authority<br />

within community – that is to ask how power is exercised and legitimated in the<br />

world – and what difference contrasting traditions make in the lives of individu<strong>als</strong><br />

and communities. When questions of world politics are re-framed in this manner,<br />

hidden aspects can be revealed. Consider the state of nature, the central organizing<br />

concept of international politics on Waltz's reading and for much of modern political<br />

theory through Hobbes, Locke, Smith, Rousseau, Kant and so on. This central metaphor<br />

of modern political thought expresses an ontology made more or less explicit by<br />

Hobbes, but taken to be the foundational basis of politics by subsequent theorists. 33<br />

33 For an account of the state of nature from this perspective cf. Henderson, James (Sakej)<br />

198 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

One aspect the metaphor and ontology of the state of nature is the fear of uncertainty<br />

in knowledge and contingency in existence. For Hobbes, this problem could be<br />

resolved if people agreed to always obey a sovereign authority, whether through an<br />

individual or a constituted body. The possibility of sovereign authority required an<br />

ontological homogeneity being forged out of a diversity of viewpoints and traditions,<br />

which scholars such as Ernst Gellner and Heather Rae point out reflect the actual<br />

history of state building. 34<br />

In contrast, other traditions, particularly many indigenous political traditions, incorporate<br />

uncertainly and contingency in a different way. Some Native intellectu<strong>als</strong> such<br />

as Vine Deloria and Leroy Little Bear emphasize a process-oriented interpretation of<br />

reality and its implications for relations between all beings. Little Bear stresses how<br />

„all things are animate, imbued with spirit, in constant motion;“ and that „It is based<br />

on being aware that every being is animate and has an awareness that seeks to understand<br />

the constant flux according to its own capabilities.“ Following from this „no<br />

being ought to impose on another's understanding of the flux. Each being ought to<br />

have the strength to be tolerant of the beauty of cognitive diversity.“ 35 This understanding<br />

stands in sharp contrast to the idea that a person must have certain knowledge<br />

of another's thought and actions to be able to have cooperative relationships. This<br />

was the big worry, which Waltz read so deeply into the stag hunt metaphor. This idea<br />

of politics and power as control and assurance is foreign to many indigenous political<br />

traditions according to Taiaiake Alfred (1999). He argues that indigenous political<br />

traditions transform the understanding of power's meaning and use:<br />

On the meaning of power, indigenous thought has traditionally focused on questions<br />

of the legitimacy of the nature and use of power, rather than its distribution. Within<br />

indigenous cultures it is recognized that forms and levels of power vary, depending<br />

on the spiritual and physical resources available to the individual. There have always<br />

been two basic questions: What kind of power do individu<strong>als</strong> have? And are<br />

they using it appropriately? In other words, the traditional indigenous view of power<br />

and justice has nothing to do with competition, or status vis-à-vis others: it focus<br />

on whether or not power is used in a way that contributes to the maintenance of<br />

balance and peaceful coexistence in a web of relationships. 36<br />

Youngblood: The Context of the State of Nature. In: Battiste, Marie (ed.): Reclaiming<br />

Indigenous Voice and Vision. Vancouver 2002.<br />

34 Gellner, Ernest: Nations and Nationalism.Cornell, 1983; Rae, Heather: State Identities<br />

and the Homogenization of Peoples. Cambridge 2002.<br />

35 Little Bear: Jagged World Views Colliding. In: Battiste, Marie: Reclaiming Indigenous<br />

Voice and Vision. Vancouver 2002.<br />

36 Alfred, Taiaiake: Peace, Power, and Righteousness. p. 49.<br />

Dis | kurs 199


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

By challenging the prevalent understandings of concepts like power and justice with<br />

indigenous understandings, Alfred expands the possibility of the political, in much<br />

the same way as Zapatista communiqués aim to do. This goes to the heart of the dominant<br />

school's understanding that actions are governed by power necessities. There<br />

are many kinds of power that affect the political and no necessary way to act on these<br />

understandings. The alternative understandings and practices described in this paper<br />

will continue to be lived realities and possibilities in and of world politics, even if<br />

they are not recognized as such. An increasing awareness of indigenous practices and<br />

viewpoints however, might widen the horizon of political possibility everywhere.<br />

Bibliography<br />

Alfred, Gerald R. 1995. Heeding the Voices of Our Ancestors: Kahnawake Mohawk Politics<br />

and the Rise of Native Nationalism. Oxford: Oxford University Press.<br />

Alfred, Taiaike. 1999. Peace, Power, and Righteousness: An Indigenous Manifesto. Oxford:<br />

Oxford University Press.<br />

Bartelson, Jens. 1995. A Genealogy of Sovereignty. Cambridge: Cambridge University Press.<br />

Battiste, Marie. 2002. Reclaiming Indigenous Voice and Vision. Vancouver: University of<br />

British Colombia Press.<br />

Bevir, Mark. 1999. The Logic of the History of Ideas. Cambridge: Cambridge University<br />

Press.<br />

Bull, Hedley. 1977. The Anarchical Society: A study of Order in World Politics. New York:<br />

Columbia University Press.<br />

Cament, David and James, Patrick. 1997. Wars in the Midst of Peace: The International<br />

Politics of Ethnic Conflict. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press.<br />

Duncan, Ivison, ed. 2000. Political Theory and the Rights of Indigenous Peoples. Cambridge:<br />

Cambridge University Press.<br />

Harrison, Ross. 2003. Hobbes, Locke and Confusion's Masterpiece: An Examination of<br />

Seventeenth-Century Political Philosophy. Cambridge: Cambridge University Press.<br />

Hornung, Rick. 1991. One Nation Under the Gun. New York: Pantheon Books.<br />

Jaimes, Annette M. 1992. The State of Native America: Genocide, Colonization, and Resistance.<br />

Boston: South End Press.<br />

Meek, Ronald L. 1976. Social Science and the Ignoble Savage. Cambridge: Cambridge<br />

University Press.<br />

Mill, John Stuart. 1989. On Liberty and other writings. Cambridge: Cambridge University<br />

Press.<br />

Pertusati, Linda. 1997. In Defense of Mohawk Land: Ethnopolitical Conflict in Native North<br />

America. Albany: State University of New York Press.<br />

Rae, Heather. 2002. State Identities and the Homogenization of Peoples. Cambridge: Cambridge<br />

University Press.<br />

Richard, Perry J. 1996. From Time Immemorial: Indigenous Peoples and the State Systems.<br />

Austin: University of Texas Press.<br />

Ross, John. 1995. Rebellion from the Roots: Indian Uprising in Chiapas. Monroe, Maine:<br />

Common Courage Press.<br />

Shaw, Karena. 1999. Leviathan's Angles: Indigenous Politics and the Limits of the Political.<br />

200 Dis | kurs


Internationale Politik<br />

Dissertation: Johns Hopkins University.<br />

Shaw, Karena. 2002. ‚Indigeneity and the International,‘ in Millennium: Journal of International<br />

Studies.<br />

Tuck, Richard. 1999. The Rights of War and Peace: Political Thought and the International<br />

Order from Grotius to Kant. Oxford: Oxford University Press.<br />

Tully, James. 1995. Strange Multiplicity: Constitutionalism in an Age of Diversity. Cambridge:<br />

Cambridge University Press.<br />

Waltz, Kenneth N. (1999). ‚Globalization and Governance,‘ in Political Science and Politics,<br />

Vol. 32, No. 4. (Dec., 1999).<br />

Waltz, Kenneth N. 1954. Man, the State and War: A theoretical Analysis. New York: Columbia<br />

University Press.<br />

Warrior, Robert Allan. 1995. Tribal Secrets: Recovering American Indian Intellectual Traditions.<br />

Minneapolis: University of Minnesota Press.<br />

Williams, Robert A. Jr. 1997. Linking Arms Together: American Indian Treaty Visions of Law<br />

and Peace, 1600–1800. Oxford: Oxford University Press.<br />

Wilmer, Franke. 1993. The Indigenous Voice in World Politics. London: Sage Publications.<br />

Dis | kurs 201


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Gelesen<br />

Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn<br />

Susanne Gottlöber<br />

Spätestens seit Peter Salovey und John D. Mayer (die erstaunlicherweise nicht erwähnt<br />

werden) im Jahr 1990 den Begriff der emotional intelligence popularisierten,<br />

begann man sich auch in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen wieder<br />

für Gefühle zu interessieren.<br />

Neueste Forschungsergebnisse der Kognitionswissenschaften zum „Bauchgefühl“<br />

rücken zunehmend auch ins öffentliche Bewusstsein, in welchem Ausmaß unsere sozialen<br />

Verhaltensweisen nicht kognitiv, sondern emotional gesteuert werden. Für die<br />

Philosophie sind diese Erkenntnisse deshalb interessant, weil sie empirisch zeigen,<br />

inwiefern neben der Vernunft auch Gefühle über ihre Intentionalität einen Zugang<br />

zu Welt erschließen. Schon der Titel Philosophie der Gefühle – Philosophie <strong>als</strong> Liebe<br />

zur Weisheit gelesen – verweist gewissermaßen darauf, welch zentrale Stellung beide<br />

Autoren Emotionen nicht nur für moralische, sondern auch für epistemische und<br />

bewusstseinsphilosophische Fragestellungen zuordnen. Philosophiegeschichtlich<br />

bewegt man sich damit nicht nur in den Fußspuren der kritischen Theorie, sondern<br />

auch erneut (und das wird leider nicht angesprochen) in der Tradition Pasc<strong>als</strong> und<br />

seiner logique du coeur, die später von Max Scheler wieder aufgenommen wurde<br />

und Affekten eine eigene, die ratio gewissermaßen ergänzende Logik (und damit<br />

202 Dis | kurs


Gelesen<br />

auch einen individuellen Anteil in der Welterschließung) zuspricht. Gefühle haben<br />

aber nicht nur auf dem Gebiet der Rationalitätskritik, wo sie vor einer einseitigen<br />

Bewertung der kognitiven Fähigkeiten schützen, Konjunktur. Auch im Bereich der<br />

Moralphilosophie, in dem Denker wie Rawls Emotionen wie Scham oder Schuld<br />

eine wichtige Rolle für den Entstehungsprozess für Moral einräumen, spielen Gefühle<br />

eine Schlüsselrolle.<br />

Dementsprechend breit gefächert ist auch das Spektrum der unzähligen Publikationen,<br />

die aus verschiedensten Perspektiven eine Theorie der Emotionen zu entwickeln<br />

suchen. Mit dem vorliegenden Band leisten die Autoren, beide auf diesem Gebiet<br />

profilierte Philosophen, eine Verknüpfung der einzelnen Debatten und ziehen eine<br />

erste Bilanz, ohne die Konfliktlinien vorzeitig zu harmonisieren. Erklärtes Ziel ist dabei,<br />

die phänomenologischen und analytischen Theorien unter Einbezug empirischer<br />

Befunde im größten gemeinsamen Nenner zu vereinen. Diese einheitliche philosophischen<br />

Grundlage soll die Grammatik für weitere Einzelanalysen zur Verfügung<br />

stellen, indem u. a. dargelegt wird, inwiefern verschiedene Gefühle überhaupt „genügend<br />

Familienähnlichkeiten aufweisen“, um gemeinsam unter dem Begriff „Gefühl“<br />

oder „Emotion“ subsumiert werden zu können, ohne der Gefahr einer vorschnellen<br />

Verallgemeinerung zu erliegen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, wurde ein<br />

formaler Aufbau im Stil eines alphabetisch geordneten Nachschlagewerks gewählt:<br />

Die handbuchartige Artikelgliederung gestattet, die einzelnen Kapitel unabhängig<br />

voneinander zu lesen; eine Herangehensweise, die einen individuellen Zugang zum<br />

Gesamtkontext erlaubt. Der einzige Nachteil dieser Vorgehensweise: Aufgrund der<br />

Unabhängigkeit der einzelnen Kapitel werden bestimmte Definitionen und Bestimmungen<br />

so häufig wiederholt, dass dies an Redundanzen grenzt.<br />

Arbeitsgrundlage ist zunächst eine terminologische Definition von „Gefühl“, da der<br />

Begriff im Allgemeinen sowohl in einem weiten <strong>als</strong> auch in einem engeren Sinne<br />

gebraucht wird. Generell bezeichnet er zunächst die gesamte Palette affektiver Phänomene<br />

wie Empfindungen, Stimmungen und Emotionen. Während Empfindungen<br />

sich aber eher auf körperliche Symptome wie Lust oder Schmerz beziehen und Stimmungen<br />

meist länger anhalten und sich nicht unbedingt auf intentionale Objekte<br />

beziehen müssen, werden <strong>als</strong> „Gefühle“ im engeren Sinne Emotionen bezeichnet, die<br />

ein Objekt zum Ziel haben und in spezifischer Weise auf Welt bezogen sind. Die zu<br />

Beginn vorgenommenen Grundbestimmungen dienen dabei gleichsam <strong>als</strong> „roter Faden“<br />

für nachfolgenden Betrachtungen: So folgen die Autoren, um den starken Terminus<br />

der Intentionalität aufzuweichen, dem Phänomenologen Herrmann Schmitz,<br />

indem sie einen Verankerungs- und einen Verdichtungsbereich annehmen. Ebenfalls<br />

essentiell ist die (auch von Schmitz übernommene und auf seiner Vorstellung<br />

einer Räumlichkeit des Leibes fundierende) immer wieder aufgenommene Beschreibung,<br />

dass negativ empfundene Emotionen mit einer gefühlten Einengung, positive<br />

Dis | kurs 203


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

hingegen mit einer gefühlten Weitung einhergehen. Die gewählte Herangehensweise<br />

(ausgehend von Alltagserfahrungen, die bisweilen allerdings etwas abseitig geraten)<br />

läuft fast zwangsläufig auf einen phänomenologischen Ansatz hinaus: Denn Gefühle<br />

werden leiblich erfahren, müssen <strong>als</strong>o über eine leibliche (und daher beschreibbare)<br />

Basis verfügen. Die auf dieser Basis erarbeiteten Detailanalysen lassen dann wieder<br />

Rückschluss auf allgemeine Aussagen über bestimmte Phänomene zu, wie etwa die<br />

Unterscheidung zwischen dem akuten Gefühl, einer Disposition und der habitualisierten<br />

Einstellung. Neben der Eigenständigkeit der Kapitel erleichtert auch das<br />

einheitliche Schema im Aufbau den Zugang in die Thematik. Meist mit der kategorialen<br />

Verortung des Gefühls beginnend, werden wichtigste traditionelle Positionen<br />

erörtert, eventuelle Abgrenzungen vorgenommen und schließlich in einen weiteren<br />

Zusammenhang (z. B. dem moralischen Wert der Achtung) gestellt. Dass der Fokus<br />

trotz gleichen Grundschemas dabei variiert, verhindert, dass sich beim Leser eine<br />

gewisse Ermüdung einstellt.<br />

Aufschlussreich (gerade auch für interdisziplinäre Betrachtungen) sind die möglichen<br />

Verbindungen zu übergeordneten sozialen Kontexten. So gewinnen z. B. Analysen,<br />

die sich mit interpersonalen und -kulturellen Fragestellungen beschäftigen,<br />

eine neue Perspektive, wenn untersucht wird, inwiefern Achtung wegen der ihrer<br />

innewohnenden Tendenz zur Distanzierung (die im leiblichen Impuls des Zurücktretens<br />

verortet werden kann und bis hin zur Frage führt, inwiefern dieses Gefühl für<br />

den Achtenden eine gleichzeitige Herabsetzung seiner eigenen Stellung impliziert)<br />

eventuell für Hierarchiebildung verantwortlich ist.<br />

Bisweilen wünscht man sich allerdings eingehendere Analysen bzw. eine konsequentere<br />

Ausbuchstabierung der aufgeworfenen Problemstellungen: So bleibt beispielsweise<br />

die Frage, inwiefern bestimmte Formen des Ekels den moralischen Gefühlen<br />

zuzurechnen seien, unbeantwortet. In Bezug auf Aggressionsaffekte wiederum wäre<br />

es interessant gewesen, das Phänomen der sich steigernden Gewaltspirale näher zu<br />

durchleuchten. Überhaupt scheint der Exkurs zum Bösen, der im Kontext von Aggression<br />

behandelt wird, eingeschoben und zu wenig durchdacht, der Israelisch-Palästinensische<br />

Konflikt <strong>als</strong> Exempel eines „unverschuldeten Aggressionskreislaufes“<br />

polemisch und überflüssig. Auch im Fall von Neid und Eifersucht lassen die Autoren<br />

die sonst in ihren Analysen gewohnte Tiefe vermissen. Ebenfalls unvollständig bleiben<br />

manche Abschnitte der Überlegungen zur Liebe. So findet in diesem Kapitel<br />

Platons Mangeltheorie den Eros betreffend keine Erwähnung. Das ist insofern ein<br />

Fauxpas, <strong>als</strong> diese (speziell im berühmten Symposion explizierten) philosophischen<br />

Überlegungen wohl nach wie vor zu den grundlegenden Bestimmungen des Phänomens<br />

Eros gehören. Erfreulich gut gelingt auch die Verknüpfung von naturwissenschaftlichen<br />

(im Wesentlichen neurologischen und psychologischen) Erkenntnissen<br />

mit philosophischen Perspektiven. Denn gerade für ein adäquates Verständnis von<br />

204 Dis | kurs


Gelesen<br />

Gefühlen wie Angst oder Furcht ist es unumgänglich, auf ihre biologischen Grundfunktionen<br />

einzugehen; am Beispiel der Angst gelingt die Verbindung von neurologischer<br />

und phänomenologischer Analyse ausgesprochen gut. Irreführend (wenn<br />

nicht sogar schlicht f<strong>als</strong>ch) ist dagegen die im Kapitel Traurigkeit und Melancholie<br />

aufgestellte Behauptung, durch Anheben des Serantoninspiegels würden die Symptome<br />

von Depression immer abgemildert. (Denn neurophysiologisch kann bei manchen<br />

depressiven Störungen durchaus ein normaler bis überhöhter Serantoninspiegel<br />

vorliegen. Zudem lässt sich dieser zwar mit der Gabe von Medikamenten sofort<br />

erhöhen, nicht jedoch die Depressionen sofort zum Verschwinden gebracht werden.)<br />

Eine kleine Ungenauigkeit, die wohl auf ein flüchtiges Lektorat zurückzuführen ist.<br />

Als letzter Kritikpunkt bleibt anzumerken, dass ein für den Gesamtkontext wesentliches<br />

Phänomen mit seinen Konsequenzen leider überhaupt nicht thematisiert wird:<br />

die so genannte Alexithymie (Gefühlsblindheit). Dabei hätte eine solche Analyse eindrucksvoll<br />

aufzeigen können, was beim vollkommenen Ausfall von Gefühlen droht:<br />

der Totalverlust sozialer Fähigkeiten.<br />

Fazit: Das vorliegende Werk trifft den Nerv der Zeit und leistet trotz kleiner Schwächen<br />

wie gelegentlicher Redunanzen oder hin und wieder wünschenswerten klareren<br />

Fazits einen überzeugenden Beitrag zur philosophischen Wiederentdeckung der<br />

Gefühle und nimmt so das in der abendländischen Tradition seit Anbeginn existierende<br />

Fragen nach den Affekten und deren Bedeutung wieder auf. Das gesuchte<br />

produktive Gespräch zwischen Autoren und den einzelnen Perspektiven kann man<br />

trotz einer hin und wieder auftretenden gewissen Brüchigkeit in den Übergängen im<br />

Wesentlichen <strong>als</strong> gelungen bezeichnen, da sich dank eleganter Übergänge zwischen<br />

den zahlreichen Positionen die Abschnitte meist flüssig lesen lassen.<br />

Zugleich ist diese Stärke des Buches aber auch sein größter Schwachpunkt: Denn<br />

die Zielstellung, möglichst viele Perspektiven darzustellen, um dem jeweiligen Phänomen<br />

umfassend gerecht zu werden, wird genau dort konterkariert, wo die zitierten<br />

Positionen – leider zu oft – unkommentiert nebeneinander gestellt werden. Die<br />

Folge ist, dass sich in den entsprechenden Passagen die in der Regel dominierende<br />

Präzension der Analysen bis hin zur Schwammigkeit eintrübt. Eine deutlichere Stellungnahme<br />

zu den einzelnen Kontroversen und Auswertung der angeführten Positionen<br />

durch die Autoren wäre einer noch klareren Ausdifferenzierung der einzelnen<br />

Emotionen sicher förderlich gewesen.<br />

Dennoch: Ein ergiebiger Überblick für alle, die zugleich ein Nachschlagewerk und<br />

einen tieferen Einstieg in die modernen Emotionsdebatten wünschen.<br />

Demmerling, Christoph/Landweer Hilge: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis<br />

Zorn, Metzler, Stuttgart/Weimar, 2007, 338 S., ISBN 978-3-476-01767-3<br />

Dis | kurs 205


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Gelesen<br />

Politische Soziologie. Grundlagen einer<br />

Demokratiewissenschaft<br />

Stephan Sandkötter<br />

Leo Kißler hat mit seinem gelungenen Lehrbuch einen wichtigen Beitrag für eine<br />

sukzessiv aufzubauende Bachelor Bibliothek (hier bei UTB) vorgelegt. Das Lehrbuch<br />

ist für (Bachelor)-Studierende der Soziologie und Sozialwissenschaften und<br />

ein fachinteressiertes Publikum konzipiert. Es enthält illustrative Abbildungen und<br />

Tabellen; die Literaturhinweise am Ende eines Kapitels sind hilfreich, könnten allerdings<br />

umfangreicher sein. Das angelegte Register (S. 297–304) ist eine gute Idee;<br />

allerdings fehlen bei einigen Begriffen die kompletten Verweisstellen (zum Beispiel<br />

Mündigkeit; angegeben ist S. 33, es fehlt allerdings der Hinweis auf die Seiten 84,<br />

85, 86 und 89). Die Zwischenfazits sind sinnvoll, sollten aber nach jedem Kapitel<br />

platziert werden. Das Oeuvre ist modulartig aufgebaut und lässt prinzipiell ein Herausgreifen<br />

und Bearbeiten einzelner, zentraler Themen zu, dennoch empfiehlt sich<br />

ein chronologisches Studium der Kapitel 2–5.<br />

Das einleitende Kapitel offeriert einige wichtige Grundsatzgedanken zur Verortung<br />

der Politischen Soziologie im interdisziplinären Ensemble von Soziologie und Politikwissenschaft<br />

und kann <strong>als</strong> ein impulsreiches Aperçu gelesen werden. Das relativ<br />

umfangreiche sechste Kapitel – zweiundzwanzig Textseiten – beinhaltet eine Gesamtzusammenfassung<br />

des Sujet und ein abschließendes Fazit. Das zweite Kapitel,<br />

206 Dis | kurs


Gelesen<br />

gleichzeitig auch das stärkste des Buches, bietet einen luziden und präzisen Überblick<br />

über essentielle Grundbegriffe der Politischen Soziologie. Die letzten beiden<br />

Shell Jugendstudien (2002 und 2006) attestieren der deutschen Jugend einerseits<br />

eine dezidierte Politikdistanz – auch im Hinblick auf Mitgliedschaft in Organisationen<br />

–, andererseits ein Interesse an periodischen Aktionen (Spontanproteste und<br />

Bürgervereinigungen, wenn deren Verweildauer überschaubar ist). Wie erhellend<br />

wirkt vor diesem Hintergrund die Kißlersche Analyse über Partizipation. Partizipation<br />

hat sowohl eine empirische wie auch eine normative Dimension und ist stets<br />

interesseorientiert (bemerkenswert dazu die Ausführungen: S. 71 f.). Partizipation<br />

ist aber in einer funktional subtil differenzierten Gesellschaft von Wissen im Sinne<br />

einer Sachkompetenz abhängig (S. 81 ff.). Treffend stellt der Autor – gerade für ein<br />

jugendliches Publikum – die eigentliche Crux von Wissen und Partizipation heraus:<br />

Die Austauschbeziehungen zwischen interessegeleiteten Akteuren und intermediären<br />

Organisationen der politischen Kommunikation bestehen sowohl aus Akteuren<br />

mit geringem Wissen, die zu Aktionismus tendieren und Wissensexperten, deren<br />

Handlungskompetenz, diplomatisch formuliert, ausbaufähig ist. Auch die politische<br />

Sozialisation, die vielleicht in der durch die Aufklärung postulierte Mündigkeit des<br />

Einzelnen kulminiert, ist ein Grundbegriff, dessen Substanz von Kißler de facto<br />

durch den Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Mündigkeitspostulat und dessen<br />

praktischer Einlösung klar herausgestellt wird – oder, um mit Habermas zu sprechen:<br />

Das Projekt der Moderne ist unvollendet.<br />

Auch der Grundbegriff Politische Öffentlichkeit wird für ein junges Lesepublikum<br />

konzis und gleichzeitig prägnant dargestellt. Politische Öffentlichkeit impliziert<br />

eben nicht nur Staatliches oder massenmedial Veröffentlichtes, sondern auch gesellschaftliche<br />

Produktionsbedingungen, die in einer fortgeschrittenen Demokratie<br />

nicht mehr nur ökonomisch ausgerichtet sein können, sondern auch sozial verträglich<br />

und ökologisch sein müssen (S. 98–105). Die differenzierte Beschreibung von<br />

drei Öffentlichkeitsmodellen, die trotz ihrer zum Teil konträren, zumindest aber<br />

differenten Aussagen, unisono einen Aspekt unberücksichtigt lassen, nämlich dass<br />

politische Öffentlichkeit kontinuierliche Lernprozesse umfasst (S. 102–06). Soll die<br />

Signifikanz dieser Lernprozesse ernst genommen, ja hervorgehoben werden, ist eine<br />

Institutionenanalyse, die der Autor im vierten Kapitel (S. 143–233) durchführt, unerlässlich.<br />

Mit anderen Worten: Parteien und Verbände, Neue Soziale Bewegungen,<br />

Medien, aber auch Arbeitsorganisationen (Firmen) stellen öffentliche Akteure dar,<br />

die die Lernfähigkeit und Lebendigkeit einer Demokratie entscheidend prägen. Die<br />

detaillierte Behandlung dieser kollektiven Akteure verdeutlicht, dass Parteien bei der<br />

politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, sie aber keineswegs dominieren –<br />

so Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes, nicht Artikel 1 Absatz 1 (S. 144). Die Darstellung<br />

der genannten Akteure geschieht im wahrsten Sinne des Wortes lehrbuchge-<br />

Dis | kurs 207


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

mäß: überblicksartig, zugleich aber durchaus prägnant, informationsreich und auch<br />

reflexionsanregend. Dennoch seien einige ergänzende Anmerkungen gemacht: Es<br />

scheint mir nicht sinnvoll zu sein, Bündnis 90/Die Grünen <strong>als</strong> die letzte (erwähnenswerte)<br />

neue Partei im bundesrepublikanischen Parteienspektrum anzusehen<br />

(S. 150), denn die inzwischen nach der Fusion von PDS und WASG am 16.06.2007<br />

in Berlin zu „Die Linke“ mutierte neue Partei verdient Beachtung, weil diese Partei<br />

zu einem Sprachrohr und Auffangbecken für Menschen aus östlichen wie westlichen<br />

Bundesländern geworden ist, die sich subjektiv <strong>als</strong> VerliererInnen der jüngsten Modernisierungsprozesse<br />

sehen. Und werden die VerliererInnen der gesellschaftlichen<br />

Wandlungsprozesse in die Grundsatzüberlegungen einbezogen, so sollten auch prägnante<br />

Gedanken zu Parteien des rechtsextremen Spektrums artikuliert werden. Ein<br />

weiterer Aspekt ist bei der Parteienanalyse knapp ausgefallen, nämlich Überlegungen,<br />

warum Parteizugehörigkeit und aktives Mitwirken (nach wie vor) männerdominiert<br />

sind – auch und gerade in Zeiten von Mitgliederrückgang. Die notwendige Betrachtung<br />

von Verbänden fällt karg aus (S. 158–163 + 251–53); durch die Nennung und<br />

Aufgabenbeschreibung mehrerer Verbände könnte deren Bedeutung <strong>als</strong> kollektiver<br />

Akteur in der politischen Öffentlichkeit deutlicher werden. Die Ausführungen zu<br />

den Neuen Sozialen Bewegungen sind prägnant und aufschlussreich, jedoch kommt<br />

die Bestimmung der Unterschiede zwischen Alten und Neuen Sozialen Bewegungen<br />

zu kurz (S. 169 f. + 174).<br />

Auch Arbeitsorganisationen können interessante Akteure der politischen Kommunikation<br />

sein. Der Autor stellt unterschiedliche Möglichkeiten der Partizipation in<br />

Arbeitsorganisationen heraus – von der ArbeitnehmerInnenbeteiligung (S. 180–84)<br />

bis zur Nutzung von neuen Informationstechnologien <strong>als</strong> ArbeitnehmerInnenchancen,<br />

sich direkt an betrieblichen Entscheidungsfindungsprozessen beteiligen zu<br />

können (S. 184–96). Allerdings ist die Feststellung, die Kritik „an den herrschenden<br />

partizipations- und lebensfeindlichen Arbeitsbedingungen“ (S. 179) sei hinlänglich<br />

bekannt und müsse nicht fortgeschrieben werden, für ein Lehrbuch nicht angemessen.<br />

Es ist erstens unrealistisch anzunehmen, die (jungen) LeserInnen könnten diese<br />

Kritik kennen und zweitens nicht sinnvoll, in einer Fußnote auf ein Buch aus dem<br />

Jahr 1982 zu verweisen, das eventuelle Informationslücken schließen könnte. Dass<br />

den diversen Medien eine (zunehmende) Kommuniktationsfunktion in der modernen<br />

Gesellschaft zukommt, gilt inzwischen in weiten Kreisen der Bevölkerung <strong>als</strong><br />

Binsenweisheit. Kißler gelingt in diesem Abschnitt eine sehr differenzierte und informationsreiche<br />

Darstellung der Öffentlichkeitsfunktionen von Medien (S. 199–233).<br />

Diese Tatsache verdient besondere Betonung, da der Großteil der LeserInnen dieses<br />

Lehrbuches, junge Soziologie- respektive Sozialwissenschaftsstudierende, Medien <strong>als</strong><br />

ein Forum erleben, das durch populäre Medieninszenatoren wie Mario Barth oder<br />

Oliver Pocher den Alltag der Menschen zunehmend trivialisiert und infantilisiert.<br />

208 Dis | kurs


Gelesen<br />

Der solide Überblick über Aufgaben, Chancen und Herausforderungen der konventionellen<br />

Printmedien, des Rundfunks und Fernsehens wie auch über das Leitmedium<br />

der Zukunft, das Netz der Netze, zu dem bislang aber erst 16 % der Weltbevölkerung<br />

Zugang haben, verschafft den LehrbuchleserInnen zumindest eine Ahnung von<br />

der Multidimensionsfunktion dieser öffentlichen Kommunikationsform. Hervorhebenswert<br />

ist, dass der Autor in einer nüchternen Analyse (S. 217 ff.) auch <strong>als</strong> Symbolpolitik<br />

von unten zu bezeichnende Protestformen einzelner Stadt(teil)zeitungen,<br />

Lokalradios und BürgerInnenkanäle gegen die zuvor beschriebene konventionelle<br />

Mediendemokratie (Mediokratur) untersucht. Fällt die Bewertung dieses subtilen<br />

Aufbegehrens gegen das Etablierte zu Recht zurückhaltend, partiell auch skeptisch<br />

aus, so werden die LeserInnen freilich sehr wohl über Protestartikulationsformen<br />

und –möglichkeiten ausführlich informiert (S. 218–222). Neben den Zwischenfazits<br />

wären in diesem sehr praxis- und individuumsbezogenen Kapitel auch konkrete<br />

Aufgabenstellungen für die LehrbuchleserInnen sinnvoll gewesen.<br />

So wichtig die vorgestellten kollektiven Akteure für eine lebendige und von der Mehrheit<br />

der Bevölkerung kritisch begleitete und bejahte demokratische Gesellschaft auch<br />

sind, so essentiell ist der Deutsche Bundestag, das Parlament, <strong>als</strong> Generalinstanz für<br />

die Vermittlung der differenten Interessen einzelner gesellschaftlicher Teilsektoren.<br />

Kißler analysiert detailliert und perspektivisch die Funktionen der Generalinstanz<br />

Parlament. Interessant ist die ausführliche Schilderung der diversen Herausforderungen,<br />

Schwierigkeiten, ja Aporien, mit denen ein Parlament in einer hoch und fein<br />

differenzierten Demokratie konfrontiert ist (S. 107–42). Wünschenswert wäre auch<br />

für dieses Kapitel ein (kurzes) Fazit gewesen.<br />

Die komplexen Darstellungen der Funktionen von Parlament und diversen gesellschaftlichen<br />

Akteuren setzen voraus, was Kißler im fünften Kapitel prägnant thematisiert:<br />

die Existenz einer Zivilgesellschaft (S. 235–46), die die zuvor reflektierten<br />

Kommunikationsmöglichkeiten und –formen erst möglich macht. Der Autor geht<br />

kenntnisreich auf die <strong>als</strong> Synonym für Zivilgesellschaft stehende aktive Gesellschaft<br />

engagierter BürgerInnen ein (S. 235 f.). Die Darstellung des komplexen und komplizierten<br />

Beziehungsgeflechts von Parlament und kollektiven Akteuren zur Gestaltung<br />

einer bürgerInnenorientierten Politik umfasst sozialgeschichtliche Aspekte genauso<br />

wie das Proprium einer jeden Gesellschaft, nämlich soziale Ungleichheit. Der Autor<br />

verweist auf neue und traditionelle Formen der sozialen Ungleichheit, <strong>als</strong>o, zugespitzt<br />

formuliert, des Höher- und Tiefer-Seins von Individuen und Teilsektoren der<br />

Gesellschaft, allerdings nahezu ausschließlich aus nationaler Perspektive (S. 242 f.).<br />

Die problematische Begrenzung auf den nationalen Kontext zieht sich wie ein roter<br />

Faden durch das Buch und wird vom Autor in der Einleitung auch expressis verbis<br />

angekündigt (S. 19). Will Soziologie – und gerade auch Politische Soziologie – den<br />

Anspruch erheben, (weiterhin) kritische Oppositionswissenschaft sein zu wollen,<br />

Dis | kurs 209


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

muss sie in einer Zeit, die vom ökonomischen Primat und vom Rückgang des Politischen<br />

geprägt ist, die internationale, möglichst sogar die globale Dimension des<br />

Politischen in (Grundsatz)-Reflexionen einbeziehen.<br />

Leo Kißler, Politische Soziologie. Grundlagen einer Demokratiewissenschaft (UTB –<br />

Uni – Taschenbücher), Konstanz 2007: UVK Verlagsgesellschaft.<br />

ISBN: 978-3-8252-2925-2, 19,90 EUR<br />

210 Dis | kurs


Gelesen<br />

Gelesen<br />

Staunings Kampf um Dänemarks Demokratie und<br />

Landfrieden<br />

Christian Gellinek<br />

Dem Diskurs-Freund wird hier eine auf allgemeinverständlichem Dänisch „folkeligt“<br />

geschriebene wissenschaftliche Biographie vorgestellt über Dänemarks herausragenden<br />

zweimaligen Premierminister Thorvald August Marinus Stauning (1873–1942).<br />

Verfasst hat sie der Direktor der Bibliothek und des Archivs der dänischen Arbeiterbewegung<br />

(„ABA“) in Kopenhagen, Henning Grelle.<br />

Stauning durchlief während seines langen politischen Lebens einen gleichmäßig steilen<br />

Aufstieg von einem Kopenhagener Arbeiterkind, Zigarrensortierer nach Farbe,<br />

Größe und Gewicht, Mitglied der sozialdemokratischen Partei Dänemarks ab 1890,<br />

Kassenwart und schließlich Mitglied des Dänischen Parlaments („Folketing“) von<br />

1906–1942. Bereits 1910 zum Parteivorsitzenden gewählt, trat Stauning zuerst <strong>als</strong><br />

‚Kontroll’-Minister in C. Th. Zahles Regierung ein. Von 1924–26 übernahm Stauning<br />

dann zum ersten Mal die Verantwortung <strong>als</strong> dänischer Premier („Statsminister“),<br />

und blieb von 1929–42 zum zweiten Mal in drei aufeinander folgenden Kabinetten<br />

Regierungschef. Im Januar 1939 trat der amtierende Premierminister <strong>als</strong> Vorsitzender<br />

der Dänischen Sozialdemokratischen Partei wieder zurück. Der kenntnisreiche<br />

1949 geborene Biograph Henning Grelle zog nun Staunings, im Wahlkampf 1935<br />

benutzten Slogan „Stauning eller Kaos“, der ihm einen spektakulären Stimmenan-<br />

Dis | kurs 211


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

tail von 46.6 % einbrachte, aus dem Wahlkontext ab und wandelte ihn <strong>als</strong> Parole<br />

und Kaufangebot in „Demokrati eller Kaos“ um – und darin steckt die These seiner<br />

Biographie. Ehe wir preisgeben, was das, nicht einfach eins zu eins mechanisch mit<br />

‚Chaos’ übersetzt, auf Deutsch heißen könnte, müssen wir uns eine politische Achse<br />

mit einer Skala vorstellen. Auf ihr wären rechts die Konservativen („Det Konservative<br />

Folkeparti“), in der Mitte die Freisinning-Liberalen („Det Radikale Venstre“) und<br />

links die Sozialdemokraten („Socialdemokratiet“) einzuzeichnen. Auf dem Felde<br />

der dänischen Innenpolitik herrschte natürlich wie überall sonst auch Parteienhader.<br />

Über diesen wollte Stauning bei der Abstimmung triumphieren. Da seine Parole<br />

einmal von großem Erfolg gekrönt wurde, blieb sie im sich fortsetzenden politischen<br />

Kampf um Stimmen bis zu seinem Tode erhalten. Insofern bietet sich <strong>als</strong> Übersetzung<br />

für Normalfälle ‚Zerfall’, für den Ausnahmefall ‚Anarchie’ an. Aber wie würde<br />

man diese Herrschaftsparole Staunings auf unserer Skala einzutragen haben? Muss<br />

sie mehrdimensional erweitert werden? Denn Staunings innenpolitischer Machtkampf<br />

und sein Kalkül mussten auch außenpolitisch <strong>als</strong> Friedensaktivität während<br />

des Ersten und Zweiten Weltkriegs und <strong>als</strong> Neutralität zwischen den beiden Weltkriegen<br />

bis 1940 bestanden werden. Bei der Skalierung dürften auch die zu berücksichtigenden<br />

Arbeiterrechte, Währungsstabilität, Inflationsbekämpfung, Märktezugänge,<br />

sowie ausreichende Im- und Exportverträge Dänemarks nicht vernachlässigt<br />

werden. Dazu bräuchte man aber einen scanner.<br />

Stauning trug zwar die Verantwortung, aber es zeigte sich in Krisen wie einem drohendem<br />

Gener<strong>als</strong>treik, daß der dänische Premierminister zäh war, warten konnte<br />

und nicht zu sozialistischen Wagh<strong>als</strong>igkeiten neigte, sondern bei allen seinen<br />

Maßnahmen immer <strong>als</strong> königlich dänischer Sozialdemokrat zu gelten hatte. Seine<br />

internationale Solidarität konnte, wie die der deutschen und französischen Sozialdemokraten<br />

auch nicht, durch Abmachungen mit fremden Parteigenossen nicht unterminiert<br />

werden. Also inszenierte Stauning und garantierte in Krisen (wie einer<br />

Abdankungsdrohung des Königs oder Provokationen in Kriegszeiten) durch Allparteienregierung<br />

mit Respekt vor dem Regenten einen dänischen Burgfrieden nach<br />

innen und eine pro-nordische Neutralität nach außen. Als aber am 9. April 1940 die<br />

deutschen Besatzungstruppen völkerrechtswidrig einmarschierten, konnte mit Unterstützung<br />

seines Königs Christians 10., der von 1912 bis 1947 durchregierte, von<br />

Stauning das Chaos einer Überfremdung von Dänemark würdevoll und mit Bedacht<br />

abgewendet werden.<br />

Diese Biographie soll, wie ihre wichtigsten Vorläufer von 1937 (Untertitel: Vom Laufburschen<br />

zum Premierminister), 1942 (Sohn des Volkes), 1979, ²1988 (volkstümlich)<br />

das Terrain neu abteilen. Sie erfüllt ihre selbstgestellte Hauptaufgabe zu zeigen, daß<br />

Stauning und seine Partei in Dänemark am meisten zur allmählichen Durchsetzung<br />

der Demokratie in der Praxis geleistet haben. Die Ideologie des demokratischen Vor-<br />

212 Dis | kurs


Gelesen<br />

reiters bei der Gesellschaftsentwicklung auf der parlamentarischen Ebene und der<br />

Machtausübung in seiner Person, dem sich heranbildenden Landesvater („landsfader),<br />

verlangte aber eine in einem Königreich sehr schwer zu erlernende Rolle.<br />

Diese Demokratie <strong>als</strong> Dolmetscherin einer Mitbeteiligung und Mitbestimmung des<br />

einfachen Volkes, vor allem in den ärmeren Schichten, und ihrer Rechte auf den<br />

Achtstundentag und bezahlten Urlaub, kräftigte den Zulauf zur sozialdemokratischen<br />

Partei Dänemarks, welche gleichzeitig durch Staunings Tatkraft und Umsicht<br />

zur Mitschafferin der Demokratie berufen war. Das freiheitliche Potential der Demokratie<br />

wurde unter den Kabinetten Staunings zum ersten Mal in der politischen<br />

Geschichte Dänemarks ausgeschöpft.<br />

Dem Buch Grelles liegt eine sachliche Dreiteilung zugrunde, ohne <strong>als</strong> solche durch<br />

Kapitel- und Abschnittszahlen markiert worden zu sein. Die drei Teile werden thematisiert<br />

<strong>als</strong> I. Vorbereitung II. Durchsetzung von Reformen und III. Zum Wohle der<br />

Gesellschaft. Anders und etwas kleinkarierter teilte sein Vorgänger Lyngby Jepsen<br />

(1920–2001) sein Buch chronologisch-biographisch ein in I. Ein junger Mensch findet<br />

langsam seinen Weg II. Gehärtet und kampfbereit zu höchsten Ämtern III. Auf<br />

den Wegen zum Kabinettschef IV. Krisen und Kriege (1930–1942). Wenn man hier<br />

III. und IV. zusammenrechnet, ergibt sich von weitem eine Ähnlichkeit, welche auf<br />

der Chronologie beruht.<br />

Grelle dramatisiert nicht, wie sein Vorgänger-Biograph, die Nahtstellen und Schnittflächen<br />

zwischen den politischen Veränderungen und den privaten Entwicklungen,<br />

die Stauning Rückhalt gaben. Lyngby Jepsen war ein berühmter Schriftsteller seiner<br />

Zeit und kein Fachhistoriker. Entsprechend ängstlich penibel belegte er genau, was<br />

er in den Archiven <strong>als</strong> Unterlagen gefunden hatte und reihte alle Vorgänge schon<br />

im Inhaltsverzeichnis in Jahreszahlen auf. Dieser Vergleich in der Verarbeitung des<br />

damaligen und des jetzigen neuesten Archivmateri<strong>als</strong> in der Arbejderbevægelsens Bibliotek<br />

und im Stauning-Minister-Archiv des Rigsarkiv war notwendig, weil Grelle<br />

Hans Lyngby Jepsen <strong>als</strong> Ratgeber und Quellenbeschaffer 1988 gedient hatte und dies<br />

sowohl <strong>als</strong> Dank vermerkt wurde und im Vorwort Grelles abgegolten wird. Hier interessiert<br />

uns, daß es Lyngbys „folkelig biografi“ an einer politischen Analyse mangelt.<br />

Stattdessen beschreibt seine Biographie eine stark ausgeprägte Führungspersönlichkeit,<br />

die <strong>als</strong> Charakterbild seine Leser fesseln, <strong>als</strong>o altmodisch gesagt, belehren und<br />

erfreuen sollte. Grelle hingegen geht einen theoretischen Schritt weiter. Es kommt<br />

ihm nicht darauf an, noch einmal, weil das Stauning-Archiv inzwischen gewachsen<br />

war, in Stauning eine Ikone wie einen höher zu bauenden Obelisken zum Erstrahlen<br />

zu bringen, sondern <strong>als</strong> Parteihistoriker das neue Material zu sichten und auszuwerten.<br />

Grelle ordnet die politischen Hauptphasen und die persönlichen Nebenelemente<br />

sehr souverän zu einem skalierbaren Lebenswerk an: Glückskind („lykkebarnet“),<br />

Begabung, Eignung, Vertrauenswürdigkeit, Belastbarkeit, Experimentierfreude, Or-<br />

Dis | kurs 213


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

ganisationstalent, Schreiblust – inklusive Gedichte und ein oft gespieltes Arbeiterdrama<br />

– Lebenskraft und Stehvermögen bei einer familiären Tragödie sind anschaulich<br />

gemachte Stichworte. Sie werden mit stetem Blick auf ihre Einordnung in die<br />

politischen Zusammenhänge, die zu bestehen und zu bewältigen waren, behandelt.<br />

„Der rote Faden in Staunings Lebenswerk ist die Demokratie“ (<strong>als</strong> solche) und deren<br />

„Fortentwicklung zur Volksregierung“(form) (S. 494). Es ist, nach Grelle, Staunings<br />

Verdienst, erreicht zu haben, daß die dänische Demokratie nach und nach sich allmählich<br />

zu einer soliden Grundfeste gegen alle Angriffe von konservativer Seite entwickeln<br />

konnte und widerstandsfest geblieben ist. „Die Sozialdemokratie vermochte<br />

es, der Wachhund der [dänischen] Demokratie zu sein.“ (S. 495). Konkreter und<br />

unorthodoxer kann man es kaum ausdrücken.<br />

Die Zusammenfassung liefert denn auch nicht ein theoretisches Modell oder eine<br />

Begriffsanalyse der dänischen Demokratievariante, sondern erkennt die Weisheit einer<br />

Beschränkung auf die dänische Gesinnung („danskhed“) von Staunings Maßnahmen<br />

und ihrer Aufnahme. Daß die Demokratie die einzige vertretbare Basis für die<br />

dänische Sozialdemokratie sein müsse, stellte er bereits 1927 fest. Aber die eigentliche<br />

Bewährung musste nach dem Sorgentag der deutschen Besetzung 1940 erfolgen.<br />

Denn erst ab diesem Datum sollte sich die dänische Demokratie <strong>als</strong> Herrschaft über<br />

den Ausnahmezustand zu bewähren haben. Bereits knapp ein Jahr später in einer<br />

Rede vor den Kopenhagner Studenten, die bei Munksgaard 1941 erschien, gibt er der<br />

Hoffnung Ausdruck, daß man es wieder erleben werde, „Dänemark frei und selbständig<br />

zu sehen.“ Unbeirrt von begrenztem Handel, eingestellter Schiffahrt und der<br />

Blockade von und nach England, baute er auf der Basis der wiederzugewinnenden<br />

dänischen Selbständigkeit weiter an den Fundamenten des kommenden dänischen<br />

Wohlfahrtstaates. Er hat nach Grelle mit Recht <strong>als</strong> dessen Vorkämpfer zu gelten. So<br />

übernehmen wir ein obiter dictum Staunings, das dieser Biographie <strong>als</strong> Schluß-Motto<br />

dient: „Die Freude ist am höchsten, wenn eine wohlausgeführte Tat dahintersteht.“<br />

Grelles „Versuch“ („forsøg“) ist ein Glücksfall der wissenschaftlichen biographischen<br />

Darstellung und ehrt in vollem Maße den Erhalter des Landfriedens von Dänemark<br />

und seiner Demokratie, Thorvald Stauning.<br />

Henning Grelle, Thorvald Stauning. Demokrati eller Kaos: En Biografi [Demokratie<br />

oder Anarchie: Eine Biographie], København 2008: Jyllands-Postens Forlag, 575 pp.,<br />

DKK 299.00<br />

214 Dis | kurs


Gelesen<br />

Gelesen<br />

Daniel Hard: SPD-Programmdebatte vom Schröder-Blair-Papier<br />

bis zur Agenda 2010. Sozialpolitische<br />

Deutungen in Parteitagsbeschlüssen der SPD<br />

1998–2003<br />

Sebastian Nawrat<br />

Kann man über Geschichte schreiben, die noch dampft? Der Politikwissenschaftler<br />

Daniel Hard zeigt eindrucksvoll, dass das geht und zum Füllen einer Forschungslücke<br />

beitragen kann. Er unternimmt den politisch und wissenschaftlich durchaus brisanten<br />

Versuch, einen Beitrag zur Historisierung der Agenda 2010 zu leisten. Sein Fazit<br />

lautet: Inhaltlich überrascht werden konnte die SPD von der Agenda 2010 kaum.<br />

Die Quellenbasis für die sorgfältige Analyse stellen die Beschlüsse der SPD-Bundesparteitage<br />

zwischen 1998 und 2003 dar, die mit dem Schröder-Blair-Papier, dem<br />

Bericht der Hartz-Kommission und der Agenda 2010 <strong>als</strong> „Dokumente der Neuen<br />

Mitte“ verglichen werden. Mithilfe von sozialpolitischen Deutungsinnovationen, vor<br />

allem der Durchsetzung von Begrifflichkeiten, wie „Eigenverantwortung“, „Fördern<br />

und Fordern“ oder „Aktivierung“ wird der programmatische Wandel der bundesrepublikanischen<br />

Sozialdemokratie auf der Ebene der parteioffiziellen Beschlusslage<br />

Stück für Stück aufgeschlüsselt.<br />

Dass Daniel Hard den sozialpolitischen Diskurs der SPD methodisch sauber und<br />

auf der Höhe der aktuellen Theorieansätze in der Politikwissenschaft zu behandeln<br />

vermag, zeigt der konzeptionelle Griff ins Repertoire der Wissenspolitologie. Selbst-<br />

Dis | kurs 215


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

verständlich kann man trefflich darüber streiten, ob die Anzahl der Primärquellen<br />

hinreichend erscheint oder, ob die Hinzuziehung der analytischen Kategorien der<br />

Wissenspolitologie nicht die bloße Nutzung von Theorieschablonen darstellt. Denn<br />

zu dem Schluss, dass ein endgültiges Ergebnis der sozialdemokratischen Programmdebatte<br />

noch nicht abschließend auszumachen ist, hätte man nicht zwingend das<br />

Etikett einer nicht vollzogenen interpretativen Schließung benötigt. Und überhaupt:<br />

Schließen sich eine interpretative Schließung und ein beständiger Revisionismus bei<br />

einem kontinuierlichen und dem demokratischen Sozialismus verpflichteten Programmdualismus<br />

zwischen Theorie und Praxis nicht aus?<br />

Das Buch weist erfreulicherweise auf weitergehende Fragestellungen hin. Dies betrifft<br />

zum einen die mögliche Ausweitung des Quellenkorpus und zum anderen die<br />

Frage, ob die Linkspartei eine hilfreiche Rolle bei der interpretativen Schließung der<br />

sozialdemokratischen Programmdebatte spielen kann. Tatsächlich muss im Hinblick<br />

auf die anstehende Bundestagswahl das Kapitel der Agendapolitik <strong>als</strong> noch nicht<br />

ausdiskutiert gewertet werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Sozialdemokratie das<br />

solide Werk von Daniel Hard eher <strong>als</strong> Argumentationshilfe oder <strong>als</strong> vielmehr <strong>als</strong> latente<br />

Bedrohung des in Hamburg mühsam erreichten Konsenses werten wird. Der<br />

zentrale Vorzug der Studie, die auf einer im Jahre 2004 an der Universität Mainz<br />

angefertigten Magisterarbeit beruht, ist ein anderer: Da hier ganz explizit Quellen<br />

verwendet werden, wird mit der gebotenen Zurückhaltung und ganz unprätentiös<br />

das eklatante Manko anderer politikwissenschaftlicher Arbeiten zur Vorgeschichte<br />

der Agenda 2010 aufgezeigt, die auf eine sorgfältige Quellenbasis verzichten. Um es<br />

ganz konkret zu sagen: Es deutet sich an, dass die parteiinterne Flugbahn des Kometen<br />

Agenda 2010 länger <strong>als</strong> angenommen ist. Ein Blick in die Parteitagsbeschlüsse<br />

der SPD lohnt sich offenkundig.<br />

Das Buch nimmt den Wunsch des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeiers<br />

auf, die Agenda 2010 zu historisieren. Erfreulich ist, dass darauf verzichtet wird,<br />

vorschnell einen Vergleich mit anderen sozialdemokratischen Projekten („mehr<br />

Demokratie wagen“, „neue Ostpolitik“ oder „Krisenmanagement“) zu ziehen. Vielmehr<br />

kommen mit der für die zeithistorische Forschung gebotenen Distanz auch<br />

Gegenstimmen, wie die von Albrecht Müller, der von einer „Reformlüge“ spricht,<br />

zu Wort. So kann nur dazu geraten werden, die vorliegende Arbeit zur Kenntnis zu<br />

nehmen. Es handelt sich um eine Parteiprogrammgeschichte, die über den Tellerrand<br />

von exklusiven Debatten hinausblickt: eine Programmgeschichte, wie man sie<br />

sich wünscht.<br />

Der Titel ist erschienen im Verlag Vdm Dr. Müller in Saarbrücken (2008).<br />

ISBN: 3836449781, 68 EUR.<br />

216 Dis | kurs


Autorinnen und Autoren<br />

Autorinnen und Autoren<br />

Nils Bock, geb. 1981. Studium der Geschichte (Schwerpunkt Mittelalter)<br />

und Klassischen Archäologie an der Universität Trier, Bologna (Italien)<br />

und Toulouse (Frankreich), Abschluss: Magister Artium Februar 2007, Juli<br />

2005 – Dezember 2006 Studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt „Ausgrabung<br />

auf dem Petrisberg“, Juni 2007–Oktober 2007 Freier Mitarbeiter<br />

am DHI Paris im Forschungsprojekt „Herolde in burgundischen Quellen“,<br />

seit Januar 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr.<br />

Martin Kintzinger an der Universität Münster, Dissertationsprojekt: „Die<br />

zeremonielle Funktion der Herolde in Deutschland und Frankreich zwischen<br />

Spätmittelalter und Renaissance (ca. 1450–1520)“, Mitgliedschaft<br />

in Forschungsnetzwerken: Heraudica. Réseau international de recherches<br />

sur l’histoire des hérauts d’armes, Forschungsinteressen: Spätmittelalter,<br />

Frankreich, Der Herold, Zeremoniell.<br />

Karl-Heinz Breier, PD Dr., geb. 1957, Studium der Politikwissenschaft, Pädagogik<br />

und Philosophie in München und Augsburg, 1987–1994 wiss. Mitarb.<br />

an der Uni der Bw Hamburg, 1988 Forschungsaufenthalt an der Library<br />

of Congress, 1992 Prom. zum Dr. rer. pol., 1995–1996 wiss. Mitarb. an<br />

der TU München, 1996–2002 wiss. Ass. an der Uni Kiel (Lehrerausbildung),<br />

2001 Habil., Auszeichnung der Habilschrift mit dem Wissenschaftspreis der<br />

Wolf-Erich-Kellner-Gedächtnisstiftung, seit 2002 PD und wiss. Oberass. an<br />

der Uni Kiel, 2004–2005 Prof.-Vertr. an der Uni Bonn, 2005–2006 Prof.-<br />

Vertr. an der Uni Erfurt, seit WS 2007/08 Prof.-Verw. an der Hochschule<br />

Vechta.<br />

Christian Gellinek, Prof. emer., Ph. D., Dr. phil.-habil., geb. in Potsdam,<br />

Studium der Rechtswissenschaften, Germanische Philologie, Mittelalterliche<br />

Geschichte und Linguistik; Assistant-Associate Professor, Yale University<br />

1963–1971, Full Professor-chairman, Univ. of Florida, Gainesville<br />

1971–1987; Gastprofessor Basel, Poznan, Salt Lake City, UCLA; Münster<br />

Vergleichende Städteforschung 1987–1995; Potsdam, Memorial Univ. of<br />

Newfoundland, Univ. of South Fla., Tampa, BYU Provo, Utah; Münster bis<br />

WS 2006/07.<br />

Susan Gottlöber, M.A., geb. 1976, 1996–2003 Studium der Philosophie,<br />

Soziologie und Politikwissenschaft an der TU Dresden, seit 2005 Lehrauftrag<br />

am Lehrstuhl für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaften<br />

der TU Dresden.<br />

Dis | kurs 217


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Christoph Krakowiak, stud. phil., geb. 1985, studiert Politikwissenschaft<br />

und Philosophie an der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Studienschwerpunkt<br />

in den Internationalen Beziehungen sowie der Region Mittelund<br />

Osteuropa.<br />

Daniel Kuchler, MA, geb. 1981, studierte Politikwissenschaft, Englische Philologie<br />

und Literaturwissenschaft sowie Geschichte in Münster. Er schrieb<br />

seine Magisterarbeit zum Thema „The Relevance of Gramsci for Post-Modern<br />

International Politics“. Heute arbeitet er <strong>als</strong> Teaching Assistant im<br />

Bereich International Beziehungen und promoviert an der State University<br />

of New York (SUNY), University at Albany mit den Schwerpunkten Internationale<br />

Beziehungen und Politische Theorie. Er ist von der Universität mit<br />

einem Tuition Scholarship und einem Stipendium ausgezeichnet worden.<br />

Matthias Lemke, Dr., geb. 1978, Studium der Politikwissenschaft, Soziologie,<br />

Neueren und Neuesten Geschichte in Münster (M.A.) und Paris (DEA);<br />

promovierte im Rahmen einer deutsch-französischen Promotion (Hochschule<br />

Vechta, Sciences Po Paris) über einen Vergleich der Anti-Totalitarismuskompetenz<br />

des deutschen und französischen Sozialismus; Lehrkraft<br />

für besondere Aufgaben für das Fach Wissenschaft von der Politik an der<br />

Hochschule Vechta.<br />

Martin Lücke, Dr. phil., geb. 1975, Studium der Fächer Geschichte,<br />

Deutsch, Mathematik und Erziehungswissenschaften an der Universität<br />

Bielefeld, 2002 Erstes Staatsexamen in Nordrhein-Westfalen, 2004 Zweites<br />

Staatsexamen in Berlin, 2004–2006 Promotionsstipendiat der Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung, 2007 bis 2008 Lehrer am Hans-Carossa-Gymnasium in<br />

Berlin-Kladow mit den Fächern Deutsch und Geschichte, seit November<br />

2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Friedrich-Meinecke-Institut der FU<br />

Berlin (Didaktik der Geschichte), Promotion zur Geschichte der männlichen<br />

Prostitution in Deutschland in Kaiserreich und Weimarer Republik,<br />

2008 Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen<br />

Deutschlands. Jüngste Veröffentlichung: Männlichkeit in Unordnung.<br />

Homosexualität und männliche Prostitution in Kaiserreich und Weimarer<br />

Republik, Frankfurt (Main) 2008.<br />

Renate Martinsen, Prof. Dr., Lehrstuhl für Politische Theorie an der Universität<br />

Duisburg-Essen; Studium der Politikwissenschaft und Germanistik<br />

an der Universität Konstanz; Promotionsschrift „Der Wille zum Helden.<br />

Formen des Heroismus in Texten des 20. Jahrhunderts“ (DUV 1990); Wissenschaftliche<br />

Assistentin am Institut für Höhere Studien in Wien; Sprecherin<br />

im DVPW-Arbeitskeits „Politik und Technik“ (1994–2000); Visiting<br />

Professor an der George Washington University, Washington D.C.; Habilitationsschrift<br />

„Staat und Gewissen im technischen Zeitalter. Prolegomena<br />

218 Dis | kurs


Autorinnen und Autoren<br />

einer politologischen Aufklärung“ (Velbrück 2004); Vertretungsprofessur<br />

für Innenpolitik und Verwaltung an der Universität Konstanz; Vertretungsprofessur<br />

für Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig; seit<br />

2006 in Duisburg.<br />

Sonja Meyer, stud. phil., geb. 1983, seit 2005 Studium der Sozialwissenschaften<br />

und Geschichte an der Hochschule Vechta, 2007 Studium an der<br />

Universidade Federal da Paraíba, João Pessoa, Brasilien.<br />

Jochen Missweit, geb. 1980, Studium der Geschichte, der Musik und<br />

der Erziehungswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität<br />

Münster und an der TU Dortmund, geplante Promotion in Musikwissenschaft,<br />

Forschungsinteressen: Symbolische Kommunikation in der Frühen<br />

Neuzeit, Kulturgeschichte des Krieges (Musik und Krieg), Musikalische Erinnerungskultur<br />

(bzw. Musik <strong>als</strong> Teil des kulturellen Gedächtnisses).<br />

Johannes Morrow, BA, promoviert in Politischer Theorie and Globaler Politik<br />

an der State University of New York at Albany. Er erhielt seinen Bachelor<br />

of Arts von der University of California, Berkeley. Seine Forschungsinteressen<br />

beinhalten indigene politische Bewegungen und indigene Philosophie,<br />

sowie Wissenschaftsphilosophie.<br />

Sebastian Nawrat, geb. 1981, Studium der Sozialwissenschaften, Geschichte<br />

und Germanistik in Münster, Staatsexamen 2006, 2004 bis 2006<br />

Studentische Hilfskraft im Arbeitsbereich für Allgemeine und Historische<br />

Erziehungswissenschaft der Universität Münster (Prof. Dr. Bernd Zymek),<br />

2007 Wissenschaftliche Hilfskraft in der Abteilung Bildungstheorie und Bildungsforschung<br />

im Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität<br />

Münster, seit 2007 Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, Promotionsprojekt<br />

„Die sozial- und wirtschaftspolitische Programmdebatte der<br />

SPD seit 1982“, Forschungsinteressen: Parteienforschung, Zeitgeschichte<br />

und Polnische Geschichte.<br />

Nadine Niemann, stud. phil., geb. 1986, Studium der Erziehungs- und Sozialwissenschaften<br />

an der Hochschule Vechta.<br />

Wesley Nishiyama, MA, MA, promoviert in Politikwissenschaft und ist Adjunct<br />

Professor an der State University of New York at Albany. Er erhielt<br />

einen Master of Arts in Philosophie von der California State University at<br />

Long Beach, einen Master of Arts in Politikwissenschaft von der University<br />

of California, Davis, sowie einen Bachelor of Arts in Politikwissenschaft und<br />

einen Bachelor of Arts in Philosophie von der University of California,Irvine.<br />

Forschungsschwerpunkte im Bereich der Politischen Theorie der Gegenwart,<br />

Sozialtheorie und Amerikanischen Politik.<br />

Dis | kurs 219


Dis | kurs – Jahrgang 4, Nr. 2, 2008<br />

Chris O‘Kane, MA, promoviert in „Social and Political Thought“ an der<br />

University of Sussex. Autor verschiedener Texte zu Gramsci, Said, Foucault,<br />

Badiou, Agamben, Adorno und Marx; Forschungsschwerpunkt im Bereich<br />

der neuen Formen des politischen Denkens im Spektrum der politischen<br />

Linken.<br />

Stephan Sandkötter, Dr., 1987–1992 Studium der Soziologie, Politischen<br />

Wissenschaft, katholischen Theologie und Philosophie an der Westfälischen<br />

Wilhelms-Universität Münster, 1990 Auslandsstudienjahr in Petrópolis<br />

bei Rio de Janeiro (Brasilien), 1993–1998 Promotion in Soziologie an der<br />

WWU Münster, 1998–1999 Lehrbeauftragter am Lateinamerika-Zentrum<br />

der WWU Münster, 1999–2003 DAAD/CAPES-Gastdozent an der bundesstaatlichen<br />

Universität von Paraíba (Brasilien), ab 2003 Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Hochschule Vechta.<br />

Matti Seithe, geb. 1984. Studium der Publizistik/Kommunikationswissenschaft,<br />

Politikwissenschaft und Soziologie an den Universitäten Mainz<br />

und Münster zwischen 2003 und 2009. Schrieb seine Examensarbeit zum<br />

Thema „Zwischen Überdramatisierung und Verharmlosung. HIV und Aids<br />

in der Berichterstattung kostenloser Zeitschriften für homosexuelle Menschen“.<br />

Wissenschaftliche Schwerpunkte sind Politische Kommunikation,<br />

Journalismusforschung, Gesundheitskommunikation, Sozialpolitik sowie<br />

Politische Kulturforschung.<br />

Julia Shestakova, M.A., geb. 1981, Studium der Philosophie, Neueren Geschichte<br />

und Russischen Literatur in Tartu (Estland); 2005–2006 Stipendiatin<br />

der Studienstiftung des Abgeordnetenhauses von Berlin (Forschungsprojekt<br />

„Im Exil oder doch Zuhause? Russische Philosophie im Berlin der<br />

20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts“); 2007–2008 Stipendiatin am<br />

Forschungsinstitut für Philosophie Hannover; zur Zeit promoviert <strong>als</strong> Stipendiatin<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema „Philosophie <strong>als</strong> Erinnerung.<br />

Dimensionen des Gedächtnisbegriffs im Anschluss auf Schellings<br />

Überlegungen zur (Wieder)Erinnerung“ an der Humboldt Universität Berlin.<br />

Bastian Walter, M.A., geb. 1978, Studium der Mittleren Geschichte, Neueren<br />

Geschichte und der Europäischen Ethnologie in Münster und Bern;<br />

ehemaliger DAAD-Stipendiat; 2005–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter in<br />

einem DFG-Projekt zur Vor- und Frühformen des Völkerrechts; seit 2006<br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte<br />

von Prof. Dr. Martin Kintzinger an der WWU Münster; Promotionsprojekt:<br />

„Träger, Räume und Vollzug. Koordination und Praxis städtischer Außenpolitik<br />

im Kontext der Burgunderkriege“; Arbeitsschwerpunkte: Völkerrechtsgeschichte,<br />

Diplomatiegeschichte, Kommunikationsgeschichte, Geschichte<br />

der Spionage.<br />

220 Dis | kurs


Autorinnen und Autoren<br />

Ines Weber, M.A., geb. 1983, von 2002–2008 Studium der Politikwissenschaft,<br />

Kommunikationswissenschaft und Psychologie in Greifswald, 2006<br />

Auslandssemester an der Philosophischen Fakultät der Staatlichen Universität<br />

St. Petersburg, seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule<br />

Vechta.<br />

Beiträge<br />

Beiträge für Diskurs, die sich entweder direkt mit einem Aspekt des Titelthemas<br />

eines <strong>Heft</strong>es auseinandersetzen, oder aber die inhaltlich andere<br />

Bereiche des sozial- und geisteswissenschaftlichen Themenspektrums abdecken,<br />

schicken Sie bitte an die oben angegebene Adresse der Redaktion,<br />

entweder per E-Mail oder <strong>als</strong> CD auf dem Postweg.<br />

Beachten Sie bitte, dass Ihr Artikel zwischen acht und zwölf Standardseiten<br />

Text umfassen sollte und dass Sie die enthaltenen Informationen nach gängigem<br />

Muster wissenschaftlich belegen. Fügen Sie Ihrer Einsendung einen<br />

tabellarischen Lebenslauf bei.<br />

Nach Erhalt des Artikels wird dieser von uns und unseren Kooperationspartnern<br />

nach inhaltlichen und wissenschaftlichen Kriterien geprüft. Kommen<br />

wir zu dem Schluss, dass wir den Artikel veröffentlichen wollen, setzen wir<br />

uns mit Ihnen für die Abwicklung des weiteren Verfahrens in Verbindung.<br />

Der Entschluss, eine Publikation nicht zu veröffentlichen, wird Ihnen ebenfalls<br />

mitgeteilt. Dabei werden wir insbesondere darauf achten, die für die<br />

Ablehnung ausschlaggebenden Gründe mitzuteilen.<br />

All rights reserved. No part of this publication may be produced, stored in<br />

a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic,<br />

mechanical, photocopying, recording or otherwise, without the prior written<br />

permission of the publisher. Whilst all reasonable care has been taken<br />

to ensure the accuracy of this publication, the publishers cannot accept<br />

responsibility for any errors or omissions.<br />

The content of this publication reflects the author’s views. The publisher<br />

is not liable for any use that may be made of the information contained<br />

herein.<br />

Foto auf der Titelseite<br />

© Mando Gomez<br />

Dis | kurs 221


Impressum<br />

Redaktionsanschrift<br />

Dis|kurs<br />

Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen<br />

Hochschule Vechta – Wissenschaft von der Politik<br />

Driverstrasse 22<br />

D-49377 VECHTA<br />

E-Mail: redaktion@<strong>diskurs</strong>online.de<br />

Im Internet: www.<strong>diskurs</strong>online.de<br />

Wissenschaftliche Beratung<br />

Peter Nitschke, Hans Rainer Sepp, Karl Hahn<br />

Herausgeber: Matthias Lemke, Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat<br />

Redaktion<br />

Matthias Lemke (verantwortlich), Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat<br />

Verlag<br />

Meine Verlag<br />

Haus des Buches<br />

Gerichtsweg 28<br />

D-04103 LEIPZIG<br />

E-Mail: post@meine-verlag.de<br />

Im Internet: www.meine-verlag.de | www.<strong>diskurs</strong>.meine-verlag.de<br />

Titelgestaltung, Layout<br />

Communications-Piece.com<br />

Satz<br />

Wenke Richter<br />

ISSN: 1865-6846<br />

ISBN: 978-3-941305-02-1<br />

© Für diese Ausgabe<br />

Dis|kurs Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen,<br />

Hochschule Vechta – Wissenschaft von der Politik, Driverstrasse 22,<br />

D-49377 VECHTA, Germany


N e u e r s c h e i n u n g<br />

er Jahhmten<br />

r kaum<br />

ttendahrigen<br />

estimebend<br />

enstierer<br />

den<br />

632 im<br />

em für<br />

Alexander Zirr<br />

» Historische Studien «<br />

Alexander Zirr<br />

Axel Oxenstierna – Schwedens Reichskanzler während<br />

des Dreißigjährigen Krieges<br />

Studien zu seiner Innen- und Außenpolitik<br />

te des<br />

auf die<br />

chwers<br />

aber<br />

ischen<br />

eleuchtisches<br />

rschaft<br />

, Jourhaften/<br />

iefte er<br />

rsitet in<br />

eipzig,<br />

-Ebertzigs<br />

im<br />

TSR – Historische Studien Band 3<br />

T R S<br />

Thematische Schriften-Reihe<br />

Meine Verlag<br />

Axel Oxenstierna – Schwedens Reichskanzler während des<br />

Dreißigjährigen Krieges. Studien zu seiner Innen- und Außenpolitik<br />

Alexander Zirr<br />

Axel Oxenstierna, der bedeutende schwedische Reichskanzler der Jahre 1612 bis<br />

1654, fristet neben seinen „Dienstherren“, dem berühmten und fast mythologisch verklärten<br />

König Gustaf II. Adolf und der kaum minder berühmten, eher berüchtigten<br />

Königin Kristina ein Schattendasein – jedoch zu Unrecht. Im vorliegenden Werk untersucht<br />

der Autor verschiedene Aspekte des Lebens und Handelns Axel Oxenstiernas,<br />

besonders im Hinblick auf die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.<br />

Ausstattung und Preis<br />

• Umfang 155 Seiten sowie eine Abbildung<br />

• Quellen- und Literaturverzeichnis<br />

• Anhang mit Dokumenten und Zeittafel<br />

• ISBN: 978-3-9811859-7-3<br />

• Preis: 25,95 EUR<br />

• kostenloser Versand durch www.absolutbuch.de<br />

• mehr Informationen unter www.kaestner.meine-verlag.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!