Artikel als pdf - Dis|kurs
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Aufsätze<br />
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– jahrgang 8 – ausgabe 2 - 2012<br />
»Dem Ungesagten zuhören«<br />
Giorgio Agambens Was von Auschwitz bleibt. Das<br />
Archiv und der Zeuge. Eine kritische Reflexion<br />
Alina Bothe<br />
Freie Universität Berlin, Osteuropa-Institut<br />
E-Mail: alina.bothe@fu-berlin.de<br />
Abstract<br />
This article discusses Giorgio Agambens Quel che resta di Auschwitz.<br />
L’archivio e il testimone from a historians perspective. The origin of<br />
this article lies in different irritations while reading Agambens inspiring<br />
discussion of testimonies from Shoah survivors. These irritations are mostly<br />
based in Agamben’s methods as well as his understanding of Shoah history.<br />
Nevertheless, this article does not aim to discard Agambens work, but tries<br />
to discuss certain methods and premises positively challenging and developing<br />
the arguments.<br />
Schlüsselwörter<br />
Agamben, Auschwitz, Zeugnis, Shoah, Jüdischer Widerstand<br />
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Alina Bothe<br />
Giorgio Agamben hat 1998 unter dem Titel Quel che resta di Auschwitz. L’archivio<br />
e il testimone, in der deutschen Übersetzung Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv<br />
und der Zeuge (2003), höchst komplexe und kontroverse Thesen zur Philosophie,<br />
Geschichte und Theorie der Shoah veröffentlicht. In dem schmalen Band von<br />
knapp einhundertfünfzig Seiten sind Reflexionen über diverse Fragestellungen zu<br />
finden: Auf der einen Seite versucht das Buch Leitlinien einer terra ethica post<br />
Auschwitz zu vermessen, auf der anderen Seite reflektiert das Werk grundlegende<br />
Einsichten in die Geschichte der Shoah und ihre Erinnerung. Dabei geht Agamben<br />
jedoch nicht von Fragestellungen der Erinnerungstheorie oder Überlegungen<br />
zum Trauma der Shoah aus, sondern verwendet einen dezidiert diskurstheoretischen<br />
und biopolitischen Ansatz, der ihm zum einen ermöglicht, bestimmte<br />
innovative Gedanken zur Geschichte und Theorie der Shoah zu formulieren, ihn<br />
zum anderen aber zu Thesen bringt, die kritisch zu hinterfragen sind. Der theoretische<br />
Ansatz des Autors schlägt sich auch in seiner Methodik nieder. Agamben<br />
äußert sich zu geschichtswissenschaftlichen Themen und Fragestellungen unter<br />
Einbezug geschichtswissenschaftlicher Quellen, ohne jedoch auf die Methodik der<br />
Disziplin zurück zu greifen. Insbesondere nutzt er das Repertoire der Quellenkritik<br />
und hierbei vor allem die Kontextualisierung von Quellen nicht. Aufgebaut ist<br />
das Buch nach einer kurzen, aber sehr prägnanten Einleitung <strong>als</strong> fortlaufender<br />
»Kommentar[...] zum Zeugnis« (Agamben 2003, 8). Agamben bezieht verschiedene<br />
Zeugnisse Überlebender ein, in der Hauptsache allerdings kommentiert er das<br />
Zeugnis Primo Levis, mit welchem er über den Verlag Einaudi persönlich bekannt<br />
war. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass die einzelnen Kapitel des Werkes oftm<strong>als</strong><br />
recht unverbunden wirken. Sie sind jedoch durch den Anspruch, sich an den Kern<br />
dessen, was Auschwitz <strong>als</strong> Synonym der Shoah bedeutet, anzunähern, verbunden.<br />
Die Homo Sacer Bände, deren dritter Band Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv<br />
und der Zeuge ist, beinhalten Giorgio Agambens in der Fluchtlinie Michel<br />
Foucaults stehende Überlegungen zu Macht und Herrschaft in Zeiten der Biopolitik.<br />
Die weiteren bisher erschienenen Bände Homo Sacer. Die Souveränität der<br />
Macht und das nackte Leben und Ausnahmezustand wurden 2002 und 2004 in<br />
deutscher Übersetzung veröffentlicht. Insbesondere seine Thesen zum Lager <strong>als</strong><br />
Nomos der Moderne und zum Ausnahmezustand, die irritierende Kontinuitätslinien<br />
zwischen den Lagern des Nation<strong>als</strong>ozialismus und Guantanamo ziehen, sind<br />
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erheblich kontrovers diskutiert worden. Der dritte Band steht hingegen thematisch<br />
etwas außerhalb der restlichen Reihe und vielleicht deswegen wiederum in<br />
ihrem Zentrum. Zentral ist für die gesamte Trilogie der Homo Sacer <strong>als</strong> Gegensubjekt<br />
des Souveräns. Der Homo Sacer war im altrömischen Recht eine vogelfreie<br />
Person, die getötet, nicht aber geopfert werden durfte und sich damit in der<br />
Hierarchie der Rechtspersonen auf der untersten Stufe befand. Dieses Bild überträgt<br />
Agamben im dritten Band auf den Muselmann, den lebenden Toten der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />
Vernichtungslager. Muselmänner waren im Lagerjargon von<br />
Auschwitz die Häftlinge, deren Lebenswillen gebrochen war. In anderen Lagern<br />
waren andere Ausdrücke üblich, die Figuration des Muselmannes gab es in allen<br />
Lagern.<br />
Zwei zentrale Fragestellungen lassen sich in Was von Auschwitz bleibt ausmachen.<br />
Erstens: Wie kann die Shoah menschlich begriffen werden und wo liegen<br />
die Grenzen des Begreifens? Diese Frage ist von der Idee geleitet, dass »Auschwitz<br />
nicht für immer unverstehbar bleibt« (Agamben 2003, 7). Zweitens: Welche ethischen<br />
und politischen Implikationen hat die Shoah und wie ist es um ihre Aktualität,<br />
im Sinne ihrer Bedeutung in der Gegenwart, bestellt. Die zweite Fragestellung<br />
führt Agamben dann zu Überlegungen zur bereits genannten terra ethica post<br />
Auschwitz (Agamben 2003, 9), die aus seiner Sicht eine terra incognita ist, deren<br />
Vermessung noch aussteht.<br />
Ausgangspunkt des nachfolgenden Beitrags sind Irritationen, die sich bei der Lektüre<br />
von Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge ergeben haben.<br />
Diese Irritationen liegen zum einen in der Methodik Agambens begründet und<br />
zum anderem in dem, was er <strong>als</strong> Geschichte der Shoah begreift, sprich der Konzeption<br />
oder Meta-Narration der Shoah. Der vorliegende Beitrag hat daher nicht zum<br />
Ziel, sich den ethischen Überlegungen zu widmen, sondern Agambens Konzeption<br />
oder Meta-Narration der Shoah und damit die Grundlage seiner ethisch-philosophischen<br />
Überlegungen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht kritisch zu reflektieren.<br />
Hierbei werden Irritationen formuliert, die aufgrund bestimmter kontextualisierender<br />
Auslassungen und historischer Darstellungen (Re-Präsentationen)<br />
ebenso wie aus der Übernahme der Sprache eines Überlebenden entstehen. Die<br />
Intention des Textes ist es hierbei nicht, die Überlegungen Agambens grundsätzlich<br />
zu verwerfen, jedoch bestimmte Methoden und Prämissen Agambens in Fra-<br />
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ge zu stellen und konstruktiv zu diskutieren. Dabei ist selbstverständlich stets zu<br />
berücksichtigen, dass Agambens Ansatz kein geschichtswissenschaftlicher ist und<br />
seine ethisch-philosophischen Überlegungen gewisser Zuspitzungen und Verallgemeinerungen<br />
bedürfen. Nichtsdestotrotz erscheint es hilfreich die Grundlagen,<br />
auf denen diese Überlegungen fußen, nachzuvollziehen, um seine gerade auch in<br />
der Historiographie der Shoah relevanten Schlussfolgerungen mit geschichtswissenschaftlicher<br />
Methodik einzuordnen und zu kontextualisieren. Dennoch ist zu<br />
betonen, dass es sich um differente disziplinäre Positionen und Perspektivierun-<br />
gen handelt.<br />
Zum Werk Der Zeuge und der Muselmann<br />
Bevor nachfolgend verschiedene Kritikpunkte an Agambens Argumentation aus<br />
geschichtswissenschaftlicher Perspektive formuliert werden, soll zuvor kurz zusammenfassend<br />
auf einige für diesen Beitrag relevante Aspekte des diskutierten<br />
Werks eingegangen werden. Nach einem prägnanten Vorwort ist das Buch in die<br />
vier Kapitel 1. Der Zeuge, 2. Der »Muselmann«. 3. Die Scham oder Über das Subjekt<br />
und 4. Das Archiv und das Zeugnis unterteilt. Die Überschriftentitel liefern<br />
dabei die zentralen Stichworte in Agambens Reflexion. Das Vorwort führt mehrere<br />
zentrale Aspekte ein: Erstens Agambens Überlegungen zur Aporie von Auschwitz,<br />
zweitens seine Überlegungen zu einer neuen Ethica more Auschwitz demonstrata,<br />
einer Ethik wie sie sich in und durch Auschwitz erwiesen hat, drittens Aspekte seiner<br />
Konzeption der Geschichte der Shoah und viertens Grau <strong>als</strong> Symbol einer neuen<br />
Ethik. Bereits im Vorwort entwickelt Agamben seine Überlegungen zur Aporie<br />
von Auschwitz, die nachfolgend etwas ausführlicher hergeleitet und kontextualisiert<br />
werden sollen, da sie zu den zentralen Thesen des Werkes gehören.<br />
Die Aporie von Auschwitz ist das philosophisch-ethische Problem einer (Nicht-)<br />
Verstehbarkeit der Shoah. Primo Levi hat mit dem Satz »Hier ist kein Warum« 1<br />
festgehalten, was an der Shoah nicht zu verstehen ist. Geoffrey Hartman hat dies<br />
»the one question that haunts us« genannt, auf die Hannah Arendt mit der These<br />
von der Banalität des Bösen eine am Ende unbefriedigende Antwort gegeben hat.<br />
1 Diese prägnante Formulierung ist die Wiedergabe einer Antwort eines SS-Mannes, den<br />
Levi kurz nach seiner Ankunft in Auschwitz nach dem Sinn einer Bestimmung fragte.<br />
»›Warum?‹ frage ich in meinem beschränkten Deutsch. ›Hier ist kein Warum‹, gibt er<br />
mir zur Antwort und treibt mich mit einem Stoß zurück.« (Levi 2007: 31).<br />
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Die Unmöglichkeit der Beantwortung dieser Frage nach dem Warum hat Agamben<br />
<strong>als</strong> die Aporie von Auschwitz bezeichnet. Die Aporie von Auschwitz ist, kurz<br />
formuliert, die Unmöglichkeit des Verstehens. Agamben schreibt zunächst von<br />
einer »Wirklichkeit, die notwendig ihre faktischen Elemente übersteigt« (Agamben<br />
2003, 8), <strong>als</strong>o der Unfähigkeit des menschlichen Begreifens (Agamben 2003,<br />
7) dessen, was in den Vernichtungslagern geschah. Ihm geht es um »die Nicht-<br />
Koinzidenz von Fakten und Wahrheit, von Konstatieren und Verstehen« (Agamben<br />
2003, 8). Zentral ist für ihn an dieser Stelle das, was Primo Levi mit Hier<br />
ist kein Warum angedeutet hat: Die Absolutheit der Wahrheit der Gaskammern<br />
von Auschwitz <strong>als</strong> Synonym für alle Vernichtungslager steht nicht in Frage, und<br />
zugleich ist diese Wahrheit im Sinne eines menschlichen Begreifens nicht zu verstehen.<br />
Agamben selbst formuliert, was in den Vernichtungslagern geschah, sei<br />
»das einzig Wahre und <strong>als</strong> solches Unvergeßliche; andererseits ist diese<br />
Wahrheit in genau demselben Maß unvorstellbar, d. h. nicht auf die sie konstituierenden<br />
Wirklichkeitselemente reduzierbar« (Agamben 2003, 8).<br />
Hier ist kein Warum oder auch die Nicht-Koinzidenz von Fakten und Verstehen<br />
bedeutet nicht, Auschwitz <strong>als</strong> ein Mysterium in religiöser Verklärung bestehen zu<br />
lassen, sondern sich der Grenze des Vorstellbaren <strong>als</strong> einer Herausforderung einer<br />
Ethik post Auschwitz zu stellen und sie gleichzeitig <strong>als</strong> solche bestehen zu lassen,<br />
Nicht-Verstehbarkeit erstens zu akzeptieren und zweitens zu hinterfragen.<br />
Auf eine noch zu kartografierende neue ethische Welt ist Agambens Text ausgerichtet,<br />
auf das, Was von Auschwitz bleibt. Auschwitz bzw. die Shoah sind zugleich<br />
Ausgangsort wie »Probe« (Agamben 2003, 9) dieser neuen terra ethica.<br />
Agamben bringt dies in die an Baruch de Spinoza angelehnte Formel einer Ethica<br />
more Auschwitz demonstrata, <strong>als</strong>o einer Ethik, wie sie in Auschwitz zu erkennen<br />
gegeben worden ist. Der Bezug auf Baruch de Spinozas Ethica, ordine geometrico<br />
demonstrata lässt sowohl eine Kontinuität zur modernen ethischen Tradition<br />
nach Spinoza wie zugleich auch den Bruch mit ihr erkennen. Denn die Ethik, wie<br />
sie in Auschwitz zu erkennen gegeben worden ist, ist eine neue Ethik, die sich an<br />
Auschwitz erweisen muss. Nur ethische Überlegungen, die in ihrer Anwendung<br />
Auschwitz standhalten, sind nach dieser These Agambens zulässig. Es ist die Forderung<br />
nach einer Ethik, die Primo Levis »Hier ist kein Warum« erträgt (Agam-<br />
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ben 2003, 41). Einer Ethik, die der Extremfigur des Muselmannes, des lebenden<br />
Toten unter den Lagerhäftlingen, angemessen ist. »Denn keine Ethik darf sich anmaßen,<br />
einen Teil des Menschlichen auszuschließen, so unangenehm und schwer<br />
es auch sein mag, ihn anzuschauen« (Agamben 2003, 55).<br />
Im ersten Kapitel Der Zeuge leitet Agamben den Begriff des Zeugen aus dem Wort<br />
superstes ab. Der superstes sei derjenige, »der etwas erlebt hat, der ein Ereignis<br />
bis zuletzt durchgemacht und deswegen Zeugnis davon ablegen kann« (Agamben<br />
2003, 14). Hier folgt Agamben der disziplinären Diskussion der shoah studies in<br />
der Begrifflichkeit. Der Zeuge ist nach klassischem Sprachverständnis derjenige,<br />
der (unbeteiligt) etwas beobachtet hat und anschließend davon berichtet. In Bezug<br />
auf die Zeugnisse der Shoah ist der Zeuge zugleich Überlebender. Nicht jeder<br />
Überlebende hingegen ist Zeuge bzw. wird zum Zeugen, dies setzt voraus, dass der<br />
Überlebende über seine Erinnerung spricht oder schreibt, Zeugnis ablegt.<br />
»Zeugnis ablegen bedeutet, die eigene Person für die Wahrheit der Geschichte<br />
einzusetzen und das eigene Wort zum Bezugspunkt einer umstrittenen<br />
oder unbekannten Realität zu bestimmen, die man selbst erfahren oder beobachtet<br />
hat« (Baer 2000, 7).<br />
Mit dem Begriff des superstes geht Agamben auf die Gewalt der Erinnerung, das<br />
Trauma des Erinnerns ein, ohne es <strong>als</strong> solches zu benennen. »Der Überlebende,<br />
der superstes, ist zur Erinnerung berufen, er ist gezwungen zu erinnern« (Agamben<br />
2003, 23).<br />
Im ersten Kapitel werden neben dem Begriff des superstes weitere Begriffe erstmalig<br />
verwendet. Diese entstammen oftm<strong>als</strong> juristischen Kategorien und sind zugleich<br />
Primo Levis Werk entlehnt. Die Begriffe Opfer und Henker, Verantwortung<br />
und Schuld prägen Agambens Argumentation maßgeblich. Ein weiterer Begriff,<br />
der <strong>als</strong> nicht juristische Kategorie auffällt und wiederum Levis Werk entlehnt ist,<br />
ist die Grauzone, »in der die Opfer Henker und die Henker Opfer« (Agamben<br />
2003, 15) seien. Die Grauzone sei ein von Levi entdecktes »neues ethisches Element«<br />
(Agamben 2003, 18),<br />
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»die Zone, durch die sich die ›lange Verbindungskette zwischen Opfern und<br />
Henkern‹ zieht; wo der Unterdrückte zum Unterdrücker wird und der Henker<br />
seinerseits <strong>als</strong> Opfer erscheint. Eine graue, unaufhörliche Alchemie, in<br />
der Gut und Böse und mit ihnen sämtliche Metalle der überkommenen Ethik<br />
ihren Schmelzpunkt erreichen« (Agamben 2003, 18).<br />
Seine Überlegungen zur Grauzone konkretisiert Agamben unter Anderem gegenüber<br />
dem Sonderkommando. Als Sonderkommando bezeichnete die SS in<br />
Auschwitz diejenigen Häftlinge, die in den Gaskammern und Krematorien arbeiten<br />
mussten. Wegen ihrer erzwungenen Rolle während der Vernichtung existiert<br />
bis heute ein negatives Bild der Sonderkommando-Häftlinge (Friedler, Siebert,<br />
Kilian 2005, 7). In Zeugen aus der Todeszone. Das jüdische Sonderkommando in<br />
Auschwitz argumentieren Eric Fiedler, Barbara Siebert und Andreas Kilian allerdings,<br />
dass dieses negative Bild »weit von der Wahrheit entfernt sei« (Friedler,<br />
Siebert, Kilian 2005, 8). Die Mitglieder des Sonderkommandos waren in einer<br />
Welt der »choiceless choices« (Langer 1995, 46) gefangen.<br />
»Die Häftlinge des Sonderkommandos waren selbst hilflose Opfer, die von<br />
der SS zur grauenhaftesten Tätigkeit verdammt wurden, die es in Auschwitz<br />
gab: Als Arbeitssklaven mussten sie mit ihrer Körperkraft dazu beitragen,<br />
dass in den Vernichtungsanlagen der Massenmord an Männern, Frauen und<br />
Kindern effektiv und rationell ablief. Die SS mordete, doch alle Arbeiten, die<br />
mit der vollständigen Beseitigung der Leichen verbunden waren, mussten die<br />
Häftlinge des Sonderkommandos ausführen« (Friedler, Siebert, Kilian 2005,<br />
8).<br />
Das Sonderkommando ist in Was von Auschwitz bleibt die Extremfigur der so<br />
genannten Grauzone (Agamben 2003, 22).<br />
Nachdem Agamben den Begriff des Zeugen eingeführt hat, argumentiert er, dass<br />
der Bericht des Zeugen schlussendlich eine Lücke, das Fehlen eines anderen Berichts<br />
bezeugt, denn es ist der Bericht des Überlebenden. Das Auffällige an Agambens<br />
Argumentation ist dabei, dass seines Erachtens nicht das Zeugnis der in<br />
den Gaskammern Ermordeten fehlt, sondern das der Muselmänner. Jene seien<br />
<strong>als</strong> einzige wirkliche Zeugen gewesen. »Die ›wirklichen‹ Zeugen, die ›vollstän-<br />
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digen Zeugen‹ sind für ihn diejenigen, die kein Zeugnis abgelegt haben und kein<br />
Zeugnis hätten ablegen können« (Agamben 2003, 30). Den Gedanken des wirklichen<br />
Zeugen bzw. vollständigen Zeugen leitet Agamben ebenso von Primo Levi<br />
ab, der damit die Muselmänner bzw. jene, die das Grauen und damit auch den<br />
Tod in Gänze erblickt haben, bezeichnete und schrieb, dass er und die anderen<br />
Überlebenden <strong>als</strong> Bevollmächtigte an ihrer statt Zeugnis ablegten. Schon davon<br />
ausgehend, dass die Zeugnisse der Untergegangenen, der Ermordeten über ihren<br />
Tod fehlen, gibt Agamben zwei weitere Fragen zu bedenken, die an die Schwelle<br />
zwischen Mensch und Nicht-Mensch, zwischen Subjekt und Nicht-Subjekt führen:<br />
»Was heißt es, Subjekt einer Entsubjektivierung 2 zu sein? Wie kann ein Subjekt<br />
von seinem eigenen Untergang Rechenschaft ablegen« (Agamben 2003, 123). Es<br />
ist nur dann möglich, so gibt er <strong>als</strong> Antwort, wenn der Nicht-Mensch in Erweiterung<br />
des Menschen Mensch wird (Agamben 2003, 117). Das Nicht-Subjekt ist der<br />
Muselmann. Agamben beschreibt den Muselmann <strong>als</strong> »ein undefiniertes Wesen<br />
[…], die vollkommene Chiffre des Lagers, des Nicht-Ortes« (Agamben 2003, 41),<br />
»er markiert die Schwelle zwischen dem Menschen und dem Nicht-Menschen«<br />
(Agamben 2003, 47), an ihm brechen sich herkömmliche ethische Konzepte wie<br />
Würde, denn er »ist der Wächter an der Schwelle einer Ethik, einer Lebensform,<br />
die dort beginnt, wo die Würde endet« (Agamben 2003, 60).<br />
Der Zeuge, der für den Muselmann <strong>als</strong> dessen Bevollmächtigter das Zeugnis über<br />
dessen Unfähigkeit zu sprechen ablegt, und der Muselmann sind »geschieden und<br />
trotzdem untrennbar« (Agamben 2003, 118). Zwischen Differenz und Immanenz<br />
liegt die Relation des Zeugen und des Muselmannes.<br />
»Weil es Zeugnis nur gibt, wo es eine Unmöglichkeit zu sagen gab, weil es einen<br />
Zeugen nur gibt, wo eine Entsubjektivierung stattfand – deswegen ist der<br />
Muselmann tatsächlich der vollständige Zeuge, deswegen ist es nicht möglich,<br />
den Muselmann vom Überlebenden zu trennen« (Agamben 2003, 138).<br />
2 Der Auschwitz-Überlebende Henry Oertelt beschreibt diesen Moment der Ent-Subjektivierung,<br />
<strong>als</strong> ihm in Auschwitz seine Lagernummer tätowiert wird: »You have lost your<br />
name, that is the ultimate dehumanization« (Webseite der Survivors of the Shoah Visual<br />
History Foundation, Online-Ausstellung Surviving Auschwitz. Five Personal Journeys,<br />
eigenes Transkript).<br />
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Der Zeuge legt Zeugnis für den Muselmann ab. Es ist der Rest des Menschlichen,<br />
der Zeugnis ablegt für den Menschen über den Nicht-Menschen (Agamben 2003,<br />
117). Das Verhältnis zwischen Muselmann und Zeuge ist bestimmend für Agambens<br />
Überlegungen.<br />
Entlang der Struktur des Buches sollen nachfolgend verschiedene Irritationen, die<br />
sich aus Agambens Methodik und seiner Konzeption der Geschichte der Shoah<br />
ergeben, reflektiert werden. Es ist der Begriff Irritation gewählt worden, um den<br />
Ausgangspunkt eines Gedankenganges, eine Anregung zum Weiterdenken und<br />
Hinterfragen zu benennen.<br />
Ausreichende Untersuchung? Der historische Forschungsstand<br />
Bereits der erste Satz des Vorworts enthält sogleich zwei Aspekte, die der Reflexion<br />
bedürfen.<br />
»Dank einer Reihe immer umfassenderer und genauerer Untersuchungen,<br />
unter denen Raul Hilbergs Buch eine besondere Stellung einnimmt, ist das<br />
Problem der historischen (materiellen, technischen, bürokratischen, juristischen…)<br />
Umstände der Vernichtung der Juden ausreichend geklärt« (Agamben<br />
2003, 7).<br />
Diese Irritationen behandeln zum einen die geschichtswissenschaftliche Konzeption<br />
der Geschichte der Shoah bei Raul Hilberg und zum zweiten das Wort »ausreichend«.<br />
Agamben lässt offen, auf welches Buch Hilbergs er sich bezieht. Hilberg hat vor<br />
dem Erscheinen von Was von Auschwitz bleibt drei Werke veröffentlicht. Es ist jedoch<br />
davon auszugehen, dass Agamben sich auf Hilbergs 1961 erschienenes Opus<br />
Magnum The Destruction of the European Jews bezieht. Dieses Buch war zugleich<br />
Hilbergs Dissertationsschrift. Hilberg hat später weitere Bücher publiziert, von<br />
denen zwei besonders bekannt und relevant geworden sind. Zum einen hat er 1992<br />
mit Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933 – 1945 differente<br />
AkteurInnen der Shoah erfasst und teilweise theoretisch konzipiert. Zum anderen<br />
hat er 1994 seine Autobiographie Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers<br />
vorgelegt und darin die Entstehungsgeschichte von The Destruc-<br />
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tion of the European Jews reflektiert. Agamben verweist, wie eingangs zitiert,<br />
gleich zu Beginn seines Buches darauf, dass Hilbergs Werks zentral für die Historiographie<br />
der Shoah sei. Dies steht sicher nicht zur Diskussion. Die einleitende<br />
Einschätzung Agambens weist aber vor allem darauf hin, welchem Historiker<br />
Agamben in seiner Konzeption der Geschichte der Shoah folgt. Und genau dies ist<br />
zu reflektieren, denn Raul Hilbergs Konzeption der Geschichte der Shoah ist nur<br />
eine der möglichen. The Destruction of the European Jews ist eines von mehreren<br />
Büchern, die Anfang der 1960er Jahre erschienen sind und wesentliche Beiträge<br />
zur historiographischen Erfassung der Shoah geleistet haben. Um Hilbergs Werk<br />
einzuordnen, sei beispielsweise auf die Arbeiten Leon Poliakovs und Joseph Wulfs<br />
hingewiesen, die im gleichen Zeitraum wie Hilberg forschten. Während Hilberg in<br />
den USA publizierte, forschten Poliakov in Paris und Wulf in Berlin. Beide veröffentlichten<br />
1955 in deutscher und 1959 in französischer Fassung Das Dritte Reich<br />
und die Juden. Aber auch weitere, spätere wegweisende Studien zur Geschichte<br />
der Shoah, wie die Arbeiten Christopher Brownings oder auch Saul Friedländers<br />
sind zu nennen. Anders <strong>als</strong> die Schriften Poliakovs und Wulfs erreichte Hilbergs<br />
Werk schnell öffentliche Aufmerksamkeit. Hierzu trug sicher bei, dass Hannah<br />
Arendt in ihrer Einleitung zu Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität<br />
des Bösen auf Hilbergs Buch verwies (Arendt 1999, 51).<br />
Hilbergs Werk ist eine sehr detailgenaue Studie der Bürokratie der Vernichtung,<br />
wobei sein Fokus explizit auf den Tätern liegt.<br />
»Lest one be misled by the word ›Jews‹ in the title, let it be pointed out that<br />
this is not a book about the Jews. […] Not much will be read here about the<br />
victims. The focus is placed on the perpetrators« (Hilberg 1961, v).<br />
Aus diesem Grund betrachtet er die jüdischen Institutionen zur Zeit der Shoah<br />
aus deutscher Sichtweise »as tools which were used in the destruction process«<br />
(Hilberg 1961, v). Mit wenigen Ausnahmen geht Hilberg von einem Grundmuster<br />
jüdischer Passivität gegenüber den deutschen Mördern aus, eine Annahme, die<br />
Hannah Arendt im Übrigen teilte. Beide sahen nur den bewaffneten Kampf gegen<br />
die Vernichtung <strong>als</strong> Widerstand an. Arendt macht dies besonders deutlich in ihrer<br />
Schilderung des Auftritts von Zivia Lubetkin, einer der führenden AkteurInnen<br />
des Warschauer Ghettoaufstands, <strong>als</strong> Zeugin im Eichmann-Prozess. Poliakov und<br />
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Wulf haben in ihrem Werk Das Dritte Reich und die Juden eine wesentlich geringere<br />
Fokussierung auf die Perspektive der Täter <strong>als</strong> Hilberg. Bezogen auf Agambens<br />
Einleitungssatz, dass Raul Hilbergs Buch eine besondere Stellung einnimmt,<br />
wäre <strong>als</strong>o anzumerken, dass ohne die Bedeutung von Hilbergs Arbeit auch nur im<br />
geringsten mindern zu wollen, weitere Werke bereits in den 1950er und 1960er<br />
Jahren historiographische Interpretationen der Geschichte der Shoah lieferten,<br />
die andere und ergänzende Perspektiven ermöglichten. Hilberg selbst hat die Prominenz<br />
seines Werkes kritisch betrachtet und dabei auf den narrativ-interpretatorischen<br />
Charakter jeglicher und damit auch seiner eigenen historischen Darstellung<br />
verwiesen:<br />
»I have had to reconstruct the process of destruction in my mind, combining<br />
the documents into paragraphs, the paragraphs into chapters, the chapters<br />
into a book. I always considered that I stood on solid ground: I had no anxieties<br />
about artistic failure. Now I have been told that I have indeed succeeded.<br />
And that is a cause of some worry, for we historians usurp history precisely<br />
when we are successful in our work, and that is to say that nowadays some<br />
people might read what I have written in the mistaken belief that here, on<br />
my printed pages, they will find the true ultimate Holocaust as it really happened«<br />
(Hilberg 1988, 25).<br />
Das zweite Irritationsmoment ist das Wort ausreichend im einleitenden Satz des<br />
Vorwortes. Kann es eine ausreichende Untersuchung der Umstände der Vernichtung<br />
der Juden überhaupt geben? Wäre »ausreichend« nicht erst erreicht, wenn<br />
die Ermordung jedes und jeder Einzelnen nachvollzogen werden könnte, wenn<br />
alle Namen bekannt wären? Ausreichend könnte geradezu implizieren, dass kaum<br />
mehr Forschungsbedarf bestünde. Dass dem nicht so ist, lässt sich exemplarisch<br />
an Hilbergs Interpretation der Geschichte des jüdischen Widerstands gegen die<br />
Vernichtung aufzeigen. Anders <strong>als</strong> Wulf, der selbst dem jüdischen Widerstand in<br />
Polen angehörte, und Poliakov, der sich der Résistance zugehörig sah, hielt Hilberg<br />
den jüdischen Widerstand nur für marginal bedeutsam. Hilbergs Position<br />
ist eine in der Forschung gängige. Andere Forschungspositionen, wie die Arno<br />
Lustigers, der sich mit Hilberg eine lange Kontroverse über den jüdischen Widerstand<br />
lieferte, hingegen verweisen auf die Bedeutung des jüdischen Widerstands<br />
und differenzieren ihn in u.a. religiösen, kulturellen, sozialen oder bewaffneten<br />
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Alina Bothe<br />
Widerstand. Auch in einer möglicherweise globalen sowie in differenten nationalen<br />
Erinnerungskulturen wird der jüdische Widerstand ausgesprochen unterschiedlich<br />
bewertet (Erler et al. 2003). Schon diese Diskussion um die Bedeutung<br />
des jüdischen Widerstands gegen die Shoah führt vor Augen, dass Hilberg diesen<br />
Aspekt der Geschichte nicht »ausreichend« klärt. Die fortdauernde Kontroverse<br />
zeigt, dass die »Umstände der Vernichtung« sich noch immer in Erforschung<br />
befinden. Ein anderes Thema, das noch wesentlich stärker emotional aufgeladen<br />
diskutiert wird, ist die Bewertung der Rolle der Judenräte. Hier sei stellvertretend<br />
auf die teilweise gar polemische Diskussion um Chaim Rumkowski, den Ältesten<br />
der Juden im Ghetto Łodz, verwiesen. Auch hier ist noch kein ausreichender<br />
Forschungsstand erreicht. Davon abgesehen, dass die historiographische Erforschung<br />
der Shoah <strong>als</strong>o bei weitem nicht <strong>als</strong> abgeschlossen gelten kann, ist auch<br />
das Attribut »ausreichend« zu hinterfragen. Dennoch hat Agamben recht, wenn<br />
er schreibt, dass »ein Gesamtbild […] <strong>als</strong> gesichert gelten« (Agamben 2003, 7)<br />
kann. Das, was während der Shoah passiert ist, ist im Groben und auch in vielen<br />
Details rekonstruiert worden, dennoch besteht historiographisch noch wesentlicher<br />
Forschungsbedarf. Nach der Feststellung, dass ein Gesamtbild <strong>als</strong> gesichert<br />
gelten kann, konstatiert Agamben, dass wenngleich die historische Erfassung ausreichend<br />
ist, dies nicht für die ethische und politische Bedeutung (Agamben 2003,<br />
7) der Shoah gelte. »Hier fehlt nicht allein so etwas wie der Versuch einer Gesamtdeutung«<br />
(Agamben 2003, 7). Dies ist Agambens Ansatzpunkt, der aber für Was<br />
von Auschwitz bleibt schlussendlich nicht inhaltlich prägend ist. Eine mögliche<br />
Gesamtdeutung der Shoah findet sich in seinem Buch nicht. Und auch hier ist zu<br />
fragen: Kann es eine Gesamtdeutung geben?<br />
Schematisierung der Vernichtung<br />
Als Schematisierung lässt sich die Herausbildung eines narrativen Musters bei<br />
einem oftm<strong>als</strong> wiederholten Vorgang oder einem häufig wiederholten Text begreifen.<br />
Schematisierung oder Modellbildung sind alltäglich und wissenschaftlich<br />
übliche Praxen der Weltaneignung und -durchdringung. Sie sind notwendig, dennoch<br />
sollten sie reflektiert werden <strong>als</strong> das, was sie sind: Schemata. Eine weitere Irritation<br />
leitet sich aus einer Schematisierung der Vernichtung ab, die Bestandteil<br />
von Agambens historischer Narration der Shoah ist und die unreflektiert bleibt.<br />
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– jahrgang 8 – ausgabe 2 - 2012<br />
Bereits im Vorwort beschreibt Agamben deutlich, was seines Erachtens <strong>als</strong> Geschichte<br />
von Auschwitz rekonstruiert ist:<br />
»Unter historischem Gesichtspunkt wissen wir beispielsweise bis ins kleinste<br />
Detail, wie sich in Auschwitz die letzte Phase der Vernichtung abspielte, wie<br />
die Mitglieder des ›Sonderkommandos‹ die Deportierten – ihre eigenen Gefährten<br />
– in die Gaskammern führten, wie sie dann die Leichen herauszogen<br />
und wuschen, die Goldzähne und Haare bargen und die Körper schließlich in<br />
die Krematoriumsöfen schoben« (Agamben 2003, 7).<br />
Diese Rekonstruktion des Gesamtbilds von Auschwitz hat schematischen Charakter.<br />
Es ist ein bekanntes Schema, das folgendermaßen ergänzt werden kann:<br />
Viehwaggons kommen nach einer mehrtägigen Fahrt an der Rampe von Auschwitz<br />
an. Diejenigen, die noch leben, werden selektiert. Mittels Daumen wird durch einen<br />
SS-Mann Gaskammer oder Arbeitslager angezeigt. Die Menschen, die sofort<br />
ermordet werden sollen, werden in Richtung der Gaskammern geführt, die ihnen<br />
noch verbliebenen Wertsachen abgenommen, von den Mitgliedern des Sonderkommandos<br />
in die Gaskammern getrieben, vergast und verbrannt. Ihre Asche fällt<br />
auf das Lager. Diejenigen, die noch nicht sofort ermordet werden, müssen sich<br />
entkleiden, werden geschoren und mit einer Häftlingsnummer tätowiert, erhalten<br />
Häftlingskleidung und werden anschließend einer Baracke zugewiesen Dieses<br />
Schema ist so nicht in Was von Auschwitz bleibt zu finden. Es ist nur <strong>als</strong> mögliche<br />
Ergänzung des vorherigen Bildes gedacht.<br />
Nichts an diesem Schema ist f<strong>als</strong>ch, alles daran ist grausam. Aber: Es ist ein Schema,<br />
ein Modell, eine Meta-Narration. Jeder Transport nach Auschwitz, jede Mordaktion<br />
in den Gaskammern verlief anders, war durch andere individuelle Tragödien<br />
gekennzeichnet, war nicht gleich diesem Schema. Indem die Geschichte von<br />
Auschwitz – und Auschwitz steht hier wiederum <strong>als</strong> Synonym für alle Vernichtungslager<br />
– auf ein Schema oder eine Meta-Narration reduziert bzw. generalisiert<br />
wird, muss die historische Rekonstruktion in merkwürdiger Opazität respektive<br />
Undurchsichtigkeit belassen werden. Auf der anderen Seite ist es kaum möglich,<br />
die Geschichte von Auschwitz nicht zu schematisieren. Um Agambens Hinweis<br />
auf die Nicht-Vorstellbarkeit der Wahrheit von Auschwitz, deren Wirklichkeit ihre<br />
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Alina Bothe<br />
faktischen Elemente übersteigt, aufzunehmen, lässt sich argumentieren, dass es<br />
diese Nichtvorstellbarkeit der Wahrheit ist, die die Schematisierung notwendig<br />
macht. Dennoch: Die Reflexion dieser Schematisierung sollte gegeben sein.<br />
Zalman Leventhal: einer der grauen Leute – oder ein Widerstandskämpfer?<br />
Nachfolgend wird sehr ausführlich auf ein Zitat eines Mitglieds des Sonderkommandos<br />
von Auschwitz eingegangen, da dieses Zitat zu Beginn des Buches eine<br />
komplexe Argumentation Agambens eröffnet, die ein Kernelement seines Werk<br />
bildet: Die Argumentation der Grauzone, die für Agambens Verständnis von Tätern<br />
und Opfern zentral ist. Daher erscheint es gerechtfertigt, umfänglich auf dieses<br />
Zitat und seine Kontextualisierung respektive Nicht-Kontextualisierung einzugehen,<br />
zumal es auch Fragen der dem Werk zugrunde liegenden Meta-Narration<br />
der Shoah berührt. Zudem wird ausführlich auf die Herkunft des Zitats eingegangen,<br />
da die entsprechenden, folgend geschilderten Rechercheergebnisse weitere<br />
Fragen respektive Irritationen aufwarfen.<br />
Zwei Fragen sind entscheidend für die nachfolgend beschriebene Irritation: Erstens,<br />
welche Form der Kontextualisierung eines Zeugnisses und vor allem eines<br />
Zeugen ist notwendig? Und zweitens, wie verändert diese Kontextualisierung die<br />
auf einem Zeugnis basierenden Kommentare? Konkret bezieht sich diese Irritation<br />
auf Zalman Leventhal und sein Zeugnis, das Agamben in ungewöhnlicher und<br />
vielleicht auch unzureichender Weise kontextualisiert.<br />
Agamben zitiert im Vorwort aus einem besonderen Dokument, dem Zeugnis von<br />
Salmen Lewental, auch Zalman Leventhal, der <strong>als</strong> Mitglied des Sonderkommandos<br />
von Auschwitz mehr <strong>als</strong> anderthalb Jahre unvorstellbare Zwangsarbeit an den<br />
Gaskammern und Krematorien leisten musste. Agamben schreibt zu Leventhal<br />
und dessen Zeugnis, »Salmen Lewental, ein Mitglied des Sonderkommandos von<br />
Auschwitz, der sein Zeugnis einigen Zetteln anvertraute, die beim Krematorium<br />
III vergraben waren und siebzehn Jahre nach der Befreiung des Lagers entdeckt<br />
wurden« (Agamben 2003, 7), und verweist dann noch darauf, dass dieser »in seinem<br />
einfachen Jiddisch« (Agamben 2003, 7) geschrieben habe.<br />
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– jahrgang 8 – ausgabe 2 - 2012<br />
Weiter wird Leventh<strong>als</strong> Zeugnis nicht durch Agamben kontextualisiert. Eine weitergehende<br />
Kontextualisierung des Zeugnisses hätte einige der nachfolgenden Angaben<br />
enthalten können. Zunächst den Hinweis, dass Leventhal zwei Dokumente<br />
hinterließ. Bereits im Juli 1961 wurde ein Tagebuch eines unbekannten Juden aus<br />
Łodz gefunden, welches Leventhal vermutlich in den Auskleideräumen der Gaskammern<br />
gefunden und anschließend vergraben hatte. Diesem Text hatte er einen<br />
auf den 15. August 1944 datierten Kommentar hinzugefügt. (Friedler, Siebert, Kilian<br />
2005, 162; Czech 1996, 189). 1962 wurde dann das Dokument gefunden, in<br />
dem Leventhal seine Erfahrungen im Sonderkommando von Auschwitz bezeugt.<br />
Zalman Leventhal wurde in Ciechanów bei Warschau geboren (Langbein 1972,<br />
222). Als Geburtsjahr wird 1918 angegeben (Cohen 1994, 527). Leventhal ist am<br />
10. Dezember 1942 mit seiner Familie aus Tschechanov nach Birkenau deportiert<br />
worden und wurde am 10. Januar 1943 dem Sonderkommando zugewiesen. Sein<br />
Todesdatum ist unbekannt, es muss nach dem 10. Oktober 1944 liegen. Mit diesem<br />
Tag sind seine letzten bekannten Aufzeichnungen datiert. Zentrale Quelle<br />
für diese biographischen Angaben zu Leventhal ist Ber Marks (Bernhard Mark)<br />
Scrolls of Auschwitz, die in der englischen Fassung posthum 1985 erschienen ist.<br />
Relevant ist zudem, dass Leventhal <strong>als</strong> Mitglied des Auschwitzer Lagerwiderstands<br />
an den Vorbereitungen des Aufstands des Sonderkommandos von Auschwitz beteiligt<br />
war. Er wird u.a. in der englischsprachigen Forschungsliteratur zu den<br />
zentralen Personen bei der Vorbereitung des Aufstandes des Sonderkommandos<br />
gerechnet (Cohen 1994). Am 7. Oktober 1944, dem Tag des Aufstands des Sonderkommandos<br />
in Auschwitz, war Leventhal allerdings nicht direkt in den Aufstand<br />
involviert. In Menschen in Auschwitz findet sich folgende Charakterisierung<br />
Leventh<strong>als</strong>, die von Dov Paisikovic, der <strong>als</strong> Mitglied des Sonderkommandos<br />
Auschwitz überlebt hatte, stammt: »Er war ›tüchtig und anständig, wie man selten<br />
jemanden findet‹« (Langbein 1972, 222). Giorgio Agamben hat für sein 1998 erschienenes<br />
Werk Was von Auschwitz bleibt auf Hermann Langbeins 3 Menschen in<br />
3 Langbein, Gerechter unter den Völkern, war ein österreichischer Kommunist, der <strong>als</strong><br />
Mitglied der Internationalen Brigaden aus französischer Internierungshaft 1941 in die<br />
Hände der Deutschen fiel, die ihn 1942 nach Auschwitz deportierten. Langbein gehörte<br />
dem internationalen Lagerwiderstand in Auschwitz an und hat nach 1945 diverse Werke<br />
zu Auschwitz und zum KZ-System veröffentlicht. Dabei hat er explizit immer wieder auf<br />
den Widerstand innerhalb der Konzentrations- und Vernichtungslager verwiesen.<br />
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Alina Bothe<br />
Auschwitz aus dem Jahr 1972 zurückgegriffen. Langbein hat Leventhal in diesem<br />
Werk nicht direkt mit dem Widerstand und Aufstand des Sonderkommandos in<br />
Verbindung gebracht. Allerdings geht Langbein relativ ausführlich auf den Aufstand<br />
am 7. Oktober 1944 ein, der, wenngleich er scheiterte, ausgesprochen bemerkenswert<br />
war.<br />
Das nach dem 7. Oktober 1944 von Leventhal angefertigte Zeugnis selbst enthält<br />
eine ausführliche Schilderung der Vorbereitung des Aufstands des Sonderkommandos,<br />
nennt die Namen und biographischen Angaben zu mehreren direkt in die<br />
Aufstandsplanungen involvierten Personen, berichtet in groben Zügen den Verlauf<br />
des Aufstands und kritisiert scharf den allgemeinen, internationalen Lagerwiderstand,<br />
der dem Sonderkommando nicht zur Hilfe gekommen sei.<br />
An dieser Stelle wird kurz die Ereignisgeschichte dieses Aufstands dargelegt, da<br />
der Aufstand erstens wenig bekannt ist und zweitens das Argument bekräftigt,<br />
den Widerstand in die in Was von Auschwitz bleibt ausgeführten Überlegungen<br />
einzubeziehen. Das Krematorium III wurde beim Aufstand des Sonderkommandos<br />
unbrauchbar gemacht, einige SS-Männer getötet. Die SS schlug den Aufstand<br />
blutig nieder, mehr <strong>als</strong> 450 Mitglieder des Sonderkommandos wurden sofort getötet.<br />
In den folgenden Tagen wurden weitere Mitglieder des Lagerwiderstands<br />
verhaftet und ermordet. Bereits 1943 begann im Sonderkommando der Aufbau<br />
von konspirativen Widerstandszellen, die allerdings wegen der extremen Bedrohungssituation,<br />
differenten Zielvorstellungen aufgrund der nationalen und ethnischen<br />
Herkunft ihrer Mitglieder und teilweise bestehender Differenzen mit der<br />
Widerstandsleitung des Gesamtlagers erst im Oktober 1944 den Aufstand realisieren<br />
konnten. Zuvor hatten sich die Mitglieder des Sonderkommandos an anderen<br />
Aktivitäten des Lagerwiderstands beteiligt, die vor allem darin bestanden, zu versuchen<br />
die Weltöffentlichkeit ob der Geschehnisse in Auschwitz zu informieren<br />
(Friedler, Siebert, Kilian 2005, 244). Mitglieder des Sonderkommandos versuchten<br />
genaue Daten über die Ermordungen in den Gaskammern in das Stammlager<br />
und von dort in die Außenwelt zu schmuggeln. Zudem wurden verschiedene<br />
bewaffnete Widerstandsaktionen, die auf Flucht, die Erhebung des gesamten<br />
Lagers und die Zerstörung der Mordeinrichtungen abzielten, geplant. Ab Ende<br />
1943 wurden kleinere Mengen Sprengstoff von in Auschwitz gefangenen Frauen<br />
ins Stammlager geschmuggelt. Der Sprengstoff stammte aus den Weichsel-Union-<br />
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– jahrgang 8 – ausgabe 2 - 2012<br />
Metallwerken, in denen Zwangsarbeit geleistet wurde. Über ein komplexes Netzwerk<br />
gelangte ein Anteil des Sprengstoffs an das Sonderkommando, das hieraus<br />
Sprengkörper fertigte. Nachdem mehrere zuvor geplante Zeitpunkte für die Erhebung<br />
aus verschiedenen Gründen verstrichen, erhob sich am 7. Oktober 1944 das<br />
Sonderkommando, da eine weitere Selektion im Sonderkommando bevorstand,<br />
die zur Vergasung der Selektierten geführt hätte. Der Aufstand ist binnen weniger<br />
Stunden blutig niedergeschlagen worden. Die SS verfolgte daraufhin wochenlang<br />
den Widerstand in Auschwitz. Vier der jungen Frauen, die Sprengstoff ins Lager<br />
und zum Sonderkommando geschmuggelt hatten, wurden aufgespürt und nach<br />
Wochen brutaler Folter am 7. Januar 1945 erhängt, knapp drei Wochen vor der<br />
Befreiung des Lagers (Lustiger 1994, 214f.).<br />
Das 1962 gefundene Zeugnis Leventh<strong>als</strong> wurde 1972 von den Staatlichen Museen<br />
zu Auschwitz zum ersten Mal in der Bearbeitung von Jadwiga Bezwińska und Danuta<br />
Czech mit dem Titel Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften<br />
von Mitgliedern des Sonderkommandos in transkribierter, aus dem Jiddischen<br />
übersetzter und editorisch kommentierter Form auf Deutsch veröffentlicht. In<br />
dieser Auflage ist nur Leventh<strong>als</strong> Zeugnis aus dem Oktober 1944 enthalten. 1996<br />
ist der Band in der zweiten bearbeiteten Auflage mit dem gleichen Titel erschienen.<br />
Dieser Band enthält auch Leventh<strong>als</strong> im August 1944 niedergeschriebenen<br />
Kommentar zum Tagebuch des unbekannten Juden aus Łodz.<br />
Aus dem Zeugnis von Zalman Leventhal zitiert Agamben in Was von Auschwitz<br />
bleibt mehrfach. Bereits im herausragenden Vorwort des Buches findet sich an<br />
prominenter Stelle ein Zitat Leventh<strong>als</strong>.<br />
»›So genau‹, – schreibt Lewental in seinem einfachen Jiddisch – ›wie die<br />
Geschehnisse selbst verliefen, kann sie kein Mensch sich vorstellen, denn es<br />
ist unvorstellbar, daß man so genau unsere Erlebnisse wiedergeben kann. […]<br />
Wir […] – die kleine Gruppe grauer Leute, die den Historikern keine geringere<br />
Mühen bereiten werden […]‹« (Agamben 2003, 7).<br />
Agamben zitiert Leventhal bei diesem Fragment nach Langbein (1972). Langbein<br />
selbst gibt keine Seitenzahl des Zitats an, sondern schreibt, dass diese Worte Leventh<strong>als</strong><br />
am Anfang von Inmitten des grauenvollen Verbrechens stünden und da-<br />
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Alina Bothe<br />
nach weiteres gelesen werden könne (Langbein 1972, 222). Im Quellenverzeichnis<br />
wird dann die Herausgabe der Leventhal-Handschrift durch Bezwińska und Czech<br />
aus dem Jahr 1972 im Auftrag des Staatlichen Auschwitz-Museums aufgeführt.<br />
Allerdings findet sich in der 1972 erschienenen Fassung von Inmitten des grauenvollen<br />
Verbrechens dieses Zitat Leventh<strong>als</strong> nicht.<br />
Im Literaturverzeichnis von Was von Auschwitz bleibt nennt Agamben nicht nur<br />
Langbein 1972 <strong>als</strong> Quelle für das Zeugnis Zalman Leventh<strong>als</strong>, sondern Leventhal<br />
selbst wird <strong>als</strong> Autor genannt und zwar in dem von Bezwińska und Czech herausgegebenen<br />
Band. Agamben hat aus dem 1972 veröffentlichten Zeugnis mindestens<br />
ein anderes Zitat entnommen. Dieses Zitat hat er am Anfang des ersten Kapitels<br />
zum Zeugen verwendet und <strong>als</strong> zitiert aus dem Band von Bezwińska und Czech aus<br />
dem Jahr 1972 angegeben. Es findet sich am angegebenen Ort (Agamben 2003,<br />
13). In der 1996 erschienenen zweiten Ausgabe von Inmitten des grauenvollen<br />
Verbrechens, in dem beide überlieferten Texte Leventh<strong>als</strong> enthalten sind, findet<br />
sich das obig zitierte und am angegebenen Ort nicht aufzufindende Fragment in<br />
Leventh<strong>als</strong> Kommentar zum Tagebuch des unbekannt gebliebenen Juden aus dem<br />
Ghetto Łodz. Allerdings weicht das Fragment in der Ausgabe von 1996 von der von<br />
Langbein 1972 veröffentlichten Fassung ab:<br />
»So genau, wie die Ereignisse selbst [verliefen], das kann sich kein Mensch<br />
vorstellen, denn man kann sich nicht vorstellen, daß man so genau unsere<br />
Erlebnisse wiedergeben [kann] « (Lewental 1996, 196) »[…] Wir aber – eine<br />
kleine Gruppe grauer Menschen, mit denen sich die Historiker nicht weniger<br />
beschäftigen werden, <strong>als</strong> mit irgendwelcher […] Geschichte […]« (Lewental<br />
1996, 195).<br />
Über die Gründe, warum das entsprechende Textfragment vom 15. August 1944,<br />
das wie dargelegt bereits 1961 aufgefunden worden war, nicht in die 1972 erschienene<br />
Ausgabe von Inmitten des grauenvollen Verbrechens aufgenommen wurde<br />
und Langbein dies jedoch in seinem ebenfalls 1972 erschienenen Werk angibt,<br />
ohne dabei eine genaue Seitenzahl zu nennen, lässt sich nur spekulieren. Langbein<br />
gibt allerdings ohnehin durchgehend keine Seitenzahlen für die von ihm verwendeten<br />
Quellen an. Gleiches gilt für die Gründe, warum in der 1996 erschienenen<br />
zweiten, überarbeiteten Ausgabe von Inmitten des grauenvollen Verbrechens das<br />
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entsprechende Zitat in erkennbarer, aber doch abgewandelter Form enthalten ist.<br />
Hier sind weitere Forschungen durchzuführen. Bezüglich des nicht in der Ausgabe<br />
von 1972 enthaltenen Zitats kann eine mögliche Erklärung in einer Kontroverse<br />
zwischen dem Staatlichen Auschwitz-Museum und dem Żydowski Instytut Historyczny,<br />
dem Jüdischen Historischen Instituts (ŻIH), in Warschau über die Qualität<br />
einer ersten vom ŻIH angefertigten und nicht vom Staatlichen Auschwitz-<br />
Museum veröffentlichten Übersetzung vom Jiddischen ins Polnische liegen. Diese<br />
Kontroverse wird in der Einleitung von Bezwińska und Czech ausführlich dargelegt<br />
und betrifft gemäß ihren Ausführungen die Qualität der Übersetzungen genauso<br />
wie politische Überlegungen der Zeit. Sie verweisen auf »ernsthafte Zweifel<br />
nicht nur an der Rechtmässigkeit« (Bezwinska, Czech 1972, 9) der vorgenommenen<br />
Rekonstruktion der Handschrift durch die namentlich genannten Mitarbeiter<br />
des ŻIH und fügen dann ein politisches Argument an.<br />
»Man befürchtete auch, dass A. Rutkowski und A. Wein [die Mitarbeiter des<br />
ŻIH, A.B.], indem sie sich von einer schlecht verstandenen nationalen Solidarität<br />
hätten lenken lassen, sich bemühen würden, den zukünftigen Lesern ein<br />
unfreundliches Verhalten der polnischen und russischen Häftlinge den jüdischen<br />
Häftlingen gegenüber zu suggerieren, um den Misserfolg des Aufstands<br />
des Sonderkommandos zu erklären« (Bezwińska, Czech 1972, 16).<br />
Aufgrund dieser Einschätzung des Staatlichen Auschwitz-Museums wurde eine<br />
»neuerliche Übersetzung der Handschrift mit vollständiger Wahrung der Besonderheit<br />
der einzelnen Seiten« (Bezwińska, Czech 1972, 16) durch den Krakauer<br />
Orientalisten Dr. Roman Pytel vorgenommen. Zu dieser Kontroverse ist außerdem<br />
anzumerken, dass die Reihenfolge der Blätter, auf denen Leventhal im Oktober<br />
1944 sein Zeugnis ablegte, nach der Ausgrabung bei notwendigen konservatorischen<br />
Maßnahmen durcheinander geriet und anschließend nicht wieder sicher rekonstruiert<br />
werden konnte. Die korrekte Reihenfolge ist aber nur einer der Streitpunkte<br />
der Kontroverse gewesen. Auch hierzu sind weitere Forschungen notwendig,<br />
die aber nicht das zentrale Argument dieser Irritation betreffen und daher an<br />
dieser Stelle außen vor gelassen werden.<br />
Ein weiterer bemerkenswerter Punkt betrifft die englische Übersetzung Remnants<br />
of Auschwitz. The Witness and the Archive von Agambens Werk. Der Satz aus dem<br />
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Alina Bothe<br />
Zeugnis von Leventhal ist hier folgendermaßen formuliert übersetzt und damit<br />
sinnverändert.<br />
»›Just as the events that took place there cannot be imagined by any human<br />
being,‹ Lewental writes in Yiddish, ›so it is unimaginable, that anyone could<br />
exactly recount how our experiences took place .... we, the small group of<br />
obscure people who will not give historians much work to do‹« (Agamben<br />
2008, 12).<br />
Zwischen »Historikern keine geringeren Mühen bereiten«, »Historiker nicht weniger<br />
beschäftigen« und »not give historians much work to do« sind die Unterschiede<br />
offenkundig. Es bedarf <strong>als</strong>o, wie bereits formuliert und zu betonen ist,<br />
weiterer Forschungsarbeit.<br />
Bereits aus Langbeins Werk Menschen in Auschwitz deutet sich Leventh<strong>als</strong> Einbindung<br />
in den Lagerwiderstand an, in der Übersetzung seiner Handschrift aus<br />
dem Jahr 1972 ist seine führende Rolle bei der Planung des Aufstands klar zu<br />
erkennen. Davon abgesehen, ob Agamben bekannt war oder sein konnte, das Zalman<br />
Leventhal Mitglied des Widerstands des Sonderkommandos von Auschwitz<br />
war, ist zu konstatieren, dass in Agambens drittem Band der Homo Sacer Reihe<br />
der Widerstand in Auschwitz, sowohl jener des Sonderkommandos <strong>als</strong> auch der<br />
internationale Lagerwiderstand außerhalb des Sonderkommandos, über den u.a.<br />
Langbein ausführlich schrieb, nicht erwähnt wird. Die Nichtberücksichtigung des<br />
Widerstands ist einer der Gründe, aus denen heraus es mir angemessen erscheint,<br />
Agambens Konzeption der Shoah, respektive die Meta-Narration, der er folgt, zu<br />
hinterfragen. Es ist auch zu fragen, ob die Aussagen aus dem Zeugnis Leventh<strong>als</strong><br />
vor diesem Hintergrund nicht anders zu lesen sind, bzw. anders gelesen werden<br />
können. Dies ist dann auch auf die Schlussfolgerungen, die Agamben für das Sonderkommando<br />
<strong>als</strong> Extremfigur der Grauzone formuliert, zu übertragen. Langbein<br />
formulierte eine Vorbedingung, die vor jeder Beschäftigung mit dem Sonderkommando<br />
stehen sollte:<br />
»Will man sich mit dem Verhalten der Mitglieder eines Sonderkommandos<br />
befassen, dann hat die Warnung Lewent<strong>als</strong> gegenwärtig zu bleiben. Alle Vergleiche<br />
müssen versagen. Die Grenzen, welche durch eine erzwungene Arbeit<br />
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dieser Art überschritten worden sind, kann man nachträglich selbst gedanklich<br />
nicht überwinden. Man hat zur Kenntnis zu nehmen, was über die Existenz<br />
und das Verhalten dieser Menschen festzustellen ist« (Langbein 1972,<br />
222).<br />
Widerhall dieser Bedingung findet sich auch in Agambens Ausführungen. Die Mitglieder<br />
des Sonderkommandos stehen exemplarisch für jene, die in der Grauzone<br />
waren, in der aus den Opfern Henker werden. Wenn Leventh<strong>als</strong> Zeugnis vor<br />
dem Hintergrund des Widerstands in Auschwitz, spezifischer des Widerstands des<br />
Sonderkommandos in Auschwitz, kontextualisiert wird, verändert dies die nachfolgenden<br />
Interpretationen über die Scham des Subjekts, des Überlebenden, über<br />
das Wirken in der Grauzone. Dies verweist auf eine weitere Problematik der Argumentation<br />
Agambens aus geschichtswissenschaftlicher Sicht. Die einzelnen Fragmente,<br />
die Agamben verschiedenen Zeugnissen entnimmt, werden nicht kontextualisiert.<br />
Weder werden die Situationen dargelegt, über die die Zeugen berichten,<br />
noch wird die Art, das Genre, der Zeugnisse gespiegelt. Dies betrifft zwar nicht<br />
den Inhalt des Zeugnisses, zumindest den Kern der Aussagen, verweist aber auf<br />
reflexionsbedürftige Differenzen der Form. Die unterschiedliche Form der Zeugnisse<br />
darzulegen ist Bestandteil einer soliden Kontextualisierung. An dieser Stelle<br />
ist aber hervorzuheben, dass es sich hierbei um eine geschichtswissenschaftliche<br />
Kritik an einem philosophischen Werk handelt.<br />
Eine Kontextualisierung des Zeugnisses ist der Einschub »in seinem einfachen<br />
Jiddisch«, mit dem Agamben Leventh<strong>als</strong> Text charakterisiert, der eine weitere<br />
Irritation des Textes darstellt. Leventh<strong>als</strong> Zeugnis ist kein sprachlich wohldurchdachter<br />
und komponierter Text, Nathan Cohen beschreibt ihn wie folgt: »His<br />
words are simple and direct, written from a storm of feelings« (Cohen 1994, 527).<br />
Die Formulierung »einfaches Jiddisch« hat bei Agamben dennoch eine merkwürdige,<br />
pejorative Konnotation. In der italienischen Fassung des Werkes ist in der<br />
Einleitung der gleiche Einschub vorhanden, „scrive Lewental nel suo semplice jiddish“<br />
(Agamben 1998, 8) Es ist bemerkenswert, dass in der englischen Fassung<br />
nur »in Yiddish« (Agamben 2008, 12) ohne eine Wertung übersetzt wurde.<br />
Leventhal hatte eine Schulbildung abgeschlossen und anschließend in einer Warschauer<br />
Yeshiva studiert. Davon abgesehen, ist das Jiddische in jenen Jahren in<br />
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Ost- und Ostmitteleuropa nicht nur Vernakular-, sondern auch Literatursprache.<br />
Es ist keine an sich einfache Sprache. In der Fassung von Inmitten des grauenvollen<br />
Verbrechens aus dem Jahr 1972 wird im Vorwort zur Handschrift Leventh<strong>als</strong><br />
folgende Einschätzung der sprachlichen Qualität durch den Übersetzer Roman<br />
Pytel wiedergegeben: Die Rechtschreibung im Jiddischen sei nicht ganz fehlerfrei,<br />
die Hebraismen des Jiddischen und die Wendungen aus dem Talmud hingegen<br />
vollkommen fehlerfrei (Bezwińska, Czech 1972, 134). An dieser Stelle ist anzumerken,<br />
dass erst in den 1920er Jahren begonnen worden ist, das Jiddische zu kodifizieren.<br />
Hinzu kommt, dass mehr <strong>als</strong> 40 Prozent des Textes Leventh<strong>als</strong> unleserlich<br />
geworden sind, bevor das Zeugnis aufgefunden wurde. Einige Passagen sind daher<br />
nur bruchstückhaft zu entziffern gewesen (Bezwińska, Czech 1972, 134).<br />
Die Anmerkung »in seinem einfachen Jiddisch« verwundert daher begründet.<br />
Und sie ist umso irritierender, wenn sie in Bezug zu folgender Aussage nur wenige<br />
Zeilen später gesetzt wird.<br />
»Viele Zeugnisse – sowohl der Henker <strong>als</strong> auch der Opfer – stammen von<br />
gewöhnlichen Menschen, wie auch die ›grauen‹ Leute offensichtlich die große<br />
Mehrheit der Lagerbewohner bildeten. Eine der Lehren von Auschwitz<br />
besteht gerade darin, daß es unendlich viel schwieriger ist, den Geist eines<br />
gewöhnlichen Menschen zu begreifen, <strong>als</strong> den Geist Spinozas oder Dantes<br />
(Hannah Arendts so häufig mißverstandene Behauptung einer ›Banalität des<br />
Bösen‹ muß auch in diesem Sinne verstanden werden).« (Agamben 2003, 8)<br />
Es drängt sich der Verdacht intellektueller Distanz auf. Diese Kontextualisierung<br />
von Leventh<strong>als</strong> Zeugnis, die auf seine angenommene intellektuelle Befähigung verweist,<br />
– drei Tage nach Niederschlagung des Aufstands des Sonderkommandos,<br />
am Rande der Gaskammern verfasst – erscheint nicht sonderlich hilfreich. Wenn<br />
man sich das Zitat Leventh<strong>als</strong> auf der sprachlichen Ebene anschaut, erscheint vor<br />
allem die Satzstellung ungewöhnlich, allerdings nicht schwer verständlich. Darüber<br />
hinaus ist schlicht unklar, worauf Agambens Hinweise zur Verständlichkeit<br />
des Geistes »gewöhnlicher« Menschen abzielen.<br />
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Wer hat die Gorgo erblickt?<br />
Im zweiten Kapitel arbeitet Agamben seine zentrale These aus, dass die Muselmänner<br />
die wahren Zeugen der Shoah seien und die Zeugen, die überlebten und<br />
berichteten, nur <strong>als</strong> ihre Stellvertreter sprechen könnten. Er formuliert wiederum<br />
in Rezeption Levis, dass bezogen auf die Muselmänner<br />
»ihr Tod kein Tod ist […], sondern etwas viel Schmachvolleres. In Auschwitz<br />
starb man nicht, es wurden Leichen produziert. Leichen ohne Tod, Nicht-<br />
Menschen, deren Umkommen zum Serienprodukt entwürdigt wurde« (Agamben<br />
2003, 61f).<br />
Die Muselmänner sind eine zentrale Erscheinung im nation<strong>als</strong>ozialistischen Lagersystem.<br />
Agamben übernimmt Levis Definition, sie seien diejenigen, die »die<br />
Gorgo erblickt« (Agamben 2003, 30) hätten. Aber es ist zu diskutieren, ob sich die<br />
Gorgo, jene mythologische Schreckensgestalt, die Levi symbolhaft nennt, nicht<br />
vor allem in den Gaskammern und weiteren Mordeinrichtungen der Vernichtungslager<br />
manifestierte. Agambens Fokus, dass nur das Zeugnis der Muselmänner<br />
fehlen würde, erscheint unzureichend. Es fehlt ebenso das Zeugnis derjenigen,<br />
die in den Gaskammern ermordet wurden. Auch ihr Tod ist ein Tod ohne Tod, Leichen<br />
entwürdigt <strong>als</strong> Serienprodukt. Es mag an der Ausrichtung der Homo-Sacer-<br />
Trilogie liegen, dass Agamben den Muselmann <strong>als</strong> Äquivalent des Homo Sacers<br />
darstellt, aber dies wird der auch industrialisierten Vernichtung nicht ausreichend<br />
gerecht. Denn, hierauf sei am Rande verwiesen, der Massenmord der Shoah fand<br />
ebenso in den Ghettos, an Erschießungsplätzen wie Ponar und Babi Yar statt, in<br />
Massakern an vergessenen Orten. Auch jene Opfer haben versucht Zeugnis zu hinterlassen<br />
und sie haben zugleich die Gorgo erblickt. Indem Zalman Leventhal das<br />
Zeugnis eines unbekannten Opfers aus Łodz versuchte zu sichern und der Nachwelt<br />
zu hinterlassen, hat er versucht, Zeugnis zu geben, für jemanden, der dies<br />
selbst nicht mehr konnte, und versucht die Erinnerung an die in den Gaskammern<br />
Ermordeten zu bewahren.<br />
Verfälschte Erinnerung?<br />
Die historische Rekonstruktion der Geschichte der Shoah sollte auf verschiedenen<br />
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Alina Bothe<br />
Quellen basieren. Eine dieser Quellen ist die Erinnerung der Überlebenden. Eine<br />
diffizile Quellenart, denn die Erinnerung des Menschen ist eigenwillig, traumatische<br />
Erfahrungen können sich der Erinnerung entziehen, Biographie und erinnerungskulturelle<br />
Narrative können Einfluss auf Erinnerung haben. Trotz dieser<br />
Problematiken der Erinnerung ist es üblich und angemessen, dem oder der ZeugIn,<br />
die Hoheit über die eigene Geschichte zu lassen. In einer kurzen Randsequenz<br />
in Was von Auschwitz bleibt findet sich auch in diesem Kontext eine Irritation.<br />
Im zweiten Kapitel formuliert Agamben anhand seiner Rezeption verschiedener<br />
Zeugnisse die These, dass niemand im Lager die Muselmänner hätte sehen wollen.<br />
»Aber der Anblick der Muselmänner ist ein ganz neues Szenario, unerträglich für<br />
menschliche Augen« (Agamben 2003, 44). So beschreibt Agamben die Kameraführung<br />
britischer Soldaten nach der Befreiung von Bergen-Belsen. Der Anblick<br />
von Leichenhaufen ist erträglicher, <strong>als</strong> der Anblick der Muselmänner, der entwürdigten<br />
lebenden Toten respektive toten Lebenden, derjenigen an der Grenze.<br />
Im Unterkapitel 2.9 setzt sich Agamben mit Bruno Bettelheims Begriff des Muselmannes<br />
auseinander. Agamben zitiert u.a. folgende Passage aus Bettelheims<br />
Schrift: »Andere Häftlinge versuchten oft, wenn sie es konnten, freundlich zu den<br />
Muselmännern zu sein, ihnen Essen zu geben usw« (Agamben 2003, 50). Diese<br />
Erinnerung Bettelheims kommentiert Agamben folgendermaßen: »Nicht nur<br />
verfälscht er [Bettelheim, Anm. A.B.] sein eigenes Zeugnis (alle Zeugen berichten<br />
übereinstimmend, daß niemand im Lager ›freundlich zu den Muselmännern‹<br />
war)« (Agamben 2003, 50). Drei Anmerkungen sind hierzu zu machen: Erstens<br />
verändern sich Erinnerungen im Verlauf des Lebens, auch traumatische Erinnerungen<br />
werden im Verlauf des Lebens unterschiedlich erzählt. Forschungen zur<br />
Erinnerung Überlebender der Shoah haben dies deutlich zu Tage gebracht. Bettelheim<br />
hier ein Verfälschen seiner Erinnerung vorzuwerfen, setzt Absicht voraus.<br />
Dies ist eine gewagte These. Zweitens sind die Erinnerungen Bettelheims zu kontextualisieren.<br />
Bettelheim selbst war zwischen 1938 und 1939 für insgesamt elf<br />
Monate in Dachau und Buchenwald gefangen. Beide Konzentrationslager waren<br />
schon in diesen Jahren grauenhafte Orte des Schreckens, aber sie waren different<br />
zu den Jahren 1944 und 1945 in Auschwitz. Aus jener späteren Phase stammen die<br />
meisten anderen Zeugnisse, die Agamben verwendet und vor allem jenes Primo<br />
Levis. Es ist <strong>als</strong>o durchaus möglich, dass sich das Verhalten der anderen Häftlinge<br />
gegenüber den Muselmännern 1938 in Dachau zu 1944 in Auschwitz unterschied.<br />
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Drittens beschreibt zwar auch Jorge Semprun in der Tote mit meinem Namen<br />
sehr deutlich eine Ablehnung vieler anderer Häftlinge gegenüber den Muselmännern<br />
im KZ Buchenwald 1944 (Semprun 2003, 30f.). Er selbst aber kümmerte<br />
sich um sie, um einen namenlosen jungen Muselmann ebenso, wie um Maurice<br />
Halbwachs, seinen vormaligen Soziologie-Professor.<br />
Was bleibt, ist die Sprache<br />
Es ist bereits mehrfach die Verwendung bestimmter Worte in Was von Auschwitz<br />
bleibt <strong>als</strong> irritierend vermerkt worden. Dies gilt unter anderem für die Begriffe<br />
»Henker« und »Opfer«. Sie deuten eine juristisch gesicherte, mehr oder minder<br />
gesetzmäßige Relation zwischen diesen beiden Akteursgruppen an. Aufgrund dessen<br />
wird zumeist die Bezeichnung Täter für die nation<strong>als</strong>ozialistischen Mörder<br />
verwendet, wie auch Raul Hilbergs Buchtitel Täter, Opfer, Zuschauer andeutet.<br />
Agamben folgt in der Wortwahl Henker Primo Levi. Allerdings reflektiert er nicht,<br />
dass seine Position eine andere ist, <strong>als</strong> die Levis. Dominick LaCapra hat die Bedeutung<br />
der eigenen Position des oder der HistorikerIn der Shoah sehr deutlich<br />
formuliert.<br />
»In discussing the Holocaust, for example, it makes a difference – at least an initial<br />
difference – whether the historian is a survivor, the child of a survivor, a Jew, a<br />
Palestinian, a German or an Austrian, a child of perpetrators, someone born later,<br />
and so forth, with subtle distinctions and variations that it would take very long<br />
even to touch upon« (LaCapra 2001, 41).<br />
Auch in der Bezeichnung Grauzone folgt Agamben Levi, wie bereits dargestellt.<br />
Wiederum irritiert hier die Wortwahl. Schuld und Scham sind Gefühle, die viele<br />
Überlebende formuliert haben. Sie aber <strong>als</strong> Henker zu bezeichnen, ist different<br />
in der Aussage, wenn Levi oder Agamben sie vornehmen. Dies ist besonders zu<br />
betonen, da Agamben nicht auf den Widerstand in Auschwitz und den Aufstand<br />
des Sonderkommandos eingeht. Erst Ende des zweiten Kapitels formuliert er die<br />
Differenz zwischen Tätern und Opfern. Es sind die Opfer, die die Erfahrung des<br />
Nicht-Menschen durchleiden mussten und die Täter, die diese Grenze nie überschritten<br />
(Agamben 2003, 68). Diese Differenz erscheint von größter Bedeutsamkeit,<br />
da sie Orientierung in der Grauzone verleiht.<br />
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Fazit<br />
Alina Bothe<br />
Der vorliegende Beitrag hat seinen Ausgang in Irritationen genommen, die sich<br />
bei der Lektüre des Werkes Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge<br />
aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive eingestellt haben. Es handelt sich<br />
hierbei um Irritationen, die das Buch nicht selbst in Frage stellen, sondern lediglich<br />
bestimmte Aspekte zugespitzt in die Diskussion bringen sollen. Nach einem<br />
kurzen Überblick über die für diesen Beitrag relevanten Inhalte des Buches sind<br />
dann verschiedene Irritationen formuliert, begründet und abgewogen worden.<br />
Einer der zentralen Kritikpunkte liegt in der Methode Agambens begründet, die<br />
Zeugnissegmente, die er kommentiert, nicht zu kontextualisieren. Es lässt sich argumentieren,<br />
dass dies geschieht, weil es weniger um die individuelle Geschichte<br />
der ZeugInnen geht, sondern um einen Kern, eine Wahrheit, die in diesen Zeugnissen<br />
verborgen liegt. Dennoch ist es ein Vorgehen, das Gefahr läuft, ahistorisch<br />
zu sein. Zudem bleibt seine Auswahl der Zeugnisse weitgehend unbegründet. Eine<br />
der wenigen Begründungen gibt er am Beginn des Buches: »Primo Levi ist ein<br />
perfektes Beispiel des Zeugen« (Agamben 2003, 13). Dies steht ganz sicher außer<br />
Frage, aber auch weitere Zeuginnen und Zeugen haben beeindruckende Zeugnisse<br />
abgelegt, Imre Kertezs genauso wie Elie Wiesel, Rachel Auerbach ebenso wie<br />
Marek Edelman. Es ist vollständig berechtigt, eine Reflexion einer terra ethica<br />
post Auschwitz entlang des Zeugnisses von Primo Levi vorzunehmen. Es ist dann<br />
nur auch zu formulieren, dass dies getan wird und warum andere Zeugnisse und<br />
damit Aspekte der Zeugenschaft unberücksichtigt bleiben. Der Argumentation<br />
Agambens würde es dann auch hilfreich sein, die Segmente aus Levis Werken in<br />
dessen Über-Lebensgeschichte einzubetten und gleichzeitig seine spezifischen Erfahrungen<br />
<strong>als</strong> italienischer Antifaschist und Widerstandskämpfer zu beschreiben.<br />
Die zweite Kritik liegt in seiner Konzeption der Geschichte der Shoah: Hier sind<br />
verschiedene Aspekte dargelegt worden, die Darstellung von Opfern und Tätern,<br />
die Schematisierung der Ereignisse, seine These, dass die historiographische Erfassung<br />
ausreichend sei, die Deutung von Erinnerung, ebenso wie die fehlende Reflexion<br />
seiner eigenen Position. Den Widerstand der Opfer hat Agamben an keiner<br />
Stelle thematisiert. Er spricht von denjenigen, die ihre Würde verloren. Die in der<br />
Erfahrung der Nicht-Würde des Menschen, Mensch blieben. Aber die Versuche,<br />
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Würde und/ oder Leben selbst in Auschwitz zu retten, thematisiert er nicht. Marek<br />
Edelman, einer der überlebenden Kommandeure der jüdischen Kampforganisation<br />
im Ghetto Warschau, sprach über die Würde derjenigen, die ins Gas gingen.<br />
»Diese Menschen [jene, die deportiert wurden, A.B.] gingen ruhig und würdevoll.<br />
Es ist schrecklich, wenn man so ruhig in den Tod geht. Das ist wesentlich schwieriger<br />
<strong>als</strong> zu schießen. Es ist ja viel leichter, schießend zu sterben, <strong>als</strong> für einen<br />
Menschen, der auf den Waggon zugeht und dann im Waggon fährt und dann eine<br />
Grube für sich gräbt und sich dann nackt auszieht [...]« (Krall 1980, 52). Hermann<br />
Langbein berichtet solche, wenngleich seltenen Ereignisse aus Auschwitz.<br />
»Vielen Frauen blieb eine Szene unvergeßlich: Französinnen, die auf einem Lastwagen<br />
zur Gaskammer gefahren wurden, stimmten die Marseillaise an. Diese Demonstration<br />
eines ungebrochenen Willens unmittelbar vor dem Tod war außergewöhnlich«<br />
(Langbein 1972, 133). Hinzu kommen diverse Fluchten, der Schmuggel<br />
von Informationen, verzweifelte Versuche des Widerstands im Angesicht der Gaskammern<br />
und vor allem aber auch der Versuch des Sonderkommandos, sämtliche<br />
Gaskammern zu zerstören. Die Integration des Widerstands in die Meta-Narration<br />
der Shoah würde die Orientierung in der Grauzone verändern.<br />
Wenn <strong>als</strong>o der Begriff der Grauzone kritisch hinterfragt wird, zeigen sich mehrere<br />
Probleme. Die Grauzone ist ein Begriff eines Opfers und beschreibt die Inkongruenz<br />
zwischen dem moralischen und ethischen System, in dem die Opfer vor und<br />
nach der Shoah lebten, und ihren Erfahrungen während der Shoah. Wenn Primo<br />
Levi den Begriff der Grauzone verwendet, dann beschreibt er aus der Sicht eines<br />
Überlebenden eine moralische Erfahrung in einer Welt, für die Lawrence Langer<br />
den Begriff der »choiceless choice« verwendet. Daher ist der Begriff der Grauzone<br />
in der Verwendung von Agamben ein höchst problematischer, denn die Grauzone<br />
impliziert, es hätte Wahlmöglichkeiten gegeben. Agambens Begriff der Grauzone<br />
wird noch problematischer, da er mit Leventh<strong>als</strong> Zitat zu Beginn eingeleitet wird<br />
und durch die fehlende Kontextualisierung Leventh<strong>als</strong> dieser zu einem Gewährsmann<br />
einer Position wird, die er selbst nicht geteilt hat. Zudem geht Agamben<br />
wie dargelegt, v.a. Hilbergs Interpretation der Geschichte der Shoah folgend und<br />
von jüdischer Passivität respektive compliance aus. Leventh<strong>als</strong> Zeugnis zeigt seine<br />
Verzweiflung ob der »choiceless choices« und seine Reaktionsversuche: Betei-<br />
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ligung in der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands, Dokumentation des Geschehens,<br />
Bewahrung von Zeugnissen. Es sind <strong>als</strong>o nach dieser Darlegung sowohl<br />
die Verwendung des Begriffs der Grauzone bei Agamben <strong>als</strong> auch die von ihm<br />
dargelegten Konsequenzen für Erinnerung und Ethik nach der Shoah in Frage zu<br />
stellen. Denn das Grau der Grauzone überlagert die Erinnerung und Konzeption<br />
von Vergangenheit und Zukunft. Dieser Aspekt der Argumentation Agambens ist<br />
mit Blick auf die dargelegten Gedanken zu kritisieren.<br />
Agambens an Foucault orientierter diskurstheoretischer Zugang zur Geschichte<br />
der Shoah ermöglicht bestimmte wertvolle Erkenntnisse. Auffällig ist jedoch, dass<br />
bestimmte Begriffe und Konzepte, die die Diskussion der Geschichte der Shoah<br />
prägen, nicht in Was von Auschitz bleibt, aufgenommen sind. Insbesondere die<br />
zwar an sich schwierige, aber sicher zutreffende Kategorie des Traumas bietet di-<br />
verse Optionen, Agambens Ideen weiterzuentwickeln.<br />
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Lewental, Salmen. 1972. „[Gedenkbuch]“ in „Inmitten des grauenvollen Verbrechens“<br />
Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, Hefte von<br />
Auschwitz, Sonderheft (I), herausgegeben von Jadwiga Bezwińska und Danuta<br />
Czech. 1996. 2. Auflage, 138-189.<br />
———. 1996. „Salmen Lewental – Kommentar“ in „Inmitten des grauenvollen Verbrechens“<br />
Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos, Hefte<br />
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Alina Bothe<br />
von Auschwitz, Sonderheft (I) herausgegeben von Jadwiga Bezwińska und<br />
Danuta Czech. 2. Auflage, 192-197.<br />
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