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Artikel als pdf - Dis|kurs

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Alina Bothe<br />

digen Zeugen‹ sind für ihn diejenigen, die kein Zeugnis abgelegt haben und kein<br />

Zeugnis hätten ablegen können« (Agamben 2003, 30). Den Gedanken des wirklichen<br />

Zeugen bzw. vollständigen Zeugen leitet Agamben ebenso von Primo Levi<br />

ab, der damit die Muselmänner bzw. jene, die das Grauen und damit auch den<br />

Tod in Gänze erblickt haben, bezeichnete und schrieb, dass er und die anderen<br />

Überlebenden <strong>als</strong> Bevollmächtigte an ihrer statt Zeugnis ablegten. Schon davon<br />

ausgehend, dass die Zeugnisse der Untergegangenen, der Ermordeten über ihren<br />

Tod fehlen, gibt Agamben zwei weitere Fragen zu bedenken, die an die Schwelle<br />

zwischen Mensch und Nicht-Mensch, zwischen Subjekt und Nicht-Subjekt führen:<br />

»Was heißt es, Subjekt einer Entsubjektivierung 2 zu sein? Wie kann ein Subjekt<br />

von seinem eigenen Untergang Rechenschaft ablegen« (Agamben 2003, 123). Es<br />

ist nur dann möglich, so gibt er <strong>als</strong> Antwort, wenn der Nicht-Mensch in Erweiterung<br />

des Menschen Mensch wird (Agamben 2003, 117). Das Nicht-Subjekt ist der<br />

Muselmann. Agamben beschreibt den Muselmann <strong>als</strong> »ein undefiniertes Wesen<br />

[…], die vollkommene Chiffre des Lagers, des Nicht-Ortes« (Agamben 2003, 41),<br />

»er markiert die Schwelle zwischen dem Menschen und dem Nicht-Menschen«<br />

(Agamben 2003, 47), an ihm brechen sich herkömmliche ethische Konzepte wie<br />

Würde, denn er »ist der Wächter an der Schwelle einer Ethik, einer Lebensform,<br />

die dort beginnt, wo die Würde endet« (Agamben 2003, 60).<br />

Der Zeuge, der für den Muselmann <strong>als</strong> dessen Bevollmächtigter das Zeugnis über<br />

dessen Unfähigkeit zu sprechen ablegt, und der Muselmann sind »geschieden und<br />

trotzdem untrennbar« (Agamben 2003, 118). Zwischen Differenz und Immanenz<br />

liegt die Relation des Zeugen und des Muselmannes.<br />

»Weil es Zeugnis nur gibt, wo es eine Unmöglichkeit zu sagen gab, weil es einen<br />

Zeugen nur gibt, wo eine Entsubjektivierung stattfand – deswegen ist der<br />

Muselmann tatsächlich der vollständige Zeuge, deswegen ist es nicht möglich,<br />

den Muselmann vom Überlebenden zu trennen« (Agamben 2003, 138).<br />

2 Der Auschwitz-Überlebende Henry Oertelt beschreibt diesen Moment der Ent-Subjektivierung,<br />

<strong>als</strong> ihm in Auschwitz seine Lagernummer tätowiert wird: »You have lost your<br />

name, that is the ultimate dehumanization« (Webseite der Survivors of the Shoah Visual<br />

History Foundation, Online-Ausstellung Surviving Auschwitz. Five Personal Journeys,<br />

eigenes Transkript).<br />

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