05.02.2013 Aufrufe

Heft als pdf - Dis|kurs

Heft als pdf - Dis|kurs

Heft als pdf - Dis|kurs

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Wis s e n s-We r k.de<br />

Wir publizieren Ideen!<br />

Die OpenAccess-Plattform Wissens-Werk.de im Meine Verlag.<br />

Wissens-Werk.de ist die Plattform für engagierte Nachwuchswissenschaftler,<br />

wissenschaftliche Arbeiten und Ideen in verschiedenen OpenAccess-Journalen<br />

zu veröffentlichen. Wissens-Werk.de steht für den Ort der Produktion und Kreation<br />

akademischen Gutes, für das niedergeschriebene Werk an sich sowie<br />

für das wissenschaftliche Handwerk, <strong>als</strong>o das Schreiben selbst.<br />

Setzen Sie eigene Akzente in der wissenschaftlichen Diskussion, kommunizieren<br />

Sie Ihre Ideen, fördern Sie den Wissenschaftsdiskurs und schaffen Sie<br />

Wissenswerte – Wissens-Werk.de bietet diese Möglichkeit.<br />

Wissens-Werk.de ist eine OpenAccess-Initiative vom Meine Verlag.<br />

www.wissens-werk.de<br />

Meine Verlag


<strong>Dis|kurs</strong><br />

Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische<br />

Interventionen<br />

Herausgeber<br />

Dr. Matthias Lemke<br />

Universität Duisburg-Essen – Institut für Politikwissenschaft<br />

Daniel Kuchler, M.A.<br />

State University of New York at Albany (SUNY) – Dept. of Political Science<br />

Sebastian Nawrat<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />

Board of Reviewers<br />

Prof. Dr. Johanna Bödege-Wolf<br />

Universität Vechta – Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie<br />

Prof. Dr. Karl-Heinz Breier<br />

Universität Vechta – Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie<br />

Prof. Peter Breiner, PhD<br />

State University of New York at Albany (SUNY) – Dept. of Political Science<br />

Prof. Dr. Thomas Großbölting<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster – Historisches Seminar<br />

Prof. Dr. Martin Kintzinger<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster – Historisches Seminar<br />

Dr. Wilhelm Knelangen<br />

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Sozialwissenschaften – Politikwissenschaft<br />

Dr. Martin Lücke<br />

Freie Universität Berlin – Friedrich-Meinecke-Institut<br />

Prof. em. Dr. Lothar Maier<br />

Heidelberg<br />

Prof. Dr. Renate Martinsen<br />

Universität Duisburg-Essen – Institut für Politikwissenschaft<br />

Dr. Stephan Sandkötter<br />

Universität Vechta – Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie<br />

Prof. Dr. Morton Schoolman, PhD<br />

State University of New York at Albany (SUNY) – Dept. of Political Science<br />

Dr. Daniel Siemens<br />

Universität Bielefeld – Fakultät für Geschichtswissenschaft<br />

Prof. Dr. Hans Rainer Sepp<br />

Karls-Universität Prag – Humanwissenschaftliche Fakultät<br />

PD Dr. Mirko Wischke<br />

Taras Shevchenko National University of Kyiv, Ukraine<br />

Redaktion<br />

Bastian Walter, M.A.<br />

Westfälische Wilhelms-Universität Münster – Historisches Seminar<br />

Ines Weber, M.A.<br />

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Sozialwissenschaften – Politikwissenschaft


dis|kurs (2) 2010<br />

Inhalt<br />

Editorial<br />

Matthias Le M k e<br />

Wa(e)hlen in Deutschland<br />

Erosionen der repräsentativen Demokratie? Se i t e | 1<br />

aufsätzE<br />

Ju L i a Crispin Se i t e | 4<br />

Kunst <strong>als</strong> Medium politischer Repräsentation<br />

Richard Beauchamp von Warwick <strong>als</strong> Bauherr,<br />

Kunstförderer und Literaturmäzen<br />

kat r i n Be y e r Se i t e | 20<br />

Rituale der Eroberung Symbolisches Handeln beim<br />

Herrschaftsantritt Wilhelm des Eroberers 1066<br />

thEma: Wa(E)hlEn in dEutschland<br />

ne e L e tiM M e r M a n n Se i t e | 35<br />

Das repräsentative Regierungssystem und die<br />

Demokratie Indirekte Volksherrschaft<br />

ke n o MüLLer Se i t e | 58<br />

Wählerschwund einer Volkspartei<br />

Die deutsche Sozialdemokratie nach der<br />

Bundestagswahl 2009<br />

Lu i s a st r e C k e n B a C h Se i t e | 82<br />

Ein Mensch – Eine Stimme<br />

Die Veränderung des Wahlrecht<br />

siM o n e sC h o n v o g e L Se i t e | 113<br />

Deutschland von Außen<br />

Reaktionen aus dem Ausland auf Schwarz-Gelb


dis|kurs (2) 2010<br />

gElEsEn<br />

Ba s t i a n Wa Lt e r Se i t e | 154<br />

Neue Sicht auf ein altes Thema:<br />

Neue Kriegsgeschichte(n)<br />

autorinnEn und autorEn Se i t e | 157<br />

BEiträgE Se i t e | 159<br />

imprEssum Se i t e | 160


Editorial<br />

Wa(e)hlen in deutschland<br />

Erosionen der repräsentativen Demokratie?<br />

Matthias Lemke<br />

„Die Würde des Menschen“, so hat Max Frisch einmal in seinem Tagebuch notiert,<br />

„scheint mir, besteht in der Wahl.“ 1 Bezogen auf die Bundestagswahl 2009<br />

und die politische Stimmung in der repräsentativen Demokratie bundesrepublikanischer<br />

Provenienz, die in der Einschätzung verschiedenster Kommentatoren<br />

vom Begriff der Erosion begleitet worden war, wäre allerdings in Bezug auf die<br />

Würde des Menschen einiges in Bewegung geraten.<br />

Denn seit der Bundestagswahl vom 27. September 2009 ist im politischen Berlin<br />

vieles anders <strong>als</strong> noch zuvor. Der Wahltag brachte mehrere politische Superlative,<br />

ohne dass diese immer erfreulicher Natur gewesen wären. Da ist zum einen<br />

die erschreckend hohe Quote von Nichtwählern – noch nie sind bei einer Bundestagswahl<br />

anteilig weniger <strong>als</strong> jene 70,7 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung<br />

an die Urne gegangen. Erodiert mit solch niedrigen Zustimmungsraten<br />

nicht die Legitimität der Parteiendemokratie? Und da ist zum anderen – ob diese<br />

Daten gleich erschreckend sein mögen, bleibt dahingestellt – die offene Erosion<br />

der Volksparteien. Mit ihren nur noch 23 Prozent der Stimmen – was in absoluten<br />

Zahlen einer Größenordnung von knapp unter zehn Millionen Wählerstimmen<br />

entspricht – erzielte die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei<br />

einer Bundestagswahl überhaupt. Das vorm<strong>als</strong> schlechteste Ergebnis waren jene<br />

27,9 Prozent, die die Partei bei der ersten Bundestagswahl 1949 holte. Auch das<br />

bürgerliche Lager aus CDU und CSU hatte kaum Grund zur Freude, denn die<br />

erreichten 33,8 Prozent, die sich aus 27,3 Prozent für die CDU und 6,5 Prozent<br />

für die CSU zusammensetzten, waren bislang nur einmal unterboten worden –<br />

nämlich auch 1949. Gäbe es überhaupt noch einen gesellschaftlichen Konsens,<br />

der sich durch das politische Angebot der beiden ehemaligen Volksparteien abbilden<br />

ließe? Zwischen 1949 und 2009 hatten sowohl die SPD <strong>als</strong> auch die CDU/<br />

1 Frisch, Max: Tagebuch 1946–1949. Frankfurt (Main) 1950, S. 165.<br />

Dis | kurs 1


CSU Ergebnisse über 40 Prozent, die CDU/CSU sogar einmal über 50 Prozent der<br />

Stimmen errungen. Aus heutiger Sicht sind solche Zahlen in unerreichbare Ferne<br />

gerückt – allzumal, und das komplettiert die Diagnose – die vorm<strong>als</strong> kleinen Parteien<br />

signifikante Stimmenanteile hinzugewinnen konnten. Zwar sind die – ebenfalls<br />

historischen – 14,6 Prozent der FDP mittlerweile, mehr <strong>als</strong> ein Jahr nach der<br />

Wahl wieder arg auf um die 5 Prozent in den Umfragen zusammengeschmolzen.<br />

Jedoch waren es nicht die ehem<strong>als</strong> großen, und gegenwärtig muss man wohl sagen,<br />

die größeren Parteien, die von der Erosion der Zustimmung bei der FDP profitieren<br />

konnten. Vielmehr avancieren besonders die Grünen mit Stimmanteilen<br />

in den Sonntagsfragen bei deutlich über 20 Prozent. Damit ist nach bisherigem<br />

Stand der Dinge für die nächste Bundestagswahl – die bislang auf den September<br />

2013 terminiert ist – eine Ablösung der Regierungskoalition durch Rot-Grün zu<br />

erwarten – oder doch eher durch Grün-Rot? Und geisterte nicht auch der Name<br />

Jürgen Trittin durch die Medien, <strong>als</strong> es um die Frage der nächsten möglichen<br />

Kanzlerkandidaten ging? Kann Trittin Kanzler?<br />

Mit diesem Befund auf Bundesebene nicht genug – auf Landesebene, wo im<br />

kommenden Jahr gleich mehrere Wahlen anstehen, ergibt sich ein nicht minder<br />

ungewohntes Bild. Betrachtet man etwa die für das Frühjahr 2011 anstehenden<br />

Landtagswahlen in Baden-Württemberg oder Berlin, dann liegt der Wählerzuspruch<br />

für die Grünen bei mitunter an die oder gar bei über 30 Prozent. Kommen<br />

demnächst die ersten Grünen Ministerpräsidenten an die Spitze verschiedener<br />

Landesregierungen? In Nordrhein-Westfalen etwa, wo am 9. Mai 2010 zuletzt der<br />

Landtag gewählt worden war, findet sich gleich das nächste Novum2 : Eine Minderheitsregierung<br />

von SPD und Grünen, die nicht auf eine Tolerierung angewiesen<br />

ist, sondern die mit wechselnden Mehrheiten arbeitet, was wiederum in eine<br />

Renaissance des Parlamentarismus mündet. Der Düsseldorfer Landtag ist wieder,<br />

wenn man den Aussagen der beteiligten Politiker, aber auch den Beobachtern<br />

Glauben schenken darf – zu einem Ort der politischen Debatte geworden, zu<br />

2 Die Bezeichnung Novum ist hier nur insoweit richtig, <strong>als</strong> dass die Minderheitsregierung<br />

in NRW nicht die erste Minderheitsregierung in einem deutschen Bundesland ist. In der<br />

zweiten Wahlperiode des Landtages von Sachsen-Anhalt hat es unter Ministerpräsident<br />

Höppner das sogenannte Magdeburger Modell gegeben, eine Minderheitsregierung von<br />

SPD und Bündnis 90 / Die Grünen, die von der PDS toleriert wurde. Da jedoch NRW – gemessen<br />

an der Zahl der Bevölkerung – eines der größten Länder in Europa darstellt (nur<br />

sechs Staaten der EU haben mehr Einwohner), sind die Erfahrungen mit einer Minderheitsregierung<br />

für die politischen Beobachter hier von wesentlich größerem Interesse.<br />

2 Dis | kurs


einem Ort des Arguments. Vielleicht ist es ja das Parlament, das der Erosion der<br />

repräsentativen Demokratie Einhalt zu gebieten vermag. Damit müsste es sich<br />

zwar selbst am Schopfe aus dem Sumpf ziehen – aber die Würde des Menschen,<br />

von der Max Frisch geschrieben hatte, ist solch eine Anstrengung allemal wert.<br />

Die Texte des Themenschwerpunkts sind aus einem Projektseminar im Wintersemester<br />

2009/2010 an der Universität Vechta hervorgegangen und wären ohne das<br />

mehr <strong>als</strong> übliche Engagement der Studierenden nicht realisierbar gewesen.<br />

Dis | kurs 3


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

aufsätze<br />

Kunst <strong>als</strong> medium politischer repräsentation<br />

Richard Beauchamp von Warwick <strong>als</strong> Bauherr,<br />

Kunstförderer und Literaturmäzen<br />

Julia Crispin<br />

Universität Münster, Historisches Seminar<br />

E-Mail: julia.crispin@uni-muenster.de<br />

abstract<br />

The present study de<strong>als</strong> with Richard Beauchamp, Earl of Warwick<br />

(1382–1439), as a patron of art, architecture and literature. It examines if and<br />

to what extent he used visual arts such as buildings or book-illumination<br />

and works of literature such as historiography and poetry to express political<br />

ideas and claims and as a means of self-representation in the political<br />

context of the conflicts with France and the English domestic affairs. Works<br />

made during Beauchamp’s lifetime will be considered, as well as architecture<br />

and manuscripts where his participation in the conceptualization can be<br />

assumed, for example the Beauchamp Chapel with its magnificent tomb in<br />

Warwick. In the latter case the role of members of his circle, especially his<br />

daughter Anne, in the iconographic program will be analyzed.<br />

schlüsselwörter<br />

Spätmittelalter, Hundertjähriger Krieg, Mäzenatentum, politische Ikonografie<br />

4 Dis | kurs


Julia Crispin<br />

„[…]so notably and so knightly [he] behaved hym self, as redounded to his noble<br />

fame and perpetuell worship”. 1 Kaum eine Gestalt des englischen Spätmittelalters<br />

wird sowohl in der schriftlichen <strong>als</strong> auch bildlichen Überlieferung des späten<br />

15. Jahrhunderts derartig emphatisch <strong>als</strong> Verkörperung des Ritteride<strong>als</strong> – <strong>als</strong><br />

„fadreofcurteisy“ 2 – dargestellt wie Richard Beauchamp, Graf von Warwick (1382<br />

– 1439).In den hier zitierten sogenannten BeauchampPageants, einer Ende des<br />

15. Jahrhunderts entstandenen Serie von 55, jeweils von kurzen Texten begleiteten<br />

Federzeichnungen, finden sich zahlreiche Darstellungen, die ihn siegreich in<br />

Schlachten und Belagerungen, <strong>als</strong> königlichen Botschafter in maßgeblichen internationalen<br />

Verhandlungen und <strong>als</strong> glorreichen Turniersieger präsentieren. Ein<br />

gutes Dutzend der Zeichnungen ist seiner Pilgerreise in das Heilige Land gewidmet,<br />

besondere Bedeutung kommt darüber hinaus seiner Erhebung in den Ritterstand<br />

und der Aufnahme in den Hosenbandorden sowie der Verleihung wichtiger<br />

politischer Ämter zu. Der Schwerpunkt der Serie liegt auf der kontinuierlichen<br />

und uneingeschränkten Loyalität Beauchamps gegenüber dem Hause Lancaster.<br />

Sie inszeniert seine zentrale Rolle in der innerenglischen Politik wie auch in den<br />

militärischen und diplomatischen Maßnahmen zur Durchsetzung der englischen<br />

Ansprüche auf die französische Krone.<br />

Die Forschung identifiziert weitestgehend einhellig Anne Beauchamp (1426–<br />

1492), Tochter und ab 1449 Haupterbin Richard Beauchamps sowie Ehefrau<br />

des einflussreichen Magnaten Richard Neville, <strong>als</strong> Auftraggeberin der Pageants.<br />

Wenn auch nach wie vor keine Einigkeit darüber besteht, zu welchem spezifischen<br />

Zweck die Pageants in Auftrag gegeben wurden, so ist doch eine Verortung<br />

ihrer Entstehung in die innenpolitischen Wirren der 1480er Jahre und die propagandistische<br />

Nutzung Beauchamps <strong>als</strong> Idealbild des gleichermaßen erfolgreichen<br />

wie loyalen Ritters anzunehmen. Beauchamps Rolle in den Pageants wie auch in<br />

weiteren, im politischen Kontext der ausklingenden Rosenkriege und der beginnenden<br />

Tudor-Zeit entstandenen Werken der bildenden Kunst und der Literatur<br />

1 London, British Library, Cotton MS Julius E IV, article 6 (sog. BeauchampPageants), f.<br />

3r, zuletzt <strong>als</strong> kommentierte Faksimile-Edition herausgegeben von Alexandra Sinclair:<br />

Sinclair, Alexandra (Hrsg.): The BeauchampPageants. Donington 2003, hier S. 60. Zu den<br />

BeauchampPageantsvgl. außerdem Scott, Kathleen L.: LaterGothicManuscripts. 1390–1490<br />

(A survey of manuscripts illuminated in the British Isles 6), 2 Bde. London 1996, hier Bd. 2,<br />

Nr. 137, S. 355–9; dies.: The Caxton Master and his patrons. Cambridge 1976, S. 55–66.<br />

2 Sinclair, Alexandra: Beauchamp Pageants, S. 120 (f. 18r).<br />

Dis | kurs 5


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

war bereits vielfach Gegenstand der Forschung. 3 Weitaus seltener wurde jedoch<br />

bisher der Frage nachgegangen, inwiefern für Richard Beauchamp selbst und sein<br />

unmittelbares höfisches Umfeld die Verwendung von Kunst und literarischen<br />

oder historiografischen Werken <strong>als</strong> Mittel zur visuellen Repräsentation seiner<br />

Person und seiner politischen Vorstellungen und Ansprüche nachgewiesen werden<br />

kann. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, exemplarisch Werke, die<br />

für Beauchamp oder Personen in seinem direkten Umkreis angefertigt wurden,<br />

in diesem Sinne inhaltlich und ikonografisch zu untersuchen. Zeitgenössische<br />

Erwähnungen nicht erhaltener Aufträge, die im Rahmen der Fragenstellung von<br />

Interesse sein können, werden ebenfalls berücksichtigt. Das angesprochene Forschungsdesiderat<br />

ist nicht nur im Falle Beauchamps festzustellen, sondern trifft<br />

auf die mäzenatische Tätigkeit einer Vielzahl englischer Adliger des 15. Jahrhunderts,<br />

die wie Beauchamp häufig hohe politische oder militärische Positionen in<br />

England wie auch in Frankreich bekleideten, zu. Die Frage nach der Förderung<br />

und Nutzung von Kunst durch diesen Personenkreis ist Gegenstand des sich im<br />

Anfangsstadium befindenden Dissertationsprojektes der Verfasserin, die vorliegende<br />

Untersuchung versteht sich <strong>als</strong> vorbereitende Studie hierzu. 4<br />

politischer Werdegang und kulturelles umfeld<br />

Eine relativ große Anzahl zeitgenössischer Schriftquellen erlaubt es, Beauchamps<br />

Vita und seine Rolle in der nationalen wie auch internationalen Politik weitestgehend<br />

zu rekonstruieren. 5 Im Jahr 1382 wurde er <strong>als</strong> einziger Sohn Thomas Beauchamps,<br />

des zwölften Grafen von Warwick, geboren. Das spannungsreiche<br />

Verhältnis seiner Familie zum englischen König Richard II. – Thomas wurde im<br />

Jahr 1397 des Hochverrats angeklagt – war vermutlich einer der Gründe für seine<br />

Unterstützung der Machtübernahme Herzog Henry Bolingbrokes von Lancaster<br />

3 Vgl. Hicks, Michael: Warwick the Kingmaker. Oxford 1998; Lowry, Martin: John Rous and<br />

the Survival of the Neville Circle. In: Viator, 19 (1988), S. 327–38; Scott, Kathleen: Caxton<br />

Master, S. 61.5; Sinclair, Alexandra: Beauchamp Pageants, S. 13–24.<br />

4 Die Dissertation wird von Prof. Dr. Martin Kintzinger (Münster) betreut, dem für seine<br />

Anmerkungen herzlich gedankt sei.<br />

5 Zur Vita vgl. Carpenter, Christine: Artikel „Richard Beauchamp”. In: Stephen, Leslie<br />

(Hrsg.): Oxford Dictionary of National Biography (60 Bde.). Oxford / New York 2004, Bd. 4,<br />

S. 592–5; McFarlane, Kenneth B.: The Nobility of Later Medieval England. Oxford 1973,<br />

bes. S. 187–201; Sinclair, Alexandra: Beauchamp Pageants, S. 24–49; dies.: The Beauchamp<br />

Earls of Warwick in the later middle ages. Unpubl. Diss. London 1986, bes. S. 81–144.<br />

6 Dis | kurs


Julia Crispin<br />

im Sommer 1399 sowie für seinen loyalen Dienst gegenüber dem Hause Lancaster<br />

zeit seines Lebens.<br />

Zwar konnte Beauchamp bereits unter Heinrich IV. militärische Erfolge verbuchen,<br />

seine eigentlich ruhmreiche Phase wurde jedoch 1413 mit der Regierungszeit<br />

Heinrichs V. und damit einhergehend der Wiederaufnahme der englischen<br />

Ansprüche auf den französischen Thron eingeläutet. Als enger Vertrauter des<br />

Königs hatte er eine Reihe hochrangiger militärischer Ämter auf dem Kontinent<br />

inne, 1414 erfolgte seine Ernennung zum Captain of Calais, einer der einflussreichsten<br />

und prestigeträchtigsten Positionen der France Anglaise. Ebenso wurde<br />

er mit einer Vielzahl wichtiger diplomatischer Missionen betraut, er gehörte<br />

beispielsweise der englischen Gesandtschaft auf dem Konzil von Konstanz im<br />

Jahre 1414 an und nahm maßgeblich an den Vorverhandlungen zum Vertrag von<br />

Troyes teil.<br />

Mit dem Tod Heinrichs V. im Jahr 1422 nahm Beauchamps Einfluss keineswegs<br />

ab. Er wurde Mitglied des Kronrates für den nur wenige Monate alten Heinrich<br />

VI. und erhielt darüber hinaus die Aufgabe, den jungen König auszubilden und in<br />

ritterlichen Tugenden zu erziehen. 6 Im Jahr 1434 vermählte er seinen Sohn Henry<br />

und seine Tochter Anne mit Cecily und Richard Neville, den Kindern des einflussreichen<br />

Grafen von Salisbury. Nach seiner Ernennung zum Lieutenant General<br />

von Frankreich und der Normandie im Jahr 1437 reiste Richard Beauchamp<br />

ein letztes Mal nach Frankreich, wo er im April 1439 in Rouen verstarb.<br />

Ein ausgeprägtes Interesse Beauchamps an Kunst und Kultur, insbesondere an<br />

Literatur, kann bereits aufgrund seiner Vita und allgemein gehaltener zeitgenössischer<br />

Kommentare angenommen werden. So legt der Umstand seiner Ernennung<br />

zum Tutor Heinrichs VI. mit dem Auftrag, diesen in Geschichte, Sprachen<br />

sowie „lettrure“ zu unterrichten, nahe, dass er hier <strong>als</strong> besonders bewandert galt. 7<br />

In diesem Zusammenhang bezeichnete ihn auch der Chronist Brut <strong>als</strong> „Þe bestnurturet<br />

man ofEnglond“ 8 . Darüber hinaus ist eine Beeinflussung durch Personen<br />

6 ZurErnennungBeauchampszum Tutor Heinrichs VI.vgl. Nicolas, Harris (Hrsg.): Proceedings<br />

and Ordinances of the Privy Council of England 1386–1542. London 1834–7, Bd. 3,<br />

S. 298–300.<br />

7 Vgl. ebd., S. 299. Der Begriff „lettrure“ kann sowohl allgemein Bildung <strong>als</strong> auch die Fähigkeit<br />

zu Lesen und Schreiben bezeichnen.<br />

8 Brie, Friedrich (Hrsg.): The Brut or the Chronicles of England (Early English Text Society<br />

136), Bd. 2. London 1908, S. 563f. „nurture“ bezeichnet neben guter Erziehung auch Bil-<br />

Dis | kurs 7


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

seines Umfeldes anzunehmen, die sich <strong>als</strong> Auftraggeber von Kunst, Architektur<br />

und Literatur betätigten. So war sein Vater beispielsweise verantwortlich für verschiedene<br />

Bauprojekte in und um Warwick, während sein Schwiegervater Lord<br />

Thomas Berkeley sich <strong>als</strong> Literaturmäzen einen Namen machte. 9<br />

Beauchamps tätigkeit <strong>als</strong> Bauherr<br />

Von den zahlreichen Bauwerken, die im Auftrag Richard Beauchamps errichtet<br />

wurden, ist lediglich eines erhalten: Die nach seinem Tod erbaute Grabkapelle in<br />

der Kirche St. Mary in Warwick. 10 Diese gilt <strong>als</strong> eines der prachtvollsten und kostspieligsten<br />

Gebäude des 15. Jahrhunderts in England und wurde bereits in frühneuzeitlichen<br />

Reiseberichten gepriesen. Ebenso große Bedeutung wie dem Bau<br />

kommt der Ausstattung zu, namentlich der kostbaren Glasmalerei, der skulpturalen<br />

Ausstaffierung und dem Grabmal Beauchamps.<br />

Nach seinem Tod in Rouen im Jahre 1439 wurde Beauchamp seinem zwei Jahre<br />

zuvor aufgesetzten Testament entsprechend zunächst in einem schlichten Sarg<br />

im Chor von St Mary beigesetzt. Die Grundsteinlegung zum Bau der Kapelle südlich<br />

des Chors mit dem Grabmal im Zentrum erfolgte erst im Jahr 1443, im Jahr<br />

1462 konnten die Arbeiten abgeschlossen werden. 11 Architektur und Ausstattung<br />

sind reich mit heraldischen Symbolen und Devisen verziert. Neben Beauchamps<br />

üblicherweise verwendeten Devisen, dem Bären und dem sogenannten raggedstaff,<br />

einem Ast oder Baumstamm, dessen Zweige bis auf die Stümpfe abgebrochen<br />

sind, spielen der Greif, das Symbol der Familie seiner zweiten Ehefrau Isabel<br />

Despencer, und der Schwan, vermutlich ein Hinweis auf die legendäre Abstammung<br />

der Beauchamps vom sagenhaften hochmittelalterlichen Schwanenritter,<br />

dung im Allgemeinen.<br />

9 Zu Thomas Beauchamp vgl. Hicks, Michael: Kingmaker, S. 53-7; Sinclair, Alexandra:<br />

Beauchamp Pageants, S. 26. Zu Thomas Berkeley vgl. Hanna, Ralph III.: Sir Thomas<br />

Berkeley and his Patronage. In: Speculum 64.4 (1989), S. 878–916.<br />

10 Vgl. hierzuBrindley, David: The Collegiate Church of St. Mary Warwick. The Beauchamp<br />

Chapel. Warwick 1997; Monckton, Linda: Fit for a King? The architecture of the Beauchamp<br />

Chapel. In: Architectural History 47 (2004), S. 25–52.<br />

11 Beauchamps Testament wurde im 18. Jahrhundert von Thomas Hearne ediert: Hearne,<br />

Thomas: Historiavitae et regniRicardi II. Oxford 1729, S. 240–9. Die originalen Verträge sind<br />

nicht erhalten, wurden aber zum Teil im 17. Jahrhundert kopiert und ediert, vgl. Dugdale,<br />

William: The Antiquities of Warwickshire illustrated. From Records, Leiger-Books, Manuscripts,<br />

Charters, Evidences, Tombes, and Armes. Beautified with Maps, Prospects, and<br />

Portraictures.London2 1730, S. 445–7.<br />

8 Dis | kurs


Julia Crispin<br />

eine Rolle. 12 Das Grabmal, bestehend aus einer Tumba und einer Grabplatte aus<br />

Purbeck-Marmor und einer Liegefigur des Verstorbenen aus vergoldeter Bronze,<br />

wurde zwischen 1447 und 1457 errichtet. 13 14 gotische Nischen, in denen kleine<br />

Statuen der Trauernden aus vergoldeter Bronze stehen, gliedern die Tumba.<br />

Beauchamp ist auf dem Rücken liegend, in einer schlichten Rüstung dargestellt.<br />

Sein Kopf ruht auf einem mit einem Schwanenkopf gezierten Helm. Zu seinen<br />

Füßen sitzen der Despencer-Greif und der Beauchamp-Bär. Die Grabplatte wird<br />

überfangen von einem Gerüst aus vergoldeter Bronze, das mit den Wappen der<br />

Familie Beauchamp und anderer nahestehender Familien verziert ist. 14 Unter den<br />

Nischen der Trauernden sind weitere Wappen angebracht, anhand derer die dargestellten<br />

Personen jeweils identifiziert werden können: Vertreten sind in erster<br />

Linie Familienangehörige Beauchamps, seine fünf Kinder und deren Ehepartner<br />

dominieren die Gruppe. Ebenfalls aufgenommen wurden die Schwiegereltern<br />

von Beauchamps Sohn Henry und seiner Tochter Anne, der Graf von Salisbury<br />

und seine Frau, wodurch die Bindung der Beauchampsand die Familie Neville<br />

unterstrichen wird.<br />

Die Glasmalerei der Kapelle muss in ihrer ursprünglichen Erscheinung besonders<br />

beeindruckend gewesen sein. Leider wurden hier später die größten Eingriffe<br />

vorgenommen. 15 Dennoch ist das ursprüngliche ikonografische Programm zum<br />

Teil nachvollziehbar, von besonderem Interesse für die vorliegende Fragestellung<br />

ist das dreiteilige Ostfenster. Im mittleren Abschnitt war vermutlich unten der<br />

kniende Graf, umgeben von seinen beiden Ehefrauen Elizabeth und Isabel sowie<br />

12 Zur Herkunft und Verwendung der Devisen Beauchampsvgl.van der Velden, Hugo: A<br />

Prayer Roll of Henry Beauchamp, Earl of Warwick. In: Hamburger, Jeffrey F. / Korteweg,<br />

Anne S. (Hrsg.): Studies in painting and manuscript illumination in the Late Middle Ages<br />

and Northern Renaissance. London 2006, S. 521–49, hier S. 528–31; Payne, Ann: The<br />

Beauchamps and the Nevilles. In: Marks, Richard / Williamson, Paul (Hrsg.): Gothic. Art<br />

for England 1400–1547. London 2003, S. 219–21.<br />

13 Zum Grabmalvgl. Lindley, Phillip: Effigy of Richard Beauchamp, Earl of Warwick (d. 1439).<br />

In: Marks, Richard / Williamson, Paul: Gothic, Kat.-Nr. 87, S. 224f; ders.: Unagrande opera<br />

al mio re. Gilt-bronze effigies in England from the Middle Ages to the Renaissance. In:<br />

The Journal of the British Archaeological Association 143 (1990), S. 112–33, bes. S. 120–3;<br />

McGee Morganstern, Anne: Gothic tombs of kinship in France, the Low Countries and<br />

England. University Park (Pa.) 2000, S. 133–41, 192–4.<br />

14 Zu den Wappen im Einzelnen vgl. ebd., S. 192–4.<br />

15 Zur Glasmalerei vgl.Brindley, David: Beauchamp Chapel, S. 7f; Dugdale, William: Antiquities<br />

of Warwickshire, S. 451; Marks, Richard: St Thomas Becket and two seraphim holding<br />

musical scrolls. In: Marks, Richard / Williamson, Paul: Gothic, Kat.-Nr. 89, S. 229.<br />

Dis | kurs 9


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

seinen fünf Kindern, in Anbetung einer Kreuzigungsszene abgebildet. Dieser Bereich<br />

ist leider nur fragmentarisch erhalten, in besserem Zustand ist der obere<br />

Teil, in welchem das Motto Beauchamps, „Louey Spencer tantquevivray“, zu lesen<br />

ist. In den beiden seitlichen Abschnitten des Ostfensters sind auf mittlerer<br />

Höhe jeweils zwei Heilige dargestellt, die anhand schriftlicher Dokumente <strong>als</strong> Hl.<br />

Thomas von Canterbury, Hl. Alban, Hl. John von Bridlington und Hl. Winifred<br />

identifiziert werden können. In kleinen Feldern im Hintergrund der Figuren sind<br />

abwechselnd der Bär und der raggedstaff zu sehen. Während es sich bei Thomas<br />

und Alban um im Spätmittelalter allgemein recht beliebte englische Heilige handelt,<br />

wurden John von Bridlington und Winifred besonders von den Lancaster-<br />

Königen und ihren Anhängern verehrt.<br />

Dass diese vier Heiligen eine besondere Bedeutung für Beauchamp selbst hatten,<br />

wird darüber hinaus durch sein Testament bezeugt. In diesem verfügt er über<br />

eine Stiftung von vier kostbaren Goldstatuen an ihre Schreine in St. Albans, Canterbury,<br />

Bridlington und Shrewsbury,die ihn selbst mit einem Anker in den Händen<br />

darstellen sollten. 16 Abgesehen von den noch anzusprechenden spärlichen<br />

Hinweisen zur Kapelle selbst ist dies auch der einzige Fall im Testament Beauchamps,<br />

in dem Angaben zum Aussehen von gestifteten Kunstobjekten gemacht<br />

werden. Möglicherweise lässt dies auf einen besonderen Stellenwert der Stiftung<br />

für Beauchamp schließen, ein weiteres Indiz dafür wäre der enorme Wert des<br />

Materi<strong>als</strong>.<br />

Hinsichtlich der Frage nach der Nutzung von Kunst <strong>als</strong> Medium der visuellen<br />

Repräsentation der Person Beauchamps ist von Interesse, inwieweit er selbst an<br />

der Konzeptualisierung der Kapelle teilnahm, beziehungsweise wer maßgeblich<br />

für diese verantwortlich war. Eine zweireihige, um die Grabplatte verlaufende Inschrift<br />

nennt den Namen und vollen Titel des Verstorbenen und beschreibt, wie<br />

er nach seinem Tod in Rouen nach Warwick überführt und dort zunächst in einen<br />

steinernen Sarg gelegt wurde. Nach Fertigstellung der Kapelle „byhimdevised<br />

in his lief“ sollte er „accordingtohis last willeandtestament“ in dieser bestattet<br />

werden. Kleine, in regelmäßigen Abständen eingefügte Bären und raggedstaves<br />

16 Vgl. Hearne, Thomas: Historia, S. 246f. Auffällig ist der Hinweis auf den Anker <strong>als</strong> Attribut.<br />

Dieses Symbol wurde meines Wissens ansonsten nicht von Beauchamp oder Personen<br />

in seinem Umfeld verwendet und scheint auch ansonsten zu seinen Lebzeiten nicht gebräuchlich<br />

gewesen zu sein. Der Frage, warum Beauchamp hier einen Anker <strong>als</strong> Attribut<br />

wählte, muss jedoch an anderer Stelle nachgegangen werden.<br />

10 Dis | kurs


gliedern die Inschrift. 17 Im Testament selbst ist folgende Angabe zu finden:<br />

Julia Crispin<br />

„First, I will, that […] my Body be enterred within the Church Collegiate of<br />

our Lady in Warrwick, where I will, that in such Place as I have devised (which<br />

is known well) there be made a Chappell of our Lady, well, faire, and goodly<br />

built, within the middle of which Chappell I will, that my Tombe be made; and<br />

in the mean time my Body to be laide in a clean Chest afore the Altar, that<br />

is on the right Hand of my Lord Father’s Tombes, till the Time that the said<br />

Chappell and Tombe for me be made, and then my Body to be taken up, laid<br />

therein.” 18<br />

Sowohl aus der Grabinschrift <strong>als</strong> auch aus dem Testamenteintrag geht hervor,<br />

dass Beauchamp offenbar bereits vor dem Aufsetzen seines letzten Willens Pläne<br />

zur Errichtung seiner Grablege gemacht hatte („byhimdevised“ beziehungsweise<br />

„as I havedevised“). Wie sein Konzept im Einzelnen aussah, oder ob er<br />

möglicherweise lediglich den Ort der Grablege bestimmt hatte, ist auf Basis der<br />

vorliegenden Quellen nicht zu rekonstruieren. Die einzige Angabe zur Kapelle –<br />

„well, faire, andgoodlybuilt“ – lässt sich nicht hinsichtlich eines ikonografischen<br />

Programmes interpretieren, Hinweise zur Gestaltung des Grabm<strong>als</strong> fehlen völlig.<br />

Allerdings macht Beauchamp relativ genaue Angaben zur Position des Grabm<strong>als</strong><br />

wie auch des Sarges, in welchem er bis zur Fertigstellung der Kapelle zu ruhen<br />

gedachte, nämlich jeweils in deutlichem Bezug zum Grabmal seines Vaters im<br />

südlichen Querhausarm und seines Großvaters im Chor. Das Anknüpfen an die<br />

Familientradition scheint ihm ein besonderes Anliegen gewesen zu sein.<br />

Die Fertigstellung der Kapelle erstreckte sich über fast 20 Jahre, die Wappen und<br />

figurativen Bestandteile des Grabm<strong>als</strong> wurden zum Großteil in den 1450er Jahren<br />

und damit mehr <strong>als</strong> eine Dekade nach Beauchamps Tod hergestellt. Selbst<br />

wenn Beauchamp für das Grundkonzept der Grablege verantwortlich gewesen<br />

sein sollte, oblag die Leitung der Arbeiten im Detail demnach anderen Personen.<br />

In den von William Dugdale im 17. Jahrhundert zitierten Verträgen mit den<br />

beteiligten Künstlern – die Originale sind nicht erhalten – werden <strong>als</strong> Auftraggeber<br />

für die einzelnen Arbeitsschritte die Testamentsvollstrecker Beauchamps<br />

genannt. 19 Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von sieben, vorwiegend aus<br />

17 Zur vollständigen Inschrift vgl. Brindley, David: BeauchampChapel. S. 6f.<br />

18 Hearne, Thomas: Historia, S. 240f.<br />

19 Vgl. Dugdale, William: Antiquities of Warwickshire, S. 445–7.<br />

Dis | kurs 11


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

dem lokalen Umfeld stammenden Personen, die Beauchamps letzten Willen seinem<br />

Testament zufolge „[…]joyntlytogeathertotheoversightandassentofmysaid<br />

Wife[…]“ ausführen sollten. 20 Seine Ehefrau überlebte ihn nur wenige Monate,<br />

es ist <strong>als</strong>o anzunehmen, dass die Verantwortung über die Ausführung der Arbeiten<br />

an eines oder mehrere seiner Kinder übertragen wurde. Die Betonung der<br />

Bindung an die Familie Neville im Figurenprogramm des Grabm<strong>als</strong> spricht dafür,<br />

dass diese Rolle entweder Henry oder Anne zukam, waren sie doch beide<br />

mit Neville-Sprösslingen verheiratet. Henry verstarb bereits 1446, <strong>als</strong>o vor dem<br />

Beginn der Arbeiten am Grabmal, was Anne <strong>als</strong> vermutliche Hauptverantwortliche<br />

zurücklässt. 21 Geht man von einer prominenten Rolle Anne Beauchamps<br />

in der ikonografischen Konzeptualisierung der Grablege ihres Vaters aus, stellt<br />

sich diese zumindest in Teilen <strong>als</strong> frühes Beispiel für ihre Nutzung von Kunst zu<br />

repräsentativen Zwecken dar.<br />

Es können nur Vermutungen darüber angestellt werden, welche an der Errichtung<br />

der Kapelle beteiligten Personen jeweils hinter den einzelnen Elementen des Bildprogramms<br />

standen. Die reiche Ausstattung mit heraldischen Symbolen und Devisen<br />

könnte sowohl von Beauchamp selbst <strong>als</strong> auch von seinen Testamentsvollstreckern<br />

und Familienmitgliedern verantwortet worden sein und stellt ohnehin<br />

keinen außergewöhnlichen Aspekt einer Grablege dar. Die Auswahl der Heiligen<br />

im Ostfenster wiederum mag im Hinblick auf die im Testament genannte Stiftung<br />

der Goldstatuen auf persönliche Präferenzen des Grafen zurückgehen. Er veranlasste<br />

auch die explizite Bezugnahme auf die Grablegen seiner Vorfahren in der<br />

Position von Kapelle und Grabmal. Die Betonung der Familie, insbesondere der<br />

familiären Bindung zu den Nevilles, könnte auf Anne zurückgeführt werden.<br />

Richard Beauchamps mäzenatische Betätigung im Bereich der Architektur kann<br />

neben seiner posthum entstandenen Grabkapelle anhand einer Reihe zeitgenössischer<br />

Dokumente nachgewiesen werden, etwa dem Reisebericht William<br />

Worcesters aus dem Jahr 1479: Dieser listet eine Reihe von vorwiegend in den<br />

20 Hearne, Thomas: Historia, S. 248. Vgl. hierzuauch Lowry, Martin: John Rous, S. 332f.<br />

21 Dies vermuten auch Sinclair und McGee Morganstern: McGee Morganstern, Anne: Gothic-<br />

Tombs, S. 136f; Sinclair, Alexandra: BeauchampPageants, S. 15. Untermauert wird diese<br />

Annahme durch einen Hinweis in den von Dugdale überlieferten Veträgen: Im Jahr 1454<br />

wurde ein Londoner Maler namens Kristian Coleburne mit der Fassung von vier Statuen<br />

für die Kapelle in höchster Qualität und unter Verwendung äußerst kostbarer Materialien,<br />

darunter ihre Patronin, die Hl. Anne, beauftragt, vgl. Dugdale, William: Antiquities of Warwickshire,<br />

S. 447.<br />

12 Dis | kurs


Julia Crispin<br />

Warwick-Ländereien zu verortenden Bauprojekten Beauchamps auf, seine Informationen<br />

bezog er eigenen Angaben zufolge von John Brewster, der mit den<br />

Finanzen des Grafen betraut war. Da allerdings Hinweise zur Gestalt der Bauten<br />

oder zu möglichen bildlichen oder dekorativen Elementen fehlen, lassen sich<br />

keine Rückschlüsse bezüglich einer eventuellen politischen Ikonografie ziehen.<br />

22 Das Gleiche trifft weitestgehend auf die schriftlich fassbaren, mit Neu-<br />

oder Umbauten verbundenen religiösen Stiftungen zu, beispielsweise die wahrscheinlich<br />

mit Beauchamps Eheschließung mit Isabel Despencer im Jahr 1423<br />

im Zusammenhang stehende Kapellengründung bei Guy’s Cliff, in der Nähe von<br />

Warwick. Zum Aussehen des Baus bieten die Quellen keine Hinweise, es kann<br />

jedoch vermutet werden, dass Guy, der legendäre Ahne der Grafen von Warwick<br />

aus König Artus’ Zeiten, eine gewisse Rolle für Beauchamp spielte. 23 Sowohl <strong>als</strong><br />

Bauherr <strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Stifter scheint Beauchamp einen deutlichen Schwerpunkt<br />

auf seine Ländereien und die Ländereien seiner Ehefrauen in England gelegt zu<br />

haben, im Gegensatz etwa zum Herzog von Bedford, für den zahlreiche Bauaufträge<br />

in Frankreich und der Normandie nachzuweisen sind. 24<br />

Beauchamp <strong>als</strong> auftraggeber von handschriften<br />

Besonders gut dokumentiert ist Beauchamps Tätigkeit <strong>als</strong> Förderer und Nutzer<br />

von Literatur, leider ist jedoch auch hier nur ein geringer Prozentsatz der von ihm<br />

in Auftrag gegebenen Werke erhalten. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang<br />

der bereits angesprochene John Brewster. Im Reisebericht William Worcesters<br />

wird er an zwei Stellen <strong>als</strong> Autor einer Chronik und gleichzeitig <strong>als</strong> Gefolgsmann<br />

Richard Beauchamps aufgeführt, jeweils gefolgt von einer Aufzählung historischer<br />

Ereignisse von der Antike bis ins Spätmittelalter. 25 Weiterhin wird ein „Buch<br />

22 Vgl. Harvey, John H. (Hrsg.): William Worcestre. Itineraries. Oxford 1969, S. 218. Es folgt<br />

eine Liste von nach Orten sortierten Bauprojekten. Vgl. auch Hicks, Michael: Kingmaker,<br />

S. 55f, 58 und Monckton, Linda: BeauchampChapel, S. 29.<br />

23 Vgl. Sinclair, Alexandra: Beauchamp Pageants, S. 39. Zu Guy of Warwick und seiner möglichen<br />

Bedeutung für Beauchamp vgl. Van der Velden, Hugo: Prayer Roll, S. 531–5.<br />

24 Weitere Stiftungen waren dem Testament zufolge unter anderem für Tewkesbury Abbey,<br />

Elmley Castle und Kingswoode Abbey vorgesehen, vgl. Hearne, Thomas: Historia, S. 242f. Zu<br />

Bedford vgl.Stratford, Jenny: The Bedford Inventories. The worldly goods of John, Duke of<br />

Bedford, regent of France (1389–1435) (Report of the research committee of the Society of<br />

Antiquaries of London 49). London 1993, bes. S. 1–54.<br />

25 Vgl. Harvey, John: William Worcestre, S. 208, 210.<br />

Dis | kurs 13


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

des Meister Brewster“ angeführt, dem eine Reihe relativ detailliert beschriebener<br />

Begebenheiten aus dem frühen 15. Jahrhundert folgt, an denen Beauchamp selbst<br />

maßgeblich beteiligt war, wie Kaiser Sigismunds Besuch in England 1416, die Belagerung<br />

von Rouen 1418/19 und die Vorverhandlungen zum Vertrag von Troyes,<br />

wobei letztere besonders ausführlich geschildert werden. 26 Es ist durchaus denkbar,<br />

dass Brewster <strong>als</strong> Chronist für Beauchamp tätig war und <strong>als</strong> solcher nicht nur<br />

Ereignisse aus der Vergangenheit, sondern vor allem Beauchamps eigene Erfolge<br />

im Kontext des internationalen Geschehens festhielt.<br />

Es ist darüber hinaus bekannt, dass die Dichter John Lydgate und John Shirley<br />

für Beauchamp arbeiteten. Letzterer ist von 1403 bis in die späten 1420er Jahre<br />

im Gefolge des Grafen und teilweise explizit <strong>als</strong> dessen Sekretär nachweisbar. 27<br />

Zwar konnten bisher keine im Auftrag Beauchampsangefertigten Werke Shirleys<br />

identifiziert werden, in der Handschrift Additional 16165, einer Kompilation von<br />

Gedichten und Prosatexten unterschiedlichster Art, findet sich jedoch ein interessanter<br />

Hinweis: Shirley führt ein Liebesgedicht mit dem Titel „I cannot half<br />

Þewoocompleyne“ auf und beschreibt dieses <strong>als</strong> „balademadeof Isabelle, countasseofWarr-<br />

and Lady Despenserby Richard BeauchampEorlleofWarrewyk“. 28<br />

Wenn auch keine weiteren Belege dafür vorliegen, dass Beauchamp tatsächlich<br />

der Autor des genannten Gedichtes auf seine zweite Ehefrau Isabel war, ist dies<br />

dennoch nicht unwahrscheinlich. Das Verfassen einer höfischen Liebesballade<br />

fügt sich in das Bild des idealen Ritters, <strong>als</strong> der Warwick den Beauchamp Pageants<br />

zufolge bereits 1416 von Kaiser Sigismund bezeichnet worden war. 29<br />

Wie einige seiner Familienmitglieder beschäftigte auch Richard Beauchamp den<br />

hochangesehenen John Lydgate <strong>als</strong> Dichter und Übersetzer. Von Interesse hinsichtlich<br />

Beauchamps Positionierung in den internationalen Entwicklungen ist<br />

die von ihm veranlasste Übersetzung eines französischen Gedichtes, das den An-<br />

26 Vgl. ebd., S. 214: „De libroMagistri Brewster cum Ricardo Beauchamp nobilicomiteWarwici”<br />

sowie S. 216, 218.<br />

27 Ausführlich mit John Shirley und dessen Verbindung zu Beauchamp beschäftigte sich<br />

Margaret Connolly: Connolly, Margaret: John Shirley. Book Production and the Noble<br />

Household in Fifteenth-Century England.Aldershot 1998, bes. S. 14–26, 114–6.<br />

28 London, British Library, MS Add.16165, ff. 245v–246v.Vgl. zur Handschrift und zur Frage<br />

der Autorschaft des Gedichtes ebd., S. 27–51.<br />

29 Sinclair, Alexandra: Beauchamp Pageants, S. 120 (f. 18r): „[…]if al curtesye were lost yet<br />

myght hit be foundeageyn in hym [Richard Beauchamp]. And so ever after, by the Emperors<br />

auctorite, was called the ’fadre of curteisy’.”.<br />

14 Dis | kurs


Julia Crispin<br />

spruch Heinrichs VI. auf den französischen Thron propagiert. Der originale Text<br />

war 1423 von John, dem Herzog von Bedford und Regenten von Frankreich, bei<br />

Laurence Calot in Auftrag gegeben worden und bildete das Pendant zu einer gemalten<br />

oder gezeichneten Ahnentafel Heinrichs VI. 30 Den historischen Kontext<br />

bildete die politisch unsichere Situation der Engländer in Frankreich: Zwar war<br />

theoretisch durch den drei Jahre zuvor geschlossenen Vertrag von Troyes der Anspruch<br />

Heinrichs V. und seiner Nachfahren auf den französischen Thron geregelt<br />

worden, in der Praxis schadete es aber sicherlich nicht, die Legitimität des beim<br />

Tod seines Vaters 1422 nur wenige Monate alten Heinrichs VI. anhand solcher<br />

propagandistischer Mittel für seine französischen Untertanen zu verdeutlichen.<br />

Im Gedicht wird zunächst der Mord am burgundischen Herzog Johann Ohnefurcht<br />

geschildert und dem Dauphin zur Last gelegt, weswegen dieser jegliche<br />

Rechte auf die Herrschaft in Frankreich verloren habe. Daraufhin wird ausführlich<br />

Heinrichs Anspruch auf den französischen Thron, legitimiert durch Gottes<br />

Wille sowie seine Abstammung von den französischen Königen, dargelegt. Der<br />

Vertrag von Troyes und das Wohlwollen des aktuellen burgundischen Herzogs<br />

Philipp finden ebenfalls Erwähnung. 1426 beauftragte Beauchamp Lydgate mit<br />

der Übersetzung des Textes ins Englische. In einem ausführlichen Prolog geht<br />

Lydgate auf Heinrichs Ansprüche, auf die Auftragserteilung durch „Mylordof-<br />

Warrewyk, so prudentandwise […]“ 31 und die Notwendigkeit der Übersetzung ins<br />

Englische ein. Eine zunehmende Unzufriedenheit in England selbst über die nicht<br />

zuletzt mit erheblichen Steuerbelastungen verbundenen Bemühungen, Heinrichs<br />

Ansprüche in Frankreich durchzusetzen, machte es offenbar in den Augen des<br />

Kronrates notwendig, die Doppelmonarchie auch bei der englischen Bevölkerung<br />

zu rechtfertigen. Die Motivation Beauchamps <strong>als</strong> tragendes Mitglied des<br />

Kronrates und Tutor des jungen Königs zur Veranlassung der Übersetzung muss<br />

mit einiger Sicherheit in diesem Zusammenhang gesehen werden.<br />

30 Eine Kopie von Lydgates Übersetzung ist in der Handschrift Harley 7333, f. 31r–35v in der<br />

British Library erhalten und wurde von Henry MacCracken ediert: MacCracken, Henry N.<br />

(Hrsg.): The Minor Poems of John Lydgate, Bd. 2 Secular Poems (Early English Text Society<br />

192), Oxford2 1961, S. 613–22. Vgl. hierzu und zu Bedfords Auftrag McKenna, John: Henry<br />

VI of England and the Dual Monarchy: Aspects of Royal Political Propaganda, 1422–1432.<br />

In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 28 (1965), S. 145–62, hier S. 151–4;<br />

Rowe, B. J. H.: King Henry VI’s Claim to France in Picture and Poem. In: The Library 4.13<br />

(1932/3), S. 77–88.<br />

31 MacCracken, Henry: John Lydgate, S. 614.<br />

Dis | kurs 15


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Während sich anhand zeitgenössischer Dokumente Geschichtsschreiber, Dichter,<br />

Gelehrte und Musiker mit dem Patronat Beauchamps in Verbindung bringen lassen,<br />

sind Namen von Malern oder Illuminatoren nicht überliefert. Dass er diese<br />

dennoch beschäftigte, steht außer Frage, waren sie doch schon zur Dekorierung<br />

seiner Schiffe, Banner, Schilde und anderer Ausstattungsstücke mit seinem Wappen<br />

und Devisen vonnöten. 32 Darüber hinaus sind einige wenige mit Miniaturen<br />

ausgestattete Handschriften, die sich anhand von Wappen oder Inschriften seinem<br />

Auftrag beziehungsweise seinem Besitz zuweisen lassen, erhalten. 33<br />

Untersucht werden soll zunächst eine Kompilation von drei durch John Trevisa<br />

ins Mittelenglische übersetzten Texten. Beim ersten Text handelt es sich um<br />

den Ende des 13. Jahrhunderts verfassten Dialogus oder Disputatiointermilitem<br />

et clericum, der in den 1370er Jahren Eingang in die im Auftrag des französischen<br />

Königs Karl V. entstandene Kompilation SomniumViridarii fand und kurz darauf<br />

– ebenfalls am Hof Karls – ins Französische übersetzt wurde. Die anderen<br />

beiden Texte, die Predigt DefensioCuratorum und der Polychronicon, eine durch<br />

den Benediktinermönch Ranulf Hidgen verfasste siebenbändige Weltchronik,<br />

stammen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. 34 Die Handschrift ist mit einer Reihe<br />

von Illustrationen und Randdekorationen ausgestattet, außerdem findet sich<br />

an zwei Stellen das Wappen Richard Beauchamps. Dies macht einhergehend mit<br />

Kathleen Scotts stilistischer Verortung der Randdekoration in die erste Dekade<br />

des 15. Jahrhunderts eine Auftragserteilung durch Beauchamp wahrscheinlich. 35<br />

John Trevisa war <strong>als</strong> Schreiber und Übersetzer für Beauchamps Schwiegervater<br />

Thomas Berkeley tätig, über diesen Weg hatte er <strong>als</strong>o direkten Zugriff auf die<br />

32 Vgl. Sinclair, Alexandra: Beauchamp Earls of Warwick, S. 288f.<br />

33 Neben den hier exemplarisch erörterten Handschriften kann eine bereits im Jahr 1394<br />

fertiggestellte Sammlung von Gedichten Jean Froissarts anhand einer Inschrift dem<br />

Besitz Beauchamps zugewiesen werden: Bibliothèque nationale de France, MS fr. 831. Da<br />

er in der besagten Inschrift bereits <strong>als</strong> „conte de Waryewyck“ bezeichnet wird, ist anzunehmen,<br />

dass das Werk erst nach 1401, <strong>als</strong>o mindestens sieben Jahre nach seiner Fertigstellung,<br />

in Beauchamps Besitz überging, vgl. hierzu Connolly, Margaret: John Shirley, S. 115.<br />

34 London, British Library, MS Add. 24194. Vgl. hierzuebd., S. 114f; Hanna, Ralph: Thomas<br />

Berkeley, passim; Scott, Kathleen: Gothic Manuscripts, Nr. 19, S. 82f. Vgl. zumSomnium-<br />

Viridarii die kommentierte Edition der ältestenerhaltenen Version des lateinischenTextes<br />

(Paris, BibliothèqueMazarine, MS 3522) von Marion Schnerb-Lièvre: Schnerb-Lièvre,<br />

Marion (Hrsg.): SomniumViridarii, Bd. 1 (Sources d’HistoireMédiévale). Paris 1993<br />

35 Vgl. ebd., S. 83. Ebenso Hanna, Ralph: Thomas Berkeley, S. 911. Connolly hingegen hält<br />

eine Auftragserteilung durch Berkeley selbst für wahrscheinlich, vgl. Connolly, Margaret:<br />

John Shirley, S. 114.<br />

16 Dis | kurs


Julia Crispin<br />

Übersetzungen der genannten Texte.<br />

Bezüglich der Frage nach einer möglichen Nutzung von Kunst und Literatur <strong>als</strong><br />

Mittel zur Selbstdarstellung scheint sich auf den ersten Blick der Dialogus, der<br />

auf Folio 4 mit einer historisierten Initiale eingeleitet wird, anzubieten. In der<br />

Initiale sind ein Ritter und ein Mönch dargestellt, die miteinander diskutieren.<br />

Dies steht im Zusammenhang mit dem Text, bei dem es sich um einen fiktiven<br />

Dialog zwischen einem Ritter und einem Kleriker handelt, in welchem die Dominanz<br />

des weltlichen Herrschers über die Kirche und das Recht des Königs, die<br />

Kirche zu besteuern, thematisiert wird. 36 Es wäre reizvoll, auf eine gezielte Wahl<br />

des Textes durch Beauchamp und eine hierdurch zum Ausdruck gebrachte Positionierung<br />

gegenüber den Konflikten zwischen geistlicher und weltlicher Macht<br />

zu schließen. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass der Dialogussich seit Ende des<br />

14. Jahrhunderts einer generell großen Beliebtheit an den Höfen Frankreichs und<br />

Englands erfreute und somit nur bedingt zum Ausdruck individueller politischer<br />

Stellungnahmen geeignet war. Auch weist nichts darauf, dass es sich bei dem dargestellten<br />

Ritter um ein Portrait Beauchamps handeln könnte. Weder Wappen<br />

oder persönliche Symbole noch schriftliche Hinweise lassen vermuten, dass die<br />

Darstellung über die reine Textillustration hinausgehen könnte.<br />

Ein weiteres Werk, bei dem Beauchamp <strong>als</strong> Auftraggeber vermutet werden kann,<br />

ist eine heute in New York befindliche Psalter-Stundenbuch-Kombination, die<br />

sogenannten Psalter andHoursof Henry Beauchamp. 37 Die Handschrift ist mit 22<br />

qualitativ hochwertigen halbseitigen Miniaturen sowie Randdekorationen mit<br />

Figuren, Portraitköpfen und Tieren augestattet. Während eine stilistische Verortung<br />

des Werkes nach London weitestgehend einhellig angenommen wird, ist<br />

die Frage der Datierung umstritten. Im Falle letzterer liegt dies vor allem daran,<br />

dass die Handschrift ursprünglich mit dem Motto von Beauchamps Sohn Henry,<br />

„Deservingcausyth“, kombiniert mit der Inschrift „Warrewyk“, versehen war und<br />

dieser daher lange <strong>als</strong> Auftraggeber angenommen wurde. Dies könnte auf eine<br />

Datierung zwischen 1439 und 1446, dem Jahr seines Todes, hinweisen. In der jüngeren<br />

Forschung wird das Werk jedoch stilistisch in die erste Hälfte der 1430er<br />

36 Vgl. hierzu Schnerb-Lièvre, Marion: SomniumViridarii.<br />

37 New York, Pierpont Morgan Library, MS M. 893. Vgl. hierzu Bovey, Alixe: Psalter and Hours<br />

of Henry Beauchamp. Duke of Warwick. In: Marks, Richard / Williamson, Paul: Gothic,<br />

Kat.-Nr. 91, S. 232; Scott, Kathleen: Gothic Manuscripts, Nr. 88, S. 248–51.<br />

Dis | kurs 17


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Jahre eingeordnet. Da Henry selbst erst im Jahr 1425 geboren wurde, kommt er<br />

<strong>als</strong> Auftraggeber demnach nicht in Frage. Wahrscheinlicher – wenn auch nicht<br />

gesichert – ist, dass die Inschrift „Warrewyk“ auf Richard Beauchamp verweist<br />

und dieser die Handschrift für seinen Sohn in Auftrag gegeben hatte. 38 In der<br />

Miniatur der Gregorsmesse auf Folio 106r sind zwei kniende Personen, bei denen<br />

es sich vermutlich um den Stifter und seinen Sohn handelt, abgebildet. Es ist<br />

denkbar, dass hier Richard und Henry Beauchamp dargestellt sind, wenn auch<br />

Wappen oder Devisen zur eindeutigen Identifizierung fehlen. Die Handschrift<br />

mit ihren teilweise sehr detaillierten Miniaturen und Randverzierungen bietet<br />

einen reichen Fundus an Bildmaterial, der bisher nur in Ansätzen ikonografisch<br />

untersucht wurde. Inwieweit hier weitere ikonografische Hinweise auf Beauchamp,<br />

wie Devisen, zusätzliche Portraits oder versteckte Symbole festzustellen<br />

sind, müsste jedoch am Original geprüft werden. 39<br />

schluss<br />

Die historiografischen Quellen des 15. Jahrhunderts stellen Richard Beauchamp<br />

<strong>als</strong> ungewöhnlich gebildeten und kulturell interessierten Mann dar, zahlreiche<br />

zeitgenössische Dokumente belegen seine Tätigkeit <strong>als</strong> Bauherr und Literaturmäzen.<br />

Dem entgegen steht jedoch ein nur sehr geringer Bestand an erhaltenen<br />

Werken, die Rückschlüsse auf eine mögliche Nutzung von Kunst, Literatur oder<br />

Architektur zur Visualisierung politischer Vorstellungen zulassen.<br />

Für die in Beauchamps Auftrag entstandene Buchmalerei konnte eine eventuelle<br />

Nutzung dieser <strong>als</strong> Medium der politischen Repräsentation, im Gegensatz etwa<br />

zu seinem Schwiegersohn John Talbot, dem Graf von Shrewsbury, bisher nicht<br />

nachgewiesen werden. Gerade hier ist jedoch denkbar, dass eine umfassende Untersuchung<br />

der zum Teil wenig erforschten Handschriften am Original diesbezüglich<br />

neue Ergebnisse hervorbringen könnte. Nach derzeitigem Stand ertragreicher<br />

sind Beauchamps literarische Aufträge. Zum einen dokumentierte John<br />

38 Die Inschrift „Warrewyk“ und das Motto befanden sich auf Folio 12r, sind aber kaum noch<br />

zu entziffern. Vgl. hierzuebd., S. 251; Wieck, Roger S.: Painted Prayers. The Book of Hours<br />

in Medieval and Renaissance Art.New York 1997, S. 124. Zur Datierung in die 1430er Jahre<br />

siehe ebd. und Bovey, Alixe: Psalter andHoursof Henry Beauchamp, S. 227.<br />

39 Dies ist im Rahmen meiner eingangs angesprochenen Dissertation zu den im 15. Jahrhundert<br />

in Frankreich und Burgund tätigen Repräsentanten der englischen Krone und ihrer<br />

Förderung und Nutzung von Buch- und Tafelmalerei geplant.<br />

18 Dis | kurs


Julia Crispin<br />

Brewster seine militärischen und diplomatischen Erfolge in Frankreich und es ist<br />

nicht unwahrscheinlich, dass dies in Beauchamps Auftrag geschah, er <strong>als</strong>o seine<br />

Rolle in den internationalen politischen Entwicklungen zum Ausdruck gebracht<br />

haben wollte. Zum anderen veranlasste er die Übersetzung des Gedichts Calots<br />

über den Anspruch Heinrichs VI. auf die französische Krone ins Englische. Der<br />

intendierte Zweck dieser Übersetzung war höchstwahrscheinlich die Legitimierung<br />

des Krieges in Frankreich bei der englischen Bevölkerung, die unter den<br />

hohen Steuerbelastungen des Krieges zu leiden hatte.<br />

Die Überlieferung zu Beauchamps Bau- und Stiftungstätigkeit lässt weniger auf<br />

konkrete politische Positionen <strong>als</strong> vielmehr auf ein relativ hohes Maß an Familien-<br />

und Traditionsverbundenheit schließen. Neben der gezielten Bezugnahme auf<br />

die Grablegen seiner Väter in seinen testamentarischen Angaben zur Grablege in<br />

St Mary und der Stiftung in Guy’s Cliff geht dies vor allem aus den weiteren dokumentarisch<br />

nachweisbaren Bauunternehmungen und Stiftungen hervor, die fast<br />

ausschließlich in den eigenen englischen Ländereien und den Ländereien seiner<br />

beiden Ehefrauen zu verorten sind. In Beauchamps Grabkapelle ist nicht nur die<br />

Frage nach seiner eigenen Beteiligung am Konzept, sondern auch die Rolle, die<br />

seine Tochter Anne im Entwurf des ikonografischen Programmes höchstwahrscheinlich<br />

spielte, von Interesse. Wie ihr Vater fokussierte auch sie auf familiäre<br />

Bindungen, allerdings nun mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Vernetzung<br />

mit der Familie Neville.<br />

Dis | kurs 19


ituale der Eroberung<br />

Symbolisches Handeln beim Herrschaftsantritt Wilhelm<br />

des Eroberers 1066<br />

Katrin Beyer<br />

Universität Münster, Historisches Seminar<br />

E-Mail: katrin.beyer@uni-muenster.de<br />

abstract<br />

The essay de<strong>als</strong> with the symbolic strategies used by William the Conqueror<br />

to legitimate and establish his rulership in England. The main focus lies on<br />

the context of the battle of Hastings in mid-october 1066, namely on the ritu<strong>als</strong><br />

of Christian knighthood, on the pagan ritu<strong>als</strong> at the tomb of Williams rival<br />

Harold, on the ritu<strong>als</strong> of submission and on the coronation ceremony on<br />

Christmas day. It can be shown, that William was well aware of the different<br />

mentalities of Normans and Anglo-Saxons. Due to their specific ambiguity,<br />

the acts of symbolic communication were especially suitable to fulfill the<br />

expectations of both sides and to perpetuate Williams powerful position.<br />

schlüsselwörter<br />

Symbolische Kommunikation, Rituale, Eroberung, Bestattungsritus, Unterwerfung,<br />

Königserhebung, Christentum, Normannen, England, Wilhelm der<br />

Eroberer, Harald II. Godwinson<br />

20 Dis | kurs


Katrin Beyer<br />

Eine berühmte Geschichte aus der anonymen Vita Lanfranci berichtet über einen<br />

höfischen Spaßmacher Wilhelms des Eroberers, wie sich dieser bei einem großen<br />

christlichen Fest über seinen Herrn lustig machte. Wilhelm trug dem Anlass entsprechend<br />

das königliche Ornat samt Krone, was den Unterhaltungskünstler in<br />

Anbetracht des Goldes und der Juwelen vor der versammelten Elite des Reiches zu<br />

dem bewundernden Ausschrei verleitet haben soll: „Seht, ich schaue Gott! Seht,<br />

ich schaue Gott!“ Doch anstatt den Ausrufer zu belohnen, folgte Wilhelm dem<br />

Rat des aufgebrachten Erzbischofs Lanfranc von Canterbury, ihn zu bestrafen und<br />

auszupeitschen. 1 Der Spaßmacher, so ist aus der Reaktion des Prälaten abzulesen,<br />

brach nicht etwa spontan in emphatisches Herrscherlob aus, vielmehr persiflierte<br />

er das Bemühen seines Königs, die theokratische Begründung seiner Herrschaft<br />

rituell zu inszenieren. Ob er damit gerechnet hatte, qua Status Narrenfreiheit zu<br />

genießen und straffrei davon zu kommen oder gar eine Lachgemeinschaft mit<br />

dem König zu konstituieren, muss jedoch unentschieden bleiben.<br />

Auch wenn die Episode zweifellos anekdotische Züge trägt, so wirft sie grundsätzliche<br />

Fragen nach Anspruch und Wirklichkeit des ersten anglo-normannischen<br />

Königs, nach seiner zeitgenössischen Wahrnehmung und den legitimatorischen<br />

Grundlagen seines Königtums auf. Der Spaßmacher war vermutlich ein Normanne,<br />

den Wilhelm wie die meisten Gefolgsleute aus seinem Herzogtum Normandie<br />

mit an den englischen Hof gebracht hatte. In der Geschichte artikuliert sich eine<br />

tief sitzende Skepsis gegenüber einem christlich begründeten Königtum, das ein<br />

normannisches Publikum sofort an die ebenfalls berühmte Geschichte vom Wikingerführer<br />

Rollo erinnert haben dürfte, der dem Frankenherrscher Karl dem<br />

Einfältigen bereits im frühen 10. Jahrhundert den Fußkuss <strong>als</strong> Anerkennung seiner<br />

königlichen Lehnshoheit verweigert hatte. Die stellvertretende Ausführung<br />

des Fußkusses durch einen Gefolgsmann Rollos geriet ebenfalls zur Parodie: Dieser<br />

zog den Fuß des Herrschers an seinen Mund, um nicht den Nacken vor der<br />

Autorität des Königs beugen zu müssen, woraufhin Karl rücklings zu Boden fiel<br />

und zur Zielscheibe von Spott und Gelächter wurde. So will es zumindest der<br />

Geschichtsschreiber Dudo von St-Quentin wissen. 2<br />

1 Vgl. Vita beati Lanfranci, hrsg. von Jacques-Paul Migne (Migne PL 150), Paris 1854, Sp.<br />

19–58, hier Sp. 53f.<br />

2 Vgl. Dudo Sancti Quentini: De moribus et actisprimorum Normanniaeducumlibritres, hrsg.<br />

von Jules Lair, Caen 1885, II 28 und 29, S. 168–9. Eine Besprechung des Falls bei Althoff,<br />

Gerd: Huld. Überlegungen zu einem Zentralbegriff der mittelalterlichen Herrschafts-<br />

Dis | kurs 21


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Die Normannen hegten ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber sakraler Herrschaftslegitimation,<br />

wie sie für die westeuropäischen Reiche des Mittelalters typisch<br />

war. Angesichts der erstmaligen Erlangung der christlichen Königswürde<br />

durch einen Normannen in Gestalt der englischen Thronbesteigung Wilhelms<br />

des Eroberers 1066 drängt sich daher die Frage auf, wie sich die spezifische Mentalität<br />

und Vorstellungswelt der normannischen Führungsschicht auf den Antritt<br />

und die Durchsetzung seiner Herrschaft auswirkte. 3 Hierfür sollen im Folgenden<br />

die Akte symbolischer Kommunikation in den Vordergrund gerückt werden, da<br />

sie im Verständnis der Zeit in besonderer Weise legitimatorische Übergangshandlungen<br />

darstellten, in denen die Akteure nonverbal ein Versprechen für<br />

ihr zukünftiges Verhalten ablegten. 4 Die Rituale des Herrschaftsantritts, der im<br />

Falle des Eroberers eine Phase von mehreren Wochen zwischen der siegreichen<br />

Schlacht bei Hastings am 14. Oktober 1066 und der christlichen Königserhebung<br />

am Weihnachtstag in Westminster darstellte, erlauben somit nicht nur einen Einblick<br />

in Wilhelms Auffassung von seinem Königtum, sondern auch in die Erwartungshaltungen<br />

seiner Gefolgsleute und Untergebenen. Hier wird insbesondere<br />

zu fragen sein, wie die Forderungen und Wünsche der alten Gefolgsleute und<br />

der neuen Untertanen, der Normannen und der Angelsachsen <strong>als</strong>o, in Einklang<br />

gebracht wurden.<br />

Vor der schlacht von hastings – Wilhelm der Eroberer <strong>als</strong><br />

christlicher heerführer<br />

Zur besseren Einordnung der Ereignisse des Jahres 1066 sind einige wenige Vorbemerkungen<br />

nötig. Herzog Wilhelm II. von der Normandie, der später <strong>als</strong> König<br />

von England den Beinamen „der Eroberer“ erhalten sollte, beherrschte sein<br />

Herzogtum seit 1035 und konsolidierte seine Stellung in den darauffolgenden<br />

ordnung. In: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und<br />

Fehde, Darmstadt 1997, S. 199–230, hier S. 224f.<br />

3 Einzelne Handlungselemente nehmen bereits Nelson, Janet L.: The RitesoftheConqueror.<br />

In: Proceedingsofthe Battle Conference on Anglo-Norman Studies, IV (1981), S. 117–132,<br />

und Jäschke, Kurt-Ulrich: Wilhelm der Eroberer. Sein doppelter Herrschaftsantritt im<br />

Jahre 1066, Sigmaringen 1977, in den Blick.<br />

4 Vgl. aus der Fülle der Literatur Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft<br />

im Mittelalter, Darmstadt 2003; Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische Kommunikation<br />

in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven. In: Zeitschrift<br />

für historische Forschung, XXXI (2004), S. 489–527.<br />

22 Dis | kurs


Katrin Beyer<br />

Jahrzehnten trotz Krisen und adliger Rebellionen durch den Einsatz militärischer<br />

Mittel, die Förderung einer loyalen aristokratischen Führungsschicht und<br />

die konsequente Ausübung der Herzogsgewalt. 5 In den Jahren 1060 bis 1066 war<br />

Wilhelm so erstarkt, dass die Eroberung des bis dato angelsächsischen Königreiches<br />

England militärisch keine unüberwindliche Hürde darstellte. Wilhelm war<br />

über seinen Vater verwandtschaftlich mit dem kinderlosen angelsächsischen König<br />

Eduard dem Bekenner verbunden, der ihn 1051 zu seinem Nachfolger designiert<br />

haben soll.<br />

In die Zeit vor der Eroberung fällt ein weiteres wichtiges Ereignis, nämlich die<br />

unglückliche Strandung des Earls von Wessex, Haralds II. Godwinson, in der<br />

Normandie nach einem schweren Schiffbruch im Jahre 1064. Harald war der<br />

mächtigste angelsächsische Earl und damit ein weiterer Aspirant auf den englischen<br />

Thron. Herzog Wilhelm nutzte die Gunst der Stunde, befreite Harald aus<br />

der Gefangenschaft des abtrünnigen lokalen Grafen Guy de Ponthieu und nahm<br />

dem Earl bei dieser Gelegenheit einen Treueid ab, der unter anderem das Versprechen<br />

enthielt, Wilhelm bei dem Vorhaben der englischen Thronbesteigung<br />

im Falle von Eduards Ableben zu unterstützen. 6<br />

Des Eides uneingedenk folgte Harald Eduard allerdings nach dessen Tod am 5.<br />

Januar 1066 auf den Thron, nachdem ihn der Rat der Großen, der witan, bestätigt<br />

hatte. Man darf vermuten, dass Harald den Eid – sollte es ihn in dieser Form gegeben<br />

haben – <strong>als</strong> unter Zwang abgegeben und daher nicht verbindlich angesehen<br />

haben dürfte. 7 Dennoch stellte Haralds Machtergreifung eine Herausforderung<br />

für Herzog Wilhelm dar, der sich mit einem großen Heer zur Überfahrt nach<br />

England bereit machte. Darunter befanden sich schätzungsweise 3.000 gepanzerte<br />

Reiter, die mit Kettenhemden, Nasalhelmen und Langschilden ausgerüstet und<br />

somit der bäuerlichen Infanterie der Angelsachsen, dem fyrd, deutlich überlegen<br />

waren. Bekanntlich ging Wilhelm aus der berühmten Schlacht bei Hastings am<br />

5 Vgl. grundlegend zur Person Douglas, David C.: Wilhelm der Eroberer. Herzog der Normandie.<br />

König von England. 1028–1087, aus d. Engl. übers. von Edwin Ortmann, München<br />

1980; Bates, David: William theConqueror, Stroud 2004; Suhamy, Henri: Guillaume le<br />

Conquérant, Paris 2008.<br />

6 Vgl. William of Poitiers: GestaGuillelmi, hrsg. von Ralph H. C. Davies / Marjorie Chibnall,<br />

Oxford 1998, I 41 und 42, S. 68–70, bes. S. 70: illicHeralduseifidelitatemsanctorituchristianorumiurauit<br />

... utAnglicamonarchia post Edwardidecessum in eiusmanuconfirmaretur.<br />

7 So berichtet es auch Eadmer: HistoriaNovorum in Anglia, hrsg. von Martin Rule, London<br />

1884, S. 7.<br />

Dis | kurs 23


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

14. Oktober <strong>als</strong> Sieger hervor, sein Gegner Harald hingegen wurde getötet. 8 Es<br />

sind hier vornehmlich zwei symbolische Handlungen von Interesse, die Wilhelms<br />

Aktivitäten im Vorfeld der Schlacht von Hastings begleiteten. Zum einen führte<br />

Wilhelm ein Banner des Papstes Alexander II. mit sich, der den Herzog bereits<br />

in seinem Bemühen unterstützt hatte, die kirchlichen und klösterlichen Strukturen<br />

in der Normandie zu stärken. Nun förderte er auch die Ambitionen des<br />

Normannenherzogs auf die englische Krone. Das Mitführen des päpstlichen Zeichens<br />

stellte die Mission unmissverständlich unter einen göttlichen Auftrag und<br />

unterstrich den christlich begründeten Anspruch des Herzogs auf die englische<br />

Königswürde. 9<br />

Zum zweiten feierte Wilhelm am Vorabend der Schlacht mit seinem Gefolge die<br />

heilige Messe, um den göttlichen Beistand für den bevorstehenden Kampf zu erbitten.<br />

Die Bischöfe Odo von Bayeux und Gottfried von Coutances hatten den<br />

Herzog zusammen mit weiteren normannischen Klerikern nach Hastings begleitet,<br />

um die Kämpfer mit ihren Gebeten zu unterstützen. Während der Messfeier<br />

trug Wilhelm jene Reliquien um den H<strong>als</strong>, auf die Harald seinen angeblichen<br />

Treueid von 1064 geschworen hatte, um Haralds Thronbesteigung <strong>als</strong> Bruch dieses<br />

Eides und damit <strong>als</strong> illegitim zu kennzeichnen. 10 Im Mittelalter wurden viele<br />

Eide auf Reliquien und andere heilige Gegenstände wie Kreuze und Evangeliare<br />

geschworen, um die göttliche Begründung des Rechts zu unterstreichen und um<br />

die theologische Dimension von Eidbruch und Meineid zu dokumentieren, die in<br />

der kirchlichen Eideslehre unter den Aspekten von Sünde und Schuld betrachtet<br />

wurden. 11<br />

8 Harald II. Godwinson hatte kurz zuvor den norwegischen König Harald III., den dritten<br />

Thronaspiranten des Jahres 1066, in der Schlacht bei Stamford-Bridge am 25. September<br />

vernichtend geschlagen. Vgl. aus der Fülle der Literatur zur Schlacht von Hastings und<br />

den Folgen Morillo, Stephen (Hrsg.): The Battle of Hastings. Sources and Interpretations,<br />

Woodbridge 1996; Chibnall, Marjorie: The Debate on the Norman Conquest, Manchester<br />

/ New York 1999; Bates, David: 1066. Does the date still matter? In: Historical Research<br />

LXXVIII (2005), S. 443–464.<br />

9 Vgl. William of Poitiers: GestaGuillelmi, II 3, S. 104.<br />

10 Ebd., II 15, S. 124: Appenditetiamhumilicollosuoreliquias, quarumfauoremHeraldusabalienaueratsibi,<br />

uiolata fide quam super easiurandosanxerat.<br />

11 Vgl. etwa Munzel-Everling, Dietlinde: Art. ‚Eid‘. In: Cordes, Albrecht (Hrsg.): Handwörterbuch<br />

zur deutschen Rechtsgeschichte, 2., völlig überarb. und erw. Aufl., Berlin 2008, Sp.<br />

1249–1261; Hofmeister, Philipp: Die christlichen Eidesformen. Eine liturgie- und rechtsgeschichtliche<br />

Untersuchung, München 1957.<br />

24 Dis | kurs


Katrin Beyer<br />

Mit der Geste des Reliquientragens brachte Wilhelm symbolisch zum Ausdruck,<br />

dass er die bevorstehende Schlacht nicht <strong>als</strong> persönlichen Rachefeldzug gegen<br />

Harald verstand, sondern <strong>als</strong> Ausführung des göttlichen Heilsplans. Der Geschichtsschreiber<br />

Wilhelm von Poitiers unterstreicht dies durch den Hinweis,<br />

der Herzog habe die Reliquien „demütig“ (humili) getragen. Dies ordnete den<br />

Kampf in einen höheren Kontext ein und motivierte zudem Wilhelms Krieger,<br />

die allesamt Christen waren. Wir können heute nicht entscheiden, ob Harald den<br />

Eid tatsächlich geleistet hat oder ob es sich um ein Konstrukt der anglo-normannischen<br />

Geschichtsschreibung handelt, aber entscheidend ist, dass Wilhelm mit<br />

den Reliquien ein religiöses Symbol seiner Zeit nutzte, um sich <strong>als</strong> christlichen<br />

Krieger darzustellen und seinem Herrschaftsanspruch auf England Ausdruck zu<br />

verleihen.<br />

Während sich Wilhelm somit vor der Schlacht <strong>als</strong> ein Heerführer erwiesen hat,<br />

der sich in der Tradition christlicher Verhaltensnormen bewegte, vollführte er im<br />

Anschluss an das Kampfgeschehen rituelle Handlungen, die nicht in das Wertesystem<br />

christlicher Krieger zu passen scheinen. Sie legen vielmehr eine weitere<br />

Ebene innerhalb der Vorstellungswelt des Eroberers und seines Gefolges offen,<br />

deren Kenntnis unabdingbar notwendig ist, um sein Verhalten adäquat beurteilen<br />

zu können: nordisch-pagane Traditionen.<br />

nach der schlacht von hastings – Wikingerbräuche und pagane<br />

rituale<br />

Wilhelm verweigerte den gefallenen Gegnern offenbar ein christliches Begräbnis.<br />

So berichtet es ein Bischof Guy von Amiens zugeschriebenes Gedicht über<br />

die Schlacht von Hastings, das heute sogenannte Carmen de Hastingaeproelio,<br />

das zwar in der Forschung <strong>als</strong> literarisch am stärksten ausgestaltete Quelle zur<br />

Schlacht von Hastings gilt, aber dennoch von Historikern <strong>als</strong> in Teilen glaubhafte<br />

Schilderung der Ereignisse angesehen wird. 12 Das Carmen berichtet, Wilhelm<br />

habe die Leichen seiner Gefallenen „im Schoß der Erde“ begraben, während er<br />

die Körper der Angelsachsen „den Würmern und Wölfen, Vögeln und Hunden<br />

12 Vgl. zum Quellenwert des Gedichts die Einleitung der Herausgeber Morton, Catherine<br />

/ Muntz, Hope (Hrsg.): The Carmen de Hastingaeproelioof Guy bishopof Amiens, Oxford<br />

1972, S. xv–lxxi.<br />

Dis | kurs 25


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

zum Fraß“ überantwortete. 13 Es handelt sich hierbei um die unehrenhafte Behandlung<br />

des Feindes, die in der nordischen Skaldendichtung <strong>als</strong> Topos allenthalben<br />

begegnet. 14<br />

Stiegen in den christianisierten und politisch im Frankenreich integrierten Normannen<br />

etwa Erinnerungen an alte Wikingerbräuche auf? Dies ist nicht völlig<br />

unwahrscheinlich, da die ehemaligen Wikinger erst in vierter Generation in der<br />

Normandie sesshaft waren und in einer auf orale Tradierung eingeübten Kultur<br />

wie der des früheren Mittelalters kulturelle Bräuche mitunter sehr lange lebendig<br />

gehalten wurden. Nun könnte man einwenden, dass es sich um einen verbreiteten<br />

literarischen Topos handelt, der nicht unbedingt die Wirklichkeit spiegeln muss.<br />

Allerdings haben wir mit Wilhelms Biographen Wilhelm von Poitiers einen weiteren<br />

Zeugen dafür, dass Wilhelm die Engländer nach der Schlacht unbestattet<br />

liegen ließ. 15 Der Eroberer brachte somit noch einmal die Rechtmäßigkeit seines<br />

Unterfangens und die Unehrenhaftigkeit und mangelnde Legitimität der gegnerischen<br />

Seite zum Ausdruck.<br />

Das Carmen wartet allerdings noch mit einem weiteren spektakulären Ritual auf,<br />

das keine christlichen Wurzeln aufweist und auch nicht durch die im westeuropäischen<br />

Mittelalter verbreiteten Werte der adligen Kriegergesellschaft erklärt<br />

werden kann. Wilhelm der Eroberer soll den zerfleischten Leichnam seines Gegners<br />

Harald II. Godwinson eingesammelt und in ein purpurnes Tuch eingehüllt<br />

haben, um ihm anschließend an seinem befestigten Lager am Meer das „übliche<br />

Leichenbegräbnis“ zukommen zu lassen.<br />

Als Haralds Mutter daraufhin um die Auslieferung des Leichnams gebeten und<br />

sogar das Aufwiegen der sterblichen Überreste in Gold angeboten habe, habe der<br />

Herzog die Bitte erzürnt ausgeschlagen und stattdessen geschworen, er werde<br />

dem Toten eher den Hafen anvertrauen – unter einem Stein. Wie er es geschworen<br />

habe, so sei es geschehen: Harald sei auf einer hohen Klippe von Wilhelms<br />

13 The Carmen de Hastingaeproelio, vv. 569–572, S. 36: Lustrauitcampum, tollensetcaesasuorum<br />

/ Corpora, dux terrae condidit in gremio. / Vermibusatquelupis, auibuscanibusqueuoranda<br />

/ DeseritAnglorum corpora strata solo.<br />

14 Vgl. zum Liegenlassen des Feindes auf offenem Feld <strong>als</strong> Bestandteil literarischer Topik<br />

Uecker, Heiko: Die altnordischen Bestattungssitten in der literarischen Überlieferung,<br />

München 1966, S. 123–4; zum Umgang mit eigenen und fremden Toten nach der Schlacht<br />

vgl. Prietzel, Malte: Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen, Bedeutungen,<br />

Paderborn u. a. 2006, S. 137–145.<br />

15 William of Poitiers: GestaGuillelmi, II 25, S. 140: insepultiremanerentinnumerabiles.<br />

26 Dis | kurs


Katrin Beyer<br />

compater, halb Normanne, halb Angelsachse – vermutlich Wilhelm Malet – rasch<br />

beigesetzt worden. 16 Auf dem Stein sei folgende Inschrift zu lesen gewesen: „Auf<br />

Befehl des Herzogs ruhst du, Harald, hier <strong>als</strong> König, damit du ein Hüter der Küste<br />

und des Meeres bleiben mögest.“ 17<br />

Wilhelm von Poitiers deutet die Inschrift ironisch. Sie sei zur Verspottung Haralds<br />

eingesetzt worden. 18 In der Tat lässt der offenkundige Wunsch der Mutter<br />

nach einer anderen Art der Bestattung, der Zorn des Eroberers und die Tatsache,<br />

dass die Inschrift eine Erwartung an Harald formuliert, die dieser in seiner letzten<br />

Schlacht gerade nicht erfüllen konnte, den Begräbnisritus schnell wie Hohn wirken.<br />

Doch schildert dasCarmen ausgerechnetdessen ernsthafte Durchführung.<br />

In Anbetracht der wikingischen Wurzeln des Harald Godwinson und Wilhelms<br />

des Eroberers kann diese Deutung auch ohne übertriebenen interpretatorischen<br />

Aufwand nachvollzogen werden. 19 Im nordgermanischen Kulturraum der Heidenzeit<br />

gab es nämlich die Vorstellung vom Schutz durch tote Könige, die eng<br />

mit der Idee des Königsheils verknüpft war. So fanden viele Wikingerführer ihre<br />

letzte Ruhestätte in Hügelgräbern an der Küste, um diese über ihren Tod hinaus<br />

gegen feindliche Invasionen zu schützen. 20 Der Grabhügel Ivars des Knochenlosen<br />

(gest. um 873) kann beispielsweise <strong>als</strong> Parallele angeführt werden. 21<br />

Herzog Wilhelm habe mit seinem Volk im Anschluss an das Begräbnis über den<br />

bestatteten Knochen getrauert, so das Carmen weiter. Die einzige christliche Reminiszenz<br />

bei Haralds Bestattung stellen die Almosen Wilhelms des Eroberers<br />

an die Armen Christi dar. 22 Nun kommt es in den Augen des Verfassers zu dem<br />

entscheidenden politischen Wendepunkt des Jahres 1066:<br />

„Nachdem er den Namen des Herzogs zurückgestellt hatte und somit der Kö-<br />

16 Vgl. The Carmen de Hastingaeproelio, vv. 573–590, S. 36/38.<br />

17 Ebd., vv. 591–2, S. 38: ‘Per mandataducisrex hic Heraldequiescis, / Vtcustosmaneaslittoris et<br />

pelagi.’<br />

18 William of Poitiers: GestaGuillelmi, II 25, S. 140: illudendo.<br />

19 Haralds Mutter Gytha war eine Schwägerin Knuts des Großen und entstammte der wikingischen<br />

Führungsschicht. Vgl. Stenton, Frank M.: Anglo-Saxon England, 3. Aufl., Oxford<br />

1971, S. 382, 396, 416–7.<br />

20 Vgl. The Carmen de Hastingaeproelio, S. xliii–xlv; Jäschke, Kurt-Ulrich: Wilhelm der Eroberer,<br />

S. 40–46, mit allen weiteren Belegen.<br />

21 Vgl. Ragnars saga, hrsg. von Magnus Olsen, Kopenhagen 1906–08, S. 169.<br />

22 Vgl. The Carmen de Hastingaeproelio, vv. 593–4, S. 38.<br />

Dis | kurs 27


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

nig an seinen Ort gesetzt worden war, ging er, nachdem er den königlichen<br />

Namen erlangt hatte, von dannen“. 23<br />

Der Autor schildert <strong>als</strong>o eine Königserhebung am Grab des Vorgängers nach<br />

Wikingerbrauch. Die christlichen Historiographen wissen verständlicherweise<br />

nichts von einem solchen Akt respektive deuten die steinerne Inschrift wie Wilhelm<br />

von Poitiers <strong>als</strong> Spott, da sie die christliche Königskrönung in Westminster<br />

<strong>als</strong> legitimen Initiationsritus ansahen. Umso mehr muss die Nachricht imCarmen<br />

ernst genommen und zumindest für möglich erachtet werden, obwohl sie in der<br />

Überlieferung alleine steht.<br />

Wilhelms Königtum gründete auf Eroberung. Die paganen Rituale der Steinhügelbestattung<br />

des toten Königs zum Zweck des Küstenschutzes und die Erhebung<br />

des Nachfolgers am Grab des Vorgängers dürften für den normannischen Heerführer<br />

und sein normannisches Heer legitime da traditionsreiche Übergangsrituale<br />

dargestellt haben, auch wenn die Normannen schon seit über hundert Jahren<br />

Christen waren. In ihrer Vorstellung waren diese Elemente vermutlich noch wirkmächtig.<br />

Die ironische Ausdeutung des Wikingerritu<strong>als</strong> bei Wilhelm von Poitiers<br />

kann daher wohl <strong>als</strong> ein nachträglicher Versuch gedeutet werden, den aus seiner<br />

Sicht eher peinlichen Rückfall Wilhelms des Eroberers in pagane Verhaltensweisen<br />

zu kaschieren.<br />

Die Reflexion des Carmen-Dichters über die Titulatur Wilhelms des Eroberers<br />

ist von Kurt-Ulrich Jäschke ausführlich diskutiert worden. 24 Auffällig ist nämlich,<br />

dass der Dichter für die christliche Königserhebung am Weihnachtstag 1066 eine<br />

zweite Titeländerung vermerkt: Wilhelm habe nun seinen Herzogstitel „abgelegt“<br />

(abiecto), 25 während er ihn, wie bereits erwähnt, am Grab des Vorgängers „zurückgestellt“<br />

(postposito) hätte. 26 Da der aus der Rückschau schreibende Dichter<br />

von dem noch anstehenden christlichen Weihezeremoniell wusste, ist nur verständlich,<br />

dass er der Erhebung am Wikingergrab nicht dieselbe rechtsverbindliche<br />

Dimension zuschrieb. Es kann hingegen kein Zweifel daran bestehen, dass<br />

er von zwei Königserhebungen ausging und beide aus seiner Sicht konstitutiven<br />

23 Ebd., vv. 595–6, S. 38: Nomine postpositoducis, et sic regelocato, / Hinc regale sibinomenadeptusabit.<br />

24 Vgl. Jäschke, Kurt-Ulrich: Wilhelm der Eroberer, S. 20–24, 35–39.<br />

25 The Carmen de Hastingaeproelio, vv. 755f., S. 48.<br />

26 Vgl. oben bei Anm. 23.<br />

28 Dis | kurs


Katrin Beyer<br />

Charakter hatten: einmal nach nordisch-paganem, einmal nach westeuropäischchristlichem<br />

Brauch. Doch wie ist es eigentlich zu erklären, dass Wilhelm seinem<br />

aus seiner Sicht unrechtmäßigen Vorgänger eine solche Ehre zukommen ließ?<br />

Dies lässt sich nur verstehen, wenn man bedenkt, dass „die Herrscherwürde Haralds<br />

[von Wilhelm dem Eroberer, K. B.] zwar bezüglich ihrer Rechtmäßigkeit,<br />

nie jedoch in ihrer Tatsächlichkeit bestritten“ wurde. 27<br />

Der Schlachtensieger Wilhelm der Eroberer war, anders <strong>als</strong> im Vorfeld der<br />

Schlacht, der paganen Riten seiner und seines Gegners Vorfahren sehr wohl eingedenk.<br />

Ein Blick auf die Rituale seines Herrschaftsantritts zeigen somit besonders<br />

eindrücklich, wie sehr eine Beschäftigung mit Akten symbolischer Kommunikation<br />

in den Zeiten der Vormoderne das Wertesystem, oder wie in diesem<br />

Falle der Wertesysteme, der Handelnden freizulegen vermag.<br />

unterwerfung und gefolgschaft in der liminalen phase des<br />

interregnums<br />

Trotz des Schlachtensieges in Hastings und der Königserhebung nach Wikingerart<br />

am Grab des Vorgängers herrschten Ende des Jahres weiterhin bürgerkriegsähnliche<br />

Zustände in England. Viele Angelsachsen waren nicht ohne Weiteres bereit,<br />

den siegreichen Normannenherzog, der gemäß dem Carmen am Grab des<br />

Vorgängers den Königstitel angenommen hatte, <strong>als</strong> König anzunehmen. Auf dem<br />

Zug nach London verwüstete der Eroberer etliche Landstriche und setzte Dörfer<br />

und Städte in Brand. Angesichts dieses Terrorfeldzugs waren die letzten aufständischen<br />

Barone schließlich bereit, sich zu unterwerfen. Die Unterwerfung des<br />

Metropolitanbischofs Stigand fand in Wallingford statt, wo er auch dem Aetheling<br />

Edgar abschwor, den er zuvor zum König erhoben hatte. 28 Nach Auskunft der<br />

Angelsächsischen Chronik schworen anschließend die Stadt London, Erzbischof<br />

Ealdred von York, der Aetheling Edgar und die Earls Edwin und Morcar in Little<br />

Berkhamstead ihre Gefolgschaftseide. 29<br />

Auch wenn Wilhelm von Poitiers und die Angelsächsische Chronik in zwei ver-<br />

27 Jäschke, Kurt-Ulrich: Wilhelm der Eroberer, S. 49.<br />

28 William of Poitiers: GestaGuillelmi, II 28, S. 146: AduenienseodemStiganduspontifexmetropolitanus,<br />

manibuseisesededit, fidemsacramentoconfirmauit, abrogansAthelinumquemleuiterelegerat.<br />

29 Vgl. The Anglo-Saxon Chronicle (D), hrsg. von Benjamin Thorpe, London 1861, a. 1066, Bd.<br />

1, S. 339.<br />

Dis | kurs 29


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

schiedenen Sprachen von den Gefolgschaftseiden berichten, einmal in anglonormannischer,<br />

einmal in angelsächsischer Terminologie, so ist doch unstrittig<br />

ein und derselbe Vorgang gemeint: die Begründung eines persönlichen Treueverhältnisses.<br />

Die Forschung beschreibt den Akt zumeist <strong>als</strong> Kommendation, <strong>als</strong> formelle<br />

Begründung eines hierarchisch strukturierten, wechselseitigen Treue- und<br />

Verpflichtungsverhältnisses zwischen Herr und Mann, wie es aus dem Lehnswesen<br />

bekannt ist. 30 Dies ist auch sicherlich die Folge dieses Ritu<strong>als</strong> gewesen, das<br />

zum Vorteil des Eroberers beiden Kulturkreisen bekannt war. Für Wilhelm den<br />

Eroberer dürfte es sich jedoch in erster Linie um eine deditio, eine Unterwerfung<br />

der zuvor rebellischen Barone gehandelt haben. 31 Die Barone sicherten sich somit<br />

eine straffreie Behandlung durch den Eroberer, 32 indem sie das rituelle Versprechen<br />

ablegten, sich in seine Hände zu begeben. Im Gegenzug konnte Wilhelm mit<br />

ihrer bedingungslosen Treue rechnen.<br />

Für eine Lesart der Vorgänge <strong>als</strong> Unterwerfung spricht besonders der ausführliche<br />

und in diesem Zusammenhang oft vernachlässigte Bericht desanonymen<br />

Carmen. 33 Dort ist sogar von einem Vermittler die Rede, der die Bedingungen der<br />

Kapitulation während der Belagerung der Stadt aushandelte – ein Vorgang, der<br />

für einen einfachen Lehnseid unüblich wäre. 34 Außerdem werden für Unterwerfungsrituale<br />

typische symbolische Handlungen angeführt wie die Übergabe der<br />

Schlüssel der Stadt und das Darbringen von Geschenken, um den furor Wilhelms<br />

zu besänftigen. 35 Es bleibt aber unstrittig, dass die Geschichtsschreiber die Handlung<br />

in der Terminologie der Kommendation beschrieben, was darauf hindeutet,<br />

dass das Ritual der deditio im angelsächsischen Raum unbekannt war.<br />

30 Zwar betrachtet Nelson, Janet L: The RitesoftheConqueror, S. 117, den Akt differenziert,<br />

aber die Möglichkeit eines Unterwerfungsritu<strong>als</strong> zieht sie nicht in Betracht. ZumAkt der<br />

Kommendationvgl.allgemein Le Goff, Jacques: The Symbolic Ritual of Vassalage. In: Ders.:<br />

Time, Work and Culture in the Middle Ages, Chicago 1980, S. 237–287.<br />

31 Zum Ritual der deditiovgl. Althoff, Gerd: Das Privileg der deditio. Formen gütlicher<br />

Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft. In: Ders.: Spielregeln der<br />

Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde, Darmstadt 1997, S. 99–125.<br />

32 Vgl. The Carmen de Hastingaeproelio, v. 749, S. 48: Culpasindulsitgratanter.<br />

33 The Carmen de Hastingaeproelio, vv. 625–752, S. 40–48.<br />

34 Ebd., v. 710, S. 46: Mitituradregemuirracionecapax.<br />

35 Ebd., vv. 745–6, S. 48: Reddere per clausosurbem, sedarefurorem / Oblatoqueruntmunere<br />

cum manibus.<br />

30 Dis | kurs


die christliche Königserhebung in london<br />

Katrin Beyer<br />

Der Geschichtsschreiber Wilhelm von Poitiers präsentiert die Bitte der Bischöfe<br />

und Barone um die Königskrönung Wilhelms <strong>als</strong> direkte Folge ihrer Unterwerfung,<br />

denn, so ihr Argument, sie seien „gewohnt, einem König zu dienen“. 36 Ordericus<br />

Vitalis ergänzt an dieser Stelle: „einem gekrönten König zu dienen“. 37 Dieser<br />

feine Unterschied in der Formulierung ist ein Hinweis darauf, dass der Schlachtensieg,<br />

der Brandfeldzug nach London und die Unterwerfung der Barone in der<br />

Wahrnehmung der Zeit bereits formal den Herrschaftsanspruch des Normannen<br />

begründet hatten.<br />

Die Krönung zum König entsprach mehr den englischen Erwartungen denn den<br />

normannischen. Insbesondere Wilhelm von Poitiers suggeriert, dass der Eroberer<br />

die Königswürde anstrebte, um englischen Erwartungshaltungen zu begegnen<br />

(quod Angliorabant). Er habe seine Gefolgsleute und das Heer konsultiert, die<br />

ihm dazu rieten. Er selbst sei in keiner Weise vom Wunsch nach der Krone getrieben<br />

gewesen, die libidoregnandi habe ihn nicht erfüllt. Drei Gründe hätten gegen<br />

ein übereiltes Vorgehen gesprochen: die anhaltenden Rebellionen, der Wunsch,<br />

zusammen mit seiner in der Normandie weilenden Frau gekrönt zu werden, und<br />

das Gebot der Umsicht beim Erklimmen eines Gipfels. 38 Der Geschichtsschreiber<br />

bemüht hier natürlich den Topos vom Herrscher, der von seiner Umwelt zur Krönung<br />

gedrängt wird, was die christliche Herrschertugend der Demut gebot.<br />

Die Legitimität <strong>als</strong> König erwuchs aus Sicht der Angelsachsen einzig und allein<br />

aus der Krönungszeremonie. Anders <strong>als</strong> die Normannen konnten sich die an ein<br />

christlich begründetes Sakralkönigtum gewöhnten Inselbewohner nicht mit dem<br />

kriegerisch begründeten Herrschaftsanspruch des Eroberers zufrieden geben.<br />

Für das Erreichen der normannischen Ziele in England war die Königskrönung<br />

somit ein notwendiger Schritt; die weitere Machtausübung war abhängig von<br />

der Durchführung dieses Ritu<strong>als</strong>. Es fand am Weihnachtstag in der Kathedrale<br />

36 William of Poitiers: GestaGuillelmi, II 28, S. 146/148: Orant post haecutcoronamsumatunapontificesatquecaeteres<br />

summates, se quidemsolitosesseregiseruire, regemdominumhabereuelle.<br />

37 Ordericus Vitalis: Historiaecclesiastica, hrsg. und übers. von Marjorie Chibnall, Oxford<br />

1969–80, II 182, S. 182: coronatoregiseruire.<br />

38 Vgl. William of Poitiers: Gesta Guillelmi, II 29, S. 148.<br />

Dis | kurs 31


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

von Westminster statt und wurde vom Erzbischof von York durchgeführt. 39 Wie<br />

Janet L. Nelson überzeugend darlegen konnte, diente der sogenannte dritte englische<br />

Krönungsordo <strong>als</strong> Leitfaden für die Zeremonie. 40 In dem Ordo war genauestens<br />

festgelegt, aus welchen rituellen Handlungen die Weihe- und Krönungszeremonie<br />

zusammengesetzt war und in welcher Reihenfolge sie durchgeführt<br />

wurden.<br />

Vor Ablegen des königlichen Eides wandte sich der Erzbischof an das in der Kirche<br />

versammelte Volk, das Wilhelm akklamierte. Ein normannischer Bischof bat<br />

die Normannen auf Französisch um ihre Zustimmung. Jubelgeschrei brach in<br />

zwei verschiedenen Sprachen aus, was das Ritual fast zum Scheitern brachte, da<br />

die vor der Kirche wartenden Normannen das für sie fremdartige Geschrei der<br />

Angelsachsen <strong>als</strong> Aufstand fehldeuteten und umliegende Häuser in Brand steckten.<br />

41 Ordericus Vitalis bemerkt hierzu:<br />

„Die Engländer (Angli) trauten den Normannen nie wieder, nachdem sie von<br />

solchen Missetaten gehört hatten, weil sie sich von ihnen betrogen fühlten,<br />

und sie nährten ihren Ärger und sehnten die Zeit ihrer Rache herbei.“ 42<br />

In sehr eindrücklicher Weise wird somit die grundlegende Hypothek der normannischen<br />

Königsherrschaft über England deutlich: Der König herrschte über<br />

zwei verschiedene Völker, die verschiedene Sprachen sprachen und verschiedene<br />

kulturelle Hintergründe aufwiesen. Doch aller Unterschiede zum Trotz wurde<br />

Wilhelm gesalbt, gekrönt und inthronisiert und damit auch in den Augen der<br />

Angelsachsen zum König.<br />

fazit<br />

Das englische Königtum Wilhelms des Eroberers, davon kündet schon sein Beiname,<br />

gründete auf Eroberung. Auch wenn er sein Recht auf den englischen Thron<br />

aus seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zum angelsächsischen Königshaus<br />

herleitete, so war seine Thronbesteigung am Weihnachtstag des Jahres 1066 weniger<br />

durch dynastische Tradition denn durch seine faktische Machtstellung be-<br />

39 Erzbischof Stigand von Canterbury war zwischenzeitlich exkommuniziert worden.<br />

40 Vgl. Nelson, Janet L: The Rites of the Conqueror, passim.<br />

41 Vgl. William of Poitiers: GestaGuillelmi, II 30, S. 150; OrdericusVitalis: Historiaecclesiastica,<br />

II 182, S. 182/184.<br />

42 Ebd., S. 184.<br />

32 Dis | kurs


Katrin Beyer<br />

dingt. Natürlich war diese Machtstellung in der Folgezeit immer wieder gefährdet<br />

und in der Herrschaftspraxis aufs Neue durchzusetzen. Die umfangreichen politischen<br />

Veränderungen in England während der Regierungszeit des Eroberers<br />

unterstreichen dies.<br />

Die normannische Eroberung von 1066 gilt <strong>als</strong> einschneidendstes Ereignis in der<br />

englischen Geschichte des hohen Mittelalters. Auch wenn die Schlacht bei Hastings<br />

nicht allerorts einen fundamentalen Wandel des soziopolitischen Gefüges<br />

mit sich brachte, so wird ihre Bedeutung in der neueren Forschung nicht grundlegend<br />

in Frage gestellt. Wilhelm der Eroberer tauschte die alte angelsächsische<br />

Elite nahezu komplett gegen eine normannische aus, er führte die ligische Vasallität<br />

ein, die nach dem Grundsatz nulle terresansseigneur alles Land zu Lehen<br />

der Krone erklärte und alle Vasallen zu einem grundsätzlichen Treuevorbehalt<br />

gegenüber dem König verpflichtete. Er stellte die Kirche vollständig in den Lehnszusammenhang,<br />

reformierte das Wehrwesen und ergänzte das Volksaufgebot des<br />

fyrd mit gepanzerter Kavallerie. 43 Zudem musste die neue Konkurrenzsituation<br />

zwischen dem englischen König und seinem Lehnsherrn auf dem Kontinent, dem<br />

französischen König, bewältigt werden. 44<br />

Die womöglich größte Herausforderung für Wilhelm den Eroberer bestand jedoch<br />

in dem erfolgreichen Umgang mit den unterschiedlichen Mentalitäten der<br />

Normannen und Angelsachsen. Es konnte gezeigt werden, dass er besonders rituelle<br />

Akte nutzte, um die Erwartungshaltungen beider Seiten zu befriedigen. Die<br />

ihnen einwohnende spezifische Uneindeutigkeit kam ihm dabei sehr entgegen.<br />

So konnten die christlichen Geschichtsschreiber öffentlichkeitswirksam die pagane<br />

Bestattung des Vorgängers zum Schutz der Küsten <strong>als</strong> Verspottung abtun.<br />

Die symbolischen Handlungen Wilhelms des Eroberers bei seinem Herrschaftsantritt<br />

zeugen von der Verquickung der Wertesysteme und Denktraditionen des<br />

Christentums, der adligen Kriegergesellschaft und der heidnischen Traditionen<br />

nordischen Ursprungs, die er allesamt zu berücksichtigen hatte.<br />

43 Vgl. zu den soziopolitischen und kulturellen Folgen von 1066 zusammenfassend Brown,<br />

Allen: The Normans andthe Norman Conquest, 2. Aufl., Woodbridge 1989, S. 176–227;<br />

Williams, Ann: The English and the Norman Conquest, Woodbridge 1997. Auf eine weitere<br />

Literaturauswahl zu der vielleicht meistdiskutierten Frage der englischen Geschichte wird<br />

an dieser Stelle verzichtet.<br />

44 Vgl. grundlegend van Eickels, Klaus: Vom inszenierten Konsens zum systematisierten<br />

Konflikt. Die englisch-französischen Beziehungen und ihre Wahrnehmung an der Wende<br />

vom Hoch- zum Spätmittelalter, Stuttgart 2002.<br />

Dis | kurs 33


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Die Frage nach der Konzeption seines Königtums ist vermutlich f<strong>als</strong>ch gestellt,<br />

da Wilhelm mit einer schwer einzuschätzenden politischen Lage im Anschluss<br />

an den Schlachtensieg konfrontiert war. Sein oberstes Ziel bestand in dem militärischen<br />

Sieg, erst danach wird er alle weiteren Ziele anvisiert haben. Auch mit<br />

Spontanhandlungen ist zu rechnen. Die Königserhebung am Grab des Vorgängers<br />

nach Wikingerbrauch gehörte eventuell dazu und wurde offenbar vom Gesuch<br />

der Mutter initiiert, ihr den Leichnam ihres Sohnes Harald zu übergeben.<br />

Die Normannen hatten ein Problem damit, dass sich das christliche Königtum<br />

<strong>als</strong> Abbild der himmlischen Herrschaft in Szene setzte. Für sie gründete ein Königtum<br />

vor allem auf kriegerischen Fähigkeiten. Dies dürfte auch ein Grund dafür<br />

sein, dass die Terminologie des kontinental gewachsenen ritterlich-höfischen<br />

Wertesystems nach 1066 seinen Siegeszug in England antrat und dabei wesentlich<br />

weniger klerikal geprägt war <strong>als</strong> im römisch-deutschen Reich. 45 Eine weitaus<br />

gravierendere Folge war jedoch der grundlegende Skeptizismus der eigenen<br />

normannischen Getreuen gegenüber der neuen Herrschaftslegitimation, die sie<br />

<strong>als</strong> Maskerade empfanden. Wie verbreitet muss diese Skepsis wohl gewesen sein,<br />

wenn der christliche Heerführer Wilhelm der Eroberer am Grab seines Vorgängers<br />

plötzlich seine wikingischen Wurzeln wiederentdeckte?<br />

45 Vgl. Gillingham, John: 1066 and the Introduction of Chivalry into England. In: Garnett,<br />

George / Hudson, John (Hrsg.): Law and Government in Medieval England and Normandy.<br />

Essays in Honourof Sir James Holtz, Cambridge 1994, S. 31–55.<br />

34 Dis | kurs


thema: Wa(e)hlen in deutschland<br />

das repräsentative regierungssystem und die<br />

demokratie<br />

Indirekte Volksherrschaft<br />

Neele Timmermann<br />

Universität Vechta, Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie<br />

E-Mail: neele.timmermann@mail.uni-vechta.de<br />

abstract<br />

Die repräsentative Demokratie beruht auf Wahlen von Vertretern durch das<br />

Volk, die den Willen des Bürgers widerspiegeln sollen, wodurch das Wahlverfahren<br />

die einzige Möglichkeit des Bürgers darstellt, einen direkten Einfluss<br />

auf das politische Geschehen zu nehmen. Somit scheint die Wahl von<br />

entscheidender Bedeutung im repräsentativen Regierungssystem zu sein.<br />

Inwieweit der Wille des Bürgers in der Regierung allerdings umgesetzt wird,<br />

bleibt offen. Um sich dieser Thematik zu nähern gilt es zu untersuchen,<br />

ob die repräsentative Demokratie den Willen des Bürgers wirklich vertritt<br />

oder ob der Bürger in seinem politischen Willen entmündigt wird. Dem gegenüber<br />

soll betrachtet werden, inwiefern in einer direkten Demokratie der<br />

Wille des Bürgers tatsächlich vertreten beziehungsweise umgesetzt wird.<br />

Um dieses Problem zu erörtern, soll ein Vergleich zwischen der repräsentativen<br />

und der direkten Demokratie gezogen werden, um daraus resultierend<br />

begründen zu können, welche Einflussmöglichkeiten der Bürger durch<br />

Inanspruchnahme seines Wahlrechts auf das politische Geschehen in der<br />

Bundesrepublik Deutschland hat.<br />

schlüsselwörter<br />

Demokratietheorie, Repräsentation, direkte Demokratie, repräsentative<br />

Demokratie, Willensbildung, Bundestagswahl 2009<br />

Dis | kurs 35


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

„Die Erfahrung belehrt stets, das gebe ich zu, aber Nutzen bringt sie nur für<br />

den Zeitraum, den man vor sich hat. Ist es wohl in dem Augenblick, da man<br />

sterben soll, noch Zeit zu lernen, wie man hätte leben sollen?“ 1<br />

Diese Sätze entstanden vor über 200 Jahren, formuliert von Jean-Jacques Rousseau.<br />

Im Kern des Zitates steht die Frage, ob das Bewusstsein, etwas anders zu<br />

machen, relevant ist, wenn etwas nicht mehr zu ändern ist. Damit beschreibt<br />

der Zustand des Unveränderlichen die Vergangenheit. Die Vergangenheit ist unveränderbar,<br />

sie ist aber unmittelbarer Gestalter der Zukunft, da sie lehrt, was<br />

zu verändern ist oder warum etwas ist, wie es ist. Rousseaus Aussage bildet den<br />

Rahmen für den folgenden Beitrag. Um nämlich zu klären, welche Bedeutung<br />

die Wahl für die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland hat,<br />

bietet die Vergangenheit vielerlei Antwortmöglichkeiten.<br />

Um Antworten zu finden gliedert sich die Untersuchung in drei Zeitabschnitte,<br />

beginnend mit dem Ist-Zustand. Um das gegenwärtige repräsentative Demokratiesystem<br />

der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen, gilt es zunächst diesen<br />

Demokratiebegriff genau zu definieren. Explizit soll die Rolle der Bürgerschaft<br />

beziehungsweise des Wahlvolkes und deren Einfluss auf das politische Geschehen<br />

beleuchtet werden. Der zweite Teil der Untersuchung absolviert eine Zeitreise<br />

in die Vergangenheit, in das Zeitalter der direkten Demokratie, beginnend<br />

in Athen. Nachdem geklärt wurde, wie die direkte Demokratieform strukturiert<br />

ist, soll analysiert werden, wie in diesem Zeitalter ohne Wahlen Bürger Einfluss<br />

in politische Entscheidung nehmen konnten. Hiernach soll ein Zwischenfazit<br />

gezogen werden, indem die Volkssouveränität der direkten Demokratie die der<br />

repräsentativen Demokratie gegenüber gestellt wird.<br />

Der letzte Teil des Aufsatzes reflektiert die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik.<br />

Hier sollen die Vorteile sowie die Nachteile dieses System beleuchtet<br />

werden und zwar aus dem Blickwinkel der deutschen Wählerschaft. Dieser<br />

Abschnitt bildet den dritten Teil der Zeitreise, da im Fazit eine Prognose gebildet<br />

wird, indem weiterführende Fragestellungen hinsichtlich des repräsentativen<br />

Systems und der Einflussnahme der Wählerschaft erörtert werden. Um auf Rousseaus<br />

einleitende Frage eine Antwort zu geben: Die Zeit lehrt uns, was wir in<br />

der Vergangenheit f<strong>als</strong>ch gemacht haben. Sie gibt uns aber auch die Möglichkeit,<br />

1 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques / Ritter, Henning: Jean-Jacques Rouseau. Schriften. Band 2.<br />

Frankfurt (Main) 1988, S. 659.<br />

36 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Wir finden uns in einem ständigen Prozess<br />

der Veränderungen. Das Bewusstsein, vor dem Tod zu wissen, wie man anders<br />

leben sollte, bildet die Weisheiten für die Zukunft.<br />

prinzipien der repräsentativen und der direkten demokratie<br />

Die Anzahl demokratischer Regime scheint stetig anzusteigen. Zu Beginn des 21.<br />

Jahrhunderts lies sich ihre Anzahl auf etwa 120 Länder beziffern. In der heutigen<br />

Welt wollen nahezu alle politischen Regime <strong>als</strong> demokratisch bezeichnet werden.<br />

Selbst autoritäre Herrschaftssysteme in Asien, Afrika und Lateinamerika berufen<br />

sich auf die Demokratie, ebenso wie traditionell demokratische Länder der<br />

westlichen Welt. Das griechische Wort Demokratie bedeutet Volksherrschaft.<br />

Diese Volksherrschaft kann allerdings auf verschiedene Weise ausgeübt werden.<br />

2 So wird zum Teil zwischen dünnen und anspruchsvollen Demokratien unterschieden.<br />

Eine dünne Demokratie bezeichnet das Minimum demokratischer<br />

Prinzipien wie beispielsweise reguläre, freie und faire Wahlen unter Beteiligung<br />

unterschiedlicher Parteien. Anspruchsvolle Demokratien streben an, zusätzlich<br />

auch grundlegende Bürger- und Menschenrechte zu garantieren. Hinzu kommen<br />

weitere Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit<br />

und die Pressefreiheit. Ein weiteres Merkmal der anspruchsvollen Demokratie<br />

ist die Wahrung der Grundrechte zum Schutze des Individuums, aber auch die<br />

demokratische Ordnung zu der die politische Unabhängigkeit und Neutralität<br />

der Justiz und die Gewaltenteilung zählen. 3 Das Ziel der Gewaltenteilung liegt<br />

darin, die Kontenration und den Missbrauch politischer Macht zu verhindern,<br />

die Ausübung politischer Herrschaft zu begrenzen und damit die bürgerliche<br />

Freiheit zu sichern. Zu unterscheiden ist zwischen der gesetzgebenden Gewalt<br />

(Legislative), der ausführenden Gewalt (Exekutive) und der rechtsprechenden<br />

Gewalt (Judikative). 4 Diese verschiedenen Merkmale von Demokratien zeigen,<br />

dass anhand des Grades ihrer Verwirklichung zwischen Demokratien einzelner<br />

Länder Unterscheidungen getroffen werden können.<br />

2 Pötzsch, Heinz: Die deutsche Demokratie. Bonn ³1995, S. 6.<br />

3 Vorländer, Hans: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien. München 2003, S. 7.<br />

4 Schubert, Klaus / Klein, Martina: Gewaltenteilung-Lexikon. 05.03.2010, bpb,<br />

http://www1.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=ICHS1S.<br />

Dis | kurs 37


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

repräsentative demokratie<br />

Somit erschließt sich auch, warum im folgenden Teil der Begriff der repräsentativen<br />

Demokratie der Bundesrepublik Deutschland genauer definiert werden<br />

muss. Hierfür gilt es zunächst, auf die Idee der Repräsentation einzugehen. Die<br />

Repräsentation <strong>als</strong> organisatorisches Grundprinzip beruft sich auf die Idee von<br />

Emmanuel Joseph Sieyès. Anders <strong>als</strong> Rousseau, welcher auf eine unmittelbare<br />

Teilnahme des Volkes an der Staatsgewalt baute, beruft Sieyès sich auf das Prinzip<br />

der Repräsentation. Laut Sieyès kann eine unmittelbare Demokratie in einem<br />

dicht bevölkerten Staat aufgrund der Vielzahl von Einwohnern nicht funktionieren:<br />

„In dem Maße, wie die Zahl der Bürger zunimmt, wird es für sie schwierig, ja<br />

unmöglich, sich zu versammeln, um die Einzelwillen einander gegenüberzustellen,<br />

sie auszugleichen und den Gemeinwillen zu ermitteln“. 5<br />

Außerdem sah er in der Repräsentation qualitative Vorzüge, denn ein Staatswesen,<br />

das auf Arbeitsteilung beruht, würde nur die qualifiziertesten Bürger in ein<br />

politisches Amt berufen. Zusätzlich vertritt er die Ansicht, dass ein Volk seinen<br />

gemeinschaftlichen Willen und seine Gesetzgebung nicht selber ausüben kann<br />

und somit Stellvertreter benötigt. Dies solle den Bürger mehr Freiheit gewähren,<br />

da andere diese Aufgaben übernehmen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass<br />

Sieyès die unmittelbare Demokratie <strong>als</strong> nicht umsetzbar empfand. Die Idee der<br />

Repräsentation beruft sich <strong>als</strong>o auf die Stellvertretung des Volkes. 6 Im folgenden<br />

Teil soll der Begriff Repräsentation genauer erklärt werden.<br />

In gängigen Politiklexika wird Repräsentation <strong>als</strong> ein politisches Grundelement<br />

definiert, nach dem meist große Gruppen von Personen oder Teile der Bevölkerung<br />

nicht unmittelbar selbst und nicht ständig, sondern durch gewählte Repräsentanten<br />

an politischen (wirtschaftlichen und sozialen) Entscheidungen teilhaben<br />

beziehungsweise von diesen vertreten werden. 7 Ernst Fraenkel definiert<br />

Repräsentation folgendermaßen:<br />

5 Vgl. Sieyès, Emmanuel Joseph: Die Idee der Repräsentation. In: Stüwe, Klaus/ Weber,<br />

Gregor: Antike und moderne Demokratie. Stuttgart 2004, S. 186.<br />

6 Ebd.<br />

7 Schubert, Klaus/ Klein, Martina: Repräsentation. 05.03.2010, bpb, http://www1.bpb.de/<br />

popup/popup_lemmata.html?guid=ICHS1S.<br />

38 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

„Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen<br />

durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes, jedoch ohne<br />

dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eines Staates oder sonstige Träger<br />

öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom<br />

Volk ableitet und mit dem Anspruch legitimiert, dem Gesamtinteresse des<br />

Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen vollzieht.“ 8<br />

Offen bleibt in dieser Definition allerdings, wie dieses geschehen soll. Hierauf<br />

wird im weiteren Verlauf weiter einzugehen sein, wenn der Begriff der Repräsentation<br />

in Zusammenhang mit dem der Demokratie erörtert wird. Die „Gesellschaft<br />

erscheint nicht mehr <strong>als</strong> Gliederung verschiedener Körper und Teile,<br />

sondern nimmt eine kollektive Dimension an, die von einzelnen Individuen ausgeht.<br />

Das Individuum und sein Wille werden zur grundlegenden Kategorie der<br />

Gesellschaft.“ 9 In diesem Zitat wird deutlich, dass es in einem repräsentativen Regierungssystem<br />

nicht darum geht, partikuläre Interessen aus einzelnen Teilen der<br />

Gesellschaft gegenüber dem Herrschaftssystem zu vertreten, sondern vielmehr,<br />

dass der souveräne Wille der Nation durch die Repräsentation zum Ausdruck<br />

gelangt. Das repräsentative System spiegelt <strong>als</strong>o den Willen der Nation wieder<br />

und repräsentiert somit die politische Einheit. Der Bürger verleiht seinem Willen<br />

Ausdruck, indem er wählt. Es geht aber nicht darum, dass sein persönlicher Wille<br />

in der Regierung vertreten wird, sondern dass jedes Individuum den Auftrag<br />

erhält, den nationalen Willen zum Ausdruck zu bringen. Dadurch erhält der Gewählte<br />

das Recht zu repräsentieren und legitimiert seine Herrschaft. 10 Formuliert<br />

wird dies in Artikel 38, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes:<br />

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer,<br />

freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des<br />

ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen (ihrer Partei und ihrer Wähler)<br />

nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ 11<br />

8 Vgl. Freankel, Ernst: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen<br />

Verfassungsstaat. In: Rausch, Heinz (Hrsg.): Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation<br />

und Repräsentativverfassung. Darmstadt 1968, S. 330.<br />

9 Vgl. Duso, Giuseppe: Repräsentative Demokratie: Entstehung, Logik und Aporien ihrer<br />

Grundbegriffe. In: Schmitt, Carl (Hrsg.): Herausforderungen der repräsentativen Demokratie.<br />

Baden-Baden 2003, S. 16.<br />

10 Ebd.<br />

11 Vgl. Deutscher Bundestag: Der Bundestag, 15.03.2010, http://www.bundestag.de/doku-<br />

Dis | kurs 39


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

In der Summe kann festgehalten werden, dass es in einem repräsentativen System<br />

nicht um die Vertretung individueller Interessen aus der Bevölkerung geht, sondern<br />

um die Vertretung des nationalen Willens. In welcher Form dies geschieht,<br />

liegt in der freien Entscheidung der gewählten Repräsentanten, was auch <strong>als</strong> freies<br />

Mandat bezeichnet wird. Der Gedanke der Repräsentation bedeutet <strong>als</strong>o die<br />

Herrschaft mit Zustimmung des Volkes (Volkssouveränität). Das ist nicht zu verwechseln<br />

mit der Herrschaft des Volkes selbst. 12<br />

Die Ausübung der demokratischen Rechte der Bevölkerung ist in der repräsentativen<br />

Demokratie auf die Beteiligung an Wahlen beschränkt. Zwar können sie zusätzlich<br />

in Parteien, Verbänden und Initiativen mitwirken, über ein unmittelbares<br />

Entscheidungsrecht verfügt jedoch nur die gewählte Volksvertretung. Es gilt zu<br />

beachten, dass die repräsentative Demokratie in zwei Typen unterschieden wird:<br />

Das parlamentarische Regierungssystem und das präsidentielle Regierungssystem.<br />

Das präsidentielle Regierungssystem wird hier allerdings außer acht gelassen,<br />

da sich dieser Aufsatz auf das repräsentative Demokratiesystem der Bundesrepublik<br />

beschränkt und das Grundgesetz eine repräsentative Demokratie und<br />

ein parlamentarisches System begründet. 13 Im Zentrum des parlamentarischen<br />

Systems steht das Parlament, der Bundestag (in den Bundesländern die Landtage).<br />

Er wird <strong>als</strong> einziges Organ direkt von der Bevölkerung gewählt. Das gewählte<br />

Parlament verfügt über den weiteren politischen Entscheidungsprozess, insbesondere<br />

in der Gesetzgebung, über Einnahmen und Ausgaben des Staates und bei<br />

der Auswahl und Kontrolle der Regierung. 14<br />

Da die Wahl in der Bundesrepublik – neben Volksbegehren auf Landes- oder<br />

kommunaler Ebene – die einzige Möglichkeit der direkten politischen Einflussnahme<br />

aus Sicht der Wählerschaft bildet, soll folglich das Wahlverfahren genauer<br />

betrachtet werden. Nach Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt<br />

vom Volke aus.<br />

mente/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_03.html.<br />

12 Korte, Karl-Rudolf: Wahlen in Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn<br />

6 2009, S. 12.<br />

13 Schubert, Klaus / Klein, Martina: Repräsentative Demokratie. 04.03.2010, bpb, http://<br />

www1.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=VQR4VG.<br />

14 Ebd.<br />

40 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

„Sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe<br />

der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung<br />

ausgeübt.“ 15<br />

Wahlberechtigt ist jeder, der das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat und die<br />

deutsche Staatsbürgerschaft besitzt (Allgemeines Wahlrecht). Zusätzlich gilt das<br />

Prinzip der Gleichheit des Wahlrechts: jede Stimme wird gleich gewichtet. Dies<br />

war nicht immer der Fall. In Preußen konnte derjenige mehr Stimmen abgeben,<br />

der auch mehr Steuern zahlte. Weitere Kennzeichen des deutschen Wahlrechts<br />

bildet das unmittelbare, freie und geheime Prinzip der Wahl. Dies beinhaltet, dass<br />

die Wahl von Abgeordneten direkt, das heißt ohne Zwischenpersonen, vollzogen<br />

wird und die Bürgerschaft jenseits von Zwang und Druck frei entscheiden<br />

soll, wen sie wählen. Zusätzlich muss gewährt werden, dass niemand nachprüfen<br />

kann, welche Wahlentscheidung der Wähler getroffen hat. 16<br />

Der Wähler verfügt über zwei Stimmen. Die erste Stimme zählt für den Kandidaten<br />

des Wahlkreises (Deutschland besteht aus 299 Wahlkreisen), in denen nach<br />

dem mehrheitswahlrecht gewählt wird. Der Kandidat mit den meisten Stimmen<br />

zieht direkt in den Landtag (Landtagswahl) oder in den Bundestag (Bundestagswahl)<br />

ein. Das so gewonnene Mandat wird auch <strong>als</strong> Direktmandat bezeichnet. 17<br />

Dies beinhaltet, dass der Kandidat gewählt ist, der bei der Wahl von allen angetretenen<br />

Kandidaten die relativ größte Zahl an Stimmen erhalten hat. 18 Die<br />

Zweitstimme richtet sich demgegenüber an die Parteien, welche sich zur Wahl<br />

stellen. Die Sitze im Parlament werden nach prozentualem Anteil der Wahlstimmen<br />

verteilt. Parteien, die weniger <strong>als</strong> fünf Prozent der Stimmen erhalten, können<br />

nicht in das Parlament einziehen (Fünf-Prozent-Hürde). Dieses Prinzip wird auch<br />

<strong>als</strong> Verhältniswahl bezeichnet19 , was bedeutet, dass die Besetzung der Wahlämter<br />

so genau wie möglich im Verhältnis der abgegeben Stimmen zustande kommt. 20<br />

15 Vgl. Deutscher Bundestag: Der Bund und die Länder, 15.03.2010, http://www.bundestag.<br />

de/dokumente/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_02.html.<br />

16 Korte, Karl-Rudolf: Wahlen in Deutschland, S. 14–15.<br />

17 Haberland, Sebastian: Das Wahlsystem in Deutschland. 10.03.2010, Suite 101, http://politik-gesellschaft-deutschland.suite101.de/article.cfm/das_wahlsystem_in_deutschland.<br />

18 Deutscher Bundestag: Mehrheitswahl, 10.03.2010, http://www.bundestag.de/service/<br />

glossar/M/mehrheitswahl.html.<br />

19 Haberland, Sebastian: Das Wahlsystem in Deutschland.<br />

20 Deutscher Bundestag: Verhältniswahl, 10.03.2010, http://www.bundestag.de/service/<br />

Dis | kurs 41


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Nicht außer acht zu lassen ist schließlich das Überhangsmandat, das mitunter<br />

von ausschlaggebendem politischen Gewicht sein kann:<br />

„Wenn eine Partei mehr Direktkandidatinnen und Direktkandidaten in den<br />

Bundestag entsenden kann <strong>als</strong> ihr gemäß der Anzahl der Zweitstimmen in<br />

einem Bundesland zustehen, vergrößert sich der Bundestag durch diese<br />

Überhangmandate.“ 21<br />

In der Bundesrepublik wird <strong>als</strong>o das Recht auf allgemeine, gleiche, unmittelbare,<br />

freie und geheime Wahl gewährleistet. Das Prinzip der Wahl beruft sich auf<br />

die Verhältnis- und Mehrheitswahl. Die Wahl selbst wird <strong>als</strong> eine demokratische<br />

Methode verstanden, welche das Herrschaftssystem in der Bundesrepublik<br />

zu legitimieren hilft. Sie ist aber nicht das einzige politische Verfahren, das die<br />

Bundesrepublik zu einem demokratischen Staat macht, denn offensichtlich existieren<br />

politische Systeme, in denen gewählt wird, die aber nicht <strong>als</strong> Demokratie<br />

bezeichnet werden können. Welche zusätzlichen politischen Verfahren machen<br />

die Bundesrepublik zu einer repräsentativen Demokratie? Neben der Gewährleistung<br />

von Meinungs-, Presse-, Versammlungs-, und Vereinsfreiheit ist hier<br />

auch der pluralistische Wettbewerb um politische Mandate und Führungspositionen<br />

von und in politischen Parteien zu nennen. Mit anderen Worten: Es sind die<br />

Freiheitsrechte, welche in der deutschen Verfassung garantiert werden, die das<br />

repräsentative System zu einer repräsentativen Demokratie machen.<br />

Der Begriff der Wahl variiert <strong>als</strong>o nach den politischen Systemen. Da sich die<br />

Bundesrepublik <strong>als</strong>o zurecht <strong>als</strong> ein demokratisches System versteht, wird die<br />

Wahl <strong>als</strong> kompetitive Wahl definiert. Dies bedeutet, dass der Wähler eine echte<br />

Auswahlmöglichkeit und Wahlfreiheit besitzt. Er muss zwischen mindestens<br />

zwei Angeboten frei entscheiden können, sonst hat er nicht die Wahl. Diese beiden<br />

Indikatoren müssen rechtlich gesichert sein. Auch der Wettbewerb von politischen<br />

Gruppen um politische Macht bildet einen wichtigen Aspekt für den<br />

Zusammenhang von Wahlen und Demokratie. Die freie Wahl legitimiert die<br />

politische Führung und sichert die Existenz der Demokratie. Ihr kommt insofern<br />

eine besondere Bedeutung zu, da sie für die Bevölkerung die einzige Form<br />

glossar/V/verh_wahl.html<br />

21 Vgl. Deutscher Bundestag: Überhangsmandat, 10.03.2010, http://www.bundestag.de/<br />

service/glossar/U/ueberh_mandate.html.<br />

42 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

der direkten (mittelbaren) Teilnahme am politischen Prozess darstellt. 22 Soviel<br />

zur Theorie. Wie verhält es sich allerdings aktuell mit der Praxis der repräsentativen<br />

Demokratie? Dies mag ein Blick auf die täglichen Berichte in deutschen<br />

Medien veranschaulichen: „Für Schwarz-Gelb ist bald Schicht im Schacht“ titelt<br />

der Stern in seiner Ausgabe vom 04.03.2010, „Schwarz-Gelb weiter im Sinkflug“<br />

schließen sich aktuelle Tageszeitungen an, während sich Zeit online mit dem Titel<br />

„Empörungsgesellschaft“ allgemein mit der Zukunft der deutschen Demokratie<br />

auseinandersetzt. Es scheint, <strong>als</strong> würde sich nach den wirtschaftlichen Schwierigkeiten<br />

das Wort Krise in der Bundesrepublik breit machen. Nachdem die aktuelle<br />

Regierungskoalition bei der Bundestagswahl 2009 zusammen auf 48,4 Prozent<br />

der Stimmen kam, stand fest, dass die FDP mit 14,6 Prozent zu den Gewinnern<br />

dieser Wahl zählt. 23 Knapp sechs Monate nach der Wahl, begleitet von Dauerstreits<br />

in der Koalition und Debatten um Hartz-IV, verzeichnet die FDP ein Stimmenvotum<br />

von gerade mal 8 Prozent. Findet sich hier die Antwort der deutschen<br />

Bevölkerung auf die aktuellen politischen Verhältnisse? Kann dieses Votum <strong>als</strong><br />

eine politische Unzufriedenheit gedeutet werden? Oder wurde diese politische<br />

Unzufriedenheiten schon in den Zahlen der Wahlbeteiligung (bei einem historischen<br />

Tiefpunkt von 72,2 Prozent) formuliert? Diese Frage soll hier zunächst<br />

unbeantwortet bleiben, da sie jeder politisch interessierte Bürger für sich selber<br />

beantworten soll(te). Es lässt sich aber fragen, ob die repräsentative Demokratie<br />

noch funktioniert. Denn wenn sich die Bevölkerung zu einem großen Teil bei den<br />

Wahlen enthält, dann kann ihr politischer Wille schwer formuliert beziehungsweise<br />

nur im geringen Maße vertreten werden. Auch die Funktion von Wahlen<br />

<strong>als</strong> demokratische Methode zur Rechtfertigung der Herrschaft verliert an Legitimation.<br />

Die Zeit online formuliert dies folgendermaßen:<br />

„Auf Dauer kann ein demokratischer Staat indes nur ein begrenztes Maß von<br />

Demokratieunverständnis ertragen. Denn je mehr es grassiert, desto geringer<br />

ist die aktive und passive Beteiligung bei Wahlen, desto weniger Bürger beteiligen<br />

sich durch eigenes Engagement und Meinungsäußerung.“ 24<br />

22 Nohlen, Dieter: Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie der Wahlsysteme. Stuttgart<br />

4 2004, S.21–30.<br />

23 Tagesschau.de: Bundestagswahl 2009. 11.03.2010, http://stat.tagesschau.de/wahlen/2009-<br />

09-27-BT-DE/index.shtml.<br />

24 Vgl. Walter, Franz / Lühmann, Michael: Zukunft der Demokratie.<br />

In: Zeit online, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-03/empoerung-gesellschaft-<br />

Dis | kurs 43


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Dabei gibt Die Zeit online in ihrem Artikel auch Hinweise dahin, wie dieses Demokratieunverständnis<br />

zustande kommt. Laut einer Erhebung haben viele Bürger<br />

das Gefühl, dass ihre eigene Entscheidung und Interessen nicht berücksichtigt<br />

werden und sie somit keinen Einfluss auf das politische Geschehen nehmen. Des<br />

Weiteren wird überlegt, ob die Komplexität politischer Verfahren, Kenntnisse<br />

über politische Strukturen und die Konfrontierung von anonymen Begrifflichkeiten<br />

(<strong>als</strong> Beispiel werden Begriffe wie Globalisierung, Europäisierung und Institutionalisierung<br />

genannt) zu Ahnungslosigkeit und Desorientierung in der Bürgerschaft<br />

führen mögen. Somit stelle nicht das repräsentative Demokratiesystem<br />

das Problem der Politikverdrossenheit und der Ahnungslosigkeit dar, sondern<br />

der Mangel an fehlenden Verfahren, welche das Niveau der politischen Bildung<br />

steigern 25 oder vereinfacht gesagt, die fehlende Kommunikation zwischen Staat<br />

und Gesellschaft. Der Bürgerschaft fehlt der direkte Kontakt zur Politik und die<br />

direkte Demokratie scheint ein Element zu bilden, welches dieses aktuelle Problem<br />

womöglich lösen könnte.<br />

direkte demokratie<br />

Das Beispiel der athenischen Demokratie dient <strong>als</strong> Grundlage für die folgenden<br />

Überlegungen zur direkten Demokratie, da Athen häufig <strong>als</strong> „Geburtstätte der<br />

Demokratie“ 26 bezeichnet wird. Nach athenischer Auffassung war demokratia<br />

eine Verfassungsform, in der das Volk (demos) die Macht (kratos) in der Polis<br />

(Stadtstaat) hatte. Vorländer beschreibt die Macht des Volkes folgendermaßen:<br />

„Allein das Volk beschloss Gesetze und Dekrete, es wählte Beamte, es übte die<br />

Kontrolle der gewählten und erlosten Amtsträger aus, es prüfte die Amtsführung<br />

und es bestimmte die Richter. Damit war die Demokratie in Athen ein<br />

Regime direkter, unmittelbarer Herrschaft des Volkes.“ 27<br />

An dieser Stelle ist es interessant zu untersuchen, ob wirklich einzig das Volk<br />

die politische Macht in Athen ausübte oder ob diese durch weitere Institutionen<br />

eingeschränkt wurde. Fakt ist, dass die direkte Demokratie <strong>als</strong> eine unmittelba-<br />

demokratie-populismus?page=2.<br />

25 Ebd.<br />

26 Vgl. Pabst, Angela: Die athenische Demokratie. München 2003, S. 11.<br />

27 Vgl. Vorländer, Hans: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorie. München 2003, S. 14.<br />

44 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

re Herrschaft des Volkes verstanden werden kann. Es gilt nur herauszuarbeiten,<br />

wie sich diese unmittelbare Herrschaft praktizieren ließ. Der Begriff Demokratia<br />

tauchte erst auf, nachdem diese schon längst praktiziert wurde. Vorher wurde<br />

eher von isonomia (gleiches Recht), isegoria (gleiches Recht der Rede) oder isokratia<br />

(gleicher Anspruch auf Herrschaft) gesprochen. Deutlich wird, dass das<br />

Prinzip der Gleichheit entscheidend für den demokratischen Grundgedanken<br />

der Athener war.<br />

Die Prägung des Begriffes „demokratía“ liegt etwa 2400 Jahre zurück. Bei einer so<br />

langen Existenz hat das Wort mit der Zeit verschiedene Bedeutungen angenommen,<br />

da es sich auf verschiedene historische Verhältnisse sowie unterschiedliche<br />

Ideale bezog. Deswegen überrascht es nicht, dass der heutige Demokratiebegriff<br />

höchstens eine sehr geringe Ähnlichkeit mit dem im 5. Jahrhundert v.Chr. entwickelten<br />

Begriff hat. Aufgrund dessen ist es wichtig in Bezug auf die griechische<br />

Demokratie nicht von einem demokratischen Staat zu sprechen, wie wir es heute<br />

machen und kennen, sondern von einer demokratischen Stadtgemeinschaft, von<br />

einer Polis.<br />

Im folgenden Teil sollen anhand des athenischen Systems die Prinzipien der direkten<br />

Demokratie genauer betrachtet werden. Zunächst lassen sich zwei Hauptmerkmale<br />

der direkten Demokratie dieser Zeit formulieren: Die Mitwirkung des<br />

versammelten Volkes an der Regierung sowie die Methode des Losverfahrens28 – im Gegensatz zum heutigen Wahlverfahren. Es gilt <strong>als</strong>o festzuhalten, dass<br />

wichtige Ämter, die Einfluss auf politische Entscheidungen nahmen, willkürlich<br />

ausgelost wurden. Es bestand somit die Gefahr, inkompetenten Bürgern ein<br />

politisches Amt zu übertragen. Trotzdem bewährte sich dieses Verfahren über<br />

zweihundert Jahre. Es scheint, <strong>als</strong> würden die Vorteile des Losverfahrens, trotz<br />

der Gefahr inkompetenter Amtsträger Entscheidungsmacht zuzusprechen, die<br />

Nachteile überwiegen. Da das Losverfahren in Athen ein wesentliches Merkmal<br />

der direkten Demokratie bildete, ist es durchaus interessant, diese Methode genau<br />

zu betrachten.<br />

Die attische Verwaltung bestand aus ungefähr 700 Amtsträgern, von denen 600<br />

per Losentscheid ermittelt wurden. Die übrigen 100 Ämter wurden durch eine<br />

Wahl ermittelt. Die Dauer der Ämter, die durch Losentscheid vergeben wurden,<br />

28 Vgl. Buchstein, Hubertus: Demokratie und Lotterie. Das Los <strong>als</strong> politisches Entscheidungsinstrument<br />

von der Antike bis zur EU. Frankfurt (Main) 2009.<br />

Dis | kurs 45


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

betrug in der Regel ein Jahr und durfte im gleichen Amt nicht wiederholt ausgeübt<br />

werden. Alle Bürger (mit Ausnahme Frauen und Sklaven) über 30 Jahre durften<br />

dieses Amt antreten. Das athenische System ermöglichte <strong>als</strong>o jedem Bürger, der<br />

von sich glaubte, für ein politisches Amt geeignet zu sein, die Chance, ein solches<br />

auch anzutreten. Infolge dessen konnte sich jeder Bürger von dem Losentscheid<br />

ausschließen, der sich für ein politisches Amt <strong>als</strong> ungeeignet betrachtete. Wer via<br />

Losverfahren ausgewählt wurde, musste sich vor Amtsantritt einem Eignungstest<br />

unterziehen. In dem Eignungstest wurde das Verhalten gegenüber den Eltern geprüft,<br />

der Eingang von Steuerzahlungen sowie die Ableistung des Militärdienstes<br />

kontrolliert. Genauso wurden politische Aspekte betrachtet. Ein Bürger etwa, der<br />

mit dem System der Oligarchie sympathisierte, wurde zumeist abgelehnt. Bei diesem<br />

Verfahren handelte es sich um einen formalisierten Auswahlprozess mit dem<br />

Ziel, das Volk vor inkompetenten Amtsträgern zu schützen, das durch das Recht<br />

des Volkes, jederzeit über das Recht eine Amtsenthebung einfordern zu können,<br />

noch verstärkt wurde. Ein richterlicher Beschluss entschied anschließend darüber,<br />

ob der Amtsinhaber sein Amt weiterführen oder ob er verurteilt werden<br />

sollte. Somit unterlagen die Amtsträger der ständigen Überwachung durch die<br />

Versammlung und der Gerichtshöfe. Da diese Richtlinie allgemein bekannt war,<br />

war sich jeder Amtsträger darüber bewusst, Rechenschaft ablegen zu müssen, da<br />

die Gefahr eines Verfahrens zur Amtsenthebung drohte. Einer Amtsenthebung<br />

folgte zugleich auch eine Bestrafung.<br />

Nicht alle Ämter wurden durch das Losverfahren besetzt. Wie bereits erwähnt<br />

gab es genauso Wahlämter. Der Unterschied lag darin, dass es keine beschränkte<br />

Amtszeit gab. Eine Periode beschränkte sich zwar ebenfalls auf ein Jahr, es<br />

bestand jedoch entgegen der Methode des Losentscheids die Möglichkeit der<br />

Wiederwahl. Wahlen wurden für die Ämter durchgeführt, von denen angenommen<br />

wurde, dass die Kompetenzen von ausschlaggebender Bedeutung waren. Es<br />

wurden in der Regel Persönlichkeiten mit hohem Ansehen bevorzugt. Zu diesen<br />

Ämtern gehörte die oberste Militärverwaltung und oberste Finanzbeamte. Jene<br />

Amtsträger lassen sich zur politischen und sozialen Elite29 zählen, da sie zumeist<br />

sehr vermögend waren. Im heutigen Sprachgebrauch würden diese <strong>als</strong> „politische<br />

29 Die soziale Elite bezeichnet Personen mit hohem Ansehen, welche zumeist auch sehr<br />

vermögend waren.<br />

46 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

Führung“ 30 bezeichnet werden. Im Folgenden soll die Volksversammlung genau<br />

beschrieben werden. Zur Volksversammlung hatte jeder athenische Mann zutritt,<br />

der dort in einer Liste <strong>als</strong> politisch berechtigt eingetragen war. Politisch Berechtigt<br />

war jeder, dessen Eltern in Athen geboren waren. Frauen waren von der politischen<br />

Tätigkeit ausgeschlossen. Die Volksversammlung beriet sich darüber, ob<br />

die Beamten ihr Amt gut verwaltet hätten, ob die Stadt hinreichend mit Nahrung<br />

versorgt war und über Beschwerden einzelner Bürger, beispielsweise wurden<br />

Bürger wegen politischen Verbrechen angeklagt. Prinzipiell ging es <strong>als</strong>o um die<br />

Sicherung der Demokratie gegen politisch unzuverlässige Beamte, zum anderen<br />

um den Schutz der Stadt vor Landesfeinden und vor Versorgungsmängeln. 31 Es<br />

bleibt <strong>als</strong>o festzuhalten, dass es im athenischen System eine Machtteilung in vier<br />

Gruppen gab: Die ausgelosten Amtsträger, die überwiegend für verwaltende und<br />

ausführende Tätigkeiten verantwortlich waren, die gewählten Amtsträger sowie<br />

die ausgeloste Versammlung und die ausgelosten Gerichte, welche die ausschlaggebende<br />

politische Macht bildeten. Die Funktion der Gerichte sowie der Volksversammlung<br />

soll im nachfolgenden Teil genauer erörtert werden.<br />

Bürger, die kein politisches Amt ausübten, verfügten trotzdem über das Recht,<br />

Anträge in die Versammlung einzureichen oder ein Gerichtsverfahren in die<br />

Wege zu leiten. Diese Person wurde <strong>als</strong> „tôn Athênaiôn ho boulomenos hois exestin“<br />

bezeichnet, was soviel wie „jeder Athener, der unter denen, die könnten, will“<br />

bedeutet oder kurz formuliert: „ho boulomenos“ (jeder der möchte). 32 Dies Figur<br />

ist insofern elementar, <strong>als</strong> dass sie eine Schlüsselposition der athenischen Demokratie<br />

bildete, da jeder gewöhnliche Bürger <strong>als</strong> politischer Machthaber fungieren<br />

konnte.<br />

Neben den bereits genannten vier Gruppen von Amtsträgern und den Gerichten,<br />

gab es noch eine weitere, fünfte, Institution, welcher eine unabdingbare<br />

politische Funktion zugeordnet wurde: Der Rat. Die Aufgabe des Rates bestand<br />

darin, Vorschläge über Gesetze beziehungsweise Gesetzesänderungen in einer<br />

Voranhörung auf ihre Relevanz in der Art zu prüfen, dass sie entweder in der<br />

Volksversammlung zur Sprache kamen oder vernachlässigt werden konnten. Die<br />

30 Vgl. Manin, Bernard: Kritik der Repräsentativen Demokratie. Berlin 2007, S. 24.<br />

31 Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie. Paderborn, München, Wien, Zürich 1986,<br />

S. 128–148.<br />

32 Vgl. Manin, Bernard: Kritik der Repräsentativen Demokratie, S. 25.<br />

Dis | kurs 47


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Anhänger der Versammlung übten somit die Funktion der Gesetzesinitiative aus,<br />

da sie Gesetzesänderungen ausdrückten. Trotzdem behielt es sich der Rat vor, zu<br />

entscheiden, ob diese Forderungen in der Volksversammlung angehört wurden.<br />

Der Rat stand <strong>als</strong>o in direkter und wechselseitiger Verbindung zur Versammlung.<br />

Nachdem ein mögliches Gesetz beziehungsweise eine mögliche Gesetzesänderung<br />

in der Volksversammlung angehört wurde, oblag es den Gerichten, ob es in<br />

Kraft treten würde oder nicht. Dadurch, dass selbst die Mitglieder des Gerichts<br />

per Losentscheid ermittelt wurden und somit nach spätestens einem Jahr ihr Amt<br />

niederlegen mussten, ist klar zu erkennen, dass sie nach den Normen und Werten<br />

des Volkes entscheiden sollten, um nicht nach der eigenen Entlassung aus dem<br />

Amt selbst unter Entscheidungen zu leiden, die für das Volk von Nachteil sind.<br />

Es ist wichtig, die besondere Stellung des Gerichtes und des Rates auszudrücken,<br />

weil beide Institutionen in der athenischen Demokratie eine Schlüsselrolle spielten:<br />

„Bestimmte Befugnisse der Gerichte, insbesondere die Macht, Beschlüsse<br />

der Versammlung aufzuheben, rechnet man sogar dem zu, was <strong>als</strong> Entscheidungsmacht<br />

[…] galt.“ 33<br />

Zentral ist, dass durch die Verfasstheit des institutionellen Systems im antiken<br />

Athen die politische Macht einzig beim Volk lag. Beim Volk lag die Entscheidungsgewalt,<br />

die in die verschiedenen Institutionen eingespeist wurde. In den<br />

Volksversammlungen wurden keine gesetzgebenden34 Entscheidungen getroffen<br />

Warum wird das athenische System trotzdem <strong>als</strong> direkte Demokratie definiert?<br />

Um diese Frage beantworten zu können, muss ein weiteres Verfahren der Athener<br />

betrachtet werden: das Rotationsprinzip im Amt. Diesem Prinzip liegt die<br />

Einsicht zugrunde, dass der einzelne Bürger nicht zugleich die Rolle des Herrschenden<br />

und des Beherrschten einnehmen konnte. Das Prinzip bestand <strong>als</strong>o<br />

darin, dass jeder Bürger beide Positionen abwechselnd besetzen konnte. Oder<br />

anders formuliert:<br />

33 Vgl. ebd., S. 37.<br />

34 Unter einem Gesetz wurde eine schriftlich fixierte Rechtsnorm, die für alle Athener gleichermaßen<br />

galt, verstanden. Die Geltungsdauer einer solchen Norm war unbegrenzt.<br />

48 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

„Die demokratische Freiheit bestand nicht darin, nur sich selbst zu gehorchen,<br />

sondern heute jemandem Gehorsam zu leisten, dessen Platz man morgen<br />

einnehmen würde.“ 35<br />

Das Rotationsprinzip lieferte die grundlegende Legitimation für das Ausführen<br />

eines Amtes und den damit verbundenen Anordnungen, denn wer schon einmal<br />

regiert wurde, hatte das Recht, andere zu regieren. Hinzu kam, dass das Rotationsverfahren<br />

insofern das Prinzip der Gerechtigkeit beinhaltete, <strong>als</strong> dass jene, die<br />

Macht ausübten, bei Entscheidungsfindungen auf den Standpunkt der Bevölkerung<br />

angewiesen waren. Denn sie selbst waren Teil der Bevölkerung bildeten und<br />

waren daher direkt von jeglichen Beschlüssen betroffen. Die gesetzliche Verankerung<br />

des Rotationsprinzips beinhaltete, dass das Machtverhältnis zwangsweise<br />

nach spätestens einem Jahr umgekehrt wurde. Amtsperioden durften nicht<br />

mehrfach hintereinander durchgeführt werden. Das Rotationsverfahren wurde<br />

im Rat, bei der Mitwirkung an der Versammlung und den Gerichten vollzogen.<br />

Gerade bei der Versammlung (die Bürgeranzahl Athens wird für das 4. Jahrhundert<br />

v. Chr. auf 30.000 geschätzt) schien es organisatorisch nicht möglich, dass<br />

alle Bürger zur selben Zeit teilnahmen. Deswegen versammelte sich immer ein<br />

Teil (circa 6.000 Bürger) der Gesamtheit der Bürger. Aufgrund dieses Rotationsverfahrens<br />

war somit ausgeschlossen, dass jedes Mal die gleichen Bürger an der<br />

Versammlung teilnahmen. Somit erklärt sich auch, warum die Athener das Losverfahren<br />

bevorzugten:<br />

„Da eine beträchtliche Anzahl von Personen auf jeden Fall irgendwann amtieren<br />

sollte, konnte die Reihenfolge, in der sie diese Ämter antreten würden,<br />

dem Zufall überlassen werden. Darüber hinaus war die Zahl der Bürger im<br />

Vergleich zur Anzahl der Posten, die besetzt werden musste, relativ gering und<br />

das Losverfahren war der Wahl aufgrund des Rotationsgebots vorzuziehen.“ 36<br />

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Losverfahren jedem, der<br />

ein Amt anstrebte, die gleiche Wahrscheinlichkeit hinsichtlich der politischen<br />

Ausübungsfunktion, die nur von wenigen Bürgern ausgeführt werden konnte, garantierte.<br />

Hätten die Athener das Wahlverfahren bevorzugt, dann wäre – mit einer<br />

vergleichsweise signifikant höheren – Wahrscheinlichkeit meist dieselbe Per-<br />

35 Vgl. Manin, Bernard: Kritik der Repräsentativen Demokratie, S. 43.<br />

36 Vgl. ebd., S. 47.<br />

Dis | kurs 49


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

son in einem Amt, da die Freiheit der Wahl auch immer die Freiheit beinhaltet,<br />

eine Person wieder zu wählen. Somit würde das Wahlverfahren den Prinzipien<br />

der Rotation widersprechen. Da die Athener sich dessen bewusst waren, hatten<br />

die Personen, die durch Wahlen ihr Amt besetzten, durchaus die Möglichkeit,<br />

dieses über mehrere Perioden auszufüllen.<br />

Für die Athener war es durchweg wichtig, dass politische Ämter durch gewöhnliche<br />

Bürger besetzt wurden, da sie befürchteten, dass Fachleute zwangsläufig dominieren<br />

würden und somit die politische Macht übernähmen. Das Losverfahren<br />

sicherte deswegen die politische Macht der Bürger. Des Weiteren wurden selbst<br />

die Richter im Gericht gelost (siehe oben), da man die Annahme vertrat, dass die<br />

Stimme von Fachpersonen die Stimmen der gewöhnlichen Bürger überstimmen<br />

würden.<br />

„Die athenischen Demokraten nahmen letzten Endes einen Widerspruch zwischen<br />

Demokratie und Professionalität im Hinblick auf politische Angelegenheit<br />

wahr. Demokratie bestand darin, Entscheidungsmacht in die Hände von<br />

Laien zu legen,[…]“ 37<br />

Das Losverfahren gewährleistete jedem Bürger Gleichheit und stellte somit das<br />

grundlegende Prinzip der athenischen Demokratie dar. 38<br />

der Wille des Volkes in der direkten und in der repräsentativen<br />

demokratie<br />

Nachdem die beiden verschiedenen Optionsgruppen der Mitbestimmung der<br />

Bürgerschaft in der repräsentativen und der direkten Demokratie getrennt dargestellt<br />

wurden, soll im folgenden Abschnitt die Verschiedenartigkeit der beiden<br />

Systeme mit Blick auf die Idee der Volkssouveränität verglichen werden.<br />

Von vielen Philosophen wurde die Radikalität der direkten, unmittelbaren Beteiligung<br />

der Bürger abgelehnt, da sie in der uneingeschränkten Herrschaft des<br />

Volkes potenziell eine freiheitsbedrohende Tyrannei der Mehrheit (Alexis de Tocqueville)<br />

sahen. Tyrannei beschreibt eine Gewaltherrschaft. 39 Die direkte Demokratie<br />

brachte die Gefahr der Tyrannei mit sich, während sich die repräsentative<br />

37 Vgl. ebd., S. 50<br />

38 Ebd., S. 15–62.<br />

39 Barceló, Pedro: Basileia, Monarchie und Tyrannis. Stuttgart 1993, S.259.<br />

50 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

Demokratie <strong>als</strong> eine stabile Demokratie bewährte. 40 Nur Jean-Jacques Rousseau<br />

formulierte in seiner Schrift Über den Gesellschaftsvertrag erneut das Prinzip der<br />

athenischen Demokratie, indem er die Theorie der Volksouveränität darstellte.<br />

Rousseau lehnt das Repräsentativsystem ab, da der Gedanke des Gemeinwillens,<br />

der volonté générale, in Form der Repräsentation undenkbar ist. Denn nach Rousseau<br />

kann der Gemeinwille des Volkes, sowie überhaupt gar kein individuell generiertes<br />

Interesse nicht auf Amtsträger oder Vertreter übertragen werden, da<br />

diese nur nach ihren eigenen Interessen handeln würden. In seiner Kritik erklärt<br />

er die athenische Demokratie <strong>als</strong> echte Demokratie, da nur der Souveräne selbst<br />

(<strong>als</strong>o der Bürger) Gesetze beschließen kann.<br />

„Das […] Volk glaubt frei zu sein, es täuscht sich gewaltig; es ist nur frei während<br />

der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es<br />

Sklave, ist es nichts.“ 41<br />

Auch John Stuart Mill, einer der bedeutendsten Demokratietheoretiker des 19.<br />

Jahrhunderts, setzte sich für ein demokratisches System ein, in dem er das Volk<br />

<strong>als</strong> gerechtfertigten Träger politischer Macht beschreibt. Den Vorteil der athenischen<br />

Demokratie sah er darin, dass dem Bürger ein intellektuelles Niveau zugeschrieben<br />

war, welches dem des Volkes in der Neuzeit weit überlegen war. Die<br />

politische Partizipation bildet seiner Meinung nach nicht nur die politische Urteilskraft<br />

aus, sondern führte auch dazu, dass ein Ausgleich divergierender Interessen<br />

in politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen erleichtert<br />

wurde. Er betonte somit den Zusammenhang von politischer Beteiligung, politischer<br />

Urteilskraft und bürgerlichem Gemeinwesen. Gleichermaßen war Mill<br />

davon überzeugt, dass sich das athenische Modell (gerade die Versammlungsdemokratie)<br />

nicht auf neuzeitliche Demokratien übertragen lässt. Kennzeichnend<br />

für die athenische Demokratie ist <strong>als</strong>o der kompetente Bürger, der in der Lage<br />

war sich in öffentlichen Angelegenheiten zu beraten, zu entscheiden und Ämter<br />

auszuführen. Der Prozess um Sokrates und somit seinem Tod verweisen aber auf<br />

einen anderen wichtigen Aspekt der athenische Demokratie: Sein Recht auf Freiheit<br />

konnte Sokrates nicht ausleben. Zwar hatte er das Recht auf abweichende<br />

Meinung innerhalb der Volksversammlung, isegoria (Gleiches Recht der Rede)<br />

40 Vorländer, Hans: Demokratie. Geschichte, Formen, Theorie. München 2003, S. 26.<br />

41 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques: Ablehnung der Repräsentation. In: Stüwe, Klaus / Weber,<br />

Gregor: Antike und moderne Demokratie. Stuttgart 2004, S. 186.<br />

Dis | kurs 51


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

galt auch für ihn. Trotzdem galt aber auch die Gleichheit vor dem Gesetz (isonomia)<br />

und folglich musste er sich diesem Gesetz unterwerfen. Unveräußerliche<br />

Menschenrechte, das heißt, seine Meinung gegen die Mehrheitsherrschaft in der<br />

Demokratie zu behaupten, kannte die athenische Demokratie nicht. Demzufolge<br />

lässt sich sagen, dass es in der athenischen Demokratie nicht das Recht auf Oppositionen<br />

gab. Das Prinzip der Gleichheit, so wie es die Athener verstanden, lässt<br />

sich nicht mit dem Verständnis von Gleichheit im neuzeitlichen Sinne vergleichen.<br />

Der athenische Bürger war nur in seiner Polis frei und gleich. Außerhalb einer<br />

politischen Mitgliedschaft existierten die <strong>als</strong> Unfreie und Ungleiche bezeichneten<br />

Bürger, die über keine Bürgerrechte verfügten. Wichtig zu beachteten ist<br />

auch, dass in der Volksversammlung nicht über Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik<br />

und über Politik allgemein debattiert wurde. Diskussionen die sich mit dem Ausgleich<br />

sozialer und ökonomischer Unterschiede bzw. mit der sozialen Gerechtigkeit<br />

auseinandersetzten, fanden nicht statt, was hingegen in modernen, sozial-<br />

und wohlfahrtsstaatlichen Demokratien der Fall ist. 42 Zusätzlich sichert die<br />

repräsentative Demokratie ein Maximum von Rechtssicherheit und Einflussmöglichkeiten<br />

für Minoritätsgruppen und Individualinteressen. In der athenischen<br />

Demokratie stellten sich Minoritäts- und Sonderinteressen <strong>als</strong> Störfaktoren dar,<br />

da sie die Bildung eines einheitlichen Volkswillens dementierten. 43<br />

Interessant ist auch die Tatsache, dass der Umsetzung des Losverfahrens von Revolutionären,<br />

wie beispielsweise Harrington, Montesquieu und Rousseau, keinerlei<br />

Achtung zukam. Während der Etablierung des Repräsentativsystems gehörte<br />

diese Methode nicht zu den Möglichkeiten, die zur Auswahl von Regierenden in<br />

Erwägung gezogen wurden. Dies hängt damit zusammen, dass das Losverfahren<br />

für größere Staaten nicht geeignet schien. Patrice Guéniffey definierte das Problem,<br />

indem er festhielt, dass die Mitglieder eines Staates gezwungen wären, eine<br />

Entscheidung zu akzeptieren, zu der sie nicht oder indirekt beigetragen haben<br />

oder mit anderen Worten: „Für die Einzelperson war nur das verpflichtend, wozu<br />

sie selbst ihre Einwilligung gegeben haben.“ 44 . Das Losverfahren <strong>als</strong> Methode zur<br />

Legitimierung von politischer Macht schien somit ungeeignet. Besteht das Ziel<br />

42 Vorländer, Hans: Demokratie, S. 26–38.<br />

43 Fraenkel, Ernst: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen<br />

Verfassungsstaat, S. 332.<br />

44 Vgl. Manin, Bernard: Kritik der Repräsentativen Demokratie, S. 119.<br />

52 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

politische Macht durch die Einwilligung des Volkes zu legitimieren, dann sind die<br />

Wahlen im Vergleich zum Losverfahren eine zuverlässigere Methode. Das Losverfahren<br />

schien auch deswegen nicht mehr nötig, da das Verhältnis von der Zahl<br />

der zu besetzenden politischen Ämter im Vergleich zur Anzahl der Bürgerschaft<br />

jedem nur eine minimale Chance auf eine Position gab. Es gilt <strong>als</strong>o festzuhalten,<br />

dass mit der Einführung des repräsentativen Systems das Ziel der gleichmäßigeren<br />

Verteilung der Ämter in den Hintergrund getreten ist und von der Legitimierung<br />

von Herrschaft abgelöst wurde45 :<br />

„Bürger wurden jetzt vorrangig <strong>als</strong> Quelle politischer Legitimation angesehen<br />

und weniger <strong>als</strong> Personen, die den Wunsch haben könnten, selbst ein Amt zu<br />

bekleiden.“ 46<br />

In der direkten Demokratie nach dem Vorbild Athens, so ein mögliches Fazit,<br />

bildet die Verfügbarhaltung des Gemeinwillens der und durch die Bevölkerung<br />

das wesentliche Kennzeichen der Herrschaft. Die Bürgerschaft sollte aus diesem<br />

Grund politische Ämter selber antreten, da der Gemeinwille nicht auf politische<br />

Vertreter übertrage werden kann, weil diese wiederum nach ihren eigenen Interessen<br />

handeln. Des Weiteren erfordert diese Art der politischen Partizipation die<br />

politische Urteilskraft des einzelnen Bürger. Dieses politische Niveau führt dazu,<br />

dass in Athen die Kluft zwischen Regierten und Regierenden aufgehoben wurde.<br />

Allerdings ist zu beachteten, dass der Volkswille beziehungsweise der Gemeinwille<br />

höher gewertet wurde <strong>als</strong> die Sicherheit des Einzelnen oder anders formuliert,<br />

der Minderheit. Dies bedeutet, dass die athenische Bürgerschaft, außerhalb<br />

der politischen Mitgliedschaft, über eingeschränkte Bürgerrechte verfügte.<br />

repräsentation in der Bundesrepublik deutschland<br />

Im folgenden Abschnitt soll diskutiert werden, inwiefern der politische Wille des<br />

Volkes in der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt<br />

wird. Wie schon bereits angedeutet, stellt sich heute die Frage, ob sich<br />

die repräsentative Demokratie in einer Krise befindet. Sie kennzeichnete sich<br />

dadurch aus, dass eine Verbindung zwischen Wählern und Parteien bestand, begründet<br />

darin, dass die Wähler derjenigen Partei, mit der sie sich identifizieren,<br />

45 Ebd., S. 113–131.<br />

46 Vgl. ebd., S. 131.<br />

Dis | kurs 53


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

ihre Stimme gaben. Gegenwärtig wird immer deutlicher, dass viele Wähler ihr<br />

Wahlverhalten von einer Wahl zur nächsten ändern oder sich ganz davon trennen,<br />

sich mit einer Partei zu identifizieren.<br />

„Gewöhnlich legte jede Partei der Wählerschaft einen detaillierten Maßnahmekatalog<br />

vor, mit dem das Versprechen einherging, diesen im Fall einer Wiederwahl<br />

in der Tat umzusetzen. Heute basieren die Wahlkampfstrategien der<br />

Kandidaten und Parteien stattdessen aus der Projektion eines Images, vager<br />

Vorstellungen der Persönlichkeit der Parteiführer.“ 47<br />

Ein zusätzliche Problem bildet die Kluft zwischen den Politikern und der Bevölkerung,<br />

die sich meist in ihrem Bildungsstand und in der Lebensweise unterscheiden:<br />

scheinbar wird der Abstand zwischen Repräsentierten und Repräsentanten<br />

immer größer. Welche Möglichkeiten zur Einflussnahme bleibt der<br />

Wählerschaft in einer repräsentativen Demokratie überhaupt noch? Wie bereits<br />

mit Blick auf Artikel 38 Grundgesetz erwähnt, sind die gewählten Abgeordneten<br />

nicht verpflichtet, den Weisungen der Wähler zu folgen. Den Abgeordneten oder<br />

den Parteien ist selber überlassen, ob sie die Versprechen und die politischen<br />

Programme einhalten oder nicht. Es gilt <strong>als</strong>o zunächst festzuhalten, dass ein<br />

imperatives Mandat, welches beinhaltet, dass Abgeordnete an Weisungen und<br />

Aufträge des Volkes gebunden sind, in Deutschland verfassungsrechtlich nicht<br />

zulässig ist. Dies bedeutet, dass in dem repräsentativen System die vollständige<br />

Deckungsgleichheit zwischen dem Willen des Wählers und der Entscheidungen<br />

der Gewählten nicht gewährleistet ist.<br />

Trotzdem verfügen die Bürger jederzeit über das Recht, ihre eigene politische<br />

Meinung frei zu äußern, da die Regierung nicht über das Recht verfügt ist, dieses<br />

Freiheitsrecht einzuschränken. Zwar kann die Regierung individuelle Meinungsäußerungen<br />

ignorieren, auf kollektive Meinungsäußerung allerdings, beispielsweise<br />

in Form von Demonstrationen, folgt durchaus häufiger eine Reaktion seitens<br />

der Regierung. Die Wähler können sich <strong>als</strong>o jederzeit an ihren Abgeordneten<br />

wenden beziehungsweise ihren eigenen Willen in vielfältiger Form mitteilen. Die<br />

Meinungsfreiheit bildet somit das politische Gegengewicht zum fehlenden Recht,<br />

der Regierung unmittelbar Aufträge und Weisungen zu erteilen. Sie stellt diejenige<br />

Komponente innerhalb des politischen Systems dar, die den Volkswillen in<br />

47 Vgl. ebd., S. 263.<br />

54 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

den politischen Entscheidungsprozeß mit einfließen lässt oder lassen kann. Die<br />

politische Einflussmöglichkeit des Volkes schränkt sich allerdings genau dann<br />

ein, wenn sich die Bürger von den politischen Geschehnissen abwenden. Denn<br />

je weniger sie ihre politische Stärke nutzen und sich individuell oder kollektiv organisieren,<br />

desto geringer fällt der Druck auf die Regierung aus. Oder umgekehrt<br />

formuliert: Je deutlicher die Menschen ihren politischen Willen formulieren und<br />

je stärker sie an die Politik appellieren, desto höher wird der Druck auf die Regierung,<br />

und umso größer wird auch die politische Reaktion. Wie bereits betont, ist<br />

es hierfür aber nötig, dass die Bürgerschaft ihren politischen Willen tatsächlich<br />

formuliert und sich nicht isoliert. Gerade die Wahlen geben den Anreiz für die<br />

Regierenden, sich mit der öffentlichen Meinung auseinanderzusetzen. Die repräsentative<br />

Demokratie gründet nämlich nicht einzig auf der Wahl der Regierung,<br />

sondern auf deren immer wiederkehrenden Wahl in regelmäßigen Abständen,<br />

wobei jede einzelne Wahl eine erneute Einwilligung von Seiten der Bürger erfordert.<br />

Die Wahl eröffnet <strong>als</strong>o sowohl den Bürgern, wie auch den politischen Parteien<br />

die Möglichkeit, ihre jeweiligen Präferenzen hinsichtlich eines politischen Programms<br />

deutlich zu machen. Die Wähler können mit ihrer Stimme entscheiden,<br />

ob sie mit einem dieser Programme übereinstimmen. Sie können über die Abgabe<br />

oder Nicht-Abgabe ihrer Stimme den aktuellen Kurs der Politik bestätigen<br />

oder neu ausrichten.<br />

Es gilt <strong>als</strong>o festzuhalten, dass die Wähler die Möglichkeit erhalten, Regierende<br />

und deren Politik abzulehnen oder abzusetzen; sie können aber nicht direkt die<br />

öffentliche Politik mitbestimmen. Zusätzlich ist sich die Regierung durchweg<br />

bewusst, zukünftige Beurteilungen von Wählern hinsichtlich gegenwärtiger Entscheidungen<br />

mit einbeziehen zu müssen, damit sie eventuell für die neue Amtperiode<br />

wieder gewählt werden. Dies bedeutet, dass der Wille der Wählerschaft<br />

in die Strategie der Amtsträger aus deren eigenem Interesse heraus mit einfließt.<br />

Wenn sich die Wähler entscheiden, den Versprechungen der Kandidaten zu glauben,<br />

dann wissen sie, dass die Glaubwürdigkeit dieser Versprechen einen Vertrauensvorschuss<br />

darstellt. Die Abgeordneten verfügen keinesfalls über eine absolute<br />

Freiheit bei politischen Entscheidungen, denn ihr Handeln sollte am Ende<br />

der Amtsperiode nicht die Ablehnung der Wähler hervorrufen. Trotzdem ist ihre<br />

Freiheitsspanne weit größer, <strong>als</strong> wenn sie verpflichtet wären, die Wünsche der<br />

Dis | kurs 55


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Wähler umsetzen zu müssen. Zusätzlich haben die Abgeordneten während ihrer<br />

Amtszeit die Möglichkeit, den Wählern die Motive ihrer ihre Politik zu verdeutlichen.<br />

Die repräsentative Demokratie ist kein System, indem die Gemeinschaft<br />

sich selbst regiert, allerdings ermöglicht die Wahl von politischen Amtsträgern,<br />

dass die Bevölkerung über die Politik der Abgeordneten urteilen kann, indem sie<br />

diese wieder wählt oder sich anderen politischen Angeboten zuwendet. 48<br />

An dieser Stelle wird ein Vorteil der direkten Demokratie gegenüber der repräsentativen<br />

Demokratie deutlich. Das Volk, beziehungsweise ein Teil des Volkes, welcher<br />

per Zufall ausgelost wurde, hatte die Möglichkeit sich direkt am politischen<br />

Geschehen zu beteiligen und somit in Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Der<br />

Bevölkerung im repräsentativen System bleibt eine solche direkte Einflussnahme<br />

auf Entscheidungen verwährt. Trotzdem besitzt jeder Bürger das Recht, seine<br />

politische Meinung zum Ausdruck zu bringen und diese Freiheitsrechte dürfen<br />

auch nicht von der Regierung eingeschränkt werden. Wie oben bereits erläutert,<br />

war dies in Athen nicht unmittelbar der Fall, da dass Gemeinwohl im Vergleich<br />

zum Interesse von Minderheiten Priorität genoss. Die Wahrung der Grundrechte<br />

zum Schutz des Individuums sowie die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit<br />

sind die ausschlaggebenden Merkmale, welche die repräsentative Demokratie<br />

kennzeichnen und von der direkten Demokratie unterscheiden.<br />

Hinzu kommt ein wesentlicher Aspekt, dem aktuell besondere Aufmerksamkeit<br />

zukommen sollte. Dadurch, dass die athenische Bevölkerung per Zufall – <strong>als</strong>o<br />

durch das Losverfahren – befähigt werden konnte, ein politisches Amt anzutreten,<br />

jederzeit die Ausführung von Ämtern kontrollierte und somit an politischen<br />

Entscheidungsprozessen beteiligt war, war von den Bürgern ein gewisses Mindestmaß<br />

an politischer Qualifikation zu erwarten. Die vermehrte Wahlenthaltung im<br />

deutschen repräsentativen Demokratiesystem macht es zunehmend schwierig,<br />

den politischen Willen der Bevölkerung zu formulieren. Des Weiteren führt ein<br />

erhöhtes Demokratieunverständnis dazu, dass sich weite Teile der Bevölkerung<br />

vom politischen Geschehen isolieren und weniger von ihrem politischen Recht<br />

der freien Meinungsäußerung Gebrauch machen. Die Wahl <strong>als</strong> einziges Verfahren<br />

des direkten politischen Einflusses reicht <strong>als</strong>o offenbar nicht aus, um das politische<br />

Niveau beziehungsweise die politische Qualifikation der Bürger aufrecht<br />

zu erhalten. Denn durch das Verfahren der Wahl <strong>als</strong> einzige formalisierte Mög-<br />

48 Vgl. ebd., S. 221–262.<br />

56 Dis | kurs


Neele Timmermann<br />

lichkeit der Einflussnahme wird das politische Mitspracherecht der Bevölkerung<br />

bei politischen Entscheidungen erheblich eingegrenzt. Die Frage, warum das<br />

Losverfahren hier keinerlei Eingang in die konkrete Ausprägung repräsentativdemokratischen<br />

Verfahren gefunden hat, um den Bürgern ein erhöhtes Maß an<br />

politischer Partizipation zu ermöglich, bliebe zu diskutieren.<br />

fazit<br />

Die Demokratie in einem repräsentativen Regierungssystem kann nicht <strong>als</strong> eine<br />

unmittelbare Herrschaft durch das Volk definiert werden, sondern nur <strong>als</strong> Legitimierung<br />

der Machtausübung einzelner Repräsentanten. Die Inanspruchnahme<br />

des im Grundgesetz verankerten Wahlrechts bietet aus Sicht der Bürger die einzig<br />

legale und periodisch formalisierte Möglichkeit, auf die Auswahl der Repräsentanten<br />

Einfluss zu nehmen. Der häufig geäußerte Vorwurf an die repräsentative<br />

Demokratie, wonach das Volk entmündigt werde, lässt sich nicht pauschal<br />

beantworten. Sie könnte aber dahingehend aufgelöst werden, dass der Aspekt,<br />

ob sich das Volk entmündigen lässt, in den Vordergrund rückt. Wer nicht wählen<br />

geht, macht von seinem demokratischen Recht, nämlich den Willen des Volkes<br />

zu formulieren, keinen Gebrauch. Und je weniger Menschen ihrem Willen eine<br />

Stimme geben, desto freier, aber auch unkontrollierter, sind die Abgeordneten<br />

in ihren politischen Entscheidungen. Das hat zur Folge, dass die Kluft zwischen<br />

Regierenden und Regierten größer wird. Wer sich ständig im Privaten beschwert,<br />

seinen Unmut über die Politik aber nicht in die Öffentlichkeit trägt, der kann<br />

auch keine Reaktion von den Repräsentanten erwarten.<br />

An diese Beobachtung schließt sich eine neue Frage an: Warum nutzen die Bürger<br />

ihre politischen Rechte nicht intensiver? Standardisierte Antwortmöglichkeiten,<br />

wie beispielsweise „Die meisten interessieren sich nicht für Politik“, oder „<br />

Meine Stimme hat sowieso keine Einfluss“, tragen hier nicht zu einer Klärung bei.<br />

Vielmehr gilt es, dieses Phänomen, das in der politikwissenschaftlichen Debatte<br />

teils <strong>als</strong> Parteien- und teils <strong>als</strong> Politikverdrossenheit definiert wird, mit Blick auf<br />

alternative Beteiligungsverfahren weiter zu untersuchen. Die Einbindung in das<br />

politische Geschehen und ein Interesse an und Verständnis von Politik bedingen<br />

sich gegenseitig. Der Blick in die Vergangenheit hat ergeben, dass eine direkte<br />

politische Partizipation durch die Bürger möglich ist. Die Frage ist nur, wie sich<br />

dies in einer repräsentativen Demokratie umsetzen lässt.<br />

Dis | kurs 57


thema: Wa(e)hlen in deutschland<br />

Wählerschwund einer Volkspartei<br />

Die deutsche Sozialdemokratie nach der<br />

Bundestagswahl 2009<br />

Keno Müller<br />

Universität Vechta, Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie<br />

E-Mail: keno.mueller@mail.uni-vechta.de<br />

abstract<br />

The article analyzes the massive loss of votes of the German Social Democratic<br />

Party (SPD) in absolute and percentage figures. The main focus is lying<br />

on the following questions: Why did the voters of the SPD on the day of the<br />

federal elections in 2009 prefer to stay at home or even to give their vote to<br />

another party? And what changes can be identified having occurred in the<br />

social and political sphere in Germany that promoted this development? The<br />

article brings into focus the problem how individual issues during the election<br />

campaign and how the program and the governance of the SPD being<br />

in office led to a lack of or to a decrease in identification of voters with the<br />

principles of their – former – party. Moreover, the loss of votes and seats in<br />

constituencies will be studied as well as the voter-migration with its consequence<br />

of a massive non-election and voters turning away from social democracy<br />

to other parties.<br />

schlüsselwörter<br />

Sozialdemokratie, SPD, Wählerverhalten, Wählerwanderung, Bundestagswahl<br />

2009<br />

58 Dis | kurs


Keno Müller<br />

Am 27. September 2009 traten die Wähler, gut vier Jahre nach der Arbeitsaufnahme<br />

der Großen Koalition, wieder an die Wahlurne. Das Ergebnis der Bundestagswahl<br />

barg viele Besonderheiten. Nur 70,8 Prozent aller Wahlberechtigten<br />

machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Dieses Ergebnis bildet den niedrigsten<br />

Wert in der Geschichte der Bundestagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Alleine im Vergleich zum Jahr 2005 sank die Zahl um 6,9, im Vergleich zum<br />

Votum von 1998 sogar um 11,4 Prozent. Anders ausgedrückt, mehr <strong>als</strong> 18,1 Millionen<br />

Wahlberechtigte blieben am 27. September 2009 dem Wahllokal fern.<br />

Eine der interessantesten Fragen, die sich nach der Wahlentscheidung stellte war,<br />

ob sich unter den über 18 Millionen Nichtwählern überdurchschnittlich viele,<br />

potenzielle oder ansonsten treue SPD- oder CDU- beziehungsweise CSU-Wähler<br />

befanden. Während sich im Jahre 2002 noch mehr <strong>als</strong> drei Viertel der Bundesbürger<br />

– 77 Prozent – für eine der beiden „großen Parteien“ entschieden, votierte<br />

im Herbst des Jahres 2009, mit 57 Prozent nur noch etwas mehr <strong>als</strong> jeder zweite<br />

Bundesbürger für eine der beiden Volksparteien. Die Christlich Demokratische<br />

Union (CDU), im Verbund mit ihrer bayerischen Schwesterpartei der Christlich<br />

Sozialen Union (CSU), fuhr bei der Bundestagswahl 2009 ein historisch schlechtes<br />

Ergebnis ein. Die Führungsriegen von CDU und CSU mussten erkennen, dass<br />

das mit 35,2 Prozent der Wählerstimmen magere Ergebnis des Jahres 2005, vier<br />

Jahre später sogar noch um 1,4 Prozent unterboten werden sollte. Nur bei der<br />

Wahl zum ersten Deutschen Bundestag im Jahre 1949 fuhren die Christdemokraten<br />

um Kanzlerkandidat Konrad Adenauer ein schlechteres Ergebnis ein.<br />

Während die Sozialdemokraten um Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier<br />

am Wahlabend des 27. September noch jubelten, <strong>als</strong> die grafische Darstellung<br />

der ersten Prognose ein noch schlechteres Ergebnis für die politische Konkurrenz<br />

aufzeigte, <strong>als</strong> vier Jahre zuvor, ahnte in der SPD noch niemand, was wenige<br />

Sekunden später, bei der Einblendung ihres Wahlergebnisses passieren sollte. Das<br />

Balkendiagramm zeigte eine nahezu kümmerlich kurze rote Säule, welche mit der<br />

Unterschrift 23 Prozent versehen war und somit das desolate Abschneiden der<br />

Sozialdemokraten bei dem zurückliegenden Wählerentscheid darstellte.<br />

Mehr <strong>als</strong> sechs Millionen Wählerstimmen hatte die SPD, sowohl bei der Erst- <strong>als</strong><br />

auch bei der Zweitstimme, binnen vier Jahren verloren. Während die Christdemokraten<br />

<strong>als</strong>o noch mit dem sprichwörtlich blauen Auge davon kamen und dank<br />

einer außergewöhnlich stark auftrumpfenden FDP weiterhin an der Macht blie-<br />

Dis | kurs 59


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

ben, wurde der Koalitionspartner der vergangenen Legislaturperiode deutlich für<br />

sein Regierungshandeln abgestraft, abgewählt und in die seit langem ungewohnte<br />

Rolle einer Oppositionspartei verbannt.<br />

Im Folgenden soll diese Wahlniederlage, verbunden mit dem schlechtesten Wahlergebnis<br />

der Sozialdemokraten aufgezeigt und analysiert werden. Ist das Modell<br />

„Volkspartei“ ein Auslaufmodell, kann und darf man bei einer Partei, die von weniger<br />

<strong>als</strong> einem Viertel der Bevölkerung gewählt wurde, überhaupt noch von einer<br />

Volkspartei sprechen und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das<br />

neugeordnete Fünfparteiensystem im Bundestag?<br />

das fünfparteiensystem<br />

Speziell in den Massenmedien wird seit der Bundestagswahl 2005 und dem damit<br />

verbundenen Auftreten der Partei „DIE LINKE“ auf Bundesebene, von einem<br />

Wandel in der deutschen Parteienlandschaft gesprochen. Seither steht der Begriff<br />

des Fünfparteiensystems für eine fundamentale Veränderung in der Parlamentsund<br />

Parteienstruktur des Deutschen Bundestages. Die Präsens von fünf Parteien<br />

auf Bundesebene ist allerdings keine neue Erscheinung. Bereits seit 1990 ist die<br />

damalige PDS, allerdings mit Ausnahme der Legislaturperiode von 2002 bis 2005,<br />

<strong>als</strong> Fraktion im Bundestag vertreten. 1 Wie bereits erwähnt, entschieden sich im<br />

Jahre 2002 noch mehr <strong>als</strong> drei Viertel der Wähler für eine der beiden „großen“ Parteien.<br />

Sieben Jahre später, bei der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag, votierten<br />

nur noch 57 Prozent für CDU/CSU oder die SPD. Im Jahr 2002 konnten Bündnis<br />

90/Grüne, die PDS und die FDP zusammen einen Stimmenanteil von etwa 20<br />

Prozent verbuchen. 35 Prozent der Wählerstimmen entfielen im Jahr 2009 auf die<br />

drei kleineren Parteien. Dieser Stimmenanteil war somit bereits höher <strong>als</strong> jener<br />

der CDU/CSU und bei weitem höher <strong>als</strong> der Anteil der Wählerstimmen den die<br />

SPD verzeichnen konnte. Der Unterschied zwischen den Sozialdemokraten und<br />

der drittstärksten Partei, den Liberalen, lag im September 2009 bei weniger <strong>als</strong><br />

sieben Prozent.<br />

Der Terminus Fünfparteiensystem ist somit <strong>als</strong>o irreführend. Nicht die fünf Fraktionen<br />

im Bundestag sind das Neue, entscheidend ist vielmehr das zwischen ihnen<br />

herrschende und veränderte Kräfteverhältnis. Die Abstände zwischen großer<br />

1 Die PDS hatte in dieser Legislaturperiode nur zwei direkt gewählte Kandidaten im Deutschen<br />

Bundestag.<br />

60 Dis | kurs


Keno Müller<br />

und kleiner Partei sind deutlich geringer geworden. Die großen Parteien haben<br />

in den vergangenen Bundestagswahlen deutlich an Stimmanteil verloren, im Gegenzug<br />

konnten Bündnis 90/Grüne, die FDP und „DIE LINKE“ zum Teil erhebliche<br />

Stimmzuwächse verbuchen und etablierten sich 2009 nachhaltig, mit einem<br />

Wählerstimmenanteil von jeweils deutlich über 10 Prozent.<br />

Dieses veränderte Kräfteverhältnis ist in vielerlei Hinsicht spannend. Es bietet<br />

Raum für neue Koalitionen und Parteikonstellationen. Es stellt einen Aufbruch<br />

des speziell seit 1983 etablierten Schemas Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb dar.<br />

Neue Farb- und somit Parteienkonstellationen müssen künftig für eine Regierungsbildung<br />

in Betracht gezogen werden. 2 Einst verfeindete Parteienlager treffen<br />

sich bereits jetzt zu Koalitionsverhandlungen auf Kommunal- und Länderebene.<br />

Umfrageergebnisse können bei der Frage nach Beweggründen für die Wahl oder<br />

Nicht-Wahl einer Partei helfen. Auf den kommenden Seiten werden die Daten<br />

des endgültigen Ergebnisses der Bundestagswahl 2009 mit Ergebnissen von<br />

Meinungsumfragen in Beziehung gesetzt. Mit Hilfe dieser Fakten und Meinungen<br />

der Wähler soll versucht werden, dass Abschneiden der Sozialdemokraten<br />

beim zurückliegenden Wählerentscheid zu analysieren und zu verstehen. Für die<br />

Wahlforschung gibt es verschiedene theoretische Ansätze, die zunächst dargestellt<br />

werden sollen.<br />

das Wahlverhalten<br />

Zur Erklärung des Wahlverhaltens von Bürgerinnen und Bürgern sollen im Folgenden<br />

vier theoretische Ansätze unterschieden werden. Durch diese Theorien<br />

kann ein Zusammenhang zwischen bestimmten Einflussfaktoren und dem Wahlverhalten<br />

hergestellt werden. Als Erstes wird der soziologische Erklärungsansatz<br />

dargestellt. Dieser wird in zwei Perspektiven, die mikro- und die makrosoziologische<br />

Perspektive unterteilt.<br />

Die mikrosoziologische Perspektive, auch bekannt <strong>als</strong> sozi<strong>als</strong>truktureller oder<br />

gruppentheoretischer Ansatz, betont die Bedeutung des sozialen Umfelds für<br />

eine Wahlentscheidung. 3 Hiernach sind Wahlpropaganda oder der Einfluss der<br />

Massenmedien weniger entscheidend für die individuelle Wahlentscheidung,<br />

2 Vgl. Jun, Uwe: Wandel des Parteien- und Verbändesystems, in APuZ 28,(2009), S. 31–32.<br />

3 Vgl. Korte, Karl-Rudolf: Wahlen in Deutschland. Bonn 2009, S. 100.<br />

Dis | kurs 61


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

<strong>als</strong> vielmehr die Einflüsse durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.<br />

Innerhalb dieser Gruppen bestehen feste politische Verhaltensnormen. Hierbei<br />

spielen der sozioökonomische Status, Konfessionszugehörigkeit und die Größe<br />

des Wohnortes eine entscheidende Rolle. Eine höhere Homogenität in den Verhaltensnormen<br />

in einer Gruppe verringert nach diesem Ansatz die Wahrscheinlichkeit<br />

einer individuellen, von der Gruppe abweichenden Wahlentscheidung.<br />

Beispiele hierfür sind die Einbindungen in Gewerkschaften, bestimmte Handwerksmilieus<br />

oder in die katholische Kirche. Besonders das Zusammenspiel mehrerer<br />

Einflussfaktoren durch verschiedene Verbände und/oder Vereine befördert<br />

die Wahrscheinlichkeit eines stabilen, längerfristig an eine Partei gebundenen<br />

Wahlverhaltens.<br />

Diese langfristigen Bindungen von verschiedenen Bevölkerungsgruppen an bestimmte<br />

Parteien, werden in der makrosoziologischen Perspektive aufgegriffen. 4<br />

Jene Bindungen lassen sich auf die Entstehung und Entwicklung von Parteiensystemen<br />

anwenden. Obwohl in den verschiedenen Ländern Westeuropas erhebliche<br />

Unterschiede in Bezug auf Wahlrecht und Institutionengefüge bestehen, lassen<br />

sich seit dem 19. Jahrhundert in all diesen Staaten, feste Allianzen zwischen Bevölkerungsgruppen<br />

und politischen Parteien ausmachen. In fast allen Parteisystemen<br />

gibt es christdemokratische, sozialistische oder sozialdemokratische, liberale<br />

sowie grüne Parteien, welche alle über eine feste Wählerschaft verfügen. Die<br />

Entwicklung der Parteiensysteme in Westeuropa hängt, diesem Ansatz zufolge,<br />

eng mit den Demokratisierungsprozessen im 19. und 20. Jahrhundert zusammen.<br />

Alle Länder durchliefen, wenn auch in anderen Zeiträumen und in verschiedenem<br />

Tempo, vergleichbare Entwicklungsphasen mit ähnlichen Hauptproblemen.<br />

Das Verhältnis der Bevölkerungen auf dem Land und in den Städten, Konflikte<br />

zwischen Kirche und Politik, die einsetzende Industrialisierung und die Verhältnisse<br />

zwischen Arbeit und Kapital können <strong>als</strong> grundlegende Probleme jener Zeit<br />

ausgemacht werden. Während sich in den Peripherien Gebiete mit agrarisch geprägten<br />

Interessen herausbildeten, entwickelten sich die Zentren zu Orten der<br />

kaufmännischen, bürgerlichen und handwerklichen Schichten. Die politischen<br />

Eliten verbanden sich mit den Bevölkerungsgruppen und vertraten deren Interessen.<br />

Entlang dieser zunächst losen Verbindungen von nun politisierten Gruppen<br />

der Gesellschaft, bildeten sich mit der Zeit Konfliktlinien, welche man auch<br />

4 Vgl. ebd., S. 101.<br />

62 Dis | kurs


Keno Müller<br />

heute noch im Parteiengefüge erkennen kann. Jene Konfliktlinien haben sich mit<br />

der Zeit modernisiert. Heute bestehen Gegensätze zwischen Managements und<br />

Arbeitnehmern sowie zwischen konservativ und modern in ähnlicher Intensität<br />

wie früher zwischen Arbeit und Kapital beziehungsweise zwischen der Kirche<br />

und dem Staat. Entscheidend ist hierbei das Handeln der politischen Eliten. Diese<br />

müssen in der Lage sein, ihre politischen Vorhaben zu formulieren und sich eine<br />

dauerhafte Unterstützung seitens ihrer Wählerschaft sichern. Des Weiteren setzt<br />

diese Erklärungsperspektive eine Bereitschaft der Bevölkerung zur aktiven Partizipation<br />

am politischen Geschehen voraus. 5<br />

Eine deutlich andere Perspektive für die Analyse des Wahlverhaltens bietet der<br />

individualpsychologische Erklärungsansatz. 6 Hiernach ist das Wahlverhalten<br />

Ausdruck einer individuellen Beziehung zu einer Partei. Die Identifikation mit<br />

einer Partei ist ebenso entscheidend, wie die emotionale Bindung an diese. Erworben<br />

wird die Bindung durch die Sozialisation in Elternhaus, Freundeskreis<br />

und bestimmten politischen Gruppen. Ist diese Identifikation einmal ausgeprägt,<br />

beeinflusst sie die Wahrnehmung und die individuelle Bewertung politischer<br />

Themen. Weitere Faktoren für die Wahlentscheidung sind die persönliche Bewertung<br />

der von den Parteien aufgestellten Kandidaten und die Meinung zu aktuellen<br />

politischen Themen. Diesem Erklärungsansatz zufolge, wird die individuelle<br />

Wahlentscheidung aufgrund dieser drei Faktoren gefällt. Auch hier wird <strong>als</strong>o<br />

eine starke soziale Verankerung mit der Partei hervorgehoben. Allerdings sind<br />

die Einstellung zu den Kandidaten und die Meinung zu tagespolitischen Themen<br />

Aspekte, die eine kurzfristige Wahl, entgegen der angeeigneten Parteienbindung,<br />

ermöglichen können. In diesem Erklärungsansatz wird <strong>als</strong>o das Zusammenspiel<br />

zwischen langfristiger emotionaler Parteibindung und kurzfristiger situativer Bewertung<br />

der Kandidaten oder bestimmter Themen für eine Wahlentscheidung<br />

betrachtet.<br />

Der eigene, maximal zu erreichende politische Nutzen steht im Vordergrund des<br />

Modells des rationalen Wählerverhaltens. 7 Hiernach entscheidet sich der Wähler<br />

für die Partei, von dessen politischen Handeln er sich den größten Vorteil verspricht.<br />

Rationales Handeln bedeutet hier eine Orientierung an aktuellen Streit-<br />

5 Vgl. ebd., S. 102.<br />

6 Vgl. ebd., S. 103.<br />

7 Vgl. ebd., S. 104.<br />

Dis | kurs 63


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

fragen der Politik. Diese Orientierung ist nicht an eine Gemeinwohlverpflichtung<br />

des politischen Handelns oder an eine rein logische Entscheidungsfindung gebunden.<br />

Der Wähler vergleicht das politische Handeln der Regierung mit der Frage,<br />

was passiert wäre, wenn in jener Zeit die Opposition an der Macht gewesen wäre.<br />

Das Ergebnis dieser Fragestellung kann somit nur auf einer Vermutung basieren.<br />

Die Entscheidung fällt dann zugunsten der Partei, von der angenommen wird, sie<br />

könne in Zukunft seine individuellen Ziele am ehesten verwirklichen. Die aktuellen<br />

politischen Probleme sind in dieser Betrachtung ebenso entscheidend wie<br />

das Bild von Opposition und Regierung sowie die wirtschaftlich vorherrschenden<br />

Rahmenbedingungen. Hierzu gehören Inflations- oder Wachstumsraten oder die<br />

aktuellen Arbeitslosenzahlen. Langfristige Parteibindungen oder Loyalität gegenüber<br />

bestimmten sozialen Gruppen spielen hierbei keine entscheidende Rolle.<br />

8 Bei der strengen Betrachtung dieses Modells stellt sich allerdings die Frage,<br />

warum die Menschen überhaupt noch zur Wahl gehen. Die Möglichkeiten seinen<br />

eigenen Nutzen durch die Abgabe seiner zwei Stimmen im Vierjahresrhythmus<br />

zu maximieren, ist in repräsentativ-demokratischen Systemen wie der Bundesrepublik<br />

verschwindend gering. Auch kann dieses Modell kaum erklären, warum<br />

Wähler für kleine Parteien stimmen, da ihre Chancen auf eine Regierungsbeteilung<br />

ebenfalls sehr klein sind.<br />

Der jüngste Ansatz zur Erklärung des Wahlverhaltens ist das Modell des sozialen<br />

Milieus. In diesem Modell werden Wählerinnen und Wähler in sozial-moralische<br />

Milieus eingeteilt. Ursprünglich war dieses Modell zur Untersuchung des Konsumverhaltens,<br />

vor dem Hintergrund eines sich vollziehenden Wertewandels in<br />

der deutschen Bevölkerung, im Jahre 1984 vom Sinus-Institut entwickelt worden.<br />

1992 wurde dieses Modell in Zusammenarbeit mit dem Polis-Institut9 modernisiert<br />

und auf das Wahlverhalten der Deutschen übertragen. Die Einteilung in die<br />

jeweiligen sozialen Milieus erfolgt durch die Identifikation mit Wertorientierungen.<br />

Hierzu gehören Einstellungen zu den Themen Familie und Arbeit, das Konsumverhalten<br />

sowie die Wünsche und Ängste dieser Bevölkerungsgruppe. Diese<br />

bestimmen im Wesentlichen die Lebensstile und Lebensstrategien der Menschen.<br />

Die Sinus-Gruppe unterscheidet zehn Milieus, welche sich durch gemeinsame<br />

Lebensweisen und identische Grundwerte auszeichnen. Anhand dieser Eintei-<br />

8 Vgl. ebd.<br />

9 Heute polis+sinus Gesellschaft für Sozial- und Marktforschung mbH.<br />

64 Dis | kurs


Keno Müller<br />

lung lassen sich Einstellungen und damit die tendenzielle Absicht zur Wahl einer<br />

Partei untersuchen.<br />

Für die individuelle Wahlentscheidung sind verschiedene Faktoren von Bedeutung.<br />

Die vier theoretischen Ansätze bieten, jeweils für sich allein, keine befriedigende<br />

Antwort über das Zustandekommen einer Entscheidung für das Setzen<br />

eines Kreuzes auf einer bestimmten Stelle des Wahlzettels. Mitgliedschaften in<br />

Gruppen und die Identifikation mit den Werten und Aussagen einer Partei können<br />

langfristige Faktoren für eine bestimmte Wahlentscheidung sein. Kurzfristig<br />

bildet sich der Wähler eine Meinung zu den Kanzlerkandidaten und seiner Position<br />

gegenüber den Streitfragen im Wahlkampf der Parteien. Kurz- und langfristige<br />

Faktoren sowie die persönlichen Einstellungen zu den Kandidaten von<br />

Regierungs- und Oppositionsparteien und Einstellungen zu innen- und außenpolitischen<br />

Belangen führen zusammengenommen zu einer Wahlentscheidung.<br />

2009 haben die kleinen Parteien, teils deutlich, Wählerstimmen hinzugewonnen.<br />

CDU/CSU und SPD haben Verluste hinnehmen müssen. Macht das dadurch<br />

merklich veränderte Kräfteverhältnis im Bundestag das Modell Volkspartei in<br />

Deutschland zu einem Auslaufmodell? Nun soll betrachtet werden, was eine Partei<br />

zu einer Volkspartei werden lässt, was diese ausmacht und ob eine Partei mit<br />

weniger <strong>als</strong> einem Viertel der Wählerstimmen Gefahr läuft, diesen Status zu verlieren<br />

beziehungsweise ob sie ihn bereits verloren hat.<br />

die Volkspartei<br />

Der Begriff „Volkspartei“ ist nicht eindeutig zu definieren. Zur Klärung dieses<br />

Begriffes unterscheidet Peter Lösche vier Indikatoren, welche keine differenzierte<br />

Wirklichkeitsdarstellung, sondern aus didaktischen Gründen eine einseitige<br />

Überspitzung der realen Verhältnisse bieten. 10<br />

Die Volkspartei ist in ihrer Zusammensetzung der Mitglieder und Wähler nicht<br />

auf eine spezielle Schicht, ein Milieu oder eine Klasse beschränkt. Sie umfasst<br />

vielmehr mehrere Schichten, Klassen, Religionen und Konfessionen. Die Volkspartei<br />

folgt den strukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen die sich in<br />

der Bevölkerung und auf dem Arbeitsmarkt vollziehen. 11<br />

10 Vgl. Lösche, Peter: Ende der Volkspartei, in: APuZ 51, (2009), S .6.<br />

11 Vgl. ebd., S. 7.<br />

Dis | kurs 65


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Zweitens bedient sich eine Volkspartei moderner Werbemethoden um Wähler<br />

und Mitglieder aus verschiedenen Schichten und Klassen für sich zu gewinnen.<br />

Diese Angebote richten sich vor allem an jene Wählerschichten, „die an die eigene<br />

Stammwählerschaft grenzen“ 12 . Lösche beschreibt die Volkspartei weiter<br />

<strong>als</strong> eine „Massenwähler-, Mitglieder-, und Funktionärspartei.“ 13 Um eine Massenwählerpartei<br />

zu bleiben, muss die Volkspartei dauerhaft mehr <strong>als</strong> 35 Prozent<br />

Wählerstimmenanteil aufweisen und etwa ein Prozent aller Wahlberechtigten <strong>als</strong><br />

Mitglieder in ihren Reihen vereinen. 14 Bei einer strengen Betrachtung dieses Kriteriums<br />

wird bereits hier deutlich, dass man nach der Bundestagswahl 2009 nicht<br />

mehr von einer Volkspartei sprechen dürfte, wenn man das Wahlergebnis von 23<br />

Prozent für die SPD zugrunde legt.<br />

Drittens sind Volksparteien Phänomene der repräsentativ-demokratischen politischen<br />

Systeme. Eine Volkspartei muss in der Lage sein, sowohl in ihrer Motivation<br />

<strong>als</strong> auch mit ihrem Wählerpotenzial, alleine oder in einer Koalition Regierungsverantwortung<br />

zu übernehmen. Kompromiss- und damit gemeinsam<br />

regierungsfähig sind Parteien nur dann wenn sie keinen absoluten Herrschaftsanspruch<br />

haben. 15 Die Achtung der Menschenrechte ist neben der Anerkennung<br />

der parlamentarischen Traditionen und Grundordnungen einer der Bereiche, in<br />

denen, so kontrovers alle anderen Politiksektoren auch diskutiert werden, parteiübergreifender<br />

Konsens herrschen muss.<br />

Eine Volkspartei braucht drittens ein durch eine links, rechts oder in der Mitte<br />

verortete Stammwählerschaft gebildetes Fundament, auf welches sich die Partei<br />

verlassen kann. Diese Basis der Partei sollte einen Gesamtwähleranteil, in der<br />

Größenordnung von 20 bis 25 Prozent darstellen. Eine solche starke Basis macht<br />

es dann möglich, einen programmatischen Wandel zu vollziehen oder sich anders<br />

ausgedrückt, auf andere Wählerschichten zuzubewegen und um die, am Rande<br />

der eigenen Stammwählerschaft angesiedelten, potenziellen Wähler zu werben.<br />

Wie bereits erwähnt, ist es fraglich ob man bei den Sozialdemokraten noch von<br />

einer Volkspartei sprechen kann, wenn sie von nicht einmal jedem vierten Wähler<br />

gewählt wurden. Das von Lösche angelegte Kriterium von einem Gesamtwäh-<br />

12 Ebd.<br />

13 Ebd.<br />

14 Vgl. ebd.<br />

15 Vgl. ebd.<br />

66 Dis | kurs


Keno Müller<br />

leranteil von 35 Prozent lässt diesen Terminus auf die SPD nicht mehr zutreffen.<br />

Fernab von Zahlen und Rechenspielen ist ein von Peter Lösche genanntes Kriterium,<br />

bei genauerer Betrachtung und Anwendung auf die SPD allerdings weit<br />

interessanter. Eine Volkspartei folgt den strukturellen und gesellschaftlichen Veränderungen,<br />

die sich in der Bevölkerung und auf dem Arbeitsmarkt vollziehen.<br />

Die Parteien, im Besonderen die SPD, sehen sich einer Bevölkerung gegenüber,<br />

der seit Jahren die Vorzüge einer neuen globalisierten Welt suggeriert werden.<br />

Gerade die SPD-Wählerbasis bildende Facharbeiterschaft hat in den letzten Jahren<br />

allerdings praktische Erfahrungen damit sammeln müssen, dass die neue Arbeitskonkurrenz<br />

oder die Standortmobilität der Wirtschaft, die mit der Globalisierung<br />

verbundenen Chancen nur sehr ungleich verteilt. 16<br />

die linke<br />

Im März des Jahres 2003 kündigte die damalige Regierung eine Reform des Arbeitsmarktes<br />

unter dem Namen Agenda 2010 an. Im Sommer des darauffolgenden<br />

Jahres verabschiedeten SPD und Bündnis 90/ Die Grünen die Hartz IV-Reform.<br />

Durch die Einführung dieser Arbeitsmarktreformen und der damit verbundenen<br />

Vorwürfe, die Regierungsparteien beförderten mit der neuen Gesetzgebung einen<br />

enormen Sozialabbau, konnte die PDS in den Umfragen, vor allem im Osten<br />

des Landes, teils deutliche Zuwächse verzeichnen.<br />

Während ein solcher Aufschwung für die PDS in den alten Bundesländern noch<br />

ausblieb, regte sich bei der SPD in den eigenen Reihen zunehmend Widerstand<br />

gegen die Politik der Regierung, insbesondere gegen die Agenda 2010 und den<br />

damit verbundenen Kurswechsel der Partei. Abtrünnige SPD-Mitglieder und<br />

teils enttäuschte Gewerkschafter gründeten neue Organisationen, welche im Jahr<br />

2005 die Partei „Arbeit & Soziale Gerechtigkeit – die Wahlalternative (WASG)“<br />

hervorbrachte. Die WASG wandte sich thematisch gegen die Reformpolitik und<br />

den aus ihrer Sicht, vor sozialer Kälte und Neoliberalismus strotzenden, neuen<br />

Kurs von Rot-Grün. Zunächst trat die neue Partei <strong>als</strong>o in programmatische Konkurrenz<br />

zu der PDS und warb somit auch um die gleiche Wählerklientel. Noch<br />

vor der Bundestagswahl 2005, forcierten die Parteispitzen eine „Fusion“ von PDS<br />

und WASG. Die PDS benannte sich um in „Linkspartei“ und stellte auf ihren<br />

Listen auch Kandidaten der WASG für die Bundestagswahl auf. Am 16. Juni 2005<br />

16 Vgl. Bruns, Tissy: Mehr Optionen, gesunkene Erwartungen, ApuZ, 51, (2009), S. 4.<br />

Dis | kurs 67


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

wurde der Parteibildungsprozess auf dem Parteitag der Linkspartei abgeschlossen<br />

und die PDS und die WASG fusionierten unter dem Namen „DIE LINKE“.<br />

Während einige Mitglieder der WASG eine Zusammenarbeit mit der PDS, aufgrund<br />

ihrer SED-Vergangenheit und deren offenem Bekenntnis zu einem angestrebten,<br />

sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem kritisch sahen,<br />

erkannten wiederum andere WASG-Anhänger eine einmalige Chance, im Bundestag,<br />

eine Partei links der SPD zu etablieren. Der ehemalige SPD-Vorsitzende<br />

Oskar Lafontaine gehörte und gehört zu den prominentesten Mitgliedern der damaligen<br />

WASG und heutigen Partei „DIE LINKE“.<br />

Der Umgang mit der Partei „DIE LINKE“ war und ist ein innerparteiliches Streitthema<br />

in der SPD. Bis zur Landtagswahl in Hessen am 27. Januar 2008 hatte die<br />

Führung der SPD eine Zusammenarbeit mit der Linken noch kategorisch ausgeschlossen.<br />

SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti war zumindest auf die<br />

Stimmen der Linken im hessischen Landtag angewiesen, um sich zur Ministerpräsidentin<br />

wählen zu lassen. Bekanntlich kam es nicht zu diesem Votum. Die<br />

damalige SPD-Landtagsabgeordnete Dagmar Metzger kündigte vor jener Wahl<br />

an, ihrer Spitzenkandidatin im Falle eines Bündnisses mit der Partei „DIE LIN-<br />

KE“, die Stimme zu verweigern und diese somit um die knappe Mehrheit in der<br />

Abstimmung zu bringen. Dem damaligen SPD-Chef Kurt Beck wurde seinerzeit<br />

vorgeworfen, er beziehe in dieser Thematik nicht deutlich genug Stellung. Innerhalb<br />

und außerhalb der SPD wird seither eine Diskussion um den Umgang<br />

mit der Linken geführt. Der SPD, speziell Andrea Ypsilanti wurde Wortbruch<br />

zugunsten des Machterwerbs vorgeworfen. Andere sahen in der Kooperation<br />

eine Umsetzung des Wählerwillens, der an den Stimmenzuwächsen der Linken<br />

abzulesen sei.<br />

Bis heute ist der Ausgang dieser Diskussion noch offen. Seit der Bundestagswahl<br />

2009 und den hohen Zugewinnen der Linken ist die Thematik noch interessanter<br />

geworden. Viele Parteimitglieder der SPD sind noch immer skeptisch bezüglich<br />

einer möglichen Koalition in westdeutschen Landtagen oder gar auf Bundesebene.<br />

Die SPD wird sich in Zukunft zumindest dieses Themas nicht verschließen<br />

können, will sie sich nicht einer Koalitionsmöglichkeit berauben. Auch eine Zusammenarbeit<br />

mit den Grünen wurde seinerzeit anfangs ausgeschlossen, da sich<br />

unter deren Parteimitgliedern etliche ehemalige Straßenkämpfer, Maoisten und<br />

68 Dis | kurs


Keno Müller<br />

RAF-Sympathisanten befanden. 17 Bereits bei der Bundestagswahl 2005 erzielte<br />

„DIE LINKE“ mit mehr <strong>als</strong> 25 Prozent der Wählerstimmen im Osten, ein beachtliches<br />

Ergebnis. Im Westen der Republik konnte die Partei ihr Ergebnis – im<br />

Vergleich zum Abschneiden der PDS 2002 – ebenfalls deutlich verbessern. Sie<br />

kam in den alten Bundesländern auf einen Stimmenanteil von 4,9 Prozent. Daraus<br />

ergibt sich ein bundesdeutsches Wahlergebnis von 8,7 Prozent. Im September<br />

2009 erreichte „DIE LINKE“ einen Stimmenanteil von mehr <strong>als</strong> 26 Prozent in<br />

den neuen, und mehr <strong>als</strong> acht Prozent in den alten Bundesländern, bundesweit<br />

11,9 Prozent.<br />

Viele Bürgerinnen und Bürger erlebten und erleben tagtäglich soziale Ungerechtigkeit.<br />

Gerade in der Frage, nach der Kompetenz für die Bekämpfung dieser Ungerechtigkeit<br />

bekam die SPD mit der Partei „DIE LINKE“, einen Konkurrenten<br />

im Kampf um die Wählergunst in diesem Bereich. 86 Prozent der Wähler der<br />

Linken gaben im Rahmen der Bundestagswahl 2009 an, in Deutschland gehe es<br />

ungerecht zu. Unter ihren Wählern waren 68 Prozent der Meinung, die Politik<br />

solle sich für mehr Solidarität einsetzen. 24 Prozent der Arbeiter in Deutschland<br />

wählten die SPD – ein Verlust von elf Prozent – , 18 Prozent „DIE LINKE“. In den<br />

neuen Bundesländern wählten gar 23 Prozent der Arbeiter „links“. 25 Prozent der<br />

Erwerbslosen wählten „DIE LINKE“, deren 23 Prozent votierten für die SPD. 18<br />

Die Agenda 2010 bedeutete einen enormen Umbau des Sozi<strong>als</strong>taates. In den Augen<br />

der Wähler verlor die SPD mit dieser neuen Politik den Anspruch, die Partei<br />

des vielzitierten „kleinen Mannes“ zu sein. Wie die Zahlen belegen, wählen die<br />

„kleinen Leute“ nicht mehr selbstverständlich die SPD, sondern sie wechseln ins<br />

Lager der Linken oder enthalten sich ihrer Stimme. Umfrageergebnisse zeigen,<br />

dass SPD-Abwanderer zumeist die mangelnde soziale Gerechtigkeit beklagen. 42<br />

Prozent dieser Gruppe gaben dies <strong>als</strong> Hauptmotiv an, der SPD ihre Stimme im<br />

Gegensatz zur letzten Bundestagswahl, zu verweigern. 19 Die größte Aufgabe ist<br />

für die Deutschen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Nur 21 Prozent der von<br />

der Forschungsgruppe Wahlen befragten Wähler, trauen der SPD zu, die Arbeits-<br />

17 Vgl. Strasser, Johano: Demokraten und Schmuddelkinder. 23.03.2010, http://www.vorwaerts.de/nachrichten/demokraten-und-schmuddelkinder.<br />

18 Vgl. Infratest-dimap, Tagesschau Wahlarchiv. 05.03.2010, http://wahlarchiv.tagesschau.de/<br />

wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-werwas.shtml.<br />

19 Vgl. Infratest-dimap, Der tagesschau.de-Wahlmonitor. 16.03.2010, http://wahlarchiv.tagesschau.de/flash/index.html?wahl=2009-09-27-BT-DE.<br />

Dis | kurs 69


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

losigkeit bekämpfen zu können. 20 Bei der Wahl zum 17. Deutschen Bundestag<br />

gelang es der Linken, besonders in den Hochburgen beziehungsweise jetzt ehemaligen<br />

Hochburgen der SPD, starke Wahlergebnisse zu erzielen. Diese Konkurrenzsituation<br />

zwischen den Sozialdemokraten und der Partei „DIE LINKE“ kann<br />

an folgenden Zahlenbeispielen deutlich gemacht werden.<br />

Von den 299 Wahlkreisen bei der Bundestagswahl, ging in dreizehn dieser Wahlbezirke,<br />

die Mehrheit der Erststimmen von der SPD im Jahre 2005 an die Partei<br />

„DIE LINKE“ im Jahr 2009 über. Zunächst einmal gilt es zu beachten, dass jeder<br />

dieser dreizehn Wahlkreise in den neuen Bundesländern liegt. Die SPD verlor<br />

die Erststimmenmehrheit in Wahlkreisen in Mecklenburg Vorpommern, Brandenburg,<br />

Berlin (ehem. Ost), Thüringen und Sachsen-Anhalt. Im Wahlkreis „014<br />

Rostock“ verlor die SPD 17,9 Prozent ihrer Stimmen, während „DIE LINKE“ zehn<br />

Prozent Stimmenzuwachs verzeichnen konnte. Im Wahlbezirk „073 Halle“ verzeichnete<br />

die SPD einen Stimmenrückgang von 19,2 Prozent, „DIE LINKE“ legte<br />

um 7,2 Prozentpunkte zu. In den Wahlkreisen „072 Anhalt“ und „075 Mansfeld“<br />

verlor die SPD 14,2 beziehungsweise 15,7 Prozent. „DIE LINKE“ legte in diesen<br />

Bezirken um 7,5, respektive um 8,2 Prozent zu. 21<br />

Die Wahlbezirke „072 Anhalt“ und „075 Mansfeld“ stehen zudem exemplarisch<br />

für eine weitere Ursache des niedrigen Wahlergebnisses der SPD auf Bundesebene.<br />

Diese beiden Wahlkreise sowie der Wahlbezirk „074 Burgenland-Saalekreis“,<br />

ebenfalls in Sachsen-Anhalt, sind die drei Wahlkreise mit der bundesweit niedrigsten<br />

Wahlbeteiligung. Auch in letzterem Wahlbezirk verlor die SPD 2009, im<br />

Vergleich zu 2005 die Erststimmenmehrheit. Allerdings verloren die Sozialdemokraten<br />

diesen Wahlkreis nicht an „DIE LINKE“ sondern, wie insgesamt 75 weitere<br />

Wahlkreise, an die CDU.<br />

die geringe Wahlbeteiligung<br />

Noch nie in der Geschichte der Bundestagswahlen war die Wahlbeteiligung so<br />

niedrig wie im Jahr 2009. Nur 70,8 Prozent der Bundesbürger traten, wie ein-<br />

20 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen. Wahlanalyse Bundestagswahl 2009. 05.03.2010,<br />

http://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Bundestagswahl_2009/.<br />

21 Vgl. Der Bundeswahlleiter. Wahlkreise bei der Bundestagswahl 2009. 16.03.2010, http://<br />

www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_09/veroeffentlichungen/<br />

engueltige/arbtab5.<strong>pdf</strong>.<br />

70 Dis | kurs


Keno Müller<br />

gangs erwähnt, am 27. September an die Wahlurnen. In Wahlkreisen mit einer,<br />

im Vergleich zum Bundesdurchschnitt, noch geringeren Wahlbeteiligung, verlor<br />

die SPD im hohen Maße Wählerstimmen. Zu sehen ist dies an den bereits<br />

angesprochenen Wahlkreisen im Osten der Bundesrepublik, in Sachsen-Anhalt,<br />

Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Wahlkreise wie in den<br />

Städten Lübeck, Magdeburg, Str<strong>als</strong>und oder Greifswald wiesen bereits 2005 eine<br />

geringe Wahlbeteiligung auf. Hier ging die Bereitschaft zur Stimmabgabe 2009<br />

noch weiter, zwischen vier und zehn Prozent zurück. Auffällig ist, dass die SPD in<br />

diesen Wahlkreisen deutlich zweistellige Verluste hinnehmen musste.<br />

Für die Städte Köln, Wuppertal, Duisburg und Essen ist dasselbe Phänomen feststellbar.<br />

Ist die Wahlbeteiligung geringer <strong>als</strong> im Bundesdurchschnitt, oder sinkt<br />

sie stärker, sind hohe, deutlich zweistellige Verluste der Sozialdemokraten eher<br />

beobachtbar. In Köln sank die Wahlbeteiligung in zwei von drei Wahlkreisen der<br />

Stadt deutlich unter die Marke der Bundesdeutschen Vergleichszahlen. Der Stimmenanteil<br />

der SPD ging hier zwischen 12 und 15 Prozent zurück, ebenso, teils<br />

deutlicher, in den genannten anderen Städten. 22<br />

Schon diese kurze Betrachtung der Fakten, erst recht die Aufschlüsselung aller<br />

Wahlkreisdaten, deren Wiedergabe an dieser Stelle zu umfangreich wäre zeigt,<br />

dass die SPD viele ihrer Wähler nicht an eine andere Partei, sondern an die Nichtwähler<br />

verloren hat. Die Zahlen sind imposant. Alleine die SPD hat so viele Abwanderer<br />

in das Lager der Nichtwähler zu beklagen, wie Union, FDP und Bündnis<br />

90/Grüne zusammen. Mehr <strong>als</strong> zwei Millionen Menschen wählten im Jahre 2005<br />

noch die SPD, blieben im September 2009 aber der Wahlurne fern. Dieser Wert<br />

ist beinahe doppelt so hoch wie der Vergleichswert der CDU/CSU – 1,08 Millionen<br />

–. 23 Diese mehr <strong>als</strong> zwei Millionen Wähler drücken ihren Unmut der Partei<br />

gegenüber aus. Sie sind und waren mit der SPD eindeutig nicht zufrieden. Die<br />

Gründe für ihre Abwendung von einer Partei sind vielfältig und es soll im Folgenden<br />

versucht werden, diese zu analysieren. Die SPD-Nichtwähler, wenn man sie<br />

so nennen darf, sind zwar mit ihrer Partei nicht zufrieden, sie sind im Gegenzug<br />

allerdings offensichtlich nicht oder noch nicht bereit, ihre Stimme einer anderen<br />

22 Vgl. Der Bundeswahlleiter: Wahlbeteiligung und Verteilung der gültigen Stimmen nach<br />

Wahlkreisen. 16.03.2010, http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_<br />

BUND_09/veroeffentlichungen/engueltige/voetab2.<strong>pdf</strong>.<br />

23 Vgl. Infratest dimap. Wählerwanderung. 16.03.2010, http://wahlarchiv.tagesschau.de/<br />

wahlen/2009-09-27-BT-DE/analyse-wanderung.shtml.<br />

Dis | kurs 71


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Partei zu geben. Man könnte diese Gruppe <strong>als</strong> „sozialdemokratische Wähler im<br />

Wartestand“ 24 bezeichnen. Sie können wieder SPD-Wähler werden, könnten zu<br />

anderen Parteien wechseln oder es könnte sich auch hier, die vielzitierte Politikverdrossenheit<br />

einstellen. Eben jener Verdruss einer immer größer werdenden<br />

Gruppe, ist für jede Demokratie dieser Welt hinderlich, wenn nicht gar gefährlich.<br />

Die Parteien müssen versuchen diesem entgegenzuwirken. Schon jetzt ist<br />

eine Entfremdung zwischen den Regierenden und den Regierten zu beobachten.<br />

Das Gefühl einer immer größer werdenden Distanz zwischen Politikern und dem<br />

Volk, verfestigt sich bei vielen Wählern und noch mehr Nichtwählern.<br />

die Wählerwanderung<br />

Die SPD verlor, wie bereits angesprochen, den größten Teil ihrer Wählerschaft an<br />

das Lager der Nichtwähler. Auch mit der Partei „DIE LINKE“ setzten wir uns bereits<br />

auseinander. Die Partei um Gregor Gysi und Oskar Lafontaine verdiente sich<br />

aufgrund der Tatsache, dass im September 2009 1,1 Millionen SPD-Wähler zur<br />

„Linken“ gewechselt sind, eine besondere Betrachtung auf den vorangegangenen<br />

Seiten. 25 Diese Zahl belegt, dass SPD und Linke, Konkurrenten im Stimmenfang<br />

in ähnlichen Klientels geworden sind. 42 Prozent der SPD-Abwanderer gaben an,<br />

die Partei aufgrund des Themas „mangelnde soziale Gerechtigkeit“ zu verlassen.<br />

Zudem gaben fast zwei Drittel der Wähler der Linken an, nicht die Überzeugung<br />

für die Partei sei maßgeblich für die Wahl gewesen, sondern sie waren von einer<br />

anderen Partei enttäuscht.<br />

870.000 Stimmen verlor die SPD beim Wählerentscheid von 2009 an Bündnis 90/<br />

Die Grünen. 26 Für die Wähler der Grünen waren die Themen Bildungspolitik und<br />

Soziale Gerechtigkeit wahlentscheidend. Anders <strong>als</strong> unter den SPD-Wählern, werden<br />

hier die Arbeitsmarkt- und die Wirtschaftspolitik, <strong>als</strong> weniger entscheidend<br />

eingestuft. Hingegen sahen die Wähler der Sozialdemokraten das Hauptthema<br />

der Grünen, die Bildungspolitik, <strong>als</strong> eher unwichtig an. Auch wenn diese Themenschwerpunkte<br />

keine große Schnittmenge der Parteianhänger miteinander zu<br />

24 Lösche, Peter: Ende der Volkspartei, S. 8.<br />

25 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 17.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-wahlentscheidend.shtml.<br />

26 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 17.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen.<br />

72 Dis | kurs


Keno Müller<br />

haben scheinen, wechselten doch viele SPD-Abwanderer zum Koalitionspartner<br />

der Jahre 1998 bis 2005. Aufgrund der unterschiedlichen Präferenzen der Wählerschaften<br />

ist es fraglich, ob die SPD-Anhänger aus programmatischen Gründen<br />

zu den Grünen wechselten. Verschiedene Gründe könnten hier zu einer Wahl<br />

„des kleineren Übels“ geführt haben. Die kritisierte Angleichung von SPD und<br />

CDU/CSU, der Verlust sozialdemokratischer Überzeugungen und Tugenden, das<br />

Führungspersonal in der Parteispitze der SPD oder eine eventuelle Zusammenarbeit<br />

mit der Linken, können Auslöser hierfür gewesen sein.<br />

Ist zwischen den Parteien der ehemaligen großen Koalition, SPD und CDU/CSU<br />

tatsächlich kein großer Unterschied mehr zu erkennen? Haben sich beide Lager<br />

in der letzten Legislaturperiode derart angenähert, dass es für den Wähler<br />

schon keinen Unterschied mehr macht, ob er Rot wählt oder Schwarz? Auch<br />

hier sprechen die Präferenzen der Wähler eine andere Sprache. Für die Wähler<br />

der Union war die Wirtschaftspolitik das wahlentscheidende Thema. Die Frage<br />

nach der Sozialen Gerechtigkeit oder der Bildungspolitik war für Unionsanhänger<br />

zweitrangig. Darüber hinaus gestalteten Union und FDP einen Lagerwahlkampf,<br />

an dessen Ende klar eine Schwarz-Gelbe Regierung das Ergebnis sein<br />

sollte. Trotz dieser Unterschiede und der konträren Positionen zwischen Union<br />

und SPD in Punkto Steuerpolitik, Mindestlohn oder Atomausstieg, wanderten<br />

mehr <strong>als</strong> 880.000 Wähler von den Sozialdemokraten zu den Unionsparteien. 27<br />

Das bedeutet die SPD verlor mehr Stimmen an die Union, <strong>als</strong> an den gewünschten<br />

Koalitionspartner, die Grünen. Ein weiterer Wert ist aber noch erstaunlicher.<br />

Die Arbeiter, eigentlich die Stammklientel der Sozialdemokraten, wählten bei der<br />

Bundestagswahl 2009 nicht mehr mehrheitlich die SPD. In dieser Bevölkerungsgruppe<br />

bekam die SPD mit der Partei „DIE LINKE“ wie erwähnt, einen starken<br />

Konkurrenten. Die meisten Arbeiter jedoch, votierten weder für die SPD (24 Prozent)<br />

noch für „DIE LINKE“ (18 Prozent), 28 Prozent der Arbeiterschaft wählten<br />

CDU/CSU. 28<br />

Bei derart abweichenden Positionen der Parteien in den Themen Atomausstieg,<br />

Mindestlohn oder Steuerpolitik und der trotzdem hohen Zahl von SPD-CDU-<br />

27 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 17.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/analyse-wanderung.shtml.<br />

28 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 17.03.2010 ,http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-werwas.shtml.<br />

Dis | kurs 73


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Wanderern ist eine Wahl „des kleinsten Übels“ hier eher unwahrscheinlich. Auch<br />

ist es schwer vorstellbar, dass sich SPD-Anhänger bei der Union programmatisch<br />

besser vertreten fühlen. Hier liegt der Verdacht nahe, diese Wähler versuchen<br />

mit ihrem Lagerwechsel eine bestimmte Politik zu verhindern oder abzustrafen.<br />

Wenn ein SPD-Wähler seine Stimme der Union gibt, kann er damit zum Ausdruck<br />

bringen, dass ein Bündnis mit der Linken für ihn nicht in Frage kommt.<br />

Möglich ist hier auch eine Denkzettelwahl. Hierbei versagt der Wähler seiner<br />

eigentlich bevorzugten Partei seine Stimme. Auch hierfür kann es unterschiedliche<br />

Motive geben. Ein Kurswechsel in der Partei, so wie ihn die SPD durch die<br />

Verabschiedung der Hartz-Gesetze vollzogen hat, nicht eingehaltene Wahlversprechen,<br />

das Führungspersonal der Partei oder Koalitionsbildungen entgegen<br />

der eigenen Aussagen.<br />

Den geringsten Anteil der Wählerstimmen verloren die Sozialdemokraten an die<br />

FDP. Rund eine halbe Millionen Menschen – 530.000 – wählten im Jahr 2005<br />

noch die SPD, entschieden sich, vier Jahre später, bei der Wahl zum 17. Deutschen<br />

Bundestag aber für die Freien Demokraten. 29 Das die SPD den kleinsten Teil ihrer<br />

Wähler an die Liberalen verlor, scheint nicht überraschend. Beide Parteien<br />

werben größtenteils in anderen Klientels. Während die SPD ihr Wählerpotenzial<br />

hauptsächlich in der Arbeiter- bzw. Facharbeiterschaft und bei den Arbeitslosen<br />

hat, wirbt die FDP, beinahe schon traditionell in den Kreisen der Selbstständigen.<br />

Das wahlentscheidende Thema war für FDP-Anhänger eindeutig die Wirtschaftspolitik.<br />

30 Gerade hier taten sich zwischen SPD und FDP sehr unterschiedliche<br />

Positionen auf. Während die Sozialdemokraten in ihrem Wahlkampf, unter<br />

anderem für einen gesetzlichen Mindestlohn warben, bezog die FDP eine andere<br />

marktliberale Stellung in dieser Debatte. Auch die Positionen in der Thematik des<br />

Atomausstiegs konnten unterschiedlicher kaum sein. Die FDP konzentrierte sich<br />

in ihrem Wahlkampf auf ihre Steuersenkungs- und Steuervereinfachungspläne.<br />

Die Liberalen führten einen klaren Lagerwahlkampf in dem vor allem Parteichef<br />

Guido Westerwelle immer wieder vor einem Rot-Rot-Grünen Bündnis warnte<br />

und dagegen Stellung bezog. Ob SPD-Wähler aus programmatischen Gründen<br />

das Lager wechselten und nun die FDP wählten ist auch hier mehr <strong>als</strong> fraglich.<br />

29 Ebd.<br />

30 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 22.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-wahlentscheidend.shtml.<br />

74 Dis | kurs


Keno Müller<br />

Die Zahl der Wanderer, die sich von den verlockenden Steuersenkungsplänen der<br />

Liberalen haben werben lassen, dürfte gering sein. Auch hier ist ein Statement<br />

des abtrünnigen SPD-Wählers gegen die eigene Partei, in Form des sogenannten<br />

Denkzettels, eher wahrscheinlich. Zünglein an der Waage und entscheidendes<br />

Motiv zum Ausstellen eines Denkzettels könnte auch hier wieder die Partei „DIE<br />

LINKE“ gewesen sein. Einige SPD-Anhänger sahen ab dem Jahr 2005, in der Fusion<br />

von PDS und WASG, eine gewaltige Chance. Links von der SPD sollte eine<br />

weitere Partei im Bundestag integriert werden. Andere Mitglieder und Wähler<br />

der SPD hegten Ressentiments gegenüber der PDS, ob der SED-Vergangenheit<br />

einiger ihrer Abgeordneten im Deutschen Bundestag.<br />

Bezüglich des Wahlverhaltens der Deutschen lässt sich für die Bundestagswahl<br />

2009 festhalten, dass die langfristige Parteibindung abgenommen hat. Etwa ein<br />

Drittel – 32 Prozent – der Wähler entschied sich bereits lange vor der Wahl für<br />

eine Partei. Mehr <strong>als</strong> die Hälfte der Wahlberechtigten fällte ihre Wahlentscheidung<br />

erst kurz vor der Bundestagswahl. 15 Prozent entschieden sich gar erst am<br />

Wahltag für eine der Parteien. Nur 18 Prozent der Wähler gaben eine dauerhafte<br />

Bindung an die Partei <strong>als</strong> entscheidendes Wahlkriterium an und nur 14 Prozent<br />

bezeichneten sich <strong>als</strong> Stammwähler einer Partei. Für mehr <strong>als</strong> die Hälfte der zur<br />

Stimmabgabe aufgerufenen Frauen und Männer waren die Programme entscheidend<br />

für die Wahl oder die Nicht-Wahl einer Partei. 31 Den sich zur Wahl stellenden<br />

Spitzenkandidaten maßen die Wähler keine große Bedeutung bei. Nur 22<br />

Prozent gaben an, der Kandidat oder die Kandidatin sei für ihre Wahl ausschlaggebend<br />

gewesen.<br />

die mitgliederentwicklung<br />

Die Bereitschaft zur langfristigen Bindung an die Parteien sinkt. Speziell für die<br />

beiden „großen“ Parteien gilt dies nicht nur für das Verhalten ihrer Wähler, sondern<br />

auch für ihre Mitgliederzahlen. Die Mitgliederzahlen der CDU sind stark<br />

rückläufig. Im Jahre 1993 waren circa 685.000 Menschen Mitglied in der Christlich<br />

Demokratischen Union. Seitdem sinkt die Zahl der Mitglieder kontinuierlich.<br />

Im November 2009 waren es noch 523.000. 32<br />

31 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 22.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-aktuellethemen.shtml.<br />

32 Vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung. Mitgliederentwicklung der Parteien.<br />

Dis | kurs 75


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Bei der SPD kann man in diesem Zusammenhang von einer noch dramatischeren,<br />

negativen Entwicklung der Mitgliederzahlen sprechen. Zum Vergleich zur<br />

CDU: Im Jahre 1993 hatte die SPD 861.000 Mitglieder. Die „Schrumpfung“ der<br />

SPD begann bereits drei Jahre zuvor. Im Jahre 1990 verfügten die Sozialdemokraten<br />

über 943.000 Mitglieder. 33 Seither sinkt auch hier die Zahl kontinuierlich. Der<br />

Mitgliederschwund der SPD ist allerdings weit stärker <strong>als</strong> der der Union. Im Juli<br />

2008 hatte die CDU erstm<strong>als</strong> mehr Mitglieder zu verzeichnen <strong>als</strong> die Sozialdemokraten.<br />

Im November 2009 waren noch 513.000 Menschen per Mitgliedschaft<br />

mit der Partei verbunden. Anders ausgedrückt, die SPD verlor binnen 20 Jahren<br />

mehr <strong>als</strong> 400.000 Mitglieder. Grund zur Besorgnis besteht für die Sozialdemokraten<br />

auch in Hinblick auf die Altersstruktur ihrer Mitglieder. 1991 war rund<br />

ein Viertel der SPD-Mitglieder älter <strong>als</strong> 60 Jahre. Bis in das Jahr 2007 verdoppelte<br />

sich, mit 46,7 Prozent, nahezu der Anteil der Über-Sechzig-Jährigen. 34 Das<br />

Durchschnittsalter der Parteimitglieder lag im selben Jahr bei 57 Jahren. Nicht<br />

nur bei den Mitgliedern, auch bei den Wählern setzt sich diese Entwicklung weiter<br />

fort. Die SPD verbuchte den größten Anteil ihrer Wählerschaft in der Altersgruppe<br />

der Über-Sechzig-Jährigen. 35<br />

Geht man davon aus, dass die SPD bei der Bundestagswahl 2009 große Verluste<br />

in der Gruppe der Arbeiter- und Facharbeiterschaft hinnehmen musste, ist eine<br />

Betrachtung der Mitgliederentwicklung des Deutschen Gewerkschaftsbundes<br />

lohnenswert. In dem Dachverband der deutschen Gewerkschaften ist ein großer<br />

Teil des Wählerpotenzi<strong>als</strong> der Sozialdemokraten gebündelt.<br />

1991 zählte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), Dachverband der in<br />

Deutschland ansässigen Arbeitnehmerverbände, 11,8 Millionen Mitglieder. 2005<br />

hatte der DGB circa 6,8 Millionen Mitglieder, im Jahr 2009 waren noch etwa 6,3<br />

Millionen Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Anders ausgedrückt verloren<br />

die Gewerkschaften seit 1991 knapp 47 Prozent ihrer Mitglieder. Allein seit<br />

2005 ist die Zahl um 7,6 Prozent zurückgegangen. Mit heute 6,3 Millionen gewerkschaftlich<br />

organisierten Arbeitnehmern, entspricht dies der Mitgliederzahl<br />

22.03.2010, http://www.bpb.de/themen/1YML48,0,Mitgliederentwicklung.html.<br />

33 Vgl. ebd.<br />

34 Vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung. Parteimitglieder älter <strong>als</strong> 60 Jahre. 22.03.2010,<br />

http://www.bpb.de/themen/Y75UA8,0,0,Parteimitglieder_%E4lter_<strong>als</strong>_60_Jahre.html.<br />

35 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 23.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-alter.shtml.<br />

76 Dis | kurs


Keno Müller<br />

der Gewerkschaften des Jahres 1957. Ein Grund für den Mitgliederschwund der<br />

Gewerkschaften und damit unmittelbar zusammenhängend mit den Verlusten<br />

von Wählerstimmen und Mitgliedern der SPD, ist der Rückgang der industriellen<br />

Beschäftigung in Deutschland. Während der sekundäre, <strong>als</strong>o der produzierende<br />

oder eben industrielle Beschäftigungssektor schrumpft, verlagert sich in Deutschland<br />

der Arbeitsmarkt auf den Dienstleistungssektor. Die Arbeitsverhältnisse<br />

werden flexibler und in den Biografien der Menschen tauchen heute mehrere Berufe<br />

auf. Zudem fordert der veränderte Arbeitsmarkt eine hohe Mobilität von den<br />

Angestellten was zur Folge hat, dass die Summe gemeinsamer Erfahrungen am<br />

Arbeitsplatz und somit gemeinsame Wertevorstellungen immer geringer werden.<br />

36 Diese Entwicklung betrifft Gewerkschaften und die SPD in hohem Maße,<br />

ähnlich wie die Christdemokraten im Gegenzug von der Säkularisierung betroffen<br />

sind. In beiden Fällen erodieren, durch die gesellschaftlichen Veränderungen,<br />

Milieus aus denen sich Basis und Stammwählerschaft der Parteien bilden.<br />

die Kanzlerkandidatur<br />

Die persönliche Einstellung des Wählers zu den Spitzenkandidaten der Parteien<br />

ist ein weiteres Kriterium für die Wahlentscheidung. Zwischen Angela Merkel<br />

von der CDU und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier taten sich in<br />

den Umfragen keine besonderen Unterschiede auf. Beide Anwärter auf das Amt<br />

des Bundeskanzlers werden von der Mehrheit der Bevölkerung <strong>als</strong> glaubwürdig<br />

eingestuft. 65 Prozent messen Angela Merkel, 59 Prozent Frank-Walter Steinmeier<br />

diese Eigenschaft bei. In den Sympathiewerten herrscht zwischen den Kandidaten,<br />

mit jeweils 70 Prozent, Gleichstand. In der Frage nach der Kompetenz<br />

zeigt sich der größte Unterschied. Circa zwei Drittel der Bevölkerung – 65 Prozent<br />

– halten Angela Merkel für kompetent. Diese Eigenschaft wird dem SPD-<br />

Herausforderer immerhin auch von 59 Prozent der Befragten zugeschrieben. 37<br />

Abseits der Kanzlerkandidatur wurde nach der Zufriedenheit mit weiteren<br />

Spitzenpolitikern der Parteien und Anwärter auf mögliche Ministerposten gefragt.<br />

Dabei zeigte sich, dass bei der Union, der jetzige Finanzminister Wolfgang<br />

Schäuble, die geringste Zustimmung zu verzeichnen hatte. Nur 46 Prozent der<br />

36 Vgl. Jun, Uwe: Wandel des Parteien- und Verbändesystems, S. 28.<br />

37 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 23.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-kandidat.shtml.<br />

Dis | kurs 77


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Befragten waren mit seiner politischen Arbeit zufrieden. Ein ähnlich schlechtes<br />

Zeugnis wurde Franz Müntefering auf Seiten der SPD ausgestellt. Weniger <strong>als</strong> die<br />

Hälfte – 48 Prozent – waren mit seinem politischen Handeln zufrieden. Die Zustimmung<br />

für den ehemaligen Bundesumweltminister und heutigen SPD-Chef<br />

Sigmar Gabriel war mit 44 Prozent noch geringer. 38<br />

Zwei Fakten sprechen dafür, dass es nicht die Auswahl des Kanzlerkandidaten<br />

der SPD war, welche der Partei das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte<br />

bescherte. Frank-Walter Steinmeier führte einen Wahlkampf auf Augenhöhe<br />

gegen seine Konkurrentin Angela Merkel. Dies zeigen die beschriebenen, auf die<br />

persönlichen Kompetenzen der Kandidaten fokussierten, Umfrageergebnisse.<br />

Zum anderen wurde bereits erwähnt, dass nur 22 Prozent der Bevölkerung den<br />

Spitzenkandidaten der Parteien <strong>als</strong> ausschlaggebendes Kriterium für ihre Wahlentscheidung<br />

benannten.<br />

neue zeiten<br />

Für die Sozialdemokraten bricht nach der Bundestagswahl 2009 eine neue Zeit<br />

an. Erstm<strong>als</strong> seit 1998 ist die SPD wieder in der Rolle der Opposition im Deutschen<br />

Bundestag. Die Sozialdemokraten reagierten mit einem Wechsel in ihrer<br />

Parteispitze auf das schlechte Wahlergebnis im vergangenen Herbst. Sigmar Gabriel<br />

und Andrea Nahles bilden nun, zusammen mit ihrem Kanzlerkandidaten<br />

Frank-Walter Steinmeier das neue Führungstrio der Partei. Mit der Personalie<br />

Steinmeier hält die SPD zumindest in einer Position die Verbindung zum Reformkurs<br />

der Schröder-Ära, galt dieser doch <strong>als</strong> einer der Mitbegründer der damaligen<br />

Arbeitsmarktreformen. Der Kanzlerkandidat gehörte <strong>als</strong> Außenminister<br />

in der großen Koalition, zu den beliebtesten Politikern des Landes. Wie bereits<br />

angesprochen führte er mit seiner Konkurrentin Angela Merkel einen Wahlkampf<br />

auf Augenhöhe. In der persönlichen Bewertung der Kandidaten sahen die<br />

Bürger zwischen den beiden Anwärtern auf das Amt des Bundeskanzlers, keine<br />

großen Unterschiede.<br />

Mit Andrea Nahles und Sigmar Gabriel sind nun zwei Akteure in die Führungsriege<br />

der Partei gewählt worden, die dem „linken Flügel“ der SPD näher stehen.<br />

Einige Schlagwörter lasten auch heute noch, wie ein schweres Erbe auf der Par-<br />

38 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 23.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-kandidat.shtml.<br />

78 Dis | kurs


Keno Müller<br />

tei. Die Worte des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder „Wir werden die<br />

Leistungen des Staates kürzen“ 39 , verfolgen die Partei noch immer. Das „Gesetz<br />

für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, welches die von der Hartz-<br />

Kommission entwickelten Vorschläge zur Reformierung des Arbeitsmarktes umfasste,<br />

gilt heute <strong>als</strong> Sinnbild der Ungerechtigkeit. Jenes Gesetz, welches in vier<br />

Entwurfspakete unterteilt war, ist heute unter dem Namen „Hartz IV“ in aller<br />

Munde.<br />

Mit dieser Gesetzgebung unternahm die damalige SPD einen enormen Spagat.<br />

Einerseits erhob man für sich den Anspruch, die Partei der „kleinen Leute“ zu<br />

sein. Auf der anderen Seite jedoch, beschnitt man gerade in dieser Bevölkerungsgruppe<br />

die Lebensgrundlage der Menschen. Speziell die nun von den Menschen<br />

geforderte Offenlegung ihrer finanziellen Mittel zur Beantragung des Arbeitslosengeldes<br />

II, die verkürzte Zahlungsdauer des Arbeitslosengeldes I und die abgeschafften<br />

Regelungen zur Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten, war vielen Menschen<br />

ein Dorn im Auge. Während über die Notwendigkeit dieser Reformen, der<br />

sogenannten „Agenda 2010“ zur damaligen Zeit, parteiübergreifend im Bundestag<br />

zumeist Konsens herrschte, kehrten enttäuschte SPD-Mitglieder ihrer Partei den<br />

Rücken. Diese Abkehr ebnete den Weg für die Fusion der WASG und PDS und<br />

damit die Entstehung der Partei „DIE LINKE“. Auf der anderen Seite sind viele<br />

Mitglieder und Wähler der SPD skeptisch bezüglich einer möglichen Zusammenarbeit<br />

mit der Linken auf Bundesebene. Das offene Werben einiger Abgeordneter<br />

der Linken für eine sozialistische Gesellschaftsordnung in Deutschland sowie die<br />

SED- oder Stasi-Vergangenheit einiger der in ihren Reihen ansässigen Volksvertreter,<br />

lassen SPD-Anhänger diesbezüglich weiterhin zweifeln.<br />

Bei vielen enttäuschten SPD-Wählern sind die Begriffe „Hartz IV“ oder „Agenda<br />

2010“ gleichzusetzen mit der Beförderung der sozialen Ungerechtigkeit und dem<br />

totalen Verlust sozialdemokratischer Grundüberzeugungen. Ihre Verbindung<br />

mit dem Begriff „Hartz IV“ ist der gordische Knoten, den es für die SPD zu lösen<br />

gilt. Ihre Anhänger haben den Sozialdemokraten diese Arbeitsmarktreform bis<br />

zum heutigen Tage nicht verziehen. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang<br />

aber, dass nur der SPD diese Thematik nachhängt. Die Grünen trugen seinerzeit<br />

39 So Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Regierungserklärung vom 14. März 2003.<br />

28.03.2010, http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/regierungserklaerung/79/472179/<br />

multi.htm.<br />

Dis | kurs 79


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

diese Gesetzgebung <strong>als</strong> Regierungspartei mit. In den Köpfen der Bürgerinnen<br />

und Bürger ist die Agenda 2010 aber nicht annähernd so stark mit den Grünen<br />

verbunden wie mit der SPD. Im Gegenteil, es ist der Partei gelungen, 2009 einen<br />

Wahlkampf gegen die SPD und speziell gegen die mit Hartz IV verbundenen Ungerechtigkeiten<br />

zu führen. Zu erklären ist dies mit der Wählerschaft der Grünen.<br />

Hier finden sich überproportional viele Beamte, höhere Angestellte und Akademiker.<br />

40 Dies ist ein Indiz dafür, dass die Grünen über eine Wählerschaft verfügen,<br />

die die Folgen der Arbeitsmarktreformen oder beispielsweise eines angehobenen<br />

Renteneinstiegsalters kaum tangieren. Beamte und Akademiker kommen<br />

nicht, oder nur sehr unwahrscheinlich in die Situation, in der Arbeitslose sich<br />

bereits befinden oder von der Facharbeiter jüngst nachhaltig bedroht werden.<br />

Der enorme Zulauf der Partei „DIE LINKE“ unter den Erwerbslosen und die steigende<br />

Zahl linkswählender Arbeiter bestätigen diese Aussage. Auch warben die<br />

Gewerkschaften bei den vergangenen Bundestagswahlen bei ihren Mitgliedern<br />

offen für die Unterstützung der Sozialdemokraten. Im Jahre 2009 waren diese<br />

Aufrufe der Arbeitnehmerverbände deutlich leiser <strong>als</strong> im Vorfeld vorangegangener<br />

Wählerentscheide.<br />

Mit ihrem Bundestagswahlprogramm des Jahres 2009 reagierte die SPD auf die<br />

Kritik, auch aus den Reihen der Gewerkschaften. Mit der Einführung eines gesetzlichen<br />

Mindestlohnes, einem verbesserten Kündigungsschutz für die Arbeitnehmer<br />

und einer „Entschärfung“ der Rente mit 67 im Falle eines Wahlsieges,<br />

versuchte die Partei den Forderungen der Gewerkschaften entgegen zu kommen.<br />

Für den neuen Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel wird die Annäherung an die<br />

Arbeitnehmerverbände eine der zentralen Aufgaben der kommenden Monate<br />

und Jahre werden. Auch wenn die Gewerkschaften einen enormen Mitgliederschwund<br />

zu verzeichnen haben und die typischen SPD-Wähler-Milieus in den<br />

letzten Jahren erodierten, tut sich in Gewerkschaftsmitgliedern und deren Angehörigen<br />

noch immer ein gewaltiges Wählerpotenzial für die Sozialdemokraten<br />

auf.<br />

Selbstverständlich hängt das Abschneiden der SPD in den kommenden Monaten<br />

und Jahren auch mit der Politik der neuen Bundesregierung zusammen. Union<br />

und FDP sind seit September 2009 an der Macht. Vor allem die Liberalen gingen<br />

40 Vgl. Infratest dimap. Tagesschau.de, Bundestagswahl 2009. 26.03.2010, http://wahlarchiv.<br />

tagesschau.de/wahlen/2009-09-27-BT-DE/umfrage-job.shtml.<br />

80 Dis | kurs


Keno Müller<br />

mit ehrgeizigen Zielen in den Wahlkampf. Die Kampagne für Entbürokratisierung,<br />

einfachere Steuersysteme und Steuersenkungen, bescherte der Partei einen<br />

enormen Stimmenzuwachs. Jüngst verabschiedeten die Koalitionsparteien einen<br />

Haushalt für das Jahr 2010, welcher eine Rekordneuverschuldung von etwa 80<br />

Milliarden Euro bedeutet. Sollte der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode<br />

mit Steuersenkungen, Gesundheitsreform und einer Gesundung der Staatsfinanzen,<br />

die Quadratur des Kreises gelingen, dürfte die SPD auch in den kommenden<br />

Jahren weiter schlechte Wahlergebnisse einfahren. Für die Sozialdemokraten<br />

kann es nicht darum gehen, in der Zukunft auf das Versagen der Bundesregierung<br />

zu hoffen. Die SPD muss den Menschen, auch und gerade ihrer eigentlichen Klientel<br />

wieder Angebote machen, um für sie zu stimmen. Als Oppositionspartei<br />

gilt es die richtigen Fragen zu stellen und stets ein waches Auge für das Handeln<br />

der Regierung zu haben. Eine völlige Abkehr von vergangenen Zeiten und der<br />

Versuch sich von einer Beteiligung an der Hartz-Gesetzgebung loszusagen, wird<br />

in der Wählerschaft der SPD nicht funktionieren, sondern es würde die Partei nur<br />

unglaubwürdiger machen. Vielmehr gilt es, den Menschen gute Gründe für die<br />

Agenda-Politik zu liefern. Der Versuch einer Versöhnung mit den Wählern muss<br />

unternommen werden. Die SPD muss in der Opposition schlag- und tatkräftig<br />

agieren und bei den kommenden Landtagswahlen wieder auf sich aufmerksam<br />

machen. Gelingt es ihr, nicht mehr nur auf Hartz IV reduziert zu werden, den<br />

Wählern und vor allem den mehr <strong>als</strong> 18 Millionen Nichtwählern wieder gute Angebote<br />

zu machen, wird man in Zukunft wieder von der Volkspartei SPD sprechen<br />

können.<br />

Dis | kurs 81


thema: Wa(e)hlen in deutschland<br />

Ein mensch – Eine stimme<br />

Die Veränderung des Wahlrechts<br />

Luisa Streckenbach<br />

Universität Vechta, Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie<br />

E-Mail: luisa.streckenbach@mail.uni-vechta.de<br />

abstract<br />

The fundamental right to participate in our democracy is limited. For participation<br />

in political elections, the age of a person is crucial. Young people up to<br />

a specified age and children have no decision power. Lowering the voting age<br />

is frequently discussed in federal and state governments and <strong>als</strong>o the right<br />

to vote without age limit is up for debate, it is suggested, for example, a vote<br />

by an appointed representative. Another option is given by the exercise of the<br />

real (pure or absolute) voting rights of minors. Even if this proposal seems<br />

questionable and strange at first glance, there are many good arguments<br />

for the implementation of this change. Starting from the question whether<br />

a reduction or abolition of the voting age is appropriate, the different ways<br />

to change the electoral law will be discussed. Particular attention is paid to<br />

the direct right to vote without age limit, positions and counter positions are<br />

listed. The necessary conditions and the impact of a change in the voting age<br />

will be pointed out to underline the specific connections of this complex issue.<br />

schlüsselwörter<br />

Wahl, Wahlrecht, Kinderwahlrecht, Wahlalter, Altersgrenze<br />

82 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

„Nicht wählen zu gehen bedeutet, andere für dich und damit über dich entscheiden<br />

zu lassen.“ 1 Das Wahlrecht ist das bedeutendste demokratische Beteiligungsinstrument<br />

und ein Grundelement der repräsentativen Demokratie. Demokratie<br />

bedeutet die Herrschaft des Volkes – des gesamten Volkes. Diese Herrschaft wird<br />

dadurch beeinträchtigt, dass vielen Menschen das Recht an Wahlen teilzunehmen<br />

bis zu einem Mindestalter nicht zugestanden wird. Durch die Volkssouveränität<br />

soll gesichert werden, dass möglichst viele Menschen gleichberechtigt an<br />

der Willensbildung beteiligt werden. Doch Menschen werden bewusst von der<br />

Demokratie ferngehalten und ausgeschlossen – nur aufgrund ihres Alters.<br />

Die Diskussion um die Veränderung des Wahlrechts ist eine Diskussion um das<br />

Recht auf eine Beteiligung am politischen System von Kindern und Jugendlichen.<br />

Zudem eine Debatte darüber, inwiefern deren Bedürfnisse, Interessen und Forderungen<br />

Beachtung finden sollen und ernst zu nehmen sind. Bei Entscheidungen<br />

bezüglich des Wahlrechts wird darüber entschieden, Kinder und Jugendliche an<br />

unserer Gesellschaft mehr beziehungsweise weniger teilhaben zu lassen. Partizipation<br />

wird gewünscht. Einigkeit darüber, in welcher Form, auf welche Art und<br />

Weise und wie weit diese in das politische Geschehen einzubinden ist, besteht<br />

noch nicht.<br />

Eine Veränderung des Wahlrechts wurde bereits von vielen Seiten gefordert, damit<br />

den Jugendlichen hier die Partizipation ermöglicht werden kann. Diese Forderung<br />

kann in verschiedene Abstufungen gegliedert werden. Die Absenkung<br />

des Wahlalters wird anhand der verschiedenen Altersstufen differenziert. Auch<br />

die Abschaffung des Wahlalters wurde bereits gefordert. Daraus resultiert entweder,<br />

dass die Personen ihr Recht höchstpersönlich in Anspruch nehmen oder<br />

über stellvertretende Personen.<br />

Es gibt viele Einsprüche gegen, aber auch viele gute Gründe für die Absenkung<br />

sowie die Abschaffung des Wahlalters. Die Jugendlichen und gegebenenfalls auch<br />

die Kinder sollen mehr in Politik einbezogen werden und die Bürgerinnen und<br />

Bürger dürfen ihr Wahlrecht schon früher in Anspruch nehmen. Damit dieses<br />

Ziel erreicht werden kann und die Kinder und Jugendlichen wissen, wie sie ihr<br />

Recht sinnvoll einsetzen können, bedarf es einiger Voraussetzungen. Diese müssen<br />

nicht unbedingt vor der Änderung eingetreten sein, sie können sich auch im<br />

1 Lettner, Maria: www.vote4future.at. Österreichische Informationskampagne für Jung- und<br />

Erstwähler/innen. In: Jugendpolitik, 3 (2006), S. 27.<br />

Dis | kurs 83


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

Prozess ergeben. Sie sind wiederum eng verbunden mit den Auswirkungen, die<br />

sich durch die Veränderungen ergeben. Die Voraussetzungen und auch die Auswirkungen<br />

unterscheiden sich je nachdem, wie das Wahlrecht verändert wird.<br />

Die politische Landschaft wird sich verändern, besonders wären Parteien, Politikerinnen<br />

und Politiker mit einer jüngeren Wählerschaft konfrontiert. Lehrkräfte,<br />

Eltern, politische und andere Personen müssten sich auf diese neue Wählergruppe<br />

einstellen.<br />

das Wahlalter<br />

Das Wahlrecht in Deutschland ist streng reglementiert. Es müssen verschiedene<br />

Bedingungen erfüllt werden, um an den verschiedenen Wahlen auf Bundes- und<br />

Landesebene teilnehmen zu dürfen. Das festgelegte Mindestalter ist eine wesentliche<br />

Bedingung. Die gesetzlichen Vorgaben zum Wahlalter unterscheiden sich<br />

ein wenig. Die Vorgaben sind abhängig von der jeweiligen Wahl bedingt durch<br />

die entsprechenden Entscheidungen des Bundes und der Bundesländer. Der Artikel<br />

38 (2) im Grundgesetz besagt, dass bei Bundestagswahlen derjenige „[…]<br />

wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat […]“ 2 . Auch für<br />

die Europawahlen ist ein Alter von 18 Jahren vorgeschrieben. Die Regelungen für<br />

die Landesparlamentswahlen sind in den jeweiligen Landesgesetzen festgeschrieben.<br />

Das Wahlalter ist auch hier auf 18 Jahre festgelegt.<br />

Bei den Landesparlamentswahlen gibt es allerdings ab 2011 eine Ausnahme. Im<br />

Land Bremen beschloss die Bürgerschaft 2009 das Wahlalter zur nächsten Stadtund<br />

Landtagswahl auf 16 Jahre zu senken. Bremen ist damit das erste Bundesland,<br />

in dem Menschen ab 16 Jahren an der Landesparlamentswahl teilnehmen<br />

dürfen. In anderen Bundesländern können junge Menschen ab 16 Jahren für die<br />

Kommunalwahlen (Gemeinde/Stadt) ihre Stimme abgeben. Diese Möglichkeit<br />

bietet sich jungen Menschen in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen,<br />

Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und in Schleswig-Holstein. Mit dem<br />

Wahlalter wird festgelegt, welche Menschen fähig sind oder fähig sein sollten ihre<br />

Stimme abzugeben. Diese Fähigkeit wird beispielsweise am vorhandenen politischen<br />

Verständnis gemessen sowie daran, begründete Entscheidungen treffen zu<br />

2 Ohne Verfasser: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. III. Der Bundestag (Art.<br />

38-49). 17.02.2010, Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/wissen/<br />

Q01ETK,3,0,Das_Grundgesetz_f%FCr_die_Bundesrepublik_Deutschland.html#art3.<br />

84 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

können. Das notwendige politische Verständnis ist jedoch nicht definiert, es wird<br />

scheinbar davon ausgegangen, dass lediglich alle Erwachsene dieses Verständnis<br />

und die kognitiven Kompetenzen aufweisen. Die Menschen können sich auf ihre<br />

erste Wahl einstellen und vorbereiten. Menschen, die noch zu unreif sind sich mit<br />

Politik zu beschäftigen, sollen so vor dieser Belastung geschützt werden.<br />

Die politische Mündigkeit ist demnach mit 18 beziehungsweise mit 16 Jahren<br />

erreicht. Eine gute Begründung für den Altersunterschied bei den verschieden<br />

Wahlen gibt es nicht. Häufig wird jedoch die Komplexität der thematischen Bezugspunkte<br />

erwähnt. Zudem seien Entscheidungen bezüglich der Gemeinde für<br />

die Wählerin und den Wähler näher und verständlicher – sie scheinen die Person<br />

mehr zu betreffen, der Lebensweltbezug scheint größer zu sein. Diese Begründung<br />

lässt sich von der jeweils „kleineren“ auf die „größere politische Ebene“ übertragen.<br />

Diese Annahmen vermitteln auch, dass sich die politischen Entscheidungen<br />

und Themen je nach Wahl in ihrer Bedeutung unterscheiden. Diese Annahme<br />

ist im Grunde jedoch f<strong>als</strong>ch. Jede Wahl ist wichtig. Keine Wahl sollte leichtfertig<br />

getroffen werden – mit jeder anstehenden Wahl muss sich vorher beschäftigt<br />

werden, damit auch die richtige Entscheidung getroffen werden kann.<br />

die Veränderung des Wahlalters<br />

Die Debatte um die Senkung des Wahlalters ist schon lange aktuell und mündet<br />

immer wieder aufs Neue in eine harte politische Auseinandersetzung. Das Wahlrecht<br />

wurde stetig erweitert, beispielsweise durch das Wahlrecht für Frauen.<br />

Auch das Wahlalter wurde häufig neu festgelegt. Im Jahr 1949 wurde das aktive<br />

Wahlalter durch den parlamentarischen Rat auf 21 Jahre, die damalige Volljährigkeit,<br />

festgelegt. Ab Mitte der 60er-Jahre sprachen sich einige Bundestagsabgeordnete<br />

– besonders die jüngeren Bundestagsabgeordneten – für die Absenkung<br />

des Wahlalters auf 18 Jahre aus. Diese anfangs vereinzelten Stimmen bekamen<br />

mehr und mehr Unterstützung. Vor allem im Angesicht der Protestbewegungen<br />

1967/1968 sprachen sich schon bald alle damaligen Parteien des Bundestags für<br />

die Herabsetzung aus. Diese Idee wurde im Jahr 1970 vom Bundestag beschlossen.<br />

Das aktive Wahlalter wurde auf 18 Jahre festgelegt. Die Volljährigkeit mit<br />

21 wurde jedoch vorerst beibehalten und erst 1975 an das Wahlalter angepasst.<br />

Diese Entscheidung war auch dam<strong>als</strong> umstritten und viel diskutiert. Nach einer<br />

kurzen Unterbrechung wurde dem Thema seit Mitte der 90er-Jahre wieder mehr<br />

Dis | kurs 85


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

Bedeutung beigemessen. Durch eine erneute Absenkung des Wahlalters sollte<br />

der gegenwärtigen Politikverdrossenheit und der immer weiter sinkenden Wahlbeteiligung<br />

entgegengewirkt werden. 3<br />

1995 wurde das Bundesverfassungsgericht bezüglich der Absenkung des Wahlalters<br />

angerufen. Zwei Jugendliche 13 und 16 Jahre alt strebten dam<strong>als</strong> mit Hilfe des<br />

Rechtsanwalts Peter Merk und vielen anderen Unterstützern eine Verfassungsbeschwerde<br />

wegen Vorenthaltung des Wahlrechts an. Aktenzeichen des Urteils. Die<br />

zuständige Kammer lehnte es jedoch ab, sich mit dieser Verfassungsbeschwerde<br />

zu beschäftigen. Die Richter argumentierten, die Beschwerde sei nur innerhalb<br />

einer einjährigen Frist nach der Verabschiedung des Grundgesetzes möglich<br />

gewesen. Selbst, dass die Kläger zu dem Zeitpunkt noch nicht geboren worden<br />

waren, hatte auf die Entscheidung keinen Einfluss. 4 In Niedersachsen durften ab<br />

1996 erstmalig 16 und 17 jährige Jugendliche ihre Stimme bei den Kommunalwahlen<br />

abgeben.<br />

Auch dieser Tage wird die Veränderung des Wahlalters wieder diskutiert. Die<br />

Meinungen bezüglich des Wahlalters sind geteilt. Die Parteien, aber auch viele<br />

politische Organisationen beteiligen sich an der Diskussion. Die Einstellungen zu<br />

dem Thema werden intern immer wieder diskutiert. Wie bereits aufgezeigt, hat<br />

das Bundesland Bremen die Gesetzeslage hierzu verändert. Aber auch in anderen<br />

Bundesländern wird die Thematik diskutiert.<br />

Die SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz setzt sich für die Absenkung des<br />

Wahlalters auf 16 Jahre bei Kommunalwahlen 2014 ein. 5 Die Partei Bündnis 90/<br />

DIE GRÜNEN fordert das Wahlalter bei Bundestags- und Europawahlen auf 16<br />

Jahre und bei Kommunalwahlen auf 14 Jahre zu senken. Die Partei die LINKE,<br />

fordert in ihrem Wahlprogramm der Bundestagswahl 2009 das aktive Wahlrecht<br />

3 Vgl. Nann, Valentin: Ich bin unter 18 – und ich will wählen!. Der Streit ums Wahlalter.<br />

17.02.2010, Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.fluter.de/de/<br />

wahlen_special/editor/843/?tpl=86.<br />

4 Vgl. Ohne Verfasser: Kommentar zur Verfassungsbeschwerde der Familienpartei Deutschlands<br />

„Wahlrecht ab Geburt“. 17.02.2010, KinderRÄchTsZÄnker, http://www.kraetzae.de/<br />

wahlrecht/texte/kommentar_familienpartei/.<br />

5 Vgl. Ohne Verfasser: SPD im Land will Wahlalter auf 16 senken. Änderung soll zur<br />

Kommunalwahl 2014 greifen – CDU hält sich zurück, FDP lehnt ab. 17.02.2010, Medienhaus<br />

Trierischer Volksfreund, http://www.volksfreund.de/totallokal/region/Region-<br />

Wahlen-Jugendliche-Mainz-SPD-CDU-FDP-SPD-im-Land-will-Wahlalter-auf-16senken;art1129,2393690.<br />

86 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

auf 16 Jahre festzulegen. Die Mitglieder des Bundesjugendrings bestehen auf eine<br />

Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre bei allen Wahlen. Die Stiftung für die<br />

Rechte zukünftiger Generationen, die Jugendorganisation die GRÜNE JUGEND<br />

und das Jugend-Nachhaltigkeitsnetzwerk YOIS setzen sich stark für eine Abschaffung<br />

des Wahlalters ein – es wird ein echtes 6 Wahlalter ab der Geburt gefordert.<br />

Die FDP setzt sich gegen eine Absenkung des Wahlalters in Rheinland-Pfalz<br />

ein und auch auf Bundesebene ein. Sie vertritt die Forderung, das Wahlalter ab<br />

der Geburt einzuführen. In diesem Falle sollen jedoch die Eltern bis zur Volljährigkeit<br />

der Kinder das Wahlrecht treuhänderisch verwalten. Auf das sogenannte<br />

Stellvertreterwahlrecht geht diese Partei in ihrem Wahlprogramm 2009 jedoch<br />

nicht ein. Die CDU lehnt jede Veränderung bezüglich des Wahlalters ab.<br />

die stufen der Veränderung<br />

Die Forderungen bezüglich des Wahlrechts unterscheiden sich in einigen Nuancen.<br />

Die Beteiligung an Wahlen hat einen sehr hohen symbolischen Wert. Bei<br />

der Diskussion um die Absenkung oder Abschaffung des Wahlalters geht es um<br />

Gerechtigkeit.<br />

Einige Akteurinnen und Akteure fordern, dass das Wahlalter der verschiedenen<br />

Wahlen unterschiedlich bleiben soll, andere wollen ein einheitliches Wahlalter<br />

– unabhängig von der Art der Wahl. Wie schon angemerkt, vermitteln diese Unterscheidungen<br />

einen f<strong>als</strong>chen Eindruck über die Wertigkeiten der Wahlen. Ein<br />

niedriges Wahlrecht nur auf der kommunalen Ebene würde vermitteln, dass diese<br />

Wahl nur <strong>als</strong> Test gedacht ist – die Bedeutung der Wahl könnte mit einer Art<br />

Spielplatz verglichen werden.<br />

die absenkung des Wahlalters<br />

Die Absenkung des Wahlalters wird entweder auf 14 oder 16 Jahre angesetzt,<br />

leise wird aber auch vom Wahlalter zwölf gesprochen.<br />

„Die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie […] legen mittlerweile unbestreitbar<br />

nahe, dass mit 12 oder 13 Jahren das Urteilsvermögen, die Kenntnisse<br />

und Bewertungen von Kindern so ‚ausgereift‘ sind, dass durchaus die politi-<br />

6 Ein Wahlrecht ab der Geburt ohne Stellvertretung. Auch <strong>als</strong> reines oder absolut-allgemeines<br />

Wahlrecht bezeichnet.<br />

Dis | kurs 87


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

schen Zusammenhänge auch in ihrer Komplexität verstanden und reflektiert<br />

werden (auf alle Fälle nicht weniger <strong>als</strong> von einigen Menschen aus anderen<br />

Alterskohorten).“ 7<br />

Besonders ab zwölf Jahren weitet sich der Blick der Jugendlichen über das eigene<br />

Lebensumfeld hinaus. Die Urteilsfähigkeit über die verschiedensten Thematiken<br />

bildet sich immer weiter aus. Junge Menschen sind immer häufiger in der Lage<br />

abstraktes, hypothetisches und auch logisches Denken sinnvoll und auch bewusst<br />

einzusetzen (intellektueller Entwicklungsschub). 8<br />

Die Absenkung des Wahlalters auf 14 Jahre betreffen bundesweit gegenwärtig circa<br />

4.820.000 junge Menschen. Dies bedeutet, es dürften weitere 5,8 Prozent der<br />

deutschen Bevölkerung ihr Wahlrecht in Anspruch nehmen. 9 Eine Altersgrenze<br />

von 14 Jahren könnte plausibel vertreten werden. Mit 14 Jahren ändern sich einige<br />

der gesetzlichen Rechte und Pflichten von Jugendlichen (gesetzliche Teilmündigkeit).<br />

Die Jugendlichen werden strafmündig, sie müssen auch vor dem Gesetz<br />

für ihre eigenen Handlungen einstehen. Die Entscheidungen von 14 Jährigen bekommen<br />

gesetzlich mehr Einfluss. Den Jugendlichen wird einiges zugetraut.<br />

Das Wahlalter auf 16 Jahre festzulegen, ist nur eine kleine Veränderung. Unbedeutend<br />

ist sie aber nicht. Angesichts der Tatsache, dass viele Kinder und Jugendliche<br />

von der Wahl ausgeschlossen sind, hat selbst diese Veränderung zumindest für<br />

einen kleinen Anteil der jugendlichen Bevölkerung eine Bedeutung. Doch dieser<br />

Schritt ist halbherzig und der Absenkung würden kurzfristig wieder neue Forderungen<br />

und weitere Diskussionen zu einer Absenkung des Wahlalters folgen.<br />

Die bloße Senkung des Wahlalters um wenige Jahre basiert auf der Annahme,<br />

dass diese Altersgruppen schon reif genug sind, um ihr Recht zu wählen wahrnehmen<br />

zu können. Verfechter und Verfechterinnen einer Abschaffung halten<br />

diese Entscheidung für eine halbe Sache. Bei einer Einigung über die Absenkung<br />

des Wahlalters besteht die Frage, inwiefern diese Absenkung schrittweise umgesetzt<br />

wird und wie weit das Mindestalter herabgesenkt werden soll. Jeder Zeit<br />

7 Bär, Christof: Volljährigkeit ist eine Schutzregelung und keine Grundrechtseinschränkung.<br />

Die Position des Bayerischen Jugendrings. In: Jugendpolitik, 3 (2006), S. 11–12.<br />

8 Vgl. Maywald, Jörg: Wahlrecht für Kinder und Jugendliche von Geburt an. Diskussionspapier<br />

der National Coalition. In: Jugendpolitik, 3 (2006), S. 26.<br />

9 Vgl. Bär, Christof: Volljährigkeit ist eine Schutzregelung und keine Grundrechtseinschränkung,<br />

S. 12.<br />

88 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

könnten die Einigungen wieder verworfen werden. Nachfolgende Forderungen,<br />

die restlichen ausgeschlossenen jungen Menschen mit einzubeziehen, hätten viel<br />

mehr Schwierigkeiten und mit viel mehr Gegenstimmen zu rechen. Vermutlich<br />

wäre diese Gruppe auch nicht in der Lage für ihre Rechte zu kämpfen. Es könnte<br />

argumentiert werden, dass sich der Aufwand einer erneuten Absenkung nicht<br />

lohnt oder die Größe der Gruppe würde <strong>als</strong> zu unbedeutend betrachtet werden.<br />

Vor allem bei einer Absenkung auf nur 16 oder 14 Jahre bleibt vieles unverändert.<br />

Die neue Wählerschaft ist nicht bedeutend jünger und viele neue Wählerinnen<br />

und Wähler kämen nicht hinzu. Die neuen Wählerinnen und Wähler hätten womöglich<br />

viele Schwierigkeiten in den politischen Prozess zu gelangen, beispielsweise<br />

weil sich für die politischen Akteurinnen und Akteure keine besonders große<br />

Veränderung der Wählerschaft ergeben würde. Des Weiteren wird sich diese<br />

neue Wählergruppe kaum mit den Bedürfnissen und Erwartungen der noch jüngeren<br />

Generation befassen. Diese Generation wird so zu einer noch kleineren<br />

Gruppe, die von der Demokratie ausgeschlossen ist.<br />

die abschaffung des Wahlalters<br />

Auch der Deutsche Bundestag hat sich schon mit dem Wahlrecht ab Geburt beschäftigt,<br />

bisher allerdings ohne neue Ergebnisse. Die Abschaffung des Wahlalters<br />

ist eine weitaus drastischere Forderung <strong>als</strong> die Absenkung des Wahlalters um<br />

wenige Jahre.<br />

Die Entscheidung hätte viele weitreichende Auswirkungen. Bei dem Wahlrecht<br />

ab der Geburt beziehungsweise ab null gibt es zwei Wege. Der eine Weg drückt<br />

die Forderung aus, die neue Wählerschaft solle ihr Wahlrecht persönlich ausüben–<br />

sobald sie dazu in der Lage ist. Als anderer Weg wird eine Stellvertretung<br />

des Wahlrechts für die Kinder und Jugendlichen gefordert – bis eine festgelegte<br />

Altersgrenze erreicht ist. Die Befürworterinnen und Befürworter des persönlichen<br />

Wahlrechts ab der Geburt (echtes Kinderwahlrecht) sind sich darüber im<br />

Klaren, dass kein Baby das Wahlrecht in Anspruch nehmen wird.<br />

Das Wahlrecht soll zu einem verfassungskonformen Recht werden. Es muss für<br />

die jungen Menschen immer die Möglichkeit bestehen an Wahlen teilzunehmen,<br />

sobald sie dafür bereit sind. Einige Menschen früher, andere Menschen später. Es<br />

müssen bestimmte Kompetenzen vorhanden sein um an Wahlen teilnehmen zu<br />

Dis | kurs 89


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

können, beispielsweise muss ein Kind eine gewisse Sprach- und Lesekompetenz<br />

aufweisen. Auch den eigenen Willen ausbilden und vermitteln zu können ist eine<br />

wichtige Voraussetzung. Es geht insgesamt darum, dass jeder Mensch wählen<br />

darf, aber kein Mensch wählen muss.<br />

Jörg Tremmel, der ehemalige Leiter der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen,<br />

widmet sich einem Gedankenspiel. Er stellt sich die Frage, wie jung<br />

der jüngste Wähler beziehungsweise die jüngste Wählerin sein wird – sofern ein<br />

echtes Kinderwahlecht durchgesetzt ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der<br />

jüngste Wähler oder die jüngste Wählerin aus entwicklungspsychologischer Sicht<br />

etwa fünf Jahre alt sein wird. Zwar würde das Kind den Weg zum Wahllokal noch<br />

nicht finden, aber es kann seinen Willen zu wählen artikulieren. 10<br />

Das Wahlrecht ab Geburt könnte folgendermaßen umgesetzt werden: Die wahlwillige<br />

Person muss bis zu einem bestimmen Alter oder grundsätzlich mittels<br />

eines formlosen Antrags den Eintrag in die Wählerliste fordern. Der Eintrag wird<br />

für folgende Wahlen gespeichert. Der Antrag könnte so in jedem Alter gestellt<br />

werden, aber ist an die jeweilige Person gebunden. 11 Ergänzend muss sich hier die<br />

Frage gestellt werden, ob der Eintrag für alle Formen der Wahl gelten soll oder<br />

ob die Möglichkeit besteht sich anfangs nur für eine oder einige Wahlformen zu<br />

entscheiden.<br />

Die praktizierte Briefwahl müsste gegebenenfalls zur Sicherheit der Stimmen<br />

ausgesetzt oder überarbeitet werden. Eine Briefwahl beispielsweise im Wahlamt,<br />

würde sicherstellen, dass die richtige Person abgestimmt hat. Dies müsste wahrscheinlich<br />

auch nur eine vorläufige Maßnahme sein, da das Kinder- und Jugendwahlrecht<br />

und die üblichen Regeln schon bald <strong>als</strong> selbstverständlich betrachtet<br />

werden würden. 12 Andererseits wird schon jetzt über eine Verschärfung der Regelungen<br />

zur Briefwahl diskutiert. Beispielsweise lässt sich die überdurchschnittliche<br />

Wahlbeteiligung in Altersheimen nur auf Missbrauch der Briefwahl zurück-<br />

10 Vgl. Tremmel, Jörg: Die Ausprägung des Wahlwillens und der Wahlfähigkeit aus entwicklungspsychologischer<br />

Sicht. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.):<br />

Wahlrecht ohne Altersgrenze?. Verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und entwicklungspsychologische<br />

Aspekte. München 2008, S. 224.<br />

11 Vgl. Ohne Verfasser: Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – Wahlalter absenken?!<br />

Fachtag des Deutschen Bundesjugendring in Kassel. In: Jugendpolitik, 3 (2006), S. 4.<br />

12 Vgl. Wilke, Martin: Wahlrecht für Kinder – ohne Altersgrenze. Position von KinderRÄchTs-<br />

ZÄnker. In: Jugendpolitik, 3 (2006), S. 22.<br />

90 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

führen. 13 Mit dem Stellvertreterwahlrecht wird Kindern und Jugendlichen ab der<br />

Geburt ein Wahlrecht zugeteilt. Die Wahlberechtigung bezieht sich allerdings<br />

nicht auf die junge Person, sondern ein Vormund bekommt bis zur Volljährigkeit<br />

des jungen Menschen treuhänderisch die Möglichkeit für diesen zu wählen. In<br />

erster Linie handelt es sich bei diesem Vormund um die Eltern. Es darf aber zu<br />

Recht bezweifelt werden, ob die Eltern beziehungsweise ein anderer Vormund<br />

wirklich die Interessen des Kindes oder des Jugendlichen vertritt. Die Vorstellungen<br />

von Kindern und Jugendlichen unterscheiden sich in der Regel deutlich von<br />

denen der Erwachsen. Der Vormund könnte in einen Interessenkonflikt geraten,<br />

inwiefern er die Stimme nun verwalten soll. Der Vormund muss sich schließlich<br />

an der Meinung des Kindes oder des Jugendlichen orientieren. Das Stellvertreterwahlrecht<br />

sieht vor, dass sich der Vormund mit den Kindern und Jugendlichen<br />

auseinandersetzt und die Meinungen dieser akzeptieren oder mindestens beachten<br />

muss. Natürlich muss der Vormund auch auf das Kindeswohl achten. Problematisch<br />

ist allerdings, dass diese Vorgabe nicht kontrollierbar ist. Der Dialog vor<br />

einer Wahl ist für Kinder und Jugendliche <strong>als</strong>o von großer Bedeutung. Wenn aber<br />

dieser wichtige Dialog vor einer Wahl tatsächlich gegeben ist, warum wird den<br />

jungen Menschen nicht auch noch der Schritt zugestanden ihr Kreuz persönlich<br />

zu setzen? Vermutlich wird den jungen Menschen nicht genug Vertrauen entgegengebracht.<br />

Letzten Endes bleibt es aber absolut fraglich, ob der Vormund die<br />

treuhänderische Wahlberechtigung nicht nur <strong>als</strong> eine zweite Stimme ansieht. 14<br />

Realistisch betrachtet ist beim Stellvertreterwahlrecht eine hohe Missbrauchsrate<br />

zu erwarten. Etliche Fälle des Missbrauchs der Position <strong>als</strong> Stellvertreterin<br />

oder <strong>als</strong> Stellvertreter würden ein Mehrheitswahlrecht für diese Menschen<br />

bedeuten. 15 Ein weiterer Kritikpunkt an dieser Art der Wahlbeteiligung ist die<br />

Wahl des Vormundes. Den Kindern und Jugendlichen wird keine Wahlmöglichkeit<br />

zugesprochen. Sie können ihren Vormund weder im Voraus wählen, noch<br />

im Nachhinein abwählen. Es gibt viele ungeklärte schwierige Situationen. Zwar<br />

wird darüber gesprochen, dass beiden Elternteilen bei Trennung eine halbe Stim-<br />

13 Vgl. Gründinger, Wolfgang: Wer wählt, der zählt. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger<br />

Generationen (Hrsg.): Wahlrecht ohne Altersgrenze?, S. 36.<br />

14 Vgl. Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder. Eine Streitschrift. Weinheim, Berlin / Basel<br />

2002, S. 83-93.<br />

15 Vgl. Schmidt, Hans-Martin: Der Familienrat nach Dreikurs <strong>als</strong> Vorbereitung und Unterstützung<br />

des Wahlrechts ab Geburt an“. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen<br />

(Hrsg.): Wahlrecht ohne Altersgrenze?, S. 236.<br />

Dis | kurs 91


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

me zugesprochen werden könnte, doch das wäre ein großes Chaos. Wer soll der<br />

Vertreter für Kinder von minderjährigen Eltern sein oder für Waisen? Abgesehen<br />

davon ist eine Stellvertreterwahl laut Bundeswahlgesetz nicht verfassungskonform,<br />

schließlich muss das Wahlrecht höchstpersönlich ausgeübt werden, nur<br />

eine technische Unterstützung wird gebilligt. Die Stellvertretung soll bis zu einem<br />

bestimmten Alter bestehen. Die Frage bei welchem Alter die Stellvertretung<br />

endet ist noch nicht beantwortet und ist eine Debatte ähnlich der Debatte um<br />

die Absenkung des Wahlalters. Es besteht auch die Möglichkeit eines gemischten<br />

Wahlsystems. Kinder und Jugendliche sollen bis zu dem eigenen „Partizipationswillen“<br />

von einem Vormund vertreten werden. Sobald der junge Mensch seinen<br />

Wunsch selber zu wählen artikuliert hat, darf er selbst an der Wahl teilnehmen.<br />

Solange dieser Wunsch nicht geäußert wurde, sollen die Stimmen weiterhin dem<br />

Vormund treuhänderisch zur Verfügung stehen. So sollen die Stimmen nicht verloren<br />

gehen, damit die erhoffte Generationengerechtigkeit nicht verringert wird.<br />

Ein anderes Modell, welches allerdings nicht ernsthaft vertreten wird, sieht das<br />

Familienwahlrecht vor. Kinder werden auch hier nicht direkt an der Wahl beteiligt.<br />

Familien mit Kindern erhalten zusätzlich pro Kind eine weitere Stimme. Viele<br />

juristische Probleme stehen dieser Form der Wahl im Weg. Da es sich um ein<br />

Pluralwahlrecht (einige Menschen haben Mehrfachstimmen) handelt, verstößt es<br />

gegen den in der Verfassung festgelegten Gleichheitsgrundsatz und ist deshalb<br />

nicht realisierbar. 16 Zudem ist die Veräußerung von Grundrechten grundsätzlich<br />

nicht möglich. 17<br />

Alle Stellvertreterwahlrecht-Modelle haben gemeinsam, dass die Familien in unserer<br />

Gesellschaft mehr unterstützt und beachtet werden sollen <strong>als</strong> heutzutage.<br />

Zudem sollen sie für die Gleichberechtigung der Kinder und Jugendlichen gegenüber<br />

Erwachsenen dienen. Diese Gleichberechtigung ist jedoch nur scheinbar,<br />

weil die unter Achtzehnjährigen nicht direkt an der Wahl beteiligt werden.<br />

argumentationen zur Veränderung des Wahlrechts<br />

Die Argumentationen können im Grunde auf alle Abstufungen des veränderten<br />

Wahlrechts bezogen werden. Allerdings stellt das Wahlrecht ab der Geburt mit<br />

16 Vgl. Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 83–93.<br />

17 Vgl. Bär, Christof: Volljährigkeit ist eine Schutzregelung und keine Grundrechtseinschränkung,<br />

S. 11.<br />

92 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

und ohne Stellvertretung eine Besonderheit dar. Die geforderten Veränderungen<br />

– sofern sie eintreten sollten sind hier weitaus gravierender. Beide Gruppen, ob<br />

für oder gegen die Veränderung des Wahlalters haben viele gute Argumente auf<br />

ihrer Seite. Diese Argumente sollen an dieser Stelle vorgestellt, hinterfragt oder<br />

entkräftet werden.<br />

die teilhabe an demokratie<br />

Kinder- und jugendfreundliche Reformen kommen in der heutigen Politik viel<br />

zu kurz. Obwohl die Abgeordneten Vertreterinnen und Vertreter des gesamten<br />

Volks sein sollen, geraten die stimmlosen jungen Menschen oft in den Hintergrund<br />

und es werden Entscheidungen getroffen, ohne die Betroffenen anzuhören.<br />

Eine Demokratie darf Kinder und Jugendliche nicht ausschließen. Die deutsche<br />

Staatsform – eine Demokratie – wird durch das Grundgesetz geschützt.<br />

Der Artikel 20 im Grundgesetz geht auf die Demokratie ein. Im ersten Absatz<br />

wird festgestellt, dass Deutschland ein „[…] demokratischer und sozialer Bundesstaat.“<br />

ist. Der zweite Absatz ist für unsere Thematik ganz besonders bedeutend.<br />

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und<br />

Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden<br />

Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“<br />

Viele Menschen betrachten diesen Artikel <strong>als</strong> Bestätigung, dass Kinder und Jugendliche<br />

an allen Wahlen teilnehmen dürfen müssen. Das Volk besteht aus allen<br />

Staatsbürgern der Bundesrepublik Deutschland, demnach auch aus den Kindern<br />

und Jugendlichen. Der Absatz besagt eindeutig, dass dem gesamten Volk<br />

alle Staatsgewalt obliegt und diese durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt<br />

wird. Der Artikel 20 wird jedoch durch den Artikel 38, Absatz 2 ergänzt und eingeschränkt,<br />

das Wahlalter wird festgelegt. Dies widerspricht jedoch der Verfassung.<br />

Es ist zu bedenken, dass der Artikel 20 durch die Unantastbarkeitsklausel<br />

geschützt ist und demnach nicht verändert oder abgeschafft werden darf. Der<br />

Artikel 79, Absatz 3 lautet:<br />

„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes<br />

in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung<br />

oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt<br />

werden, ist unzulässig.“<br />

Dis | kurs 93


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

Hier wird der Unterschied zwischen Artikel 20 und Artikel 38 deutlich gemacht.<br />

Die beiden Artikel können nicht <strong>als</strong> gleichrangig bezeichnet werden, Artikel 20<br />

ist ewigkeitsgarantiert und daher gesichert. 18 Im Gegensatz zu Artikel 20 kann<br />

Artikel 38, Absatz 2 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat<br />

abgeschafft oder verändert werden. Die Generationengerechtigkeit werde durch<br />

den Erhalt der Beschränkung des Wahlalters verhindert, so die Befürworterinnen<br />

und Befürworter. Zudem sei die Gleichberechtigung der Menschen stark<br />

eingeschränkt. Alle Grundrechte eines Menschen erhalten mit der Geburt ihre<br />

Gültigkeit, nur das Wahlrecht erhält durch die Begrenzung des Wahlalters eine<br />

Einschränkung. Die Grundrechte basieren auf der Allgemeinen Erklärung der<br />

Menschenrechte der Vereinten Nationen. Im Grundgesetz Artikel 1, Absatz 2<br />

wird betont,<br />

„Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen<br />

Menschenrechten <strong>als</strong> Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft,<br />

des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“<br />

Deutschland erkennt die Menschenrechtserklärung somit an. In dieser heißt es in<br />

Artikel 21, Absatz 1 und drei<br />

„1. Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten<br />

seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.<br />

[…] 3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen<br />

Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine<br />

und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen<br />

freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.“<br />

Die beiden Absätze lassen keinen Raum das Wahlrecht durch ein Alter einzuschränken.<br />

Im Grundgesetz in Artikel 38 ist jedoch nicht nur das Wahlalter geregelt.<br />

In Artikel 38, Absatz 1 ist festgeschrieben, dass die Wahl der Abgeordneten<br />

allgemein, unmittelbar, frei, geheim und gleich sein soll. Diese Wahlrechtsgrundsätze<br />

sind zentrale Elemente unserer Demokratie und haben für das Wahlrecht<br />

eine große Bedeutung. So besagt der Allgemeinheitsgrundatz, dass keine Bürgerin<br />

und kein Bürger von der Wahl ausgeschlossen werden darf – unabhängig<br />

von beispielsweise Religion, Herkunft, Hautfarbe, Einkommen oder Geschlecht.<br />

Demnach macht dieser Grundsatz deutlich, dass kein Mensch wegen seines Al-<br />

18 Vgl. Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 50.<br />

94 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

ters von der Wahl ausgeschlossen werden darf. Um einen Menschen von der<br />

Wahl auszuschließen bedarf es besonders zwingende Gründe, die durch das Alter<br />

nicht gegeben sind.<br />

Auch die anderen Grundsätze können mit dem Wahlalter in Verbindung gebracht<br />

werden. Es wird deutlich, dass ein echtes Wahlrecht ohne Altersgrenze<br />

die einzige Möglichkeit ist, diese Grundsätze ohne Ausnahme zu erfüllen. Mit<br />

dem aktuellen Wahlrecht wird auch der Gleichheitsgrundsatz verletzt. Auch eine<br />

Stellvertretung bzw. eine Form des Pluralwahlrechts widerspricht diesem Prinzip.<br />

Der Grundsatz der freien und geheimen Wahl wird die Kinder und Jugendlichen<br />

bei der Ausübung ihres Rechts unterstützen.<br />

die politische Qualifikation<br />

In einer Demokratie ist es von großer Bedeutung, dass sich die Bevölkerung an<br />

den anstehenden Wahlen beteiligt. Eine gute Vorbereitung auf die Wahlen ist<br />

wünschenswert, auch dass sich die Wählerschaft in der Politik auskennt. Die Gegenseite<br />

in der Debatte um die Veränderung des Wahlrechts stellt in Frage, dass<br />

Kinder und Jugendliche richtige Entscheidungen zur Wahl treffen. Kinder und<br />

Jugendliche seien (politisch) nicht qualifiziert genug.<br />

Durch das Argument, Kindern und Jugendlichen würde es an Reife fehlen, werden<br />

gewisse Vorbehalte deutlich. Die Kinder und Jugendlichen seien sozial, moralisch,<br />

aber auch kognitiv noch nicht in der Lage eine (politische) Entscheidung<br />

zu treffen – Urteilsfähigkeit wird bezweifelt. Diesen Behauptungen wird entgegengestellt,<br />

dass diese Qualifikationen kein entscheidendes Kriterium sein sollten<br />

und vor allem nicht durch ein Mindestalter verallgemeinert werden dürfen.<br />

Wenn diese Qualifikation entscheidend für die Teilnahme an Wahlen wäre, so<br />

wäre der nächste Schritt (politisch) ungebildetere oder alte Menschen von diesen<br />

Wahlen auszuschließen. Auch diese Veränderungen sind undemokratisch! Auch<br />

viele erwachsene Menschen sind nicht (politisch) qualifiziert und dürfen trotzdem<br />

an Wahlen teilnehmen – egal welchen Alters.<br />

Viele der Erwachsenen sind Gewohnheitswähler. Sie wählen seit vielen Jahren die<br />

gleiche Partei, ohne sich gewissenhaft damit auseinanderzusetzen, welche politischen<br />

Inhalte mittlerweile thematisiert werden und in welche Richtungen die<br />

politischen Entscheidungen gehen könnten. Es lässt sich hier hinzufügen, dass<br />

Dis | kurs 95


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

manch ein junger Mensch viel mehr Interesse an Politik hat und gegebenenfalls<br />

auch mehr Wissen <strong>als</strong> ein Erwachsener. Ein hohes Alter geht nicht automatisch<br />

mit einer ausreichenden und wünschenswerten (politischen) Qualifikation einher.<br />

Ein höheres Alter kann zudem nicht mit Reife gleichgesetzt werden. Auch<br />

Kinder und Jugendliche können Reife vorweisen, auch wenn sie nicht so viel Lebenserfahrung<br />

haben. Diese Lebenserfahrung kann schließlich nicht nur zu einer<br />

Versteifung der Gewohnheiten führen, sondern auch zur Vertiefung von Vorurteilen.<br />

Ein starrer Blick auf Reife <strong>als</strong> Kriterium ist unangebracht. Viele Faktoren<br />

spielen bei der politischen Partizipation eine wichtige Rolle, beispielsweise der<br />

Bildungsgrad, das Geschlecht und die familiäre Herkunft.<br />

Das politische System ist sehr komplex. Kaum eine Person versteht die verschieden<br />

Einzelheiten oder kann die verschiedenen Entscheidungen nachvollziehen.<br />

Vor allem ist jede politische Entscheidung vor einem neuen und anderen Hintergrund<br />

zu treffen. Diese vielseitigen Sichtweisen und Bezugspunkte zu beachten,<br />

ist fast unmöglich. In diesem Kontext muss daran erinnert werden, dass keine<br />

Wählerin und kein Wähler über diese einzelnen Entscheidungen abstimmen<br />

muss. Es muss sich für eine Partei (und für einen Direktkandidaten) und die genannten<br />

Ziele entschieden werden. Die Entscheidungen der Wählerinnen und<br />

Wähler werden oft danach getroffen, welchen Ruf eine Politikerin, ein Politiker<br />

oder eine Partei hat, und ob diese Vertrauen ausstrahlen.<br />

Jeder Bürger und jede Bürgerin muss sich einer Entscheidung stellen, wobei<br />

auch entschieden werden kann, nicht zur Wahl zu gehen – in jedem Alter. 19 In<br />

Deutschland besteht ein Wahlrecht und keine Wahlpflicht. Dieser Unterschied<br />

ist für die Veränderung des Wahlrechts, besonders ab der Geburt ohne das Stellvertreterwahlrecht,<br />

von großer Bedeutung.<br />

die gummibärchen-taktik<br />

Von der Gegenseite wird dauernd betont, Jugendliche und besonders Kinder<br />

sind, um eine gute Entscheidung treffen zu können, viel zu leicht zu beeinflussen.<br />

In diesem Kontext wird auch häufig von der Gummibärchen-Taktik gesprochen.<br />

Hiermit ist gemeint, dass sich besonders Kinder, aber auch Jugendliche von Politikerinnen,<br />

Politikern, Eltern und anderen Personen sehr leicht bestechen lassen<br />

19 Vgl. Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 18.<br />

96 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

könnten. Politikerinnen und Politiker versprechen den Kindern Spielplätze oder<br />

jeden Monat gratis Gummibärchen und erschleichen sich die Stimmen. Eltern<br />

und andere Personen versprechen den Kindern eine Belohnung, wenn sie ihr<br />

Kreuz an die, von den Erwachsen, gewünschte Stelle setzen – so die Befürchtungen.<br />

Eine weitere Gefahr sei, dass Kinder unter Androhung von Strafe dazu gezwungen<br />

werden könnten, gegen ihre Wahlentscheidung ein Kreuz zu machen. Jugendliche<br />

könnten ebenso belogen, getäuscht oder unter Druck gesetzt werden. Diese<br />

Mutmaßungen sind im Grunde eine schwere negative Kritik an die Erwachsenen.<br />

Ihnen wird unterstellt, zu vielen Mitteln bereit zu sein, um ihre Partei zu unterstützen.<br />

Zum einen sind diese Mutmaßungen wahrscheinlich übertrieben. Kaum<br />

einem Erwachsen ist diese politische Entscheidung so viel wert, zu lügen oder<br />

sich strafbar zu machen. Zum anderen würden vor allem politische Personen in<br />

die öffentliche Kritik geraten, wenn sie zur Gummibärchen-Taktik greifen würden.<br />

Parteien, Politikerinnen und Politiker würden sich gegenseitig überwachen.<br />

Auch die Medien werden hier ganz besonders aufmerksam sein. Grundsätzlich<br />

sollten Kinder und Jugendliche nicht <strong>als</strong> zu unwissend und dumm eingeschätzt<br />

werden. Auch sie bemerken es, wenn sie getäuscht werden oder ihnen mit leeren<br />

Worten Versprechungen gemacht werden. Politische Personen und Parteien,<br />

die zu solchen Mitteln greifen, würden sicherlich – besonders von Erwachsen<br />

– Stimmen verlieren. Schließlich möchte kaum eine Bürgerin oder Bürger eine<br />

Politikerin bzw. einen Politiker unterstützen, der zu solchen Mitteln greift. 20<br />

Um das Risiko, der Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsenen<br />

abwägen zu können, wurden quantitative Abschätzungen bezüglich der<br />

Wahlergebnisse vorgenommen. Die Folge von Manipulationen in diesem Rahmen<br />

wäre eine Abweichung der Wahlergebnisse von nicht einmal einem Zehntel<br />

Prozent. 21 Natürlich kann es immer vorkommen, dass Kinder und Jugendliche<br />

beeinflusst werden. Eine gewisse Arte der Beeinflussung ist auch normal, alle<br />

Menschen beeinflussen sich gegenseitig. In der Regel wird jeder Mensch von seinen<br />

Bezugspersonen beeinflusst, durch Kommunikation und den Sozialisationsprozess.<br />

Kinder und Jugendliche erkennen schon früh, was seine Bezugspersonen<br />

<strong>als</strong> wichtig empfinden und schauen sich dies gegebenenfalls ab. Doch die jungen<br />

20 Vgl. Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 121–122.<br />

21 Ebd., S. 64.<br />

Dis | kurs 97


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

Menschen werden sich immer mehr mit ihrer eigenen Meinung auseinandersetzten.<br />

Kinder und Jugendliche werden vor allem bei anstehenden Entscheidungen<br />

mit ganz verschiedenen Meinungen konfrontiert. Die verschiedenen Aspekte<br />

werden verglichen, dies trägt zu einer fundierten Meinungsbildung bei.<br />

Um der übermäßigen Beeinflussung durch Versprechungen oder Bestrafungen<br />

vorzubeugen, muss der jungen Wählerschaft immer wieder erklärt werden, dass<br />

ihre Wahl frei ist. Besonders wichtig ist es zu betonen, dass kein Mensch weiß,<br />

welche Wahl eine Person in der Wahlkabine getroffen hat – sofern sie es nicht<br />

freiwillig erzählt. Das Selbstbewusstsein der Kinder und Jugendlichen muss immer<br />

mehr gestärkt werden und auch die Bedeutung der Wahl muss erklärt werden.<br />

Letzten Endes ist es zudem eindeutig, dass auch Erwachsene beeinflussbar sind.<br />

Durch leere Versprechungen der politischen Personen und Parteien oder Slogans<br />

auf den Wahlplakaten werden sie beeinflusst, auch ohne über die Aussagen nachzudenken.<br />

Selbst der Freundeskreis hat im Erwachsenenalter einen nicht zu unterschätzenden<br />

Einfluss. Besonders, wenn die Erwachsen politisch nicht gefestigt<br />

sind oder sich kaum für politische Themen interessieren. Von Beeinflussung freie<br />

Wahlen gibt es <strong>als</strong> solches nicht, teilweise ist die Beeinflussung auch bei Erwachsenen<br />

gravierend. Eltern, Freunde, Medien, Wahlkampf sowie Partnerinnen und<br />

Partner wirken auf die Wahlentscheidung ein.<br />

der politische umschwung<br />

Die Befürworterinnen und Befürworter der Veränderung des Wahlalters vermuten,<br />

dass einige Politikerinnen, Politiker und Parteien die Sorge beeinflusst, dass<br />

bei einer Veränderung des Wahlalters ein politischer Umschwung die Folge wäre.<br />

Und dies sei, so die Vermutung, ein Grund für die Ablehnung der Veränderung.<br />

Dieser Grund hat bei Betrachtung einiger Zahlen keinen Bestand. Die neue Wählerschaft<br />

hat keine Kraft einen absoluten Umschwung zu bewirken. Die Entscheidungen<br />

der Erwachsenen fließen in das Ergebnis mit ein, diese Erwachsenen bilden<br />

immerhin circa 80 Prozent der Bevölkerung. Wenn von einer Bevölkerung<br />

von rund 74,6 Millionen (1997) ausgegangen werden kann, so beträgt der Anteil<br />

der null bis 18 jährigen Menschen 18,9 Prozent (14,1 Millionen). Diese 14,1<br />

Millionen Kinder und Jugendlichen werden ihre Stimme jedoch definitiv nicht<br />

98 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

vollständig in Anspruch nehmen. Zudem wird diese Wählerschaft mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit nicht vollständig die gleiche Meinung haben, sodass „umstürzlerische<br />

Ideen“ keine große Chance haben. 22 Weiterhin kann das Argument<br />

durch repräsentative Wahlstatistiken entkräftet werden. „Das Wahlverhalten von<br />

[Erstwählerinnen und] Erstwählern weicht nicht eklatant von dem anderer Bevölkerungsteile<br />

ab.“ 23<br />

Abgesehen von diesen Tatsachen, wäre die Angst vor politischen Umbrüchen –<br />

<strong>als</strong> Grund gegen eine Veränderung des Wahlrechts – ein Votum gegen eine echte<br />

Demokratie. Bestimmte Wählerinnen- und Wählergruppen auszuschließen, weil<br />

ein politischer Umschwung droht, ist absolut undemokratisch.<br />

die nachhaltigkeit politischer Entscheidungen<br />

Es muss betont werden, dass Kinder und Jugendliche (andere) Interessen (<strong>als</strong> Erwachsene)<br />

haben, die nicht oder unzureichend von Erwachsenen vertreten werden.<br />

„Es ist eine unleugbare Tatsache, dass das hohe Niveau heutiger Lebensverhältnisse<br />

den nachfolgenden Generationen Aufgaben und Schulden aufbürdet<br />

[und Zukunftschancen zerstört]. […] Die Ungeborenen und die Kinder<br />

können sich nicht gegen diese Verursachung künftiger von ihnen zu bewältigenden<br />

Probleme wehren.“ 24<br />

Bei einer Veränderung des Wahlalters (besonders bei einer Veränderung, um<br />

mehr <strong>als</strong> zwei bis vier Jahre), hätten Entscheidungen über kinder- und jugendorientierte<br />

Themen viele Vertreterinnen und Vertreter. Diese Entscheidungen<br />

werden so mehr hinterfragt und mehr diskutiert. Direkt betroffene Personen haben<br />

so mehr Mitspracherecht und Entscheidungsmacht. Entscheidungen über<br />

beispielsweise die Kinderrechte, die allgemeinen Wünsche und Vorstellungen,<br />

das Bildungssystem, Pflichten der jungen Menschen und auch das Rentensystem,<br />

werden von direkt betroffenen Wählerinnen und Wählern beeinflusst.<br />

Hinzu kommt, dass Entscheidungen, die die Zukunft der Kinder und wahrschein-<br />

22 Ebd., S. 105.<br />

23 Nann, Valentin: Ich bin unter 18 – und ich will wählen!. Der Streit ums Wahlalter.<br />

17.02.2010, Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.fluter.de/de/<br />

wahlen_special/editor/843/?tpl=86.<br />

24 Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 37–38.<br />

Dis | kurs 99


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

lich auch der Jugendlichen mehr betreffen <strong>als</strong> die älteren Bundesbürgerinnen und<br />

-bürger, eine andere Bedeutung bekommen. Eine andere Sichtweise auf diese Themen<br />

und Entscheidungen wäre eine Folge. Die Erzeugung von Atommüll, Überfischung,<br />

Ausbeutung von Rohstoffen, Artenausrottung, Umweltverschmutzung<br />

und Umweltzerstörung sowie höhere Schulden würden von Repräsentanten der<br />

Menschen entschieden werden, die diese Entscheidungen mehr betreffen <strong>als</strong> andere<br />

Menschen. 25<br />

rechte und pflichten<br />

Jugendliche, aber vor allem Kinder, haben wenig Pflichten. Rechte gehen aber mit<br />

Pflichten einher, nur wem Pflichten zugeteilt sind, der hat auch Rechte. Dieser<br />

Einspruch wird gegen eine Veränderung des Wahlrechts eingesetzt. Besonders<br />

Kinder können (oder bekommen nicht die Möglichkeit) Pflichten zu erfüllen. Es<br />

ist aber zu betonen, dass die Grundrechte und die Menschenrechte (auch das<br />

Wahlrecht) jedem Menschen ohne Gegenleistung zustehen. Abgesehen davon<br />

liegt ein gewisser Irrglaube in Bezug auf Rechte und Pflichten vor. Anders <strong>als</strong><br />

behauptet und oft vermittelt, werden Rechte nicht ausgeübt oder von ihnen Gebrauch<br />

gemacht. Es sind keine speziellen Fähigkeiten notwendig, um Rechte in<br />

Anspruch zu nehmen.<br />

Für die Begutachtung der Bedeutung von Rechten und Pflichten ist es wichtig<br />

zwischen der eigenen Person und den anderen Menschen zu unterscheiden. Bedeutend<br />

sind auch der Unterschied zwischen einer Handlung und einer Unterlassung<br />

sowie der Unterschied zwischen einem Gebot und einem Verbot. Die<br />

Rechte einer Person fordern diese nicht zu einer Handlung auf, sondern verbieten<br />

etwas, sie haben eine Schutzfunktion. Rechte verbieten anderen Menschen gewisse<br />

Grenzen einer Person zu überschreiten. Das „Freiheitsrecht“ einer Person<br />

berechtigt sie dazu, sich die Freiheit zu nehmen, Handlungen nach eigenem Gewissen<br />

auszuführen, ohne dass die anderen Menschen diese Freiheit entziehen,<br />

beschneiden oder die Tatsache bestrafen dürfen. Das „[…] Recht [einer Person] ist<br />

ein Gebot für alle anderen.“ 26 Ergänzend bedeuten Pflichten, dass die Person eine<br />

Handlung ausführen muss. Eine Pflicht fordert Aktivität, dafür werden Fähigkeiten<br />

benötigt. Die „Freiheitsrechte“ anderer Menschen verpflichten jede Person<br />

25 Vgl. ebd., S. 15-16, 37.<br />

26 Vgl. ebd., S. 57.<br />

100 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

dazu, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten und die Freiheit dieser nicht zu<br />

entziehen, zu beschneiden oder die Tatsache zu betrafen. Die „[…] Pflicht [einer<br />

Person] ist ein Gebot für […]“ 27 diese Person. Das Recht auf Etwas muss demnach<br />

nicht verdient werden, es besteht. Im Grunde muss somit kein Mensch gewisse<br />

Pflichten erfüllen, um das Wahlrecht in Anspruch nehmen zu können – wobei<br />

die Formulierung in Anspruch nehmen irreführend ist. Es ist die Pflicht aller<br />

Menschen, niemanden am Wählen zu hindern. 28<br />

politikverdrossenheit, desinteresse und abneigungen<br />

Einige Befürworterinnen und Befürworter vermuten, dass durch die Veränderung<br />

des Wahlrechts die Politikverdrossenheit nachlässt. Diese resultiert auch<br />

daraus, dass sich die Kinder und Jugendlichen von den heutigen politischen Akteurinnen<br />

und Akteuren nicht vertreten fühlen.<br />

Der Entfremdung junger Menschen von der Politik muss entgegengewirkt werden.<br />

Durch die Möglichkeit an Wahlen teilzunehmen, wird sich mehr mit Politik<br />

beschäftigt. Die Kinder und Jugendlichen können das Gefühl genießen ernst<br />

genommen zu werden. Dies würde vielseitige Veränderungen mit sich bringen,<br />

unter anderem mehr Selbstbewusstsein für die jungen Menschen, ihre Meinung<br />

kundzutun. Bei einem Wahlrecht ab der Geburt können sich die jungen Wählerrinnen<br />

und Wähler, sobald sie bereit sind, mit dem Gedanken beschäftigen, welchen<br />

Einfluss sie mit ihrer Meinung und Entscheidungsfindung auf die Politik<br />

und andere Bereiche des Lebens haben. Die jungen Menschen wachsen damit<br />

auf, dass Politik ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens ist.<br />

Die Gegnerinnen und Gegner dieser Perspektive sind der Meinung, dass Kinder<br />

und Jugendliche ein grundsätzliches Desinteresse gegenüber Politik aufweisen,<br />

und zudem eine gewisse Abneigung gegen Politikerinnen, Politiker und Parteien<br />

haben, denen seitens der Kinder und Jugendlichen kein Vertrauen entgegengebracht<br />

werde. Die Demokratie sei in Gefahr, weil Kinder und Jugendliche zu politischem<br />

Extremismus tendierten. Das vorhandene politische Desinteresse würde<br />

in einer Verachtung der Demokratie enden und so zu Extremismus führen.<br />

Diese Aussagen können teilweise widerlegt werden. Das politische Interesse von<br />

27 Vgl. ebd., S. 57.<br />

28 Vgl. ebd., S. 55–58.<br />

Dis | kurs 101


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

Jugendlichen wurde in der Shell-Studie29 untersucht. Demnach ist Interesse an<br />

Politik niedrig, doch wurde eine positive Entwicklung verzeichnet. Im Jahr 2002<br />

waren 34 Prozent der Jugendlichen politisch interessiert. Im Jahr 2006 lag die<br />

Zahl bei 39 Prozent. 30 Die zukünftigen Ergebnisse vor allem bei den unter 18 jährigen<br />

Menschen könnten sich durch die Senkung des Wahlalters deutlich verändern.<br />

Die Jugendlichen und auch die Kinder könnten ihr Interesse vermehrt entdecken,<br />

weil sie eine gewisse Entscheidungsmacht bekommen. Die Politik betrifft<br />

Kinder und Jugendliche zwar schon heute, dennoch werden sie in die Entscheidungsprozesse<br />

nicht einbezogen und daher haben sie kaum einen Einfluss. „Das<br />

gegenwärtige politische Desinteresse vieler Jugendlicher hängt mit ihrer politischen<br />

Machtlosigkeit zusammen und könnte durch Verantwortungszuweisung<br />

und Wahlrecht […]“ 31 deutlich gemindert werden. Die Vermutung, dass Kinder<br />

und Jugendliche den politischen Parteien, den Politikerinnen und den Politikern<br />

kein oder nur wenig Vertrauen entgegenbringen, kann durch die Shell-Studie<br />

2006 bestätigt werden.<br />

„Erhöhtes Vertrauen genießen solche staatlichen Institutionen, die <strong>als</strong> parteiunabhängig<br />

angesehen werden, wie die Justiz und Polizei. Das geringste<br />

Vertrauen wird dagegen den politischen Parteien entgegengebracht. Als vertrauenswürdig<br />

werden außerdem Menschenrechts- oder Umweltschutzgruppen<br />

eingeschätzt. Weiterhin nur mäßig ist das Vertrauen in die Bundesregierung<br />

[…]. Trotz dieser durchaus distanzierten Haltung von größeren Teilen<br />

der Jugendlichen zur Politik und zu den gesellschaftlichen Verhältnissen ist<br />

bei der überwältigenden Mehrheit ein klarer Konsens mit den Normen unseres<br />

demokratischen Systems feststellbar.“ 32<br />

29 Für die 14. Shell Jugendstudie (2002) wurden mehr <strong>als</strong> 2.500 Jugendliche im Alter von<br />

12 bis 25 Jahren zu ihrer Lebenssituation, ihren Wertvorstellungen und ihrer Einstellung<br />

zur Politik befragt. Auch die Shell Jugendstudie 2006 (15. Shell Jugendstudie) ist eine<br />

repräsentative Umfrage mit einer Stichprobe von 2532 Jugendlichen im Alter von 12 bis 25<br />

Jahren. Die Jugendlichen stammen aus den alten und neuen Bundesländern.<br />

30 Vgl. Deutsche Shell Holding (Hrsg.): Shell Jugendstudie 2006. Politik und Gesellschaft.<br />

10.03.2010, Shell Deutschland, http://www.shell.de/home/content/deu/aboutshell/our_<br />

commitment/shell_youth_study/ 2006/commitment/.<br />

31 Oerter, Rolf: Wahlrecht und Entwicklung: die wachsenden Kompetenzen zur politischen<br />

Partizipation. In: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Wahlrecht ohne<br />

Altersgrenze?, S. 207.<br />

32 Deutsche Shell Holding (Hrsg.): Shell Jugendstudie 2006. Zusammenfassung.<br />

102 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

In der Shell-Studie aus dem Jahr 2002 konnte herausgestellt werden, dass die Jugendlichen<br />

dem politischen Extremismus überwiegend ablehnend gegenüberstehen.<br />

33 Die Erfahrung lehrt: „Wer nicht mitbestimmen kann, reagiert extrem!“ 34<br />

All diese Argumente gegen die Veränderung des Wahlrechts erweisen sich letztlich<br />

<strong>als</strong> nicht tragbar. Größtenteils konnten Befürchtungen durch die Ergebnisse<br />

der Shell-Studie widerlegt werden. Hinzukommt, dass es an den Parteien, Politikerinnen<br />

und Politikern ist, sich das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen zu<br />

verdienen. Eine Veränderung der Beteiligten des Systems kann dafür sorgen, dass<br />

die jungen Menschen ihre Haltung positiv verändern.<br />

altersgrenzen<br />

Von vielen Seiten wird gefordert, dass wer wählen will, auch strafmündig sein<br />

muss, so dass der Mensch für das eigene Handeln zur Verantwortung gezogen<br />

werden kann. 35 Doch die Strafmündigkeit und das Wahlrecht können kaum in<br />

Verbindung gebracht werden. Zu fordern, dass das Strafrecht an das Wahlrecht<br />

angepasst sein muss, lenkt vom eigentlichen Thema ab. Bei der Debatte um das<br />

Wahlalter, ist die Strafmündigkeit nicht relevant. Diese beiden wichtigen Veränderungen<br />

müssen getrennt voneinander betrachtet werden.<br />

Abgesehen davon sind einige bestimmte Altersgrenzen grundsätzlich überflüssig.<br />

Beispielsweise die Grenze beim Autofahren. Im Grunde ist nur von Bedeutung,<br />

dass ein Prüfling das nötige Theorie- und Praxiswissen aufweisen kann und<br />

sicher am Verkehr teilnehmen kann. Die Prüfung zu bestehen, sollte demnach<br />

ausreichend sein.<br />

„Sollte die Prüfung die Qualifikation [der Fahrschülerin oder] des Fahrschülers<br />

nicht sichern, muss die Prüfung verschärft – und nicht die diskriminierende<br />

Altersgrenze aufrechterhalten werden.“ 36<br />

Mit Altersgrenzen wird oft ein Misstrauen gegenüber der entsprechenden Person<br />

ausgesprochen, zudem sind sie häufig diskriminierend. Altersgrenzen soll-<br />

33 Vgl. Deutsche Shell Holding (Hrsg.): 14. Shell Jugendstudie. 10.03.2010, Shell Deutschland,<br />

http://www.shell.de/home/content/deu/aboutshell/our_commitment/shell_youth_<br />

study/2002/.<br />

34 Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 67.<br />

35 Vgl. Nann, Valentin: Ich bin unter 18 – und ich will wählen!<br />

36 Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 75.<br />

Dis | kurs 103


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

ten teilweise nicht ausschlaggebend sein. Viel wichtiger sind die Beurteilung der<br />

individuellen Situation, der Fähigkeiten und Bedürfnisse. Dieses Vorgehen beim<br />

angehenden Fahrschüler anzuwenden, ist genauso möglich wie es heute bereits<br />

im Strafrecht angewandt wird. Das Alter wird hier nicht allein <strong>als</strong> ausschlaggebend<br />

betrachtet, beispielsweise die persönliche Situation zur Tatzeit wird in das<br />

Urteil einbezogen. Eine Zuweisung verschiedener Rechte, sollte demnach nicht<br />

am Strafrecht fest gemacht werden. Kinder und Jugendliche sind beispielsweise<br />

schon jetzt mit sieben Jahren beschränkt geschäftsfähig und sie haben die Möglichkeit<br />

im Alter von 14 ihre Religionszugehörigkeit zu wählen. 37<br />

Die Altersgrenze beim Wahlalter ist auf gewisse Weise viel starrer <strong>als</strong> beim Strafrecht.<br />

Hier reicht es im Moment nicht aus die persönliche Situation zu beurteilen.<br />

Eine Person reift nicht in der Nacht zum 18. beziehungsweise 16. Geburtstag<br />

plötzlich geistig heran. Doch selbst wenn ein Jugendlicher einen Tag nach<br />

einer wichtigen Wahl Geburtstag hat, kann keine Ausnahme – zur erlaubten<br />

Stimmabgabe – durchgesetzt werden. Hinzukommt, dass alle Altersgrenzen sehr<br />

willkürlich sind und zu Ungerechtigkeiten führen, sie sind höchstens <strong>als</strong> Schutzmaßnahme<br />

gerechtfertigt. Einige Befürworter sind der Meinung, dass die für das<br />

Wahlrecht festgelegte Altersgrenze nicht nur unnötig, sondern in ihrer jetzigen<br />

Form überholt ist. Kinder und Jugendliche sind heute in einem gewissen Alter<br />

schon reifer <strong>als</strong> noch vor einigen Jahren. Die Jugendphase hat sich in den letzten<br />

Jahren verändert, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung spielen eine bedeutende<br />

Rolle. Aus diesem Grunde sind sie der politischen Entscheidungsmacht bereits<br />

viel früher gewachsen <strong>als</strong> noch vor einigen Jahren.<br />

die Überforderung der jungen Wählerschaft<br />

Kinder und Jugendliche sind in der heutigen Gesellschaft ständig gefordert und<br />

müssen Entscheidungen treffen. Dennoch ist es möglich, dass Kinder und Jugendliche<br />

sich schnell überfordert fühlen werden, wenn sie an Wahlen teilnehmen<br />

sollen. Es ist wichtig Kinder und Jugendliche auf die Wahlen vorzubereiten<br />

und diese zu besprechen. Sinnvoll ist es die Kinder langsam und spielerisch an<br />

die Politik und ihre späteren Aufgaben zu gewöhnen. Jugendliche behaupten sogar<br />

häufig nicht wählen zu wollen – vielleicht aus Angst eine Entscheidung treffen<br />

zu müssen oder aus der Gewohnheit heraus ausgeschlossen zu sein. Kindern<br />

37 Vgl. ebd., S. 74–77.<br />

104 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

und Jugendlichen wird von der Gesellschaft und besonders von Bezugspersonen<br />

häufig vermittelt, dass ihnen nichts oder wenig zugetraut wird. Die Kinder und<br />

Jugendlichen nehmen diese Haltung an und vertrauen drauf, dass Erwachsende<br />

mit dieser Einstellung recht haben.<br />

Doch die Überforderung der Kinder und Jugendlichen vor Entscheidungen<br />

(Wahlen) hat im Grunde nichts mit dem Alter zu tun. Jeder Mensch kann sich<br />

überfordert fühlen, wenn sie oder er eine (wichtige) Entscheidung treffen soll.<br />

Zudem kann dieser Überforderung durch vielseitige Unterstützung aus den verschiedenen<br />

Lebensbereichen, beispielsweise der Schule, vorgegriffen werden. Es<br />

gilt weiterhin zu bedenken, dass in Deutschland keine Wahlpflicht besteht, daher<br />

kann jeder Mensch seine Stimme abgeben, sobald er dazu bereit ist.<br />

Eine Entscheidung zugunsten der Veränderung des Wahlrechts sollte möglich<br />

werden, sobald ein einziger junger Mensch wählen möchte. Schließlich darf kein<br />

Mensch an dieser Handlung gehindert werden. Viele junge Menschen sind verärgert,<br />

dass sie nicht wählen dürfen und wären froh über eine Veränderung. Die<br />

Shell-Studie 2006 zeigt zudem auf, dass<br />

„die heutige junge Generation […] sich mit einem ausgesprochen pragmatischen<br />

Zugang den Herausforderungen in unserer Gesellschaft [stellt]. […] Leistungsbereitschaft,<br />

Engagement und eine Orientierung an den konkreten und<br />

naheliegenden Problemen prägen die Grundhaltung dieser Generation.“ 38<br />

das passive Wahlrecht<br />

Die Gegnerinnen und Gegner befürchten, wenn eine Veränderung des aktiven<br />

Wahlrechts gefordert wird, würde bald die Forderung nach der Absenkung oder<br />

Abschaffung des passiven Wahlrechts folgen. Auch das passive Wahlrecht ist Teil<br />

der Demokratie. Im Grunde sollte jeder Mensch die gleichen Chancen haben, in<br />

eins der Parlamente gewählt zu werden. Aber das passive Wahlrecht ist wie das<br />

aktive Wahlrecht an mehr <strong>als</strong> an das Wahlalter gebunden. Eine Veränderung des<br />

aktiven Wahlrechts muss aber nicht gleichzeitig eine Veränderung des passiven<br />

Wahlrechts mit sich bringen. Diese beiden Veränderungen können getrennt voneinander<br />

betrachtet werden. 39<br />

38 Deutsche Shell Holding (Hrsg.): Shell Jugendstudie 2006. Zusammenfassung.<br />

39 Die Veränderung des passiven Wahlrechts hätte gegebenenfalls noch größere und andere<br />

Dis | kurs 105


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

An dieser Stelle kann jedoch wieder auf die Überflüssigkeit von Altersgrenzen<br />

hingewiesen werden. Die erste notwendige Voraussetzung ist, dass sich ein junger<br />

Mensch zur Wahl stellen möchte. Ein angehender Kandidat beziehungsweise<br />

eine angehende Kandidatin muss noch andere Hürden überwinden, um sich zur<br />

Wahl stellen zu können. Die Person müsste vertrauenswürdig sein und vor allem<br />

über ausreichendes politisches Wissen verfügen. Zudem, zum Beispiel Mitglied<br />

einer Partei sein und sich von den anderen Mitgliedern auf einen guten Platz auf<br />

der Wahlliste wählen lassen und den Wahlkampf gut meistern. Am entscheidenden<br />

Tag benötigt diese Person viele Stimmen, um die Wahl zu gewinnen. Tritt<br />

diese Tatsache ein, so ist es eine Entscheidung des Volkes, die Gründe haben<br />

wird. Die Person wird wahrscheinlich <strong>als</strong> Vertreterin oder Vertreter des Volkes<br />

geeignet sein. 40<br />

notwendige Voraussetzungen und mögliche auswirkungen<br />

Die Veränderung des Wahlalters wäre eine (große) Veränderung für das politische<br />

System der Bundesrepublik Deutschland. Je nach Veränderung werden viele<br />

neue Wählerinnen und Wähler ihr Wahlrecht einsetzen. Dies würde gegebenenfalls<br />

das politische Feld verändern. Über die zukünftigen Wahlergebnisse kann<br />

jedoch nur spekuliert werden.<br />

Junge Nichtwahlberechtigte wurden in einigen Studien befragt, wie ihre Wahlentscheidung<br />

ausfallen würde sofern sie das Recht hätten zu Wählen. Allerdings<br />

können die Ergebnisse nicht auf reguläre Wahlen übertragen werden. Eine Wahlentscheidung<br />

wird von vielen Faktoren bestimmt auch aktuelle (politische) Ereignisse<br />

und die Lebenssituation sind relevant. Kinder und Jugendlichen werde<br />

eine Wahlentscheidung wahrscheinlich <strong>als</strong> bedeutender betrachten und die Entscheidung<br />

mehr hinterfragen und überdenken. „Während die Mehrheit der Befragten<br />

einer der beiden großen Volksparteien nahe steht, hat der Studie zufolge<br />

die Neigung der Jugendlichen zu den Grünen gegenüber den 80ern und 90ern<br />

kontinuierlich abgenommen.“ 41 Des Weiteren müssten sich die politischen Akteure<br />

sowie Massenmedien darauf einstellen, die politische Welt einfacher und<br />

Auswirkungen, <strong>als</strong> die Veränderung des aktiven Wahlrechts. Mit dieser Tatsache muss<br />

sich jedoch noch an anderer Stelle beschäftigt werden.<br />

40 Vgl. Weimann, Mike: Wahlrecht für Kinder, S. 72–74.<br />

41 Vgl. Deutsche Shell Holding (Hrsg.): 14. Shell Jugendstudie.<br />

106 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

verständlicher darzustellen. Eine wichtige Aufgabe der Massenmedien wird es<br />

zudem sein, den Prozess der Wahl und die Regeln der Wahl zu vermitteln. Politische<br />

Sendungen werden nicht mehr mitten in der Nacht ausgestrahlt, sondern<br />

werden leicht verständlich zu kinder- und jugendfreundlichen Zeiten in das Programm<br />

aufgenommen.<br />

Die ARD- Tagesschau stand schon häufig in der Kritik, unverständlich für die<br />

Zuschauerinnen und Zuschauer zu sein. Studien aus dem Jahr 2007 belegen, dass<br />

die Mehrheit der befragten Personen viele Fremdwörter der Sendung nicht verstehen.<br />

Im Jahr 2006 konnte einer Studie entnommen werden,<br />

„[…] dass 88 Prozent der durchschnittlich rund zehn Millionen „Tagesschau“-<br />

Zuschauer [und Zuschauerinnen] kaum noch etwas von den komplexen<br />

Nachrichten verstanden.“ 42<br />

Daraus wird deutlich, dass eine Vereinfachung der Sendung(en) den meisten Personen<br />

entgegenkommen würde. Aussagen wie „Es würde die 15-minütige ‚Tagesschau‘<br />

überfordern, wenn sie sich wie die Volkshochschule der Nation aufführte.“ 43<br />

des zuständigen Chefredakteurs Kai Gniffke sollten nicht mehr leichtfertig ausgesprochen<br />

werden. 44 Leicht verständliche Informationssendungen, auch politische<br />

Sendungen, sind jedoch heute schon vorhanden, ein gutes Beispiel ist die Nachrichtensendung<br />

logo. Diese Wissenssendungen für Kinder sind gut, um sie in die<br />

verschiedensten Themen einzuführen, sodass darauf aufgebaut werden kann.<br />

Poltische Zeitschriften und andere Printmedien müssen den Kindern und Jugendlichen<br />

zugänglicher sein. Diese Entwicklungen haben schon ihren Anfang<br />

genommen. Zeitschriften wie Geolino, der Kinderspiegel (Dein Spiegel) und die<br />

NEON (Stern) sind ein guter Anfang. Das Internet bietet auch schon seit einiger<br />

Zeit die Möglichkeit, dass sich Kinder und Jugendliche austauschen und informieren<br />

können, beispielsweise mit der Onlinezeitung SOWIESO. Auch die<br />

politischen Prozesse müssten leichter nachvollziehbar sein. Grundsätzlich ist es<br />

transparenter die politischen Diskussionen verständlicher zu gestalten. Insgesamt<br />

konnte herausgestellt werden, dass auch Erwachsene mit Erklärungen für<br />

Kinder besser zurechtkommen.<br />

42 Ohne Verfasser: Keiner versteht die „Tagesschau“. Zu viele Fremdwörter. 10.03.2010, Spiegel<br />

online, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,522967,00.html.<br />

43 Ebd.<br />

44 Vgl. ebd.<br />

Dis | kurs 107


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

Bei den vergangenen Wahlkämpfen bezogen Parteien ihre Wahlprogramme auf<br />

die Bedürfnisse und die Erwartungen ihrer Wählerschaft, demnach auf die Erwartungen<br />

und Bedürfnisse der Erwachsenen. Die Interessen, Bedürfnisse und<br />

Erwartungen der jüngeren Menschen – der nicht Wahlberechtigten – geraten oft<br />

in den Hintergrund oder gelten insgesamt <strong>als</strong> unbedeutender.<br />

Parteien, Politikerinnen und Politiker müssen ihren Wahlkampf und ihre Wahlkampfthemen<br />

so gestalten, dass dadurch Kinder und Jugendliche animiert werden<br />

zur Wahl zu gehen und ihre Stimme abzugeben. Bestimmte Inhalte der<br />

Programme stehen auf dem Prüfstand schließlich dürfen nun die betroffenen<br />

Personen mit abstimmen. Das durch eine Veränderung des Wahlrechts vorhandene<br />

Wählerpotenzial wollen und können sich politische Personen und Parteien<br />

nicht entgehen lassen.<br />

Themen wie Nachhaltigkeit, Kriegs- und Zivildienst, aber vor allem die Bildungspolitik<br />

werden betroffen sein. Entscheidungen wie das Turbo-Abitur – Abitur in<br />

Klasse zwölf und nicht mehr Klasse 13 – einzuführen, werden von diesen Wählerinnen<br />

und Wählern wahrscheinlich nicht so leichtfertig akzeptiert. Auch der<br />

Haushalt der verschiedenen Ressorts würde womöglich von der Veränderung<br />

beeinflusst werden. Ressorts, die für die Jugendlichen und die Kinder eine große<br />

Bedeutung haben, würden nicht mehr hinten angestellt werden. Immer mehr<br />

jungen Menschen würde eine Chance gegeben werden, sich passiv zur Wahl stellen<br />

zu lassen. Junge Politikerinnen und Politiker würden die jungen Wählerinnen<br />

und Wähler mehr ansprechen, <strong>als</strong> die Alteingesessenen und sich so besser vertreten<br />

fühlen. Ein Generationenwechsel wird feste Strukturen durchbrechen und<br />

neue Ideen fördern.<br />

Grundsätzlich sollte dem Politikunterricht im deutschen Bildungssystem mehr<br />

Bedeutung zuteil werden. Politik muss schon früh in den Unterricht integriert<br />

werden. Politikunterricht und ähnliche Fächer müssen einen höheren Stellenwert<br />

bekommen, damit die Kinder und Jugendlichen das politische Geschehen schon<br />

früh verstehen lernen und die Bedeutsamkeit erkennen. Eine bessere politische<br />

Bildung ist auch jetzt schon dringend notwendig. Durch die Veränderung des<br />

Wahlalters würde die Nachfrage nach außerschulischer und schulischer (politischen)<br />

Bildung deutlich ansteigen – die Notwendigkeit wird offensichtlicher. Aber<br />

auch auf schulische Entscheidungen sollten Kinder und Jugendliche Einfluss nehmen<br />

dürfen. Eine demokratische Schule ist ein wichtiger Beitrag zum Erlernen<br />

108 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

von Partizipation. Auch die Eltern haben einen Beitrag zu leisten. Vorteilhaft ist<br />

es, wenn die Eltern die Bedeutsamkeit der Politik und der Wahlen erkannt haben.<br />

Ist dies nicht der Fall müssen Lehrkräfte besondere Arbeit leisten. In der Familie<br />

können grundlegende demokratische Aspekte vermittelt werden. Den Kindern<br />

und Jugendlichen soll hier – wie auch an anderen Orten – aufgezeigt werden,<br />

dass sie für die Gesellschaft wichtig sind, dass sie mitreden und mitwirken dürfen,<br />

aber auch Konsequenzen zu tragen haben.<br />

Grundsätzlich müssen sich alle Betroffenen darauf einstellen mit Kindern und<br />

Jugendlichen in einen Dialog zu treten. Jugendliche und vor allem Kinder sind<br />

oft beharrlicher <strong>als</strong> Erwachsene und geben sich nicht mit schwammigen Aussagen<br />

zufrieden. Dieser Dialog muss eingegangen werden und wird mit Sicherheit<br />

interessante Erkenntnisse für jede Seite mit sich bringen. Vor allem Eltern, Lehrkräfte,<br />

Erzieherinnen, Erzieher und andere Betreuungspersonen und Ansprechpartnerinnen<br />

und -partner werden so indirekt gezwungen sich mit der Politik<br />

auseinander zu setzten. Auch bei diesen Personen können positive Entwicklungen<br />

deutlich werden.<br />

Im Allgemeinen kann damit gerechnet werden, dass Kinder und Jugendliche der<br />

eigenen Person mehr Vertrauen entgegenbringen. Den Kindern und Jugendlichen<br />

wird deutlich gemacht, dass sie ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft sind.<br />

Von ganz besonderer Bedeutung ist es, dass die Menschen schon so früh wie<br />

möglich lernen, dass sie Entscheidungen treffen dürfen, aber auch, dass diese<br />

Entscheidungen Auswirkungen haben. Schon in frühen Jahren müssen Kinder in<br />

Entscheidungsprozesse der Familie, des Kindergartens, der Schule und des Freizeitlebens<br />

eingebunden werden. Selbst die Entscheidung, was Kinder am nächsten<br />

Tag essen möchten oder was sie anziehen möchten, muss respektiert werden.<br />

Schon hier erkennen Kinder, dass sie Einfluss haben und dass dieser Einfluss gute<br />

und schlechte Auswirkungen für sie haben kann.<br />

fazit<br />

Das jetzige Wahlalter verlangt nach mehr politischer Partizipation junger Menschen.<br />

Unabhängig von einer Veränderung des Wahlrechts, ist es von großer<br />

Bedeutung vielseitige (politische) Mitwirkungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche<br />

zu bieten. Die Beteiligungsangebote müssen sich über Lebensbereiche<br />

Dis | kurs 109


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

der Kinder und Jugendlichen erstrecken. Besonders in Entscheidungen, die das<br />

eigene Leben betreffen, müssen Kinder und Jugendliche einbezogen werden. So<br />

können sich die für eine Demokratie notwendigen Kernkompetenzen entwickeln.<br />

Die Kinder und Jugendlichen lernen sich zu artikulieren und Forderungen angemessen<br />

zu stellen, über Möglichkeiten nachzudenken, Kompromisse einzugehen,<br />

mit Konflikten umzugehen, Meinungen anderer zu akzeptieren, wie Ziele sich<br />

in Prozessen verändern, wie Ziele erreicht werden können und wie akzeptable<br />

Lösungen zu finden sind. Eine parlamentarische Demokratie lebt von der Mitgestaltung<br />

der Bürgerinnen und Bürger. Diese Mitgestaltung darf nicht nur auf die<br />

Teilnahme an Wahlen beschränkt sein.<br />

Es kann nur erneut unterstrichen werden, dass die Möglichkeit zu wählen ein<br />

bedeutendes Mittel einer Demokratie ist. Aus diesem Grund ist es umstritten,<br />

Jugendlichen und auch Kindern dieses wichtige Mittel zu verwehren. Ein bedeutender<br />

Grund für die Veränderung des Wahlrechts ist die Nachhaltigkeit von politischen<br />

Entscheidungen, diese muss jedem Menschen bewusst sein.<br />

Der Meinungsstreit über die Veränderung des Wahlrechts hinsichtlich der Umsetzung<br />

sowie der Details wird noch anhalten. Die verschiedenen Abstufungen<br />

der Veränderung unterscheiden sich teilweise sehr, es gibt einige verschiedene<br />

Vorschläge. Die Senkung des Wahlalters um nur wenige Jahre ist eine halbherzige<br />

Entscheidung. Einerseits ist eine Absenkung der Grenze ein guter erster Schritt,<br />

andererseits droht die Gefahr, dass diese Absenkung nur umgesetzt wird um radikalere<br />

Forderungen zu unterdrücken. Besonders, weil noch viele Gegnerinnen<br />

und Gegner jedweder Veränderung zahlreich vertreten sind, wird eine Einigung<br />

in naher Zukunft schwierig.<br />

Seitens der Kritikerinnen und Kritiker gibt es viele Scheinargumente, die zum<br />

Erhalt des jetzigen Mindestalters bei Wahlen beitragen sollen. Weitläufig wird<br />

behauptet, Jugendliche und vor allem Kinder seien nicht reif genug, sinnvolle und<br />

durchdachte (politische) Entscheidungen zu treffen. Es ist allerdings zu bedenken,<br />

dass Kinder und Jugendliche oft genauso in der Lage oder auch nicht in der<br />

Lage sind ihr Recht sinnvoll zu nutzen wie Erwachsene. Diese Tatsache hängt<br />

nicht ausschließlich vom Alter ab. Wenn die Reife von Menschen <strong>als</strong> Kriterium<br />

eingesetzt wird, sie von den Wahlen und anderen politischen Entscheidungen<br />

auszuschließen, so müsste die Reife auch ein Kriterium dafür sein, das Wahlrecht<br />

wieder abzuerkennen. Problematisch wird die Argumentation allerdings,<br />

110 Dis | kurs


Luisa Streckenbach<br />

wenn viele Jugendliche und Kinder sich selbst <strong>als</strong> noch nicht reif zum Wählen<br />

einschätzen. Diese Aussage macht jedoch nur deutlich, welch ein Respekt vor der<br />

Bedeutung und Ernsthaftigkeit von Wahlen besteht. Studien belegen, dass junge<br />

Erwachsene Wahlen viel ernster betrachten <strong>als</strong> Erwachsene. Die Zurückhaltung<br />

darf nicht gegen die jungen Menschen eingesetzt werden. Die Einstellung trägt zu<br />

einem vernünftigen und reifen Umgang mit Wahlen bei. Jugendliche betrachten<br />

die Wahlen <strong>als</strong> eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, wenn in der Gesellschaft<br />

oder der Politik etwas verändert werden soll.<br />

Im Umgang mit Kindern und Jugendlichen wird deutlich, dass diese ihre Meinung<br />

kundtun wollen. Es lohnt sich, Kindern und Jugendlichen zuzuhören und ihren<br />

Einsprüchen und Forderungen zu vertrauen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass<br />

die Politikverdrossenheit unter jungen Menschen wie auch unter Erwachsenen<br />

auftreten wird, darf nicht unterschätzt oder <strong>als</strong> unbedeutend deklariert werden.<br />

Jedoch ist diese Wahrscheinlichkeit kein stichhaltiges Argument das Wahlrecht<br />

nicht zu verändern. Die Politikerinnen, Politiker, Parteien, Eltern, Lehrkräfte und<br />

auch andere Personen müssen sich auf die Politikverdrossenheit einstellen. Ihre<br />

Aufgabe ist es hier ein Gegenmittel zu finden. Sie müssen es mit der Situation<br />

aufnehmen.<br />

In den Ausführungen wurde deutlich, dass die Einführung einer einfachen und<br />

klaren Sprache der Politik allen Beteiligten dienen würde. Vor allem Kinder können<br />

die thematischen Zusammenhänge so besser verstehen. Auch dadurch können<br />

sie eine eigene Meinung (besser) ausbilden. Leeren Worten und schwafelnden<br />

Politikerinnen und Politikern könnte so vorgebeugt werden. Sofern sich der unlautere<br />

Wahlkampf verschärf, muss dieser vorläufig reguliert werden. Doch auch<br />

hier wird sich der selbstverständliche Umgang mit Kindern und Jugendlichen <strong>als</strong><br />

Wählerinnen und Wähler bald einstellen, sodass diese Regulierung binnen kurzer<br />

Zeit wieder aufgehoben werden kann. Die jungen Wählerinnen und Wähler<br />

brauchen auch heute schon eine gute Begleitung bei der Wahrnehmung ihres<br />

Wahlrechts. Diese Begleitung ist im Moment leider kaum gegeben. Die jungen<br />

Menschen werden zwar mehr oder weniger in das politische System eingeführt,<br />

doch meist stehen sie der kommenden Wahl recht alleine und hilflos gegenüber.<br />

Parteiunabhängige Kampagnen sind eine gute Möglichkeit, um junge Menschen<br />

vorzubereiten und zu begleiten. Diese Kampagnen können es sich zur Aufgabe<br />

machen junge Menschen zu informieren und zu motivieren. Über Plakate, Auf-<br />

Dis | kurs 111


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

kleber, Flugblätter, aber auch über das Fernsehen und das Internet kann eine weite<br />

Streuung der Informationen praktisch <strong>als</strong> garantiert betrachtet werden. Auch<br />

bei persönlichen Gesprächen können Fragen beantwortet werden. Events zum<br />

Wahlrecht sind auch ein guter Weg.<br />

Abschließend kann betont werden, junge Menschen von Wahlen auszuschließen,<br />

ist ungerecht. Das aktive und auch das passive Wahlrecht ist ein Grundrecht und<br />

die Veränderung muss daher schnellst möglich umgesetzt werden. Unzufriedenheit<br />

resultiert aus dem Mangel an Gleichberechtigung. In einer Demokratie muss<br />

garantiert werden, dass beim Zustandekommen (politischer) Entscheidungen alle<br />

Menschen gleich beteiligt werden. Durch das Wahlrecht ohne Altersgrenze kann<br />

zu einer gleichberechtigten Gesellschaft beigetragen werden. Gleichberechtigung<br />

ist ein Aspekt auf dem sich die Würde des Menschen gründet.<br />

Auffällig ist, dass bei der Debatte um das Frauenwahlrecht die gleichen Argumente<br />

aufgezählt wurden, um den Frauen das Wahlrecht weiterhin vorzuenthalten.<br />

Es können noch viele Argumente gegen eine Veränderung des Wahlrechts vorgebracht<br />

und gefunden werden, doch letztendlich sind diese Argumente weder<br />

stichhaltig noch haltbar. Das Wahlrecht ab der Geburt ohne Stellvertreter mag <strong>als</strong><br />

radikal gelten, doch erfolgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Thema,<br />

dann wird deutlich, dass die Argumente für diese Veränderung überwiegen. Ein<br />

aktives und passives Wahlrecht, dass allen Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands<br />

eine Stimme verleiht ist notwendig. Wer wählt, der zählt – ein Mensch,<br />

eine Stimme.<br />

112 Dis | kurs


thema: Wa(e)hlen in deutschland<br />

deutschland von außen<br />

Reaktionen aus dem Ausland auf Schwarz-Gelb<br />

Simone Schonvogel<br />

Universität Osnabrück<br />

E-Mail: sschonvogel@uos.de<br />

abstract<br />

The federal election on September, 27th 2009 and its end result marked the<br />

starting point for a second term under German Chancellor Angela Merkel<br />

with her new Vice Chancellor and Foreign Minister Guido Westerwelle. In a<br />

domestic perspective, the new government is confronted with various major<br />

challenges and it announced ambitious plans. But what are the problems<br />

like that have to be met by the German foreign policy? What challenges and<br />

expectations are they confronted with? A look back at the historical development<br />

of German foreign policy permits to understand the changing external<br />

conditions faced by the new government. The coalition agreement of Merkel<br />

and Westerwelle points out the major focuses of the German foreign policy<br />

for the next few years. What plans were made by the coalition partners and<br />

what were the reactions of close European allies, such as France, Turkey<br />

and the major international powers, the U.S. and Russia? What expectations<br />

the German foreign policy is facing under the new old Chancellor and what<br />

do other foreign governments expect from Germany? The article tries to find<br />

answers to these difficult and complex questions.<br />

schlüsselwörter<br />

Außenpolitik, Angela Merkel, Guido Westerwelle, USA, Russland<br />

Dis | kurs 113


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Abwrackprämie, Hartz IV, Arbeitsplätze, Managerlohnbegrenzung, Mindestlöhne,<br />

Opel und nicht zuletzt ein Dienstwagen in Spanien und die kulinarische<br />

Stippvisite Herrn Ackermanns im Kanzleramt waren die beherrschenden Themen<br />

im Bundestagswahlkampf 2009, der sich das Etikett „Kampf“ wohl nur mit<br />

viel Wohlwollen verdient hat. Angesichts nationaler Themen die mit recht unterschiedlicher<br />

Schwerpunktsetzung bedacht wurden, ist es nicht verwunderlich,<br />

dass auch 2009 außenpolitische Themen im öffentlichen Schlagabtausch mehr<br />

oder weniger untergingen, sieht man vom Versuch durch DIE LINKE ab, den<br />

deutschen Einsatz in Afghanistan in den Fokus zu rücken. Hier blieb es jedoch<br />

beim Versuch, ging das Thema doch im Hin und Her nationaler Wahlkampfthemen<br />

und den alternierenden Vorwürfen der Parteien unter.<br />

Außenpolitische Themen stellen ein schwieriges Feld dar und bieten wenig Spielraum<br />

für Personalisierungen. Große Wahlkampfthemen bieten sich hier zudem<br />

selten, angesichts vorherrschender nationaler Themen, die von WahlstrategInnen<br />

in den Fokus gerückt werden und der Bevölkerung oftm<strong>als</strong> näher liegen. So<br />

dauerte es nach den Wahlen 1972, in denen Willy Brandts Ostpolitik im Mittelpunkt<br />

stand, 30 Jahre bis 2002 mit der Thematik des bevorstehenden Irakkriegs<br />

wieder ein außenpolitisches Thema im Diskussionsmittelpunkt stand. 1<br />

Platz für Auseinandersetzungen außenpolitischer Art fand sich 2009 auch trotz<br />

dem „bedauerlichen Zwischenfall in Afghanistan“ 2 nicht, angesichts der Tatsache,<br />

dass hinsichtlich der Afghanistan-Strategie im Großen und Ganzen Einigkeit<br />

unter den Parteien bestand und sich lediglich DIE LINKE offen gegen den Einsatz<br />

aussprach. Auch die Wirtschafts- und Finanzkrise hatte, abgesehen von der<br />

Randthematik der Finanzmarktregulierung <strong>als</strong> internationale Problemstellung,<br />

kaum außenpolitische Diskurse im Vorfeld der Bundestagswahlen zur Folge. 3<br />

1 Vgl. Woop, Gerry: Bentley der Politikpalette. Außenpolitik im Wahlkampf. In: WeltTrends.<br />

Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 67 (2009), S. 142f.; vgl. auch Roemmele, Andrea:<br />

Afghanistan – wieder ein außenpolitisches Thema zur heißen Wahlkampfphase? In:<br />

Zeit-Online, 08. 09. 2009, http://blog.zeit.de/politik-nach-zahlen/ 2009/09/08/afghanistanwieder-ein-ausenpolitisches-thema-zur-heisen-wahlkampfphase_1851.<br />

2 Anfang September 2009 hatte die Taliban zwei Tanklastzüge in der Provinz Kundus<br />

gekapert. Die Bundeswehr ordnete einen umstrittenen Luftangriff an. Bei dem Bombardement<br />

waren nach afghanischen Angaben neben 69 Aufständischen auch 30 Zivilisten<br />

getötet worden. Vgl. ohne Verfasser: Wieder Tanklaster. Wieder Kundus. In: Focus-Online,<br />

02.10.2009, http://wiegold.focus.de/augen_geradeaus/2009/10/wieder-tanklaster-wiederkundus.html.<br />

3 Vgl. ebd.<br />

114 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

Jede neu gewählte Bundesregierung sah sich mit dem Weiterführen von Aufgaben<br />

und mehr oder weniger weitreichenden Veränderungen und Herausforderungen<br />

konfrontiert. Ausländische Reaktionen auf deutsche Wahlergebnisse fielen hierbei<br />

naturgemäß stets verschieden aus. Herrschten unter der rot-grünen Koalition<br />

Gerhard Schröders ein eher angespanntes Verhältnis zu den USA und nahezu<br />

freundschaftliche Verbindungen zu Russland, so nahm man unter der folgenden<br />

Großen Koalition wieder eine verstärkte Annäherung an die USA vor, auch wenn<br />

bis heute von großer Harmonie noch kaum die Rede sein kann.<br />

deutsche außenpolitik: Etappen, Konstanten und Brüche<br />

„Tatsächlich fand die deutsche Außenpolitik erst in der zweiten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts den Pfad der Tugend, reifte erst nach einem neuerlichen Anlauf,<br />

die Mittellage durch Gewalt aufzusprengen, die Erkenntnis, dass sich die eigene<br />

Position nicht durch Aggression und Angriff, sondern durch Ausgleich und<br />

Arrangement befestigen ließ.“ 4<br />

Von der Stunde Null über den Westen nach Osten<br />

Nach 1945 zunächst ohne staatliches und damit auch außenpolitisches Selbstbestimmungsrecht<br />

lässt sich erst ab Gründung der Bundesrepublik 1949 schrittweise<br />

ein Zuwachs an Souveränität feststellen. Insbesondere die deutsche Integration<br />

in die EVG und die NATO erweiterten den eigenen Handlungsspielraum. Prägende<br />

Konzeptionen der folgenden Jahrzehnte bis zur Wiedervereinigung 1989<br />

waren Aussöhnung und Westintegration unter Konrad Adenauer, die Ostannäherung<br />

unter Willy Brandt und die zunehmende europäische Integration eines<br />

wiedervereinigten Deutschlands unter Helmut Kohl. Ein Bedeutungszuwachs,<br />

sowohl international, <strong>als</strong> auch im europäischen Rahmen, erfolgte insbesondere<br />

nach Ende des Kalten Krieges. 5<br />

Unter dem Besatzungsstatus der Nachkriegsjahre war der außenpolitische Handlungsspielraum<br />

für die westdeutsche Bundesregierung Adenauers äußerst gering.<br />

Ziel konnte es daher nur sein, mühsam eigenen politischen Spielraum zurück<br />

4 Ohne Verfasser: Strukturelle Wandlungen und Konstanten deutscher Außenpolitik im 20.<br />

Jahrhundert. 23. 03. 2010, http://www.km.bayern.de/blz/eup/03_06/1.asp.<br />

5 Vgl. ohne Verfasser: Deutsche Außenpolitik. 23.03.2010, http://www.bpb.de/publikationen/<br />

R8DNT9,0,0,Deutsche_Au%DFenpolitik.html.<br />

Dis | kurs 115


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

zu gewinnen. Der Weg zu den Zielen Souveränitätsgewinn und Gleichrangigkeit<br />

verlief über eine verstärkte Westanbindung. NATO-Aufnahme und die Gründung<br />

der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) stehen beispielhaft für<br />

erfolgreiche Integrationspolitik. Enge Bindung suchte man in den folgenden Jahren<br />

trotz Widerstands in der Bevölkerung insbesondere zu den USA und Frankreich.<br />

6<br />

Unter der Großen Koalition Kurt Georg Kiesingers verschoben sich die Prioritäten<br />

der Bundesregierung in Richtung Entspannungs- und Friedenspolitik, ohne<br />

jedoch die „atlantisch-europäische Verankerung der Bundesrepublik im Westen,<br />

in Frage zu stellen“ 7 . Ein Wandel in der Außenpolitik in Richtung Entspannungspolitik<br />

war jedoch auch angesichts amerikanischer Bemühungen sich nach der<br />

Berlinkrise zwischen 1958 und 1961 und der Kubakrise 1962, <strong>als</strong> Höhepunkte des<br />

Kalten Krieges, dem Ostblock anzunähern, unausweichlich. Zum außenpolitisch<br />

prägenden Konzept avancierte die Ostpolitik dann mit der eindeutigen Abwendung<br />

von der Hallsteindoktrin unter Willy Brandt, der gemeinsam mit Außenminister<br />

Walter Scheel „pragmatische Entspannungsschritte gen Osten <strong>als</strong> Wegbereiter<br />

für eine Wiedervereinigung in ferner Zukunft“ 8 erachtete.<br />

Als grundlegende Konstanten erhalten blieben jedoch auch hier beständig die<br />

enge Bindung zwischen den USA und der Bundesrepublik, die Einbindung in die<br />

Europäische Gemeinschaft und die kooperativen guten Verbindungen zu westlichen<br />

Nachbarstaaten. Die Jahrzehnte deutscher Außenpolitik unter den Kanzlern<br />

Kiesinger, Brandt und Schmidt lassen sich letztlich unter dem Motto „Öffnung<br />

nach Osten, Kontinuität im Westen“ 9 zusammenfassen. 10<br />

In den Blickpunkt weltpolischen Interesses rückte die Bundesregierung mit dem<br />

Fall der Mauer 1989. Deutschland betonte stets seine Einbettung in NATO und<br />

EG, um Befürchtungen gegenüber deutschen Bestrebungen nach einer führenden<br />

Rolle innerhalb der Europäischen Gemeinschaft <strong>als</strong> bevölkerungsreichster<br />

6 Vgl. Hellmann, Gunter / Schmidt, Siegmar / Wolf, Reinhard: Deutsche Außenpolitik in<br />

historischer und systematischer Perspektive. In: Wolf, Reinhard (Hrsg.): Handbuch zur<br />

deutschen Außenpolitik. Wiesbaden 2007, S. 30ff.<br />

7 Kronenberg, Volker: Grundzüge deutscher Außenpolitik 1949- 1990. In: Bundeszentrale für<br />

politische Bildung (Hrsg.): Informationen zur politischen Bildung, Nr. 304 (2009), S. 22.<br />

8 Ebd. S. 23.<br />

9 Ebd. S. 22.<br />

10 Vgl. etwa Dittrich, Denise: Die FDP und die deutsche Außenpolitik. Potsdam 2009, S. 11.<br />

116 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

Mitgliedsstaat auszuräumen. Die deutsche Politik sah sich, teilweise erst auf den<br />

zweiten Blick ersichtlich werdenden, neuen außenpolitischen Herausforderungen<br />

gegenüber, denen durch eine Neudefinition bundeseigener Außenpolitik<br />

unter veränderten Rahmenbedingungen Rechnung getragen werden musste.<br />

Kontinuität und Konsolidierung standen jedoch, trotz wachsender Verantwortungsübernahme<br />

und der Notwendigkeit, Interessen auch gegen Widerstände zu<br />

verteidigen, stets im Fokus aller politischen Bestrebungen.<br />

Abkehr von gewohnten Pfaden<br />

Die rot-grüne Regierung bewegte sich zwischen 1998 und 2005 stets zwischen<br />

Kontinuität und einer Abkehr von bislang geltenden außenpolitischen Grundlinien.<br />

Während europäische und transatlantische Politik durch Kontinuität geprägt<br />

waren, stellte der Einsatz der Bundeswehr im Kosovokrieg ohne UN-Mandat einen<br />

radikalen Bruch mit der deutschen Außenpolitik dar. 11 Verantwortlich für<br />

diesen Umbruch waren vor allem große internationale Veränderungen wie der<br />

Krieg im Kosovo, die Anschläge vom 11. September 2001 und speziell der daraus<br />

resultierende Irakkrieg 2003.<br />

Radikale Änderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik traten in der Großen<br />

Koalition unter Angela Merkel ab 2005 nicht auf. So erholte sich die durch das<br />

Nein der Schröderregierung zum Irakkrieg schwer angeschlagene deutsch-amerikanische<br />

Partnerschaft zwar, Konfliktstoff war hier jedoch zu jenem Zeitpunkt<br />

auch nicht mehr in gleichem Maße wie 2003 gegeben, da sich die Bush- Regierung<br />

bereits stark in der Kritik sah. Eine Schwerpunktsetzung der ersten Regierung<br />

Merkel erfolgte vor allem auf das Themenfeld Europa.<br />

„Sachlicher, zurückhaltender und tendenziell stärker [um, Anm. d. Verf.]<br />

Ausgleich und Kooperation bemüht, ohne allerdings Interessengegensätze zu<br />

verleugnen“ 12<br />

widmete sich die Große Koalition einer Außenpolitik, in der Deutschland verstärkt<br />

eine vermittelnde Position einzunehmen und insbesondere die Beziehun-<br />

11 Vgl. Größl, Wolf-Rüdiger: Die Rolle Deutschlands in der Außenpolitik: zwischen Kontinuität<br />

und Neubestimmung. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg<br />

(Hrsg.): Deutschland & Europa. Das vereinigte Deutschland in Europa, Nr. 40 (2009), S. 20f.<br />

12 Hellmann, Gunter / Schmidt, Siegmar / Wolf, Reinhard: Deutsche Außenpolitik in historischer<br />

und systematischer Perspektive, S. 39.<br />

Dis | kurs 117


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

gen zu kleineren Mitgliedsstaaten der EU und den USA zu verbessern suchte. 13<br />

„Die Europäische Union und das transatlantische Verhältnis gelten wieder <strong>als</strong><br />

die beiden wichtigsten Bezugsrahmen deutscher Außenpolitik, die zwar in einem<br />

Spannungsverhältnis zueinander stehen, deren Vermittlung allerdings zu<br />

den wichtigsten Aufgaben deutscher Außenpolitik gerechnet wird.“ 14<br />

Rückblickend standen bis 1990 somit zusammenfassend Souveränität und Wiedervereinigung<br />

im Fokus außenpolitischer Bemühungen. Entsprechend prägten<br />

Berechenbarkeit und Kooperation das Handeln insbesondere gegenüber den<br />

USA. Mit dem größeren außenpolitischen Gewicht der Bundesrepublik im Zuge<br />

der deutschen Wiedervereinigung kam es zu einer Ergänzung der bisherigen<br />

Konstanten durch verstärkte Bestrebungen Einfluss in multilateralen Entscheidungsprozessen<br />

zu gewinnen.<br />

Rückkehr zu traditionellen Linien<br />

An das Zurückfinden zu traditionellen deutschen Leitlinien in der Großen Koalition<br />

schließt sich nun die Wirtschafts- und Finanzkrise an, die „den Beginn der<br />

aktuellen Phase“ 15 deutscher Außenpolitik markiert, in der Deutschland seiner<br />

gewonnen Position <strong>als</strong> „europäische Zentralmacht“ 16 gerecht werden muss. 17<br />

An der Grundorientierung aller bisherigen deutschen Regierungen an Multilateralismus<br />

und kooperativer Zusammenarbeit haben jedoch auch veränderte<br />

Rahmenbedingungen und daraus resultierende strategische Veränderungen<br />

deutscher Außenpolitik keinerlei Änderungen bewirkt. Multilateralismus, Aussöhnung,<br />

sowie Ostpolitik führten die Bundesrepublik zu ihrer heutigen Position,<br />

in der sie <strong>als</strong> Frieden stärkender, solidarischer und zuverlässiger Partnerstaat geachtet<br />

und ernst genommen wird und sich selber auch <strong>als</strong> solcher versteht.<br />

13 Vgl. Haftendorn, Helga: Deutschlands Rückkehr in die Weltpolitik. In: Hanns-Seidel-<br />

Stiftung. Politische Studien, Nr. 425 (2009). S.49-57; vgl. auch Hellmann, Gunter / Schmidt,<br />

Siegmar / Wolf, Reinhard: Deutsche Außenpolitik in historischer und systematischer<br />

Perspektive, S. 39.<br />

14 Ebd. S. 39.<br />

15 Ebd. S. 49-57.<br />

16 Ebd.<br />

17 Vgl. ebd.<br />

118 Dis | kurs


Koalitionsvertrag – 17 seiten perspektive<br />

Simone Schonvogel<br />

Der gerade 17 Seiten umfassende Teil des 124 Seiten starken Koalitionsvertrages,<br />

der sich der Thematik der Außen- und Sicherheitspolitik widmet, lässt insgesamt<br />

keine große Abkehr von den Konstanten deutscher Außenpolitik erkennen. Die<br />

Einbettung in EU und NATO bleibt wichtigster Grundpfeiler und auch gute Beziehungen<br />

zu den USA und eine Zusammenarbeit mit Russland bleiben in ihrer<br />

Bedeutung für die Bundesrepublik erhalten und unentbehrlich. 18<br />

Hinsichtlich der Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei ist es in der FDP-<br />

Position begründet, dass im Koalitionsvertrag nicht die von der CDU / CSU angestrebte<br />

Wortwahl „strategische Partnerschaft“ zu finden ist. Die Rede auf Seite<br />

109 des Vertrages ist nun sinngemäß von ergebnisoffenen Verhandlungen ohne<br />

jeglichen Automatismus. Ein Kompromiss, mit dem sich vor allem die CDU /<br />

CSU schwer getan haben dürfte, angesichts noch vorher lautstark verkündeter<br />

Aussagen, bei einem kategorischen Nein zu einem Türkei-Beitritt zur EU zu bleiben.<br />

19<br />

Beim Blick über europäische Grenzen werden für die deutsche Außenpolitik mit<br />

Afghanistan, dem Nahen Osten und dem Iran vor allem drei globale Konfliktherde<br />

sichtbar, die sich im Koalitionsvertrag niederschlagen. Überraschungen sind<br />

dabei auch in der Afghanistanpolitik nicht zu erwarten. Unter der Prämisse „vernetzte<br />

Sicherheit“ erfolgt an keiner Stelle die Thematisierung eines möglichen<br />

Rückzugs der Bundeswehr. Als „Aufgabe von besonderem nationalen Interesse“ 20<br />

wird der Einsatz im Vertrag betitelt und ziviler Aufbau und die schrittweise Übergabe<br />

von Verantwortung an Afghanistan in den Fokus gerückt. Wie im Koalitionsvertrag<br />

angekündigt, wurde die Position eines / einer Sonderbeauftragten<br />

für Afghanistan nun vier Monate nach Amtsantritt der Regierung abschließend<br />

besetzt. Wurde zunächst Bernd Mützelburg, seit 2009 im Amt und enger Steinmeier-Vertrauter,<br />

bis zur Afghanistan-Konferenz in London im Januar 2010 im<br />

Amt belassen, um eine erfahrene Person mit dieser Aufgabe betraut zu wissen, ist<br />

18 Vgl. Werkhäuser, Nina: Außenpolitik – Kontinuität mit neuen Akzenten. 20.03.2010,<br />

http://www.dw-world.de/dw/article/0,,4826048,00.html.<br />

19 Vgl. ohne Verfasser: Koalitionsvertrag: Türkei in die EU. 20. 03. 2010, http://www.pi-news.<br />

net/2009/10/koalitionsvertrag-tuerkei-in-die-eu/.<br />

20 Ohne Verfasser: Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. 20.03.2010, http://www.cdu.de/doc/<br />

<strong>pdf</strong>c/091024-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.<strong>pdf</strong>.<br />

Dis | kurs 119


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

nun seit dem 24. März 2010 Michael Steiner Sonderbeauftragter für Afghanistan<br />

und Pakistan. Einzelne Akzente werden vor allem durch die FDP gesetzt, deren<br />

Vorsitzender und Bundesaußenminister Guido Westerwelle es sich nicht nehmen<br />

lässt, durch sicherheitspolitische Forderungen auf sich aufmerksam zu machen.<br />

Der geforderte Abzug in Deutschland verbliebener US-Atomwaffen dürfte dabei<br />

in den USA durchaus auf offene Ohren gestoßen sein, sprach doch Barack Obama<br />

bereits im letzten Jahr visionär von einer atomwaffenfreien Welt. 21<br />

Ebenfalls im Koalitionsvertrag verankert ist das deutsche Streben nach einem<br />

ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. So ist man gewillt auf dem Weg zum Ziel<br />

eines ständigen Sitzes der EU im Sicherheitsrat mehr Verantwortung an sich zu<br />

binden. 22 Besorgt zeigt sich die Regierung über die Entwicklungen im Iran und<br />

bringt zum Ausdruck Gespräche fortsetzen zu wollen, jedoch bei Notwendigkeit<br />

auch härtere Sanktionen mitzutragen. 23<br />

Eine neue Ausrichtung deutscher Außenpolitik lässt der Koalitionsvertrag der<br />

neuen Regierung folglich nicht erwarten, wie auch Außenminister Westerwelle<br />

mit seiner Rede von „mehr Kontinuität statt Haken schlagen“ 24 deutlich machte.<br />

25 Doch spiegelt der Vertrag wider, was längst Realität ist. Deutsche Außenpolitik<br />

lässt sich nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit vergangener Jahrzehnte<br />

<strong>als</strong> Friedenspolitik verstehen. Vielfach ist im Koalitionsvertrag die Rede<br />

von Sicherheit. Frieden <strong>als</strong> Wertebegriff und Ziel taucht nur noch am Rande<br />

auf. 26<br />

21 Vgl. Frey, Thomas: USA erwägen Abzug ihrer Atomwaffen aus Deutschland. In: ZeitOnline.<br />

01.03.2010, http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-03/usa-atomwaffen-abzug.<br />

22 Vgl. Mayntz, Gregor: Deutschland dringt auf einen Sitz im Weltsicherheitsrat.<br />

In: RP Online. 12.03.2010, http://nachrichten.rp-online.de/article/politik/Deutschlanddringt-auf-einen-Sitz-im-Weltsicherheitsrat/70532.<br />

23 Vgl. ebd.<br />

24 Stanzel, Volker: Deutsche Außenpolitik nach den Bundestagswahlen. 20.03.2010, http://<br />

www.tokyo.diplo.de/Vertretung/tokyo/de/00Start/RedenBo/BoRede091111Pressclub,prope<br />

rty=Daten.<strong>pdf</strong>.<br />

25 Vgl. ebd.<br />

26 Vgl. Braun, Rainer: Zum Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Bundesregierung (Oktober<br />

2009). Der Geist des Vertrages ist nicht Frieden. 06.05.2010, http://www.dfg-vk.de/aktuelles/informationen-der-friedensbewegung/2009/376.<br />

120 Dis | kurs


eaktionen und Erwartungen aus dem ausland<br />

Simone Schonvogel<br />

Außenpolitische Herausforderungen der nächsten Jahre, insbesondere die Konfliktfelder<br />

im Nahen und Mittleren Osten, lassen sich nur im Rahmen multilateraler<br />

internationaler Zusammenarbeit bewältigen. Speziell die G8-Staaten stehen<br />

hierbei im Fokus von Verständigung, Konfliktbewältigung und globaler Sicherheit.<br />

Im Weiteren werden Frankreich <strong>als</strong> enger europäischer Verbündeter der Bundesrepublik<br />

und die USA und Russland in ihrer Funktion <strong>als</strong> internationale Großmächte<br />

und bedeutende Partner bei der Positionierung deutscher Außenpolitik<br />

in der internationalen Ordnung betrachtet.<br />

Während der Existenz der Sowjetunion noch <strong>als</strong> „östlicher Vorposten der Nato<br />

eng in das westliche Bündnis“ 27 integriert und ohne eigene aktive Außenpolitik,<br />

hat sich über die vergangenen Jahre eine „zunehmend enge Zusammenarbeit der<br />

Türkei mit dem Iran und den arabischen Ländern“ 28 vollzogen, die der um regionale<br />

Macht bemühten Türkei im Kontext internationaler Konfliktherde eine Einfluss<br />

nehmende Position zukommen lässt. Angesichts des Konfrontationskurses<br />

„der USA und ihrer israelischen und europäischen Verbündeten gegen den Iran“ 29<br />

und den türkischen Befürwortungen einer diplomatischen Lösung und Anspruch<br />

einer eigenen Vermittlerrolle im Atomstreit sieht sich die türkische Außenpolitik<br />

speziell mit Blick auf den angestrebten EU-Beitritt nicht ungefährdet. Tendenzen<br />

der Gestaltung der deutsch-türkischen Beziehungen finden daher im Weiteren<br />

ebenso Berücksichtigung. 30<br />

frankreich – vom feind zum freund<br />

Die überaus positiven Reaktionen von französischer Seite auf das Wahlergebnis<br />

aus Deutschland überraschen wenig, gelten doch Frankreich und Deutschland<br />

27 Leicht, Justus: Türkei: Konflikte mit Westen in der Außenpolitik. 05.05.2010, http://www.<br />

wsws.org/de/2010/jan2010/turk-j20.shtml.<br />

28 Ebd.<br />

29 Ebd.<br />

30 Vgl. ohne Verfasser: G-8-Staaten fordern Iran-Sanktionen. 05.05.2010, http://diepresse.<br />

com/home/politik/aussenpolitik/555113/index.do. Leicht, Justus: Türkei: Konflikte mit<br />

Westen in der Außenpolitik. 05.05.2010, http://www.wsws.org/de/2010/jan2010/turk-j20.<br />

shtml.<br />

Dis | kurs 121


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

seit der historischen Aussöhnung31 beider Länder nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

<strong>als</strong> „Motor der europäischen Einigung“ 32 . Als Dreh- und Angelpunkt europäischer<br />

Einigung und Gründungsmitgliedern der EG fällt beiden Ländern eine Rolle <strong>als</strong><br />

Vorreiter zu, der sie in der Vergangenheit immer wieder gerecht wurden. Die<br />

Vollendung des einheitlichen Binnenmarktes und der Vertrag von Maastricht,<br />

bei denen beide <strong>als</strong> Initiator mitwirkten, seien an dieser Stelle nur beispielhaft<br />

hervorgehoben. 33<br />

„Seit nunmehr 60 Jahren ermöglicht die deutsch-französische Aussöhnung<br />

eine einmalige und beispielhafte Zusammenarbeit zwischen unseren beiden<br />

Ländern, getragen von dem Bewusst sein für unsere gemeinsame Verantwortung<br />

für Europa und beseelt von dem Wunsch, das europäische Aufbauwerk<br />

voranzutreiben. Die deutsch-französische Partnerschaft, die auf gemeinsamen<br />

Werten, einem gemeinsamen kulturellen Erbe sowie eng maschigen<br />

Netzwerken in den Bereichen Zivilgesellschaft, Medien sowie Kultur und Bildung<br />

gründet, hat sich im Lauf der Jahrzehnte derart entwickelt, dass sie auf<br />

die Probleme unserer beiden Länder im Laufe der Jahrzehnte noch immer<br />

eine angemessene Antwort auf die aktuellen Probleme unserer beiden Länder<br />

zu geben gewusst hat.“ 34<br />

Glückwünsche über den Rhein<br />

Zweifel an einer zweiten Amtszeit von Angela Merkel bestanden auf französischer<br />

Seite zu keiner Zeit. So betonte man im Vorfeld zwar eine Unabhängigkeit<br />

der deutsch-französischen Beziehungen / Freundschaft von Personen und<br />

sicherte eine ebenso harmonische Zusammenarbeit wie in vergangenen Jahren<br />

zu, intern jedoch zweifelte niemand an einer zweiten Kanzlerschaft Präsident<br />

Sarkozys engster Verbündeter „auf internationalem Parkett“ 35 . Überschwängli-<br />

31 Grundlegend ist der Élysée-Vertrag, der am 22. Januar 1963 von Adenauer und de Gaulle<br />

unterzeichnet wurde. Vgl. hierzu ohne Verfasser: Geschichte der deutsch-französischen<br />

Zusammenarbeit. 22.03.2010, http://www.goethe.de/ins/jp/lp/prj/wza/defr/de2257714.<br />

htm.<br />

32 Ohne Verfasser: Gemeinsam für ein starkes Europa. 10. 05. 2010, http://www.deutschlandfrankreich.diplo.de/Gemeinsam-fur-ein-starkes-Europa,574.html<br />

33 Vgl. ohne Verfasser: Geschichte der deutsch-französischen Zusammenarbeit.<br />

34 Ebd.<br />

35 Bidder, Benjamin / Schmitz, Gregor Peter / Volkery, Carsten: Bundestagswahl. Wie das<br />

Ausland auf Schwarz-Gelb reagiert. Frankreich. In: SpiegelOnline, 28. 09. 2009, http://<br />

122 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

che und herzliche Glückwünsche, unterschrieben mit einem handschriftlichen<br />

„Dein Freund Nicolas Sarkozy“ 36 fanden sich somit bereits noch bevor das offizielle<br />

Wahlergebnis in Deutschland auf den Monitoren erschien, in Berlin ein.<br />

In seinen Glückwünschen betonte der Präsident insbesondere den einmaligen<br />

Charakter der Beziehungen beider Länder und übersandte Angela Merkel die<br />

besten Wünsche, auch von Premierminister Fillon, für eine erfolgreiche weitere<br />

Amtszeit. 37 „Auf der anderen Rheinseite hat Merkels Freund Nicolas Sarkozy<br />

aufgeatmet und dies auch wissen lassen.“ 38 Bedauern über das deutsche Wahlergebnis<br />

breitete sich hingegen in der Opposition aus. Das historische Scheitern<br />

der SPD und gleichzeitiges Aufkommen der LINKEN wurde <strong>als</strong> Gegenstück französischer<br />

Verhältnisse wahrgenommen und der 27. September <strong>als</strong> schwarzer Tag<br />

‚für die Sozialdemokratie’ 39 betitelt. „Die Achse Merkel – Sarkozy – Barroso ist<br />

nach dieser Wahl konservativer und neoliberaler“ 40 , bedauerte der sozialistische<br />

Abgeordnete Jean-Christophe Cambadélis (Parti Socialiste). 41<br />

Wie in der Regierung beherrschten auch in der französischen Presse weitgehend<br />

positive Schlagzeilen die Titelseiten regionaler und überregionaler Zeitungen.<br />

Merkel erfährt große Sympathien in Frankreich, gilt <strong>als</strong> pragmatische, durchsetzungs-<br />

und kompromissfähige Persönlichkeit, der Respekt für ihre Art des Regierens<br />

entgegengebracht wird. Auch hier herrscht wenig Überraschung über das<br />

Wahlergebnis. Übersehen wird jedoch keineswegs, dass die CDU ihr historisch<br />

schlechtestes Ergebnis seit 1949 einfuhr und Angela Merkel ihre zweite Amtszeit<br />

in erster Linie dem starken Abschneiden der FDP zu verdanken hat. Damit, dass<br />

diese sich aufgrund dessen nicht im Hintergrund halten, sondern Regierungsentscheidungen<br />

mit liberaler Note zu versehen zu versuchen wird, rechnet man auch<br />

in Frankreich. 42<br />

www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,651789-3,00.html.<br />

36 Ebd.<br />

37 Vgl. ebd.<br />

38 Ebd.<br />

39 Wolff, Joerg / Caro, Celine-Agathe: Reaktionen in Frankreich. 26.03.2010, http://www.kas.<br />

de/wf/doc/kas_17668-544-1-30.<strong>pdf</strong>.<br />

40 Ebd.<br />

41 Vgl. ebd.<br />

42 Vgl. ebd.<br />

Dis | kurs 123


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Westerwelle – das unbeschriebene Blatt<br />

Von Bedeutung sind aus französischer Sicht letztlich jedoch nur die Kontakte zur<br />

Kanzlerin. Ein Außenminister Steinmeier oder Westerwelle sei da unerheblich.<br />

Wichtig seien lediglich die Beziehungen ins deutsche Kanzleramt. Außen- und<br />

Europapolitik ist KanzlerInnenterrain. Nichtsdestotrotz war und ist man jedoch<br />

gespannt, welche Akzente Westerwelle, der „Anfänger ohne jede Erfahrung auf<br />

dem diplomatischen Parkett“ 43 , setzen wird und wie er in großen Fragen wie Afghanistan,<br />

Iran oder Nahost agiert. 44<br />

Dass Westerwelle um die Fortschreibung eines guten deutsch-französischen Verhältnisses<br />

bemüht ist, zeigte sich bereits während seines Antrittsbesuches in Paris.<br />

Nach einer euphorischen begrüßenden Umarmung, auf die sein Amtskollege<br />

Kouchner wenig vorbereitet schien, sparte Westerwelle nicht mit Lobeshymnen<br />

auf die deutsch-französische Freundschaft und persönlichen Anekdoten wie Austauschfahrten<br />

und Brieffreundschaften Richtung Frankreich. Fast schien es so, <strong>als</strong><br />

versuche er hierdurch die Tatsache, dass sein erster Besuch nicht, wie üblich, zum<br />

französischen Nachbarn führte zu kompensieren.<br />

Hatte Angela Merkels Weg noch direkt nach ihrem Wahlsieg <strong>als</strong> erstes in die<br />

französische Hauptstadt geführt, zog es Westerwelle zum östlichen Nachbarn<br />

Polen. Dies jedoch nach vorheriger Absprache mit Kouchner. Und schließlich<br />

diente Westerwelles Warschau-Besuch letztlich einem gemeinsamen Ziel: der<br />

Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks, von der laut beider Aussagen alle Beteiligten<br />

überzeugt sind. 45<br />

Die große Aufmerksamkeit, die Westerwelle während seines Antrittsbesuches in<br />

Form von Gesprächen mit Kouchner, Premierminister Fillon und Präsident Sarkozy<br />

entgegengebracht wurde, zeigt, dass man sich der Besonderheit der bilateralen<br />

Beziehungen bewusst ist. Erfreut haben dürfte den deutschen Außenminister<br />

daher auch die Ankündigung seines Amtskollegen, „den 11. November künftig<br />

43 Ohne Verfasser: Westerwelle: Der unbekannte Neue. In: Tagesspiegel-Online. 02.11.2009,<br />

http://www.tagesspiegel.de/politik/international/Guido-Westerwelle;art123,2938807.<br />

44 Vgl. ebd.<br />

45 Vgl. Wiegel, Michaela: Ein Lob der Freundschaft. In: FAZ – Online. 02.11.2009, http://www.<br />

faz.net/s/RubDDBDABB9457A437BAA85A49C26FB23A0/Doc~EDF489335333C472A96C2EF<br />

27BABC2CD6~ATpl~Ecommon~Scontent.html.<br />

124 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

<strong>als</strong> ‚Tag der deutsch-französischen Freundschaft’ zu feiern“ 46 . Zwei Tage nach den<br />

gemeinsamen Feierlichkeiten zum Mauerfall nahm Angela Merkel 2009 <strong>als</strong> erste<br />

Bundeskanzlerin an der Begehung des Feiertages zum Ende des Ersten Weltkriegs<br />

teil. Jenem Feiertag der nun eine Umbenennung erfuhr. In Deutschland<br />

wird der 11. November jedoch zu keinem Feiertag werden. „Vive la France, vive<br />

l’Allemagne, vive l’amitié franco-allemande“ 47 aber waren die Worte, mit denen<br />

die Kanzlerin ihre Rede auf Französisch beendete.<br />

Aber ein Blick zurück zum Außenminister Guido Westerwelle und seinem Antrittsbesuch:<br />

Dem unbeschriebenem Blatt Westerwelle kommen gerade Bekanntheit<br />

und Beliebtheit der Kanzlerin zu Gute. Auch ist man sich im Klaren darüber,<br />

dass Westerwelle politisch in der zweiten Reihe bleiben wird. Aber „am Ende des<br />

Antrittsbesuchs duzen sich zwei Männer, die sich gerade noch fremd waren.“ 48<br />

Und Westerwelles französischer Kollege formuliert: „Guido wird ihnen von Herzen<br />

bestätigen, dass unsere Beziehungen von ganz besonderer Qualität sind“ 49 .<br />

Wenn das keine Basis ist, auf der sich aufbauen lässt. 50<br />

seite an seite in die Weltpolitik<br />

Unabhängig von der Person Westerwelle ist in der französischen Regierung vor<br />

allem „eine tiefe Genugtuung […] über die erneute Kanzlerschaft von Frau Merkel<br />

erkenn- und spürbar“ 51 . War das Verhältnis zwischen beiden Staatsoberhäuptern<br />

am Anfang recht kompliziert und mehr diplomatisch <strong>als</strong> freundschaftlich<br />

geprägt, hat sich dies gerade im letzten Jahr angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise<br />

geändert. Nach anfänglichen Unstimmigkeiten fand man eine gemeinsame<br />

Linie, marschierte Seite an Seite. Aus der etwas distanzierten skeptischen<br />

Begutachtung ist eine enge Bindung geworden, wenn auch eine vor allem durch<br />

Vernunft geprägte. Längst hat Nicolas Sarkozy verstanden, dass er Deutschland<br />

46 Ohne Verfasser: Westerwelle betont deutsch-französische Freundschaft. 26.03.2010,<br />

http://www.n24.de/news/newsitem_5562434.html.<br />

47 Ohne Verfasser: Der unschätzbare Wert des Friedens. 26.03.2010, http://www.tagesschau.<br />

de/ausland/ersterweltkrieg108.html.<br />

48 Pfauth, Sarina: Stilkritik zu Außenminister Westerwelle. In: Süddeutsche-Online.<br />

03.11.2009, http://www.sueddeutsche.de/leben/877/493226/text/.<br />

49 Ebd.<br />

50 Vgl. ebd.<br />

51 Ohne Verfasser: Gemeinsam für ein starkes Europa.<br />

Dis | kurs 125


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

braucht, um europäische und weltpolitische Aufgaben angehen zu können. All zu<br />

sehr belasten innenpolitische Probleme und wachsende Unbeliebtheit im eigenen<br />

Land mittlerweile sein Amt. Die Gelegenheit sich mitten im Stimmungstief<br />

auf großer Bühne <strong>als</strong> namhafter Staatsmann zu präsentieren und in der europäischen<br />

Politik mit Deutschland an seiner Seite <strong>als</strong> „Lenker Europas“ 52 vorweg zu<br />

marschieren wird gerade der selbstbewusste und gern im Mittelpunkt stehende<br />

Franzose nicht ungenutzt lassen.<br />

Merkel jedoch ergeht es derzeit angesichts zahlloser innenpolitischer Streitereien<br />

nicht besser. Die Einladung zu den Feierlichkeiten am 11. November zeugt gleichwohl<br />

von großer Symbolkraft und dem Willen die deutsch-französische Freundschaft<br />

auf noch festere Füße zu stellen. So war die Einladung gewissermaßen der<br />

Auftakt zu „einer ganzen Reihe von Vorschlägen aus Paris, um die Beziehungen<br />

zu Deutschland enger zu gestalten.“ 53 . Selbst ein deutsch-französischer MinisterInnenposten,<br />

dessen InhaberIn beiden Regierungskabinetten beiwohnen soll,<br />

wurde von französischer Seite ins Gespräch gebracht. Welt- und Europapolitik<br />

kann nur mit Deutschland gelingen, dass hat auch Sarkozy in den letzten Jahren<br />

gelernt. 54 „Daher hat der Präsident – nach anfänglichem Fremdeln – nun Großes<br />

vor mit der Kanzlerin. Was genau, weiß man nicht, aber irgendeine spektakuläre<br />

französisch-deutsche Initiative dürfte es schon werden.“ 55<br />

Von der Agenda 2020 aufs internationale Parkett<br />

Welche Initiative wurde dann Anfang Februar nach einer Sitzung des deutschfranzösischen<br />

Ministerrats im Elyséepalast deutlich. Dort stellten Merkel und<br />

Sarkozy voller Stolz und Enthusiasmus gemeinsam die Agenda 2020 (in Deutschland<br />

werden mit dieser Bezeichnung fraglos andere Dinge assoziiert) vor, die<br />

Aufschluss über die Gestaltungsplanungen deutsch-franzöischer Beziehungen<br />

und Politik der nächsten zehn Jahre gibt. Die Marschroute ist klar. Gemeinsam<br />

möchte man auch in den folgenden Jahren vorangehen, die Agenda 2020 fungiert<br />

52 Simons, Stefan: Sarkozy empfängt Merkel. In. SpiegelOnline, 11.11.2009, http://www.<br />

spiegel.de/politik/ausland/0,1518,660604,00.html.<br />

53 Ohne Verfasser: Merkel beschwört in Paris „Kraft der Versöhnung“. In: WeltOnline,<br />

11.11.2009, http://www.welt.de/politik/ausland/article5172111/Merkel-beschwoert-in-<br />

Paris-Kraft-der-Versoehnung.html.<br />

54 Vgl. Otten, Christina: Auslandskorrespondenten über Westerwelle.<br />

55 Ulrich, Stefan: Wahl: Reaktionen aus dem Ausland. Die Sphinx aus dem Osten. In: Süddeutsche-<br />

Online, 28.09.2009, http://www.sueddeutsche.de/politik/820/489210/text/.<br />

126 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

dabei „quasi [<strong>als</strong>, Anm. d. Verf.] eine ‚Wartungsanleitung’ für den deutsch-französischen<br />

Motor“ 56 . Abstimmung in der Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik,<br />

deutsch-französische Kindertagesstätten, gemeinsame Schulbücher und<br />

einheitliche Ladestationen für Elektroautos in der Grenzregion stellen nur einige<br />

der 80 Projekte dar.<br />

Als die erwartete große Initiative wird all dies jedoch nicht von allen Seiten gesehen.<br />

Die Ursachen dafür, dass von wirklich revolutionären Vorhaben kritischen<br />

Stimmen nach nichts in der Agenda zu finden sei, seien vor allem in Berlin zu<br />

suchen. Auf weitreichende große Pläne, wie dem von jenem / jener gemeinsamen<br />

MinisterIn oder einem Einsatz der deutsch-französischen Brigade in Afghanistan,<br />

reagiere man in Berlin eher verhalten. 57 Von einem / einer gemeinsamen MinisterIn<br />

ist in der Agenda 2020 kein Thema mehr und auch die von Sarkozy angestrebte<br />

Neuauflage des Élyséevertrags kam bisher nicht zustande. Vom großen<br />

historischen Wurf, wie er geplant war, lässt sich damit tatsächlich nicht sprechen.<br />

Ein Projekt <strong>als</strong> Richtungsvorgabe besonders hervorzuheben wäre sicherlich von<br />

Bedeutung gewesen.<br />

Als fortschrittlich betrachtet werden kann die Agenda angesichts ihrer zahlreichen<br />

konkreten Projekte aber dennoch. Insbesondere die geplante Bewerbung<br />

um einen gemeinsamen Vorsitz in der OSZE und die französische Unterstützung<br />

des deutschen Ansinnens nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sind<br />

Ausdruck der neuen alten engen Zusammenarbeit und Freundschaft beider Staaten.<br />

Überzeugend klingen da auch die Ankündigungen Sarkozys gemeinsam an<br />

internationale Fragen herangehen zu wollen. Der Nahe Osten und das Verhältnis<br />

beider Länder zu Russland seien hier die wesentlichen Aufgabenfelder, die durch<br />

ein politisch gestärktes Europa angegangen werden könnten. Gerade Deutschland<br />

und Frankreich müssten hier zusammenarbeiten, so der Präsident. „Diese<br />

Führerschaft richtet sich gegen niemanden“ 58 , betonte Sarkozy dabei jedoch.<br />

Den starken Partner, den Frankreich sich an seiner Seite wünscht, hat man in<br />

Deutschland gefunden. Deutschland jedoch wird sich zweifellos trotz der Freude<br />

auf französischer Seite über die Wiederwahl Merkels und ihre bürgerliche Regie-<br />

56 Hollstein, Miriam / Schiltz, Christoph B.: Merkel und Sarkozy beschließen „Agenda 2020“.<br />

In: WeltOnline, 05.02.2010, http://www.welt.de/die-welt/politik/article6262255/Merkelund-Sarkozy-beschliessen-Agenda-2020.html.<br />

57 Vgl. ebd.<br />

58 Ebd.<br />

Dis | kurs 127


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

rung, gelöst aus der “lähmenden großen Koalition“ 59 , einigen Herausforderungen<br />

gegenübersehen. 60<br />

Kraftakt Griechenland<br />

Eine erste ernstzunehmende Belastungsprobe stellten da bereits die Wochen<br />

seit Februar 2010 dar. Angesichts der notwendigen Hilfe für das rekordverschuldete<br />

Griechenland prallten die Bundesrepublik mit ihrer Sicht, der IWF müsse<br />

einbezogen werden und Frankreich in seiner Überzeugung Europa müsse ohne<br />

amerikanische Unterstützung solche Probleme lösen können aufeinander. Sprach<br />

sich Angela Merkel anfangs noch gegen jede Form eines Notfallhilfeplans aus,<br />

setzten Sarkozy und andere Mitgliedsstaaten auf europäische Solidarität, mit<br />

Deutschland <strong>als</strong> „Zahlmeister“. Doch Merkel bewies unter Druck diplomatisches<br />

Geschick und lenkte mit ihrem Vorschlag den IWF einzubeziehen<br />

„den Zug, der seit Wochen mit Milliarden-Hilfsangeboten […] mit […] Nicolas<br />

Sarkozy im Führerhaus durch Europa raste, in eine neue Richtung“ 61 .<br />

Sozusagen in letzter Minute schwenkte Präsident Sarkozy auf Merkels Linie<br />

ein und beide einigten sich auf einen aus freiwilligen bilateralen Krediten und<br />

IWF- Unterstützung bestehenden Vorschlag <strong>als</strong> ultima ratio. Die Einbeziehung<br />

des IWF sehen Frankreich und andere Länder <strong>als</strong> „Eingeständnis der Schwäche<br />

Europas“ 62 , fügen sich jedoch zähneknirschend dem Vorschlag deutscher Seite.<br />

Letztlich gilt <strong>als</strong>o doch: „Wenn es drauf ankommt, passt zwischen Berlin und Paris<br />

kein Blatt Papier.“ 63 Bewusst werden dürfte allerdings nun auch allen Staaten:<br />

die Zeiten in denen Deutschland <strong>als</strong> „Zahlmeister“ fungiert und sich dabei Kompromissen<br />

still fügt, dürften Geschichte sein. 64<br />

59 Wolff, Joerg / Caro, Celine-Agathe: Reaktionen in Frankreich.<br />

60 Vgl. Hollstein, Miriam / Schiltz, Christoph B.: Merkel und Sarkozy beschließen „Agenda<br />

2020“.<br />

61 Schiltz, Christoph B.: Merkel und Sarkozy einig über Griechenland-Hilfe. In: WeltOnline,<br />

25.02.2010, http://www.welt.de/politik/deutschland/article6927771/Merkel-und-Sarkozyeinig-ueber-Griechenland-Hilfe.html.<br />

62 Ebd.<br />

63 Otten, Christina: Merkel / Sarkozy. Streiten, vertragen, Griechenland retten. In: Focus-Online,<br />

25.03.2010, http://www.focus.de/politik/ausland/tid-17697/merkel-sarkozy-streitenvertragen-griechenland-retten_aid_492854.html.<br />

64 Vgl. Otten, Christina: Und Deutschland zahlt doch. In: Focus-Online, 26.03.2010, http://<br />

www.focus.de/politik/ausland/eu-gipfel-und-deutschland-zahlt-doch_aid_493403.html.<br />

128 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

Ersichtlich ist trotz der von beiden Ländern demonstrierten Verbundenheit jedoch<br />

auch, dass die vorangegangenen Streitigkeiten einen Bruch im deutschfranzösischen<br />

Verhältnis zur Folge hatten. Da wurde Deutschland aus höchsten<br />

Kreisen Egoismus vorgeworfen und PolitikerInnen umjubelt „die den arroganten<br />

Deutschen endlich die Meinung sagen und ihnen den Nimbus des europäischen<br />

Musterknaben rauben“ 65 . Ein Riss in der engen Freundschaft, der zwar nicht von<br />

Dauer sein dürfte, aber gut sichtbar ist und in späteren Streitigkeiten nur all zu<br />

gern wieder freigelegt werden könnte.<br />

„Die Zeitung ‚Le Monde’ verglich Deutschland mit der Ameise, die sich weigert,<br />

für die sorglose Grille aufzukommen. Jeder Franzose kennt die Fabel La<br />

Fontaines: ‚Grillchen, das den Sommer lang/ zirpt und sang,/ litt, da nun der<br />

Winter droht‘,/ harte Zeit und bittre Not.’ Man versteht die Ameise, die ‚das<br />

Verborgen hasst’ und die Grille spüren lässt, wohin Sorglosigkeit sie getrieben<br />

hat. Angela Merkel <strong>als</strong> Ameise, Griechenland <strong>als</strong> Grille – <strong>als</strong> die Franzosen an<br />

die Fabel La Fontaines erinnert wurden, verstanden sie die Deutschen wieder<br />

besser. Ob das Verständnis anhalten wird, ist eine andere Frage.“ 66<br />

türkei – die privilegierte partnerschaft?<br />

Positive Resonanz aus den Hauptstädten dieser Welt erreichten Berlin, resignierende<br />

Töne hingegen waren nach dem 27. September 2009 vor allem aus der<br />

Türkei zu vernehmen. Der Wahlsieg von Schwarz-Gelb rief hier vor allem Enttäuschung<br />

hervor und ließ einen möglichen EU-Beitritt aus türkischer Sicht in weite<br />

Ferne rücken. „In Deutschland haben die Türkei-Gegner gewonnen“ 67 , lautete<br />

eine der Schlagzeilen direkt nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses.<br />

Fraglos wäre eine Regierungsbeteiligung der SPD, gar ein Wahlsieg, in der Türkei<br />

mit Freude zu Kenntnis genommen worden, hätte wahrscheinlich zu wahren Begeisterungsstürmen<br />

verleitet, angesichts der SPD-Haltung, der Türkei eine Vollmitgliedschaft<br />

zu ermöglichen.<br />

65 Lepenies, Wolf: Warum Franzosen Angela Merkel <strong>als</strong> Ameise sehen. In: WeltOnline,<br />

24.03.2010, http://www.welt.de/debatte/kommentare/article6911109/Warum-Franzosen-<br />

Angela-Merkel-<strong>als</strong>-Ameise-sehen.html.<br />

66 Ebd.<br />

67 Ohne Verfasser: Schwarz-Gelb. Internationale Reaktionen auf die Wahl. In: B.Z.- Online,<br />

28.09.2009, http://www.bz-berlin.de/aktuell/wahl2009/internationale-reaktionen-auf-diewahl-article596970.html.<br />

Dis | kurs 129


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Mit Blick auf die CDU, die in ihrem Wahlprogramm lediglich von privilegierter<br />

Partnerschaft spricht, lassen sich die Reaktionen am Bosporus leicht nachvollziehen.<br />

Die Enttäuschung über die Regierungsbeteiligung der FDP muss jedoch eine<br />

Relativierung erhalten. Von einer Türkeigegnerschaft kann gerade im Fall der<br />

FDP wohl keine Rede sein, ist es doch ihr zu verdanken, dass im Koalitionsvertrag<br />

der neuen Regierung nicht die Rede von besagter Partnerschaft ist, sondern<br />

ergebnisoffene Verhandlungen zugesichert werden. 68<br />

Dass die Sorgen auf türkischer Seite, ein EU-Beitritt sei nunmehr in nahezu unerreichbare<br />

Ferne gerückt, teilweise unbegründet sind, machte Außenminister<br />

Westerwelle auch während seines Besuchs Anfang Januar 2010 deutlich. Faire<br />

Verhandlungen stünden auch der Türkei, ganz im Sinne des Koalitionsvertrages,<br />

in dem von offenen Verhandlungen ohne Automatismus die Rede sei, zu. Allerdings<br />

mahnte Westerwelle an, weitere Reformen vorzunehmen. Die Türkei befindet<br />

sich demnach auf einem guten Weg, den es weiterzuführen gilt. Ob dieser<br />

Weg schlussendlich in eine EU-Vollmitgliedschaft münden wird bleibt offen. Mit<br />

Regierungsbeteiligung der FDP sind Spielraum und Unterstützung für die türkische<br />

Regierung zweifellos geringer geworden, sprach sich doch die SPD immer<br />

wieder trotz einiger Bedenken für einen Beitritt der Türkei zur EU aus.<br />

Als aussichtslos jedoch lässt sich die Lage nicht beschreiben, zumal eine Vollmitgliedschaft<br />

in der laufenden Legislaturperiode kein konkretes Thema werden<br />

dürfte. Dessen ist sich auch die Türkei bewusst und kann sich, so groß die Enttäuschung<br />

über das Scheitern der SPD ist, noch erleichtert über das starke Abschneiden<br />

der FDP zeigen. 69<br />

Kopie mit Auslassungen<br />

Kritisch zu betrachten ist jedoch, dass trotz der Regierungsbeteiligung der FDP,<br />

die für sich beansprucht besonders für Menschenrechte einzutreten, wichtige Aspekte<br />

zur Ermöglichung einer türkischen Vollmitgliedschaft außen vor gelassen<br />

werden. So wurde der Abschnitt des Koalitionsvertrages, der sich mit dem Thema<br />

Türkei beschäftigt nahezu wortgetreu aus dem Koalitionsvertrag der schwarzroten<br />

Vorgängerregierung übernommen. Allerdings mit entscheidenden Aus-<br />

68 Vgl. ebd.<br />

69 Ohne Verfasser: Westerwelle fordert faire Gespräche über EU-Beitritt. In: Welt- Online,<br />

07.01.2010, http://www.welt.de/politik/ausland/article5761915/Westerwelle-fordert-faire-<br />

Gespraeche-ueber-EU-Beitritt.html.<br />

130 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

lassungen. Notwendige Reformbemühungen werden nicht länger eingefordert.<br />

Auch wird nicht auf die, zu einer Vollmitgliedschaft notwendige, Erfüllung der<br />

Kopenhagener Kriterien, die beispielsweise „institutionelle Stabilität <strong>als</strong> Garantie<br />

für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte<br />

sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten“ 70 vorschreiben,<br />

hingewiesen. Schlussendlich erfolgt trotz festgestellter erheblicher Diskriminierungen<br />

auch keine Einforderung der Einhaltung der Religionsfreiheit durch die<br />

Türkei. Offene Verhandlungen mit dem Fernziel einer Vollmitgliedschaft im Sinne<br />

der europäischen Erweiterung beinhalten jedoch diese Kriterien. 71<br />

Merkel, Westerwelle und die Türkei<br />

Vom Tisch scheint das Thema einer Partnerschaft trotz der fehlenden Nennung<br />

im Koalitionsvertrag jedoch keinesfalls zu sein, will Angela Merkel während ihres<br />

Besuchs in der Türkei ab dem 29. März 2010 doch „ihre Gastgeber davon<br />

überzeugen, dass es keinen Zweck für sie hat, weiter die EU-Vollmitgliedschaft<br />

anzustreben“ 72 . Interviews Merkels mit türkischen Zeitungen, in denen sie eine<br />

privilegierte Partnerschaft schmackhaft zu machen versucht, lassen dies bereits<br />

deutlich erkennbar werden. Dass sie hiermit bei ihrem Gegenüber auf taube Ohren<br />

stößt, wird ebenso im Vorfeld ihres Besuches durch Ministerpräsident Erdogan<br />

klargestellt. Denn eines möchte man trotz diffuser Beitrittsaussichten auf jeden<br />

Fall verhindern: einen Stillstand der türkischen Beitrittsverhandlungen. Doch<br />

genau diesen, wahrscheinlich gar nicht so unberechtigten Befürchtungen, würde<br />

durch eine Akzeptanz einer privilegierten Partnerschaft Auftrieb gegeben. 73<br />

Eines lassen die Werbeversuche Angelas Merkels jedoch mehr <strong>als</strong> deutlich werden.<br />

Von großer Harmonie, Abstimmung und einheitlichem Auftreten sind sie<br />

und Außenminister Guido Westerwelle weit entfernt. In seinen Aussagen ernst<br />

zu nehmen scheint Merkel Westerwelle nicht. Sprach er noch im Januar gegenüber<br />

der türkischen Regierung von offenen Verhandlungen, legt nun Merkel<br />

70 Ohne Verfasser: Kein Kurswechsel in der Türkei-Politik. 28.03.2010, http://www.buergerin-wut.de/cms/?d=blog&s=49.<br />

71 Vgl. ebd.<br />

72 Seibert, Thomas: Merkel wirbt für privilegierte Partnerschaft mit Türkei. In: Tagesspiegel-<br />

Online, 24.03.2010, http://www.tagesspiegel.de/politik/international/Angela-Merkel-<br />

Erdogan;art123,3065693.<br />

73 Vgl. ebd.<br />

Dis | kurs 131


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

ihren Vorschlag einer privilegierten Partnerschaft wieder auf den Tisch. Durch<br />

außenpolitische Abstimmung tut sich die Bundesrepublik in puncto Türkei nicht<br />

gerade hervor, eher scheint man „ziel- und kopflos“ 74 alle Entwicklungen dem<br />

Zufall zu überlassen. Und auf türkischer Seite lässt sich nun in vielen Gesichtern<br />

vor allem die Frage ablesen, ob den Worten Merkels oder Westerwelles Glauben<br />

zu schenken ist. 75<br />

Erleichtern dürfte die anstehenden Gespräche mit Angela Merkel auch das derzeitige<br />

Vorgehen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan nicht. Seine Forderung<br />

nach türkischen Gymnasien in Deutschland und die Leugnung des türkischen<br />

Völkermords „an den Armeniern im Osmanischen Reich“ 76 haben sichtlich<br />

dazu beigetragen neue Spannungen im deutsch-türkischen Verhältnis aufzubauen.<br />

Auch von eventuellen Sanktionen gegen den Iran, wie Merkel sie derzeit diskutiert,<br />

hält Erdogan wenig. Stattdessen spricht er sich für eine diplomatische<br />

Lösung und einen Austausch angereicherten Urans über türkischen Boden gegen<br />

Nuklearbrennstoff aus. Eine gute Gesprächsbasis für die genannten Themen sieht<br />

sicherlich anders aus. 77<br />

telefonische glückwünsche aus Washington<br />

Telefonische Glückwünsche aus den USA erreichten Angela Merkel bereits kurz<br />

nachdem ihr Wahlsieg feststand. Auch jenseits des Atlantiks war man fest von<br />

einer Wiederwahl Angela Merkels ausgegangen. Barack Obamas Worte an die<br />

Kanzlerin knapp drei Monate vor der Wahl während ihres USA-Besuchs belegen<br />

dies. So flüsterte er Angela Merkel den, von einer Kamera aufgezeichneten Satz<br />

„Ach, Sie haben doch schon gewonnen. Ich weiß nicht, worüber Sie sich immer<br />

Sorgen machen.“ 78 zu. Glückwünsche des Weißen Hauses erfolgten nun vor allem<br />

dazu, dass die CDU / CSU die folgende Legislaturperiode mit ihrem Wunsch-<br />

74 Röhl, Bettina: Merkel konterkariert Westerwelle. In: WeltOnline, 23.03.2010, http://www.<br />

welt.de/debatte/weblogs/Sex-Macht-und-Politik/article6896458/Merkel-konterkariert-<br />

Westerwelle.html.<br />

75 Vgl. ebd.<br />

76 Ohne Verfasser: Erdogan provoziert den Westen. In: SpiegelOnline, 27.03.2010, http://www.<br />

spiegel.de/politik/ausland/0,1518,685947,00.html.<br />

77 Vgl. ebd.<br />

78 Koch, Moritz: Wahl: Reaktionen aus dem Ausland. USA. In: Süddeutsche-Online,<br />

28.09.2009, http://www.sueddeutsche.de/politik/820/489210/text/18/.<br />

132 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

partner FDP angehen kann. Man wolle die Zusammenarbeit beider Länder weiter<br />

vertiefen, so das Weiße Haus in einer Meldung. Von besonderer Begeisterung<br />

zeugt diese Meldung nicht, klingt sie doch eher nach einer Standardfloskel, die je<br />

nach Bedarf aus der Schublade geholt wird.<br />

Unzufrieden mit dem deutschen Wahlausgang dürfte Präsident Obama jedoch<br />

nicht sein. Steuersenkungen, die die neue Regierung in Aussicht gestellt hat,<br />

könnten durch die Ankurbelung des Binnenmarktes dazu beitragen, deutsche<br />

Handelsüberschüsse abzubauen und damit auch das globale Ungleichgewicht,<br />

welches das Weiße Haus <strong>als</strong> mit ursächlich für die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise<br />

beurteilt, auszugleichen. Ob es tatsächlich zu Steuersenkungen kommt<br />

wird sich voraussichtlich nicht vor Mai dieses Jahres zeigen. Eines dürfte Obama<br />

mittlerweile jedoch festgestellt haben: „[…] dass Wandel in Berlin in kleineren<br />

Einheiten gemessen wird <strong>als</strong> in Washington“ 79 . Wahlversprechen, großmundige<br />

Pläne und tatsächliches Vorgehen werden angesichts der desolaten Haushaltslage<br />

kaum in Einklang zu bringen sein. 80<br />

Obama und Merkel: Verbündete mit Distanz<br />

„Die Vereinigten Staaten und Deutschland sind enge Verbündete und Partner<br />

bei der weltweiten Förderung von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand“ 81 so das<br />

Weiße Haus. Die USA sehen Deutschland dabei <strong>als</strong> starken „Partner bei der Stabilisierung<br />

Afghanistans und bei der Vermittlung von Friedensverhandlungen<br />

zwischen Israelis und Palästinensern“ 82 . Eventuelle Spannungen lassen sich aus<br />

dieser floskelhaften Erklärung nicht direkt ableiten, sind aber beim Blick auf die<br />

vergangenen Jahre fraglos vorhanden. Das Verhältnis zwischen Merkel und Obama<br />

gilt <strong>als</strong> distanzierter <strong>als</strong> das Merkels zu Amtsvorgänger George W. Bush, zu<br />

dem sie, nachdem Differenzen mit der Vorgängerregierung Schröder ausgeräumt<br />

waren, ein enges Verhältnis pflegte. Umso bemühter ist man nun, nach Außen<br />

Harmonie zu präsentieren. Jedoch blieb den beiden Staatsoberhäuptern im Sog<br />

der Wirtschafts- und Finanzkrise und den aktuellen internationalen Konflikten<br />

79 Ebd.<br />

80 Vgl. ebd.<br />

81 Bidder, Benjamin / Schmitz, Gregor Peter / Volkery, Carsten: Bundestagswahl. Wie das<br />

Ausland auf Schwarz-Gelb reagiert. USA. In: SpiegelOnline, 28.09.2009, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,651789,00.html.<br />

82 Ebd.<br />

Dis | kurs 133


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

bisher kaum Zeit, sich ihrem Verhältnis zueinander zu widmen. Beide zeichnen<br />

sich zudem durch ein solch hohes Maß an Professionalität aus, dass sie<br />

„sich von kleinen Enttäuschungen und Eifersüchteleien nicht leiten lassen,<br />

[sondern vielmehr, Anm. d. Verf.] beide an einem guten, das heißt: sachorientierten<br />

Verhältnis interessiert“ 83<br />

sind, an dem sie fernab von Harmonien und Disharmonien arbeiten.<br />

Bündnis ohne Automatismus<br />

Nach Amtsantritt Obamas erhoffte Merkel sich vor allem ein „Ende der US-<br />

Alleingänge“ 84 , durch die sich die Bush-Regierung immer wieder hervortat. Bisher<br />

scheinen sich diese Hoffnungen durchaus zu erfüllen, nichtsdestotrotz zeichnen<br />

sich beide Nationen noch nicht durch ein sonderlich harmonisches Verhältnis aus.<br />

Die Ursache hierfür liegt jedoch in der Vergangenheit. Betrachtet man das Verhältnis<br />

beider Staaten im letzten Jahrzehnt unabhängig von den jeweiligen Staatoberhäuptern,<br />

zeigt sich, dass Deutschland in zunehmende Bedeutungslosigkeit<br />

fiel. Worte, die weder von amerikanischer, noch von deutscher Seite unterzeichnet<br />

würden, möchte man doch niemanden vor den Kopf stoßen oder gestiegene<br />

eigene Bedeutungslosigkeit eingestehen. „Denn immerhin bleibt Deutschland<br />

strategisch, politisch und wirtschaftlich so wichtig, dass man niemanden unnötig<br />

brüskieren will“ 85 . Deutschland unterstützt die USA bei globalen Konflikten wie<br />

Afghanistan und Iran, das ist richtig. Das Deutschland dabei jedoch, wie man<br />

in Berlin immer wieder glauben machen möchte, von größtem Interesse ist, ist<br />

bis dahin eher Wunschbild <strong>als</strong> Realität. Tatsächlich wird Deutschland zwar <strong>als</strong><br />

bedeutend, aber „doch nur noch [<strong>als</strong>, Anm. d. Verf.] ein Partner zweiter Klasse“ 86<br />

gesehen. 87<br />

83 Ebd.<br />

84 Weiland, Severin: Obamas Außenpolitik. Merkel ersehnt Ende der US-Alleingänge. In:<br />

SpiegelOnline, 05.11.2009, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,588673,00.<br />

html.<br />

85 Günther, Markus: Deutschland für USA ein Partner zweiter Klasse. 29.03.2010, http://<br />

www.derwesten.de/waz/politik/Deutschland-fuer-USA-ein-Partner-zweiter-Klasseid387455.html.<br />

86 Ebd.<br />

87 Vgl. ebd.<br />

134 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

Das deutsch-amerikanische Verhältnis befand sich jedoch bereits vor Gerhard<br />

Schröders Nein zum Irak-Krieg im Niedergang. Seit Ende des Kalten Krieges<br />

1990 und dem damit einhergehenden Ende der bipolaren Weltordnung ergibt<br />

sich kein Automatismus mehr, in dem die USA und Deutschland <strong>als</strong> „aneinander<br />

geschweißte Partner gegenüber einem feindlichen Osten“ 88 agieren, sondern vielmehr<br />

wurde und wird erkennbar, „dass gemeinsames Handeln punktuell und themenabhängig<br />

immer wieder [...] – mal im Konsens, mal im Dissens“ 89 abgestimmt<br />

wird. Mit dem deutschen Nein zum Irak-Krieg kam es zum großen Bruch zwischen<br />

den USA und Deutschland. Gerhard Schröder war es schließlich, der den<br />

Tiefpunkt der historischen Verbindung besiegelte. Danach konnte es nur besser<br />

werden. Angela Merkel kam somit die Gunst der Stunde ihrer Wahl zu Gute. Sie<br />

daher <strong>als</strong> „Retterin der deutsch-amerikanischen Beziehungen“ 90 zu bezeichnen<br />

ist übertrieben. Ihr gutes Verhältnis zu George W. Bush basierte im Wesentlichen<br />

auf ihrer anfänglichen Zustimmung zu Bushs Irakpolitik vor ihrer erstmaligen<br />

Wahl zur Bundeskanzlerin. Ein Punkt, an den sie heute nicht mehr so gern erinnert<br />

werden möchte. Bei George W. Bush jedoch brachte ihr dies jedoch einen<br />

Platz <strong>als</strong> lebenslängliche Freundin ein. Als Staatsoberhäupter aufeinander trafen<br />

beide dann erst in der zweiten Amtszeit George W. Bushs, in der die heftige Kritik<br />

an seiner Irak-Politik bereits ihren Höhepunkt erreicht hatte und das Scheitern<br />

seiner Offensive erkennbar war. Es war Angela Merkels Glück, zur rechten Zeit in<br />

das Kanzleramt einzuziehen und sich <strong>als</strong> „Retterin der deutsch-amerikanischen<br />

Beziehungen“ 91 präsentieren zu können. 92<br />

Soweit die Entwicklungen innerhalb der vergangenen Jahre unter George W.<br />

Bush. Mit dem Machtwechsel in den USA vollzog sich im Januar 2009 auch ein<br />

Wandel in der Außenpolitik, der eine Chance darstellt. Barack Obama verfährt<br />

nach der Philosophie „Wir können unsere großen Ziele nicht erreichen, wenn wir<br />

auf gute Beziehungen zum Ausland, auch zu Europa, verzichten.“ 93 , so der Präsi-<br />

88 Emundts, Corinna: Die Wandlungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Merkels<br />

Gunst der späten Stunde. 26.03.2010, http://www.tagesschau.de/inland/bushreise8.html.<br />

89 Ebd.<br />

90 Ebd.<br />

91 Ebd.<br />

92 Vgl. ebd.<br />

93 Graw, Ansgar: Wie Obama Europa und den Rest der Welt sieht. In: WeltOnline, 12.06.2009,<br />

http://www.welt.de/politik/article3908748/Wie-Obama-Europa-und-den-Rest-der-Welt-<br />

Dis | kurs 135


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

dent der CSIS und ehemalige stellvertretende US-Verteidigungsminister John J.<br />

Hamre. Dass es Verbündeter bedarf um seine hochgesteckten Ziele zu erreichen,<br />

hat der neue Präsident längst erkannt. Dass er seine Ziele jedoch allein durch den<br />

konstruktiven Dialog mit verbündeten Staaten erreichen wird ist unwahrscheinlich.<br />

Zu sehr hat Obama wahrscheinlich den Widerstand im eigenen Land gegen<br />

seine großen Pläne, die teilweise eine Kehrtwende um 180 Grad gegenüber der<br />

Bush-Regierung bedeuten, unterschätzt.<br />

„Sollte der Präsident seine Anhänger, auch in Europa, enttäuschen, würde das<br />

wohl weniger durch seine Handlungen passieren <strong>als</strong> durch die Unmöglichkeit,<br />

in bestimmten Fragen zu handeln.“ 94<br />

Beispielhaft hierfür lassen sich Obamas Pläne, das Gefangenenlager Guantánamo<br />

zu schließen, anführen. Hier zeigt sich, dass er zu Amtsantritt „politische Widerstände<br />

und das Beharrungsvermögen des Apparats“ 95 nicht nur im Fall Guantánamo<br />

f<strong>als</strong>ch eingeschätzt hat. Als „Langzeitstratege“ setzt Obama jedoch auf<br />

eine Politik der kleinen Schritte, auch dies zeigt sich zunehmend. 96 Auch in den<br />

Köpfen deutscher AußenpolitikerInnen stellt sich jedoch unverkennbar zunehmend<br />

ein Bewusstsein über die tatsächliche Realitätsfähigkeit der Visionen Barack<br />

Obamas ein.<br />

„Die deutschen Außenpolitiker wissen, dass möglicherweise noch ganze andere<br />

Herausforderungen auf Deutschland zukommen - und dass auch ein Obama<br />

aus den Realitäten der Welt nicht einfach aussteigen kann.“ 97<br />

Deutsche Verantwortungsübernahme in internationalen Konflikten<br />

Themen, die die Kommunikation zwischen den USA und Deutschland in den<br />

nächsten Jahren beherrschen werden, sind vor allem Afghanistan, Pakistan <strong>als</strong><br />

Taliban-Ausgangspunkt der Destabilisierung Afghanistans, der Iran, der Nahe<br />

Osten und der Irak. Aber auch die Beziehungen zu Russland, nukleare Abrüstung<br />

und China sowie Indien <strong>als</strong> aufstrebende Wirtschaftsmächte, werden eine<br />

sieht.html.<br />

94 Ebd.<br />

95 Klüver, Reymer: Versprochen, gebrochen. In: Süddeutsche-Online, 18.11.2009, http://www.<br />

sueddeutsche.de/politik/531/494863/text/.<br />

96 Vgl. ebd.<br />

97 Weiland, Severin: Obamas Außenpolitik. Merkel ersehnt Ende der US-Alleingänge.<br />

136 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

entscheidende Rolle spielen. Als besondere Ehre erhielt Angela Merkel am 3. November<br />

2009 die Gelegenheit, <strong>als</strong> zweites deutsches Regierungsoberhaupt nach<br />

Konrad Adenauer vor den Kammern des US-Kongresses das Wort zu ergreifen.<br />

Eine große Ehre, für die von amerikanischer Seite jedoch eine Gegenleistung erwartet<br />

werden wird. Wie genau diese aussehen wird, wird sich noch zeigen müssen.<br />

Eine größere Verantwortungsübernahme und Teilhabe in Kriegseinsätzen<br />

und das Mittragen härterer Sanktionen gegen den Iran, sollte dieser im Atomstreit<br />

nicht einlenken, dürften zweifellos dazugehören. 98<br />

Mit der beschlossenen Entsendung zusätzlicher 850 SoldatInnen, dass heisst einer<br />

Aufstockung auf insgesamt 5.350 SoldatInnen, nach Afghanistan im Februar<br />

2010 hat die Bundesregierung eindeutig signalisiert sich keiner Verantwortung<br />

entziehen zu wollen, jedoch auch deutlich gemacht, dass man sich an Kampfeinsätzen<br />

im Süden des Landes nicht beteiligen und vor allem den zivilen Aufbau<br />

und die Ausbildung afghanischer SoldatInnen und PolizistInnen vorantreiben<br />

will. Doch auch der Norden ist längst nicht mehr so friedlich, wie es manche Politiker<br />

anfangs noch Glauben zu machen versuchten. Deutlich machte das die lang<br />

anhaltende Namenssuche für den Konflikt, der schließlich mit der erstmaligen<br />

Nennung <strong>als</strong> „bewaffneter Konflikt“ durch Bundesaußenminister Westerwelle in<br />

seiner Regierungserklärung im Februar 2010 seine vorläufig endgültige Bezeichnung<br />

fand und damit Humanitäres Völkerrecht geltend macht und den Einsatz<br />

militärischer Gewalt erlaubt. 99<br />

Deutsche Führungsschwäche?<br />

Eines ist mit dem Beschluss 850 weitere SoldatInnen zu entsenden und die Hilfszahlungen<br />

auf insgesamt 430 Millionen auszubauen allerdings deutlich geworden:<br />

Der von den Amerikanern gewünschten Aufstockung von 2.500 weiteren SoldatInnen<br />

kam die Bundesregierung nicht annähernd nach. Wie lange die Amerikaner<br />

sich ohne den Druck zu erhöhen mit einer Aufstockung im Hunderterbreich<br />

zufrieden geben werden hängt auch vom weiteren Verlauf in Afghanistan ab. 100<br />

98 Vgl. Braml, Josef: Merkels Tribut in Washington. 20. 03. 2010, http://aussenpolitik.net/<br />

themen/trans_beziehungen/usa/merkels_tribut_in_washington/.<br />

99 Vgl. ohne Verfasser: Westerwelle gräbt das Kriegsbeil aus. 27.03.2010, http://www.n24.de/<br />

news/newsitem_5833514.html.<br />

100 Vgl. Haselberger, Stephan / Lemkemeyer, Sven: Afghanistan: Westerwelle will<br />

sich den USA verweigern. In: Tagesspiegel-Online, 28.12.2009, http://www.tagesspiegel.de/politik/<br />

international/afghanistan/ Bundeswehr-Kundus-Afghanistan-<br />

Dis | kurs 137


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Das weitere deutsche Vorgehen beeinflussen dürfte dabei auch die anhaltende<br />

Diskussion über den tödlichen Luftangriff auf zwei Tanklaster in Afghanistan im<br />

September 2009 und die steigende Zahl gefallener deutscher SoldatInnen, die<br />

weiter dazu beitragen, der Öffentlichkeit die Notwendigkeit des Einsatzes verdeutlichen<br />

zu müssen und Berlin in Erklärungsnöte bringen. Gegenüber anderen<br />

Staaten „in ein Licht der Führungsschwäche“ 101 stellen mehr und mehr die<br />

USA selber die Bundeswehr mit ihren aktuellen Plänen 2.500 SoldatInnen in den<br />

Norden Afghanistans und damit in den Verantwortungsbereich der Bundeswehr<br />

zu verlegen, um die Stabilisierung der Region schneller voranzutreiben und härter<br />

gegen die Taliban vorzugehen. Auch wenn die USA betonen, das deutsche<br />

Kommando bliebe erhalten, Kompetenzgerangel dürfte bei dann etwa gleicher<br />

Truppenstärke vorprogrammiert sein. Auch, die Bereitschaft von amerikanischer<br />

Seite, unter Bundeswehrkommando zu agieren ist fraglich. 102<br />

Westerwelle: Neuling mit Forderungen<br />

Das Gefühl fehlender Sicherheit westlicher Demokratien angesichts des seit Sommer<br />

1948 immer deutlicher hervortretenden Kalten Krieges, war es, das 1948 zur<br />

Gründung der NATO führte. Wenn aber die Existenz gebende Bedrohung nach<br />

Ende des Kalten Krieges und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht<br />

mehr präsent ist, besteht die Möglichkeit sich „stärker <strong>als</strong> bisher auf konventionelle<br />

und nukleare Abrüstung“ 103 zu besinnen. Hier scheint das Gebiet zu liegen,<br />

in dem nun besonders Guido Westerwelle Akzente setzen und der Kanzlerin auf<br />

internationalem Parkett Konkurrenz machen zu wollen scheint. Bereits vor der<br />

Bundestagwahl im September 2009 warf er der Regierung vor, „Tiefe und Ernsthaftigkeit<br />

des amerikanischen Politikwechsels seit dem Amtsantritt des neuen<br />

Präsidenten Barack Obama nur wenig verstanden“ 104 zu haben. Jetzt, im Amt des<br />

Außenministers scheint er besonders durch seinen Einsatz in der Kommunikati-<br />

Konferenz;art15872,2986352.<br />

101 Ohne Verfasser: Bundeswehr wegen USA in Nordafghanistan unter Druck. In: Focus-Online,<br />

20.03.2010, http://www.focus.de/politik/ausland/konflikte-bundeswehr-wegen-usain-nordafghanistan-unter-druck_aid_477982.html.<br />

102 Vgl. ebd.<br />

103 Ebd.<br />

104 Ohne Verfasser: Deutschland-Besuch. Zeigt Obama Merkel die kalte Schulter? In: Focus-<br />

Online, 05.06.2009, http://www.focus.de/politik/ausland/deutschland-besuch-zeigt-obama-merkel-die-kalte-schulter_aid_405403.html.<br />

138 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

on mit der US-Regierung an Boden gewinnen zu wollen. 105 Auch in den USA richten<br />

sich jedoch „die weltpolitischen Erwartungen […] traditionell erst einmal an<br />

die Kanzlerin“ 106 , <strong>als</strong> weitgehend unbekannte Größe muss Westerwelle dabei erst<br />

unter Beweis stellen, für welche Politik er steht. Inhaltliche Angaben zur Politik<br />

Westerwelles finden sich erst nach und nach verstärkt in amerikanischen Medien.<br />

Einzige Meldungen nach den Wahlen vom 27. September konzentrierten sich<br />

vor allem auf seine offene Homosexualität und die Frage nach seinen Englischkenntnissen<br />

und Erfahrungen auf internationalem Parkett. Einzig die New York<br />

Times tat sich hier mit einer Meldung über Westerwelles Forderung nach einem<br />

Abzug der verbleibenden amerikanischen Atomwaffen aus der Bundesrepublik<br />

hervor. Auch die Steuer- und Wirtschaftspolitik der FDP fand ihren Platz in amerikanischen<br />

Medien, dies jedoch völlig an Partei- und Wahlprogramm orientiert,<br />

wodurch Erwartungen geweckt wurden, die <strong>als</strong> völlig unrealistisch zu betrachten<br />

sind. „Ein radikal einfaches Steuersystem […] mit nur drei linearen Sätzen (20, 30<br />

und 40 Prozent) [und eine Steuererklärung die, Anm. d. Verf.] auf einem Bierdeckel<br />

Platz finden“ 107 würde. Ein Traum, den auch viele Amerikaner hegen. 108<br />

Neben Afghanistan ist es daher tatsächlich vor allem die Forderung nach einem<br />

Abzug amerikanischer Atomwaffen, die Westerwelle auf die politische Agenda<br />

gesetzt hat und immer wieder nachdrücklich betont.<br />

Nukleare Abrüstung mit Gegenwind<br />

Mit Friedensnobelpreisträger Barack Obama schien der passende US-Präsident<br />

in dieser Frage gefunden zu sein. Im April letzten Jahres in Prag begeisterte Obama<br />

mit seiner Vision einer atomwaffenfreien Welt. In Washington jedoch lösten<br />

Westerwelles Forderungen in erster Linie Befremdung aus. Experten vermuten,<br />

dass Obama bei seiner Forderung nicht mit so starkem Gegenwind vor allem<br />

aus dem Pentagon rechnete, wie er ihn nun erfährt. Statt einem Abzug ist nun<br />

von einer Modernisierung der Waffen die Rede. Im aktuellen Haushaltsentwurf<br />

des zuständigen Ministeriums sind für 2011 bis 2015 fast zwei Milliarden Dollar<br />

für eine solche Modernisierung vorgesehen. „Die neue Nuklearstrategie der<br />

105 Ebd.<br />

106 Ohne Verfasser: Westerwelle: Der unbekannte Neue.<br />

107 Ohne Verfasser: Deutschland-Besuch. Zeigt Obama Merkel die kalte Schulter?<br />

108 Vgl. ohne Verfasser: Die Antwort auf den Kalten Krieg60 Jahre NATO. 06.05.2010, http://<br />

www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/60-Jahre-NATO-article65047.html.<br />

Dis | kurs 139


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

USA versucht die Quadratur des Kreises“ 109 lässt sich feststellen. Die beiden Lager<br />

aus Abrüstungsbefürwortern und Befürwortern einer Modernisierung der<br />

US-Atomwaffen, diese sei notwendig, damit überhaupt eine Abrüstung erfolgen<br />

könne, standen sich im Vorfeld der Vorlage der neuen Nuclear Posture Review<br />

gegenüber. Eine Chance seine ambitionierten Pläne über einen Atomwaffenstopp<br />

in den USA, ein neues START-Abkommen mit Russland und verstärkte nukleare<br />

Abrüstung kann Obama nur durchsetzen, indem er sich auf eine umfassende Modernisierung<br />

einlässt, andernfalls würden insbesondere die RepublikanerInnen<br />

seine Pläne im Kongress blockieren. 110<br />

Betrachtet man die vorgelegte Nukleardoktrin, wird deutlich, dass Obama in<br />

vielen Punkten dem inneren und äußeren Widerstand nachgegeben hat. Seiner<br />

Glaubwürdigkeit schadet dies zweifellos, zumal die Modernisierungspläne noch<br />

aus der Ära seines Amtsvorgängers George W. Bush stammen.<br />

So werden die USA zwar die Zahl der Atomsprengköpfe reduzieren, jedoch auch<br />

weiterhin nicht auf die Option eines Erstschlags verzichten und die Abschreckungsdoktrin<br />

weiter ausdehnen. Ein atomarer Gegenschlag soll demnach „nicht<br />

nur bei einem Nuklearangriff […], sondern auch bei einem Angriff mit biologischen<br />

oder chemischen Waffen“ 111 erfolgen. Der Abzug von Atomwaffen aus<br />

Europa wird nur <strong>als</strong> Option offen gehalten und dürfte demnach aus amerikanischer<br />

Sicht auf absehbare Zeit nicht Diskussionspunkt werden. So vehement wie<br />

sich Außenminister Westerwelle für eine Aufnahme der Abzugsforderung in den<br />

Koalitionsvertrag einsetzte und diese Herzensangelegenheit auch im Rahmen der<br />

Münchner Sicherheitskonferenz am 6. Februar 2010 zur Sprache brachte, dürften<br />

ihn die Pläne aus Washington nur wenig begeistern. 112<br />

Lichtblick für Westerwelle bleibt da der Fortschritt beim Abschluss eines neuen<br />

START-Abkommens zwischen den USA und Russland, der in seinen Augen<br />

der Abrüstung insgesamt Auftrieb gebe. Von besonderer Signalwirkung ist der<br />

109 Kötter, Wolfgang: Regierung Obama in der Zwickmühle. 27.03.2010, http://www.neuesdeutschland.de/artikel/166242.regierung-obama-in-der-zwickmuehle.html.<br />

110 Vgl. Kötter, Wolfgang: In Washington formieren sich die Abrüstungsgegner und der Kreml<br />

schwingt den atomaren Knüppel. Universität Kassel, AG Friedensforschung. 28.03.2010,<br />

http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Atomwaffen/russland-usa-neu.html.<br />

111 Ebd.<br />

112 Vgl. Marschall, Christoph von: Obama setzt weiter auf nukleare Abschreckung. In: ZeitOnline,<br />

06.05.2010, http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-03/obama-atomwaffen-strategie.<br />

140 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

Abschluss des neuen START-Abkommens, sofern es denn durch die Parlamente<br />

beider Staaten ratifiziert wird, auch in Anbetracht des anstehenden Atomgipfels<br />

in Washington im April 2010 und der Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages<br />

im Mai 2010. Dieser befindet sich angesichts der ablehnenden<br />

Haltung der Atommächte Abrüstung gegenüber, dem nordkoreanischen Ausstieg<br />

und dem iranischen Atomprogramm ohnehin auf einem bedrohlichen Weg Richtung<br />

Ende. Dem Vertrag ablehnend gegenüber eingestellten Staaten versucht Obama<br />

durch die vorbildhafte Reduktion eigenen und russischen Potenzi<strong>als</strong>, später<br />

auch weiterer Atomstaaten, den „Wind aus den Segeln zu nehmen“ 113 und so einer<br />

zunehmenden Verbreitung von Nuklearwaffen insbesondere im Iran und Korea<br />

entgegen zu wirken. 114<br />

Problemfall Iran und Sorgenkind Irak<br />

Nuklearpolitik scheint neben dem Afghanistan-Einsatz zum bestimmenden Thema<br />

zwischen den USA und Deutschland zu avancieren. Der Abzug amerikanischer<br />

Atomwaffen aus Deutschland und insbesondere das iranische Atomprogramm<br />

werden auch in Zukunft die Diskussionen bestimmen.<br />

Zur großen „Bewährungsprobe für Westerwelle“ 115 könnten gerade die Gespräche<br />

mit dem Iran werden. Besorgt zeigen sich die USA und europäische Staaten wie<br />

Deutschland, Frankreich und Großbritannien über die jüngsten Entwicklungen<br />

im Iran und drohen mit härteren Sanktionen. Auch Westerwelle stimmt häufig<br />

und lautstark in diesen Chor ein und fordert ein konkretes Entgegenkommen der<br />

iranischen Regierung. Diese zeigt sich vom internationalen Echo jedoch bisher<br />

weitgehend unbeeindruckt. Die Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa,<br />

speziell Deutschland, wird bei den Verhandlungen mit dem Iran eine wichtige<br />

Rolle spielen, da auf die Unterstützung von Ländern wie Russland und China<br />

kaum verzichtet werden kann. Deutschland könnte hier, trotz der Annäherung<br />

der USA an Russland in letzter Zeit, aufgrund seiner guten pragmatischen Beziehungen<br />

nach Moskau vermittelnd agieren. Sollten sich die Konflikte verstärken,<br />

wird sich zeigen müssen, was genau die deutsche Regierung im Allgemeinen und<br />

113 Kötter, Wolfgang: In Washington formieren sich die Abrüstungsgegner und der Kreml<br />

schwingt den atomaren Knüppel. Universität Kassel, AG Friedensforschung.<br />

114 Vgl. Nassauer, Otfried: Obama in der Ab-Aufrüstungsfalle. 28.03.2010, http://www.bits.de/<br />

public/articles/friedensforum/ff01-10.htm.<br />

115 Ohne Verfasser: Westerwelle: Der unbekannte Neue.<br />

Dis | kurs 141


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Merkel und Westerwelle im Besonderen tatsächlich unter ihrer Formulierung<br />

härtere Sanktionen mittragen zu wollen verstehen. 116<br />

Auf dem Plan von Angela Merkel und Guido Westerwelle dürfte auch bald das<br />

Thema Irak in immer größeren Buchstaben auftauchen. Im Anschluss an die Parlamentswahlen<br />

im März 2010, die die USA <strong>als</strong> „Meilenstein der Demokratisierung“ 117<br />

bezeichnen, ist für August 2010 ein Rückzug der amerikanischen Kampftruppen<br />

aus dem Land geplant. Forderungen den zivilen Wiederaufbau und die innere<br />

Stabilität des Landes in größerem Umfang mit voranzutreiben werden sich dann<br />

verstärkter denn je auch an den europäischen Verbündeten Deutschland richten.<br />

118<br />

Gemeinsam durch die Krise<br />

Erwartungen richten sich jedoch nicht nur hinsichtlich der Außen- und Sicherheitspolitik<br />

an die deutsche Regierung. Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise<br />

näherte man sich einem gemeinsamen Ziel der Regulierung der Finanzmärkte an,<br />

wenn Obamas weit reichende Forderungen Banken zu verkleinern und weniger<br />

Risiko bei Geschäften einzugehen in Deutschland auch eher kritisch betrachtet<br />

wurden und werden. Hilfreicher ist es, hier jedoch eine gemeinsame Basis zu finden,<br />

anstatt alleine vorzupreschen. Auch in puncto Wirtschafts- und Finanzpolitik<br />

erhoffen sich die USA, so wird erkennbar, eine größere Verantwortungsübernahme<br />

durch Deutschland. Ein Wiederaufleben des 2007 eingerichteten Transatlantischen<br />

Wirtschaftsrates wäre dem ehemaligen Berliner US-Botschafter Robert<br />

M. Kimmitt zu Folge ein erster Schritt dorthin. 119<br />

116 Vgl. ohne Verfasser: Westerwelle droht Iran mit Sanktionen. 19.02.2010, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,679075,00.html.<br />

117 Ohne Verfasser: USA: Parlamentswahl im Irak ist Meilenstein der Demokratisierung.<br />

29.03.2010, http://www.dradio.de/nachrichten/201003262300/3.<br />

118 Vgl. Flanagan, Stefan J.: Amerikas Erwartungen an die NATO. 29.03.2010, http://www- internationalepolitik.de/ip/archiv/jahrgang2004/juni04/amerikas-erwartungen-an-die-nato.<br />

html.<br />

119 Vgl. Bidder, Benjamin / Schmitz, Gregor Peter / Volkery, Carsten: Bundestagswahl. Wie<br />

das Ausland auf Schwarz-Gelb reagiert. Russland. In: SpiegelOnline, 28.09.2009, http://<br />

www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,651789-4,00.html.<br />

142 Dis | kurs


ussland – Kontinuität im osten<br />

Simone Schonvogel<br />

Reaktionen auf die Regierungskonstellation aus CDU / CSU und FDP auf russischer<br />

Seite zeichnen sich vor allem durch ambivalente Erwartungen aus. Weder<br />

die eine, noch die andere Seite geht dabei jedoch von einer deutlichen Verbesserung<br />

des deutsch-russischen Verhältnisses aus, soviel lässt sich unzweifelhaft<br />

feststellen. Zwei Hypothesen geisterten bereits vor der Wahl am 27. September<br />

2009 durch die russische Hauptstadt. Entweder, so führt der Russlandexperte<br />

Alexander Rahr exemplarisch nach den Bundestagswahlen aus, käme es in den<br />

Beziehungen beider Länder zu keinerlei Veränderungen, oder aber mit Kanzlerkandidat<br />

Steinmeier verschwinde „ein Anhänger der blauäugigen Ostpolitik“ 120<br />

und die FDP werde Menschenrechtsfragen und ähnliche Thematiken verstärkt<br />

auf die politische Agenda setzen. Die Mehrzahl der Experten ist jedoch der Meinung,<br />

dass sich auch angesichts der neuen Regierungskonstellation keine größeren<br />

Spannungen zwischen beiden Ländern ergeben werden und prognostizieren<br />

eine Politik Westerwelles, die sich nicht wesentlich von der seiner letzten beiden<br />

Vorgänger unterscheiden und vor allem pragmatisch geprägt sein wird. 121<br />

„Wenn selbst die Grünen, die sich viel mehr für die Menschenrechte engagieren<br />

<strong>als</strong> die FDP, es geschafft haben, die deutschen wirtschaftlichen Interessen<br />

in Russland anzuschieben, sollte das für Westerwelle nicht zum Problem<br />

werden.“ 122<br />

Dreh- und Angelpunkt deutscher Russlandpolitik wird zudem auch hier die Kanzlerin<br />

bleiben. An ihrer Zusammenarbeit mit Russland bestehen keinerlei Zweifel.<br />

Zwar herrscht zwischen beiden Staaten keine Verbindung wie noch zu Zeiten des<br />

Duos Schröder Steinmeier. Zweifellos jedoch wurden durch die beiden viele Türen<br />

nach Moskau aufgestoßen, war es doch Gerhard Schröder, „der einst Wladimir<br />

Putin zum ‚lupenreinen Demokraten’ adelte“ 123 und damit auch Kanzlerkandidat<br />

Steinmeier in eine Position <strong>als</strong> legitimen Erben der eigenen Position katapultiert<br />

hatte. Somit wäre man über einen Kanzler Frank-Walter Steinmeier nicht uner-<br />

120 Ohne Verfasser: Keine gemeinsamen Saunabesuche, aber engere Wirtschaftsbeziehungen.<br />

25.03.2010, http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Deutschland/russland.<br />

html.<br />

121 Vgl. ohne Verfasser: Keine gemeinsamen Saunabesuche.<br />

122 Ebd.<br />

123 Ebd.<br />

Dis | kurs 143


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

freut gewesen. Doch „Moskau hat auch mit einer zweiten Merkel-Amtszeit kein<br />

Problem“ 124 und stellt sich gleichzeitig darauf ein, dass die Russlandpolitik in Berlin<br />

zunächst einmal keine vorherrschende Rolle spielen wird, angesichts drängender<br />

internationaler Problemfelder und innenpolitischer Querelen. 125<br />

Transatlantischen Beziehungen und dem deutsch-amerikanischen Verhältnis<br />

werden im Koalitionsvertrag große Bereiche eingeräumt, die deutsch-russischen<br />

Beziehungen hingegen werden übersichtlich, beinahe vormundschaftlich, abgehandelt.<br />

Dies überrascht jedoch angesichts der historisch engen Verbindung zwischen<br />

den USA und Deutschland und der Tatsache, dass Russland erst mit dem<br />

Ende der bipolaren Weltordnung zu einem einflussreichen Partner avancierte,<br />

nicht. 126<br />

Strategische Partnerschaft mit Neudiplomat Westerwelle<br />

Guido Westerwelle <strong>als</strong> neuer Außenminister wird in den russischen Medien eher<br />

skeptisch betrachtet. Als ‚Politiker mit wirtschaftlichen liberalen Ansichten und<br />

einem unkonventionellen Privatleben’ und auf internationalem Parkett unerfahren<br />

wird er beschrieben. Frank-Walter Steinmeier hingegen bezeichnete man <strong>als</strong><br />

‚exzellenten Diplomaten [und, Anm. d. Verf.] Architekt der deutschen Außenpolitik’.<br />

Gerechnet hatte man mit einer zweiten Amtszeit Merkels, doch auch die<br />

Regierungsbeteiligung der FDP ist keine all zu große Überraschung, da auch in<br />

Moskau der rapide „Absturz der Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren<br />

sehr genau registriert“ 127 wurde.<br />

Das Westerwelle solchen Einfluss auf die Russlandpolitik nehmen wird, dass<br />

es zu deutlichen Veränderungen kommt, ist jedoch nicht zu erwarten, da er <strong>als</strong><br />

Juniorpartner deutlich hinter der Kanzlerin zurücksteht. Wie auch in den vorhergehend<br />

behandelten Staaten wird Westerwelle von Experten in erster Linie<br />

<strong>als</strong> zweitrangig beurteilt. Das Hauptaugenmerk richtet sich auch hier auf Angela<br />

Merkel, mit der man inzwischen eine gute Gesprächsbasis gefunden hat, auch<br />

wenn sie für „Verbeugungen gen Moskau“ 128 wie Gerhard Schröder sie pflegte nie<br />

124 Zekri, Sonja: Wahl: Reaktionen aus dem Ausland. Russland. In: Süddeutsche-Online,<br />

28.09.2009, http://www.sueddeutsche.de/politik/820/489210/text/15/.<br />

125 Vgl. ohne Verfasser: Keine gemeinsamen Saunabesuche.<br />

126 Vgl. ebd.<br />

127 Ebd.<br />

128 Ebd.<br />

144 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

etwas übrig hatte. Medien hingegen äußern die Befürchtung Westerwelle könnte<br />

ein härteres Vorgehen in Fragen der Energiesicherheit herbeiführen und das Thema<br />

Menschenrechtsverletzungen offen zur Debatte stellen. Übereinstimmend gelangt<br />

man jedoch zu dem Ergebnis, dass die bilateralen Beziehungen der beiden<br />

Staaten auch in Zukunft unter der Perspektive einer strategischen Partnerschaft<br />

weitergeführt werden. Pragmatismus lautet auch hier die Devise. 129<br />

Neben Stimmen, die Westerwelle skeptisch mit Blick auf Menschenrechts- und<br />

Energiefragen beurteilen, gibt es Meinungen wie die des Russlandexperten Alexander<br />

Rahr, die unter einem Außenminister Westerwelle eine leichte Verbesserung<br />

der Beziehungen beider Staaten für durchaus möglich halten. Rahr verweist<br />

hierzu auf die lange Zeit von drei Jahrzehnten, in denen die FDP „in der außenpolitischen<br />

Verantwortung“ 130 stand und von den siebziger Jahren bis in die neunziger<br />

Jahre des vergangenen Jahrhunderts Ostpolitik, Wiedervereinigung und den<br />

Schritt der strategischen Partnerschaft beider Länder mit gestaltete und stützte.<br />

Eine positive und fester umrissene Russlandpolitik befindet sich demnach ebenfalls<br />

im Rahmen des Möglichen. Inwiefern es hierbei über eine pragmatische strategische<br />

Partnerschaft hinausgehen kann, wird in erster Linie von der Bundeskanzlerin<br />

abhängen. Sowohl Wladimir Putin, <strong>als</strong> auch Dimitri Medwedew pflegen<br />

ein mittlerweile gutes Verhältnis zur deutschen Kanzlerin. Persönliche Beziehungen<br />

spielen zudem nicht mehr die entscheidende Rolle, wie sie es noch mit Ende<br />

des Kalten Krieges taten. Routine in den deutsch-russischen Beziehungen und<br />

Gesprächsforen wie der Petersburger Dialog und andere Mechanismen haben zu<br />

einer Festigung beigetragen, die über ein pragmatisches, Vernunft geprägtes Verhältnis<br />

hinausgehende Beziehungen nicht mehr erforderlich macht. 131<br />

Wechselseitige Interessen<br />

Bereits in der vorhergehenden Amtszeit Angela Merkels wurde deutlich, wie<br />

die Bezeichnung einer strategischen Partnerschaft, wie sie auch im neuen Koalitionsvertrag<br />

zu finden ist, verstanden werden kann. Beide Länder „sehen sich<br />

<strong>als</strong> Schlüsselpartner und haben an einem guten Verhältnis großes Interesse“ 132 ,<br />

129 Vgl. Zekri, Sonja: Wahl: Reaktionen aus dem Ausland. Russland.<br />

130 Ohne Verfasser: Keine gemeinsamen Saunabesuche.<br />

131 Vgl.Zekri, Sonja: Wahl: Reaktionen aus dem Ausland. Russland.<br />

132 Vgl. Egger, Lucia: Zusammenfassung: Wertepolitik versus Realpolitik. 28.03.2010, http://<br />

aussenpolitik.net/themen/de_wahljahr/de_wahlen/wertepolitik_versus_realpolitik-die_<br />

Dis | kurs 145


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

spielt doch für Deutschland insbesondere die Energiesicherheit eine wichtige<br />

Rolle. Doch auch Russland ist auf den Partner Deutschland zunehmend stärker<br />

angewiesen. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise hat gravierend dazu beigetragen,<br />

dass dem Land seine Abhängigkeit von der Weltwirtschaft alarmierend<br />

deutlich geworden ist. Eine Abkopplung von der internationalen Wirtschaft wie<br />

vor 1990 ist nicht mehr möglich, zu dieser realistischen Beurteilung kommt man<br />

auf russischer Seite zunehmend. Zu dringend benötigt werden beispielsweise<br />

Technologietransfers, um eigene Gesellschaft und Wirtschaft modernisieren zu<br />

können. Europäische Staaten wie Deutschland bieten sich hierfür an und wachsen<br />

neben ihrer Rolle <strong>als</strong> Absatzmärkte für Energieträger immer stärker in eine<br />

Position <strong>als</strong> gefragter Handelspartner. Schon lange ist Deutschland ohnehin<br />

Haupthandelspartner Russlands.<br />

Von einer auf eine Seite beschränkten wirtschaftlichen Notwendigkeit kann folglich<br />

keine Rede sein. Wirtschaftliche Interessen prägen auch weiterhin das Handeln<br />

und die Beziehungen beider Staaten. Kein / keine KanzlerIn der Bundesrepublik<br />

kann aus wirtschaftlicher Sicht auf gute Beziehungen zum russischen<br />

Nachbarn verzichten. Neben seiner Rolle <strong>als</strong> wichtigster Öl- und Gasexporteur<br />

und Wahrer deutscher Energiesicherheit fällt Russland zunehmend eine Rolle <strong>als</strong><br />

Absatzmarkt zu.<br />

Insbesondere nach der Wirtschafts- und Finanzkrise haben die Stabilisierung<br />

und der Aufbau der deutschen Wirtschaft Priorität. Dies lässt sich speziell durch<br />

die Stärkung des deutschen Exports vorantreiben. Russland hat das Potenzial<br />

hierbei hinter China zum zweitgrößten Exportmarkt für die Bundesrepublik aufzusteigen.<br />

Zwischen Wirtschaft und Außenpolitik wird daher auch weiterhin eine<br />

enge Verknüpfung bestehen. Die Beziehungen beider Länder finden allerdings in<br />

den wirtschaftlichen Beziehungen nicht ihre Grenzen. Ausgehend von 1990 hat<br />

sich inzwischen ein komplexes Werk aus „bilateralen Abkommen, Institutionen<br />

und Projekten entwickelt“ 133 , welches die guten Beziehungen festigt und zu ihrem<br />

weiteren Ausbau beiträgt. 134<br />

russlandpolitik_der_regierung_merkel-steinmeier/.<br />

133 Zandt, Maria: Deutschland – Russland: Eine strategische Partnerschaft? 28.03.2010,<br />

http://www.eurosduvillage.eu/Deutschland-Russland-Eine.<br />

134 Vgl. Franzke, Jochen: Wertepolitik versus Realpolitik. In: WeltTrends: Zeitschrift für internationale<br />

Politik. Nr. 67/ 2009. S. 97ff.<br />

146 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

Nachgedacht werden muss aus europäischer Perspektive über eine Neujustierung<br />

der Beziehungen zu Russland auch allein aus sicherheitspolitischen Gründen.<br />

Aufgrund Größe und Geschichte des Landes ist Russland in „viele territoriale und<br />

ethnische Konflikte entweder direkt eingebunden oder kann zumindest bei deren<br />

Lösung aktiv mithelfen“ 135 . Problemherde wie der Iran, Irak und der Nahe Osten<br />

lassen sich nur gemeinsam mit Russland bekämpfen. Nun liegt es an den USA und<br />

Europa „mit Russland über dessen Rolle und seinen Platz […] zu sprechen“ 136 . Innerhalb<br />

Europas bietet sich hier für die Bundesrepublik die Chance, sich aufgrund<br />

seiner guten Beziehungen zu Russland handelnd hervortun. Russland ist keine<br />

Supermacht mehr, nimmt aber neben den USA einen entscheidenden weltpolitischen<br />

Platz ein. Von umso größerer Bedeutung ist es nun „handelnden Politikern<br />

in Moskau das Gefühl [zu, Anm. d. Verf.] […] geben, dass ihr Land <strong>als</strong> globaler<br />

Einflussfaktor wieder ernst genommen wird“ 137 . In dieser Aufgabe jedoch steht<br />

Europa eindeutig hinter den USA zurück. Bis 1990 weltpolitische Supermacht, ist<br />

dies für Russland „auch eine Frage von Stolz und Selbstwertgefühl“ 138 . Das neue<br />

Start-Abkommen zwischen den USA und Russland stellt da einen ersten Schritt<br />

zur weiteren Verbesserung der Beziehungen nach Osten dar.<br />

Wohin steuert die deutsche außenpolitik?<br />

Nach der Bundestagswahl 2009 bleibt es auch weiterhin vor allem Aufgabe der<br />

deutschen Außenpolitik ein Gleichgewicht zwischen Kontinuität und notwendigem<br />

Wandel zu finden. Wohin sie damit steuert ist jedoch unklar. Erwartungen<br />

an Deutschland werden konkreter werden, ob die Bundesrepublik dem gewachsen<br />

ist, wird sich zeigen müssen. Einst Vorreiter in Sachen Klimapolitik hat<br />

sich Deutschland in dieser Frage deutlich in den Hintergrund zurückgezogen. 139<br />

Andere außenpolitischen Themen wie das iranische Atomprogramm und der<br />

135 Appenzeller, Gerhard: Wichtig sind wir nur <strong>als</strong> Teil Europas. In: Tagesspiegel-Online.<br />

22.11.2009, http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/Deutschland-EU-<br />

Aussenpolitik;art141,2956163.<br />

136 Ebd.<br />

137 Ebd.<br />

138 Ebd.<br />

139 Vgl. Viëtor, Marcel / Caspar, Oldag: Klimapolitik: Das Zugpferd lahmt. 20.03.2010,<br />

http://aussenpolitik. net/midcom-serveattachmentguid-1debe76b0db6364be7 611de-<br />

84d24985e938cb6ccb6c/dgap_standpunkt_9_2009.jpg<br />

Dis | kurs 147


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

Krisenherd Afghanistan haben die Oberhand gewonnen und tun sich dringlich<br />

hervor. Eines jedoch ist sicher. Einen Zustand wie den bisherigen, in dem es immer<br />

wieder zu Abstimmungsproblemen innerhalb der Regierung und einzelnen<br />

Ressorts kommt, kann man sich nicht länger leisten.<br />

„Wenn Hillary Clinton für die USA spricht, ist jedes Wort ihres Sprechzettels<br />

vorab im Ressortkreis abgestimmt und vom Weißen Haus abgesegnet. Ähnlich<br />

klar werden sicherheits- und europapolitische Linien in London [...] festgelegt.<br />

In Deutschland fragt man demgegenüber besser erst einmal nach, ob<br />

es sich um eine abgestimmte Regierungslinie oder ‚nur’ um die Position eines<br />

Ressorts handelt. In Brüssel, in Washington und anderen Hauptstädten hält<br />

man solche Vorgänge für typisch deutsch. Über die Unfähigkeit der Berliner<br />

Koalitionäre, außen- und sicherheitspolitisch einheitlich aufzutreten bzw. zu<br />

entscheiden, wird draußen gerne geschmunzelt: in Brüssel ist diese besondere<br />

deutsche Untugend inzwischen sogar <strong>als</strong> ‚German Vote’ in die europapolitische<br />

Fachsprache eingegangen. Tatsache ist, dass unsere Partner die chronische<br />

deutsche Entscheidungsschwäche häufig und gerne zum eigenen Vorteil<br />

ausnutzen.“ 140<br />

Will man deutsche Interessen auch in internationalen Gremien durchsetzen,<br />

kann man sich ein uneinheitliches Auftreten nicht länger leisten. „Berlin muss in<br />

EU, in UN und NATO mit einer Stimme sprechen und sprechen können – und<br />

zwar systematisch und regelmäßig, nicht nur zufällig.“ 141 Es ist daher höchste Zeit<br />

Außen- und Sicherheitspolitik betreffende entscheidungsfindende Prozesse in<br />

der Regierung zu professionalisieren. Insbesondere Außenminister Guido Westerwelle<br />

und Kanzlerin Angela Merkel können es sich nicht länger leisten, wie im<br />

Falle eines möglichen EU-Beitritts der Türkei oder dem Abzug der US-Atomwaffen<br />

aus der Bundesrepublik gegenüber Partnerstaaten unterschiedliche Positionen<br />

zu artikulieren oder Positionen des jeweils anderen nicht mit zu tragen. Nur<br />

klare politische Aussagen ermöglichen ein klares politisches Handeln.<br />

Möchte man kooperative Zusammenarbeit und eigenen Einfluss bewahren, ist es<br />

zudem unabdingbar die Reaktionsfähigkeit und monetäre Ausstattung der Bundeswehr<br />

zu verbessern, da Deutschland sich innerhalb der NATO in einer defen-<br />

140 Ischinger, Wolfgang: Disharmonische Außenpolitik. 05.09.2009, http://www.securityconference.de/Monthly-Mind-Detailansicht.67+M5dcbc172750.0.html?&L=0.<br />

141 Ebd.<br />

148 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

siven und reaktiven Position befindet und trotz Zugeständnissen im Afghanistan-<br />

Einsatz angesichts von Mängeln in der Ausrüstung und Risikovermeidung bei<br />

den Bündnispartnern massiv in der Kritik steht. 142<br />

Dass Guido Westerwelle bemüht ist, sich vom Bild des Spaßpolitikers und Politclowns<br />

vergangener Jahre zu entfernen, ist ohne Zweifel. Einzig die Frage danach,<br />

wie gut dies gelingen wird erweist sich momentan <strong>als</strong> noch offen. Im Ausland<br />

noch ein nahezu unbeschriebenes Blatt besteht hier für ihn die Möglichkeit<br />

auf die guten Beziehungen Angela Merkels aufzubauen und eigene Akzente zu<br />

setzen. Letztlich bleibt jedoch fraglich, ob er sich außenpolitisch entscheidend aus<br />

dem Schatten der Kanzlerin lösen und eigene Ideen vortragen und in Gang setzen<br />

wird können. Als Außenminister der FDP, der „Partei der Außenminister“ 143 , tritt<br />

er kein leichtes Erbe an. Auch Angela Merkel sieht sich schwierigen Zeiten gegenüber,<br />

kann jedoch insgesamt auf das im Ausland gewachsene Vertrauen in ihr politisches<br />

Vorgehen und die gefestigten Beziehungen zu Frankreich, Russland und<br />

auch, eher distanzierter und Vernunft geprägt, zur Regierung Obama bauen.<br />

Deutschland wird auch weiterhin eingebettet in EU und UN dem Prinzip des<br />

Multilateralismus verpflichtet handeln. Bereits jetzt ist jedoch erkennbar, dass die<br />

neue Regierung versuchen wird außenpolitisch eigene Ziele nicht mehr gänzlich<br />

unterzuordnen. Die Lösung des Notfallsplanes für das rekordverschuldete Griechenland<br />

hat dies angedeutet.<br />

Das Motto deutscher Politik <strong>als</strong> Friedenspolitik gerät jedoch angesichts des Einsatzes<br />

in Afghanistan, dem verstärktem Engagement am Horn von Afrika im Kampf<br />

gegen Piraterie und weiterer globaler Herausforderungen wie Pakistan, dem Iran<br />

und dem Nahen Osten zunehmend ins Wanken. Hier zeichnet sich langsam eine<br />

Verschiebung deutscher Außenpolitik ab, die sich auch im Koalitionsvertrag von<br />

CDU / CSU und FDP niederschlägt. 2010 wird vor allem ein Jahr sein, in dem<br />

sich die Bundesrepublik und weitere Staaten mit „verschleppten Entscheidungen<br />

herumschlagen“ 144 werden müssen. 145<br />

142 Vgl. Egger, Lucia: Zusammenfassung: Bundeswehr und Nato. 20.03.2010, http://aussenpolitik.net/themen/de_wahljahr/de_wahlen/.<br />

143 Dittrich, Denise: Die FDP und die deutsche Außenpolitik, S. 11.<br />

144 Horeld, Markus: Außenpolitik zwischen Krieg und Wahlen. In: ZeitOnline, 30.12.2009,<br />

http://www.zeit.de/politik/ausland/2009-12/ausblick-2010-aussenpolitik.<br />

145 Vgl. ohne Verfasser: Deutsche Außenpolitik. 20.03.2010, http://www.studiumgenerale.unifreiburg.de/archiv/ss-2009/col-politicum/deutsche-aussenpolitik.<br />

Dis | kurs 149


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

„Deutschland ist ökonomisch eine Großmacht, an die einerseits Forderungen<br />

nach mehr politisch-militärischem Engagement gestellt werden (USA), die<br />

andererseits aber von den Nachbarn alter ‚großdeutscher’ Bestrebungen verdächtigt<br />

wird (Großbritannien). Beidem muss Deutschland Rechnung tragen.<br />

Das vereinigte Deutschland wird auch weiterhin Motor der europäischen Integration<br />

sein. Aber Weltmacht will Deutschland nicht sein und es kann diese<br />

Rolle auch nicht spielen, darin sind sich Regierung und Opposition einig.“ 146<br />

Afghanistan wird dabei auch weiterhin eine der größten Herausforderungen<br />

deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sein. In Kombination mit den genannten<br />

Herausforderungen im Iran, Pakistan und anderen Regionen, wird eine aktivere<br />

Teilhabe auf dem Fundament des Multilateralismus erforderlich werden. Auf<br />

absehbare Zeit wird sich „keine deutsche Regierung […] dem Zwang zur ‚Normalisierung’<br />

im Umgang mit militärischer Gewalt entziehen können“ 147 , auch wenn<br />

aus historischer Perspektive eine ablehnende Haltung Kampfeinsätzen gegenüber<br />

durchaus nachvollziehbar ist. 148<br />

Fehlende Kooperation der globalen Akteure führt mehr und mehr dazu, dass in<br />

Afghanistan der zivile Aufbau gegenüber dem militärischen Engagement ins Hintertreffen<br />

gerät. Die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik hat insbesondere im<br />

Rahmen der NATO Signalfunktion auf andere Staaten. Abstimmungsschwierigkeiten<br />

in Berlin wirken sich somit auch unmittelbar auf das NATO-Vorgehen und<br />

den ISAF-Einsatz in Afghanistan aus. Ein dauerhaft erfolgreicher Sicherheitsgewinn<br />

ist nur möglich, wenn das durch den ISAF-Einsatz erzielte Maß an Sicherheit<br />

unmittelbar durch das zivile Engagement der einzelnen Akteure gestützt<br />

wird. Doch genau eine solche Verknüpfung läuft momentan nur schleppend an.<br />

Fortschritte im Bereich der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte lassen sich<br />

zwar nachweisen, doch nur in Kombination mit dem Dialog mit afghanischen<br />

Nachbarstaaten wie Pakistan und einer Truppenaufstockung lässt sich der zivile<br />

Aufbau vorantreiben und dauerhaft stabilisieren. Mit deutlicheren Tendenzen<br />

146 Größl, Wolf-Rüdiger: Die Rolle Deutschlands in der Außenpolitik: zwischen Kontinuität und<br />

Neubestimmung.<br />

147 Dettke, Dieter: Deutschland <strong>als</strong> europäische Macht und Bündnispartner. 28.03.2010,<br />

http://www.bpb.de/publikationen/AUH6CP,0,Deutschland_<strong>als</strong>-europ%E4ische_Macht_<br />

und_B%FCndnispartner.html.<br />

148 Vgl. Lypp, Lucas: Führung <strong>als</strong> Mitgestaltung. 20.03.2010, http://aussenpolitik.net/themen/<br />

de_wahljahr/de_wahlen/.<br />

150 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

kann hier im Herbst 2010 gerechnet werden, wenn die USA aufgrund der sich<br />

abzeichnenden verbessernden Sicherheitslage im Irak ihre dortigen Truppen<br />

schrittweise abziehen und eine weitere Aufstockung in Afghanistan vornehmen<br />

können. Spätestens dann wird sich Deutschland neben eventuellen amerikanischen<br />

Ansprüchen auf Unterstützung im Irak stärker den je mit der Problematik<br />

des Afghanistan-Einsatzes konfrontiert sehen, zudem die Niederlande, Kanada<br />

und Japan ihre Unterstützung in Afghanistan zwischen Mai 2010 und dem folgenden<br />

Jahr einstellen werden. Angesichts der hohen Ablehnung einer deutschen<br />

Truppenaufstockung in der Bevölkerung, der steigenden Zahl gefallener deutscher<br />

SoldatInnen, aufgrund unklarer Perspektiven über Abzug und Verbleib<br />

zum Wiederaufbau im Land und steigendem Kriegsbewusstsein der Bevölkerung,<br />

wird die Bundesregierung jedoch auch innenpolitisch härte Kämpfe ausfechten<br />

müssen. 149<br />

Oberstes Ziel deutscher Außenpolitik muss es zunächst jedoch sein, eine klare<br />

Haltung zu definieren. Ein Zustand, in dem wechselweise Außenminister Westerwelle<br />

und Kanzlerin Merkel die Marschroute vorgeben, gar widersprüchlich<br />

auftreten und neben der Bundesregierung auch die verschiedenen Ressorts in<br />

Berlin planlos mitmischen ist nicht hinnehmbar. Dies schadet nicht nur dem Ansehen<br />

der Regierung im eigenen Land, sondern insbesondere dem außenpolitischen<br />

Gewicht der Bundesrepublik. Zu drängend und weitreichend sind zudem<br />

die internationalen Herausforderungen mit denen sich Deutschland und seine<br />

Bündnispartner konfrontiert sehen, <strong>als</strong> das hier Platz für hausgemachten Ballast<br />

wäre.<br />

Zwischen Deutschland und Frankreich besteht seit dem Beginn der Aussöhnung<br />

eine enge Bindung, die auch weiterhin trotz immer wieder auftretender kleinerer<br />

kurzzeitiger Spannungen Bestand haben wird. Das Duo Deutschland Frankreich<br />

wird auch weiterhin <strong>als</strong> „Motor der europäischen Integration“ 150 fungieren und in<br />

Fragen von globaler Bedeutung an der Spitze der EU stehen.<br />

Auch das Verhältnis zu den USA wird weiterhin ein gutes, wenn auch stark Vernunft<br />

geprägtes sein. Werte- und Meinungsdifferenzen, wie sie die Krise der Beziehungen<br />

im Zuge des Irakkriegs offen legte, könnten auch weiterhin von Be-<br />

149 Vgl. Rühle, Michael: Afghanistan, Deutschland und die NATO. In: Sicherheit und Frieden.<br />

Nr.1 (2009). S. 1ff.<br />

150 Ohne Verfasser: Gemeinsam für ein starkes Europa.<br />

Dis | kurs 151


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 2, 2010<br />

deutung sein, der amerikanische Unilateralismus musste jedoch der Erkenntnis<br />

weichen, welche Bedeutung Europa <strong>als</strong> Partner in der Außenpolitik zukommt.<br />

Kooperation rückt unter Obama vermehrt in den Vordergrund, militärisches<br />

Vorgehen erfährt eine geringere Betonung. Inwieweit dabei die Visionen mit denen<br />

Obama angetreten ist tatsächlich im Rahmen des Möglichen liegen, wird sich<br />

zeigen müssen. Unter den Gesichtspunkten von Wandel und „smart power“ 151 hat<br />

jedoch zweifellos eine erneute Aufwertung der transatlantischen Partnerschaft<br />

stattgefunden, wenn auch vor allem die globalen Problemlagen und Machtverlust<br />

diesen Schritt für den Präsidenten unausweichlich machten. Multilateralismus<br />

scheint auch in der Außenpolitik der USA zum unabdingbaren Faktor zu werden.<br />

Das Mischverhältnis aus Distanz und Nähe, das zu jedem Zeitpunkt prägend war<br />

für die deutsch-amerikanischen Beziehungen wird nichtsdestotrotz auch unter<br />

einem Duo Obama Merkel Bestand haben. 152<br />

Das Verhältnis zur Türkei wird in den nächsten Jahren voraussichtlich immer<br />

wieder durch Spannungen belastet werden, die sich bereits heute abzeichnen.<br />

Neben der Ablehnung eines EU-Beitritts, insbesondere durch die Kanzlerin und<br />

die CDU, wird vor allem die Situation der Auslandstürken voraussichtlich eine<br />

große Rolle spielen. Gleiches gilt für die Situation der Menschenrechte und Religionsfreiheit<br />

in der Türkei.<br />

Von der Rolle des Feindes in die des Freundes hat sich in den letzten Jahrzehnten<br />

Russland geschoben. Freundschaften wie die zwischen Helmut Kohl und Boris<br />

Jelzin oder Gerhard Schröder und Wladimir Putin waren hierbei prägend, doch<br />

auch unter Angela Merkel sind die Beziehungen zu Russland <strong>als</strong> strategischem<br />

Partner ausgezeichnet. Strategischer Charakter steht nicht mehr in gleichem<br />

Maße wie in der Regierung Schröder im Fokus, mit Blick auf die wirtschaftliche<br />

Notwendigkeit und globale Konfliktherde bleiben gute Beziehungen jedoch<br />

unerlässlich. Die deutsch-russischen Beziehungen befinden sich fernab von notwendigen<br />

persönlichen Freundschaften auf stabilem Fundament. 153 Nachdem<br />

sich die Koordinaten deutscher Außenpolitik nach der Wiedervereinigung deut-<br />

151 Lypp, Lucas: Zusammenfassung. Strukturelle Probleme im transatlantischen Gefüge.<br />

29.03.2010,http://aussenpolitik.net/themen/trans_beziehungen/usa/strukturelle_probleme_im_transatlantischen_beziehungsgefuge/.<br />

152 Vgl. Bredow, Wilfried von: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung.<br />

Wiesbaden 2006, S. 226.<br />

153 Vgl. Zandt, Maria: Deutschland – Russland: Eine strategische Partnerschaft?<br />

152 Dis | kurs


Simone Schonvogel<br />

lich verschoben haben und eine Anpassung an die sich verändernden Rahmenbedingungen<br />

vorgenommen werden musste, befindet sich die Außenpolitik der<br />

Bundesrepublik in einer beharrlichen Diskussion über Kontinuität und Wandel,<br />

aus der auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung kein Entkommen möglich<br />

ist. Vielmehr wandelt deutsche Außenpolitik je nach internationaler Problemlage<br />

auf einem schmalen Grad zwischen beiden Polen, ohne klares Bekenntnis.<br />

Steht deutsche Außenpolitik nach 2009 im Zeichen von Kontinuität oder Wandel?<br />

Oder beidem? Hierüber lässt sich getreu der letzten 20 Jahre weiter streiten.<br />

Herausforderungen, die eine klare Linie erfordern gibt es genug.<br />

Bislang zeichnete sich Deutschland vor allem durch geschicktes schmieden von<br />

Koalitionen und Kompromissen aus, wie und ob dies in heutigen Zeiten noch<br />

funktionieren kann wird sich erst noch zeigen müssen. Auch ein wachsender eigener<br />

Geltungsanspruch und die begrenzten finanziellen Mittel könnten sich <strong>als</strong><br />

einflussreicher erweisen, <strong>als</strong> es viele derzeit erwarten. Als das große Schlagwort<br />

deutscher Außenpolitik vergangener Jahrzehnte und auch der Zukunft lässt sich<br />

jedoch Multilateralismus ausmachen. Die neue Regierung sollte sich hierbei vor<br />

allem darüber im Klaren sein, dass deutsche Außenpolitik an den aktuellen Anforderungen<br />

mitwachsen muss und dabei eines ganz sicher nie war und nie sein<br />

wird: ein Selbstläufer.<br />

Dis | kurs 153


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

gelesen<br />

neue sicht auf ein altes thema:<br />

neue Kriegsgeschichte(n)<br />

Bastian Walter<br />

Seit noch nicht allzu langer Zeit erlebt die Erforschung des Phänomens „Krieg“<br />

in der Vormoderne einen unverhofften Aufschwung. Das ist umso verwunderlicher,<br />

<strong>als</strong> es sich dabei um ein Thema handelt, das zumindest in der deutschsprachigen<br />

im Gegensatz zur französischen und englischen Mediävistik lange Zeit<br />

von der Agenda verschwunden zu sein schien. In den entstandenen Forschungen<br />

nun werden Kriege unter neuen, kultur-, mentalitäts- und sozialgeschichtlichen<br />

Fragestellungen und Prämissen gewinnbringend untersucht, analysiert und interpretiert.<br />

Welch enormes Potenzial derart neue Fragestellungen auf alte Themen<br />

bergen, zeigt die im Jahr 2007 bei Prof. Dr. Gerhard Fouquet (Christian-<br />

Albrechts-Universität Kiel) eingereichte und hier zu besprechende Dissertation<br />

von Gabriel Zeilinger in beeindruckender Weise. Schon der Untertitel der Arbeit<br />

weist das auf das Ziel hin, das sich der Autor gesetzt hat: Er möchte eine „Alltagsund<br />

Erfahrungsgeschichte des süddeutschen Städtekriegs“ schreiben.<br />

Schon jetzt sei vorweggenommen, dass Zeilinger dieses Ziel vollumfänglich erreicht.<br />

Was er Alltag bzw. Erfahrung versteht, macht er in seiner Einleitung (S.<br />

13-25) deutlich, in der er auf das Alltagskonzept von Norbert Elias rekurriert und<br />

darauf hinweist, dass der Begriff „Erfahrung“ noch keinerlei Kanonisierung in der<br />

historischen Forschung erfahren habe. Um den Gegenstand seiner Dissertation<br />

zu erklären, verwendet er aufgrund dessen einen offenen Erfahrungsbegriff, den<br />

er <strong>als</strong> „Erleben des Alltags im Krieg“ sowie <strong>als</strong> „die Auswirkungen dessen auf das<br />

individuelle und kollektive Handeln und Kommunizieren in und zwischen … sozialen<br />

Gruppen“ versteht (S. 22). Dieser offene Zugriff auf Erfahrung hat zur Folge,<br />

dass die Gruppen und mit ihnen die Akteure in den Mittelpunkt der Betrachtung<br />

gerückt werden. Heraus kommt eine Studie, die nach Meinung des Rezensenten<br />

wegweisend für die weitere Beschäftigung mit dem Thema Krieg ist. Das liegt vor<br />

allem an der Tatsache, dass es Zeilinger auf beachtliche Weise gelingt, die ungeheure<br />

Quellenmenge zu bändigen.<br />

154 Dis | kurs


Gelesen<br />

Doch nun weiter zu Aufbau und Inhalt des gut durchdacht gegliederten Werks.<br />

Nach der Einleitung führt der Autor in den zeitlichen Kontext des von ihm behandelten<br />

Konflikts ein und stellt die einander gegenüber stehenden Parteien sowie<br />

den Verlauf desselben und der diplomatischen Verhandlungen kurz und zielführend<br />

vor (S. 25–37). Daraufhin folgt der erste Großteil, in dem es um den Alltag,<br />

<strong>als</strong>o gewissermaßen die Rahmenbedingungen des Krieges, geht (S. 37–151). Hier<br />

löst Zeilinger in insgesamt sieben Unterkapiteln sein in der Einleitung gemachtes<br />

Versprechen ein, seinen Lesern Einsichten in den Kriegsalltag im Spätmittelalter<br />

zu geben. Dabei stellt er zunächst die militärische Organisation vor, um sich im<br />

folgenden Teil mit der Versorgung der Truppen zu beschäftigen. Daraufhin geht<br />

es um die so wichtige öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie um die räumliche<br />

und physische Dimension der Gewalt, um sich dann den interessanten<br />

Forschungsfeldern der Kommunikationswege und -Kommunikationsmittel im<br />

Krieg zuzuwenden. Im abschließenden Unterkapitel beschäftigt sich Zeilinger<br />

mit Arbeit, Handel und Finanzen im Krieg. Das alles liest sich sehr gewinnbringend,<br />

zumal der Autor einerseits verschiedene Quellen sprechen lässt, um so den<br />

Kriegsalltag herauszustellen. Andererseits betritt er mit den hier angerissenen<br />

Themenfeldern zumindest im Hinblick auf die Mittelalterforschung Neuland,<br />

was einen zusätzlichen Reiz der Lektüre ausmacht.<br />

Tauchten Akteure und Gruppen bereits in den Rahmenbedingungen immer wieder<br />

auf, behandelt Zeilinger im zweiten Großteil deren Erfahrungen in und mit<br />

dem Krieg. Hier werden alle am behandelten Konflikt beteiligten sozialen Gruppen<br />

vorgestellt (S. 157–201). Dass dabei sehr häufig dezidiert einzelne Gruppenangehörige<br />

zu Wort kommen, die exemplarisch und gewissermaßen „pars pro<br />

toto“ für ihre Gruppen stehen und für sie „sprechen“, macht die sieben Unterkapitel<br />

sehr aufschlussreich. Neben den landsässigen Adel, der für Zeilinger – und das<br />

ist neu und spannend – aus Männern UND Frauen besteht, stellt er den Stadtadel<br />

Nürnbergs vor, um sich daraufhin Kaufleuten und Handwerkern und deren<br />

Kriegserfahrungen zu widmen. Aufgrund fehlender Quellenzeugnisse betrachtet<br />

der Autor in zwei kurzen Unterkapiteln die mitunter verheerenden Folgen des<br />

Kriegs für die schwächsten mittelalterliche Gruppen, für die „kleinen Leute“, die<br />

Randgruppen und Außenseiter in der Stadt sowie für die Bauern auf dem Land.<br />

Wenn er dann auf die Probleme und Erfahrungen zu sprechen kommt, die Kleriker<br />

mit dem Krieg hatten, betritt er genauso Neuland in der Forschung wie dann,<br />

Dis | kurs 155


Dis | kurs – Jahrgang 6, Ausgabe 1, 2010<br />

wenn er darauf okkasionelle Gruppen und dort unter anderem Söldner und Gefangene<br />

vorstellt.<br />

Ein mit sechs Seiten kurzer, aber prägnanter Schluss fasst die gewonnenen Ergebnisse<br />

zusammen und rundet die interessante Arbeit ab, die dem Leser quellennahe,<br />

detaillierte und vor allem viele neue Einsichten in den Kriegsalltag des<br />

Spätmittelalters liefert. Auch wenn die „Erfahrungen“ im Vergleich zum „Alltag“<br />

aufgrund einer reduzierteren Quellenbasis etwas zu kurz kommen, macht die<br />

Studie deutlich, welche großen Erkenntnisgewinne mikrohistorische Forschungen<br />

für den Makrokosmos zu leisten in der Lage sind. Dass die „Lebensformen<br />

im Krieg“ zudem durchweg gut lesbar sind, ist zusätzlich hervorzuheben. Gleiches<br />

gilt für den rund dreißig Seiten umfassenden Quellenanhang. Dieser enthält<br />

Transkriptionen von unveröffentlichten Dokumenten, die sich in den von Zeilinger<br />

konsultierten Archiven befinden und nun erstm<strong>als</strong> für eine breitere Öffentlichkeit<br />

zugänglich sind.<br />

Zeilinger, Gabriel: Lebensformen im Krieg. Eine Alltags- und Erfahrungsgeschichte<br />

des süddeutschen Städtekriegs 1449/50 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,<br />

Beiheft Nr. 196), Stuttgart 2007, 285 Seiten, 48 €, ISBN: 978-3-<br />

515-09049-0.<br />

156 Dis | kurs


autorinnen und autoren<br />

Katrin Beyer, geb. 1981, Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie<br />

in Münster und Wien; 2003–2006 Stipendiatin der Studienstiftung des<br />

deutschen Volkes; 2006/07 Erstes Staatsexamen für die Lehrämter Sek II/I<br />

in den genannten Fächern; seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am<br />

Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte von Prof. Dr. Gerd Althoff an der<br />

WWU Münster; 2010 Promotion mit einer Arbeit zum Thema: „Provokation<br />

und Prestige. Politische Einsatzfelder witziger und ironischer Rede im normannisch-angevinischen<br />

England (1066–1259)“.<br />

Julia crispin, M.A., geb. 1982, Studium der Kunstgeschichte, Mittleren Geschichte<br />

und Ur- und Frühgeschichte in Münster, Rom und York; Abschluss<br />

im Oktober 2008; 2009–2010 Hilfskraft im Stadtmuseum Münster; seit 2010<br />

wissenschaftliche Hilfskraft am Historischen Seminar der WWU Münster<br />

(Lehrstuhl Prof. Dr. Martin Kintzinger); Dissertationsprojekt: „Repräsentanten<br />

der englischen Krone <strong>als</strong> Förderer von Buchmalerei und Tafelwerken auf<br />

dem Kontinent (1399–1485)“; Arbeits- und Interessensschwerpunkte: mittelalterliche<br />

Kunst- und Kulturgeschichte; internationale Beziehungen im<br />

Spätmittelalter; spätmittelalterliche Hofkultur.<br />

Keno müller, geb. 1985, seit 2007 Studium des Bachelor Combined Studies:<br />

Politik und Germanistik an der Universität Vechta.<br />

simone schonvogel, B.A., geb. 1986, von 2007 bis 2010 Studium der Sozialwissenschaften<br />

und der Erziehungswissenschaften an der Universität<br />

Vechta, seit 2010 im Masterstudiengang Soziologie: Dynamiken gesellschaftlichen<br />

Wandels an der Universität Osnabrück.<br />

luisa streckenbach, B.A., geboren 1985, Studium der Erziehungs- und Sozialwissenschaften<br />

an der Universität Vechta; derzeit Masterstudium Empirische<br />

Politik- und Sozialforschung an der Universität Stuttgart; schrieb Ihre<br />

Bachelorarbeit zum Thema der politischen Partizipation von Jugendlichen<br />

in Deutschland.<br />

neele timmermann, geb. 1986, Studium der Sozialwissenschaften und der<br />

Erziehungswissenschaften an der Universität Vechta; gegenwärtig im Praxissemester<br />

beim entwicklungspolitischen Netzwerk Bremen.<br />

Dis | kurs 157


Bastian Walter, M.A., geb. 1978, Studium der Mittleren geschichte, Neueren<br />

geschichte und der Europäischen Ethnologie in Münster und Bern; ehemaliger<br />

DAAD-Stipendiat; 2005–2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem<br />

DFG-Projekt zu Vor- und Frühformen des Völkerrechts; seit 2006 wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte von<br />

Prof. Dr. Martin Kintzinger an der WWU Münster; Promotionsprojekt: „Träger,<br />

Räume und Vollzug. Koordination und Praxis städtischer Außenpolitik<br />

im Kontext der Burgunderkriege“; Arbeitsschwerpunkte: Völkerrechtsgeschichte,<br />

Diplomatiegeschichte, Kommunikationsgeschichte, Geschichte<br />

der Spionage.<br />

158 Dis | kurs


Beiträge<br />

Beiträge für Diskurs können Sie jederzeit an die im Impressum genannte<br />

E-Mailadresse senden. Ihr Beitrag sollte dem sozial- und/oder geisteswissenschaftlichen<br />

Themenspektrum zuzuordnen sein.<br />

Beachten Sie bitte, dass Ihr Artikel ein Volumen von 25 Standardseiten Text<br />

nicht überschreitet und dass Sie die enthaltenen Informationen nach gängigem<br />

Muster wissenschaftlich belegen. Fügen Sie Ihrer Einsendung einen<br />

tabellarischen Lebenslauf bei.<br />

Nach Erhalt des Artikels wird dieser von uns und unseren Kooperationspartnern<br />

nach inhaltlichen und wissenschaftlichen Kriterien geprüft. Kommen<br />

wir zu dem Schluss, dass wir den Artikel veröffentlichen wollen, setzen wir<br />

uns mit Ihnen für die Abwicklung des weiteren Verfahrens in Verbindung. Der<br />

Entschluss, einen Text nicht zu veröffentlichen, wird Ihnen ebenfalls mitgeteilt.<br />

Dabei werden wir insbesondere darauf achten, die für die Ablehnung<br />

ausschlaggebenden Gründe mitzuteilen.<br />

All rights reserved. No part of this publication may be produced, stored in<br />

a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic,<br />

mechanical, photocopying, recording or otherwise, without the prior written<br />

permission of the publisher. Whilst all reasonable care has been taken to<br />

ensure the accuracy of this publication, the publishers cannot accept responsibility<br />

for any errors or omissions.<br />

The content of this publication reflects the author’s views. The publisher is<br />

not liable for any use that may be made of the information contained herein.<br />

Dis | kurs 159


impressum<br />

redaktionsanschrift<br />

<strong>Dis|kurs</strong><br />

Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen<br />

Universität Duisburg-Essen – Institut für Politikwissenschaft<br />

Lotharstrasse 65, D-47057 DUISBURG<br />

E-Mail: diskurs@meine-verlag.de<br />

Im Internet: www.diskurs.meine-verlag.de<br />

Board of reviewers (alphabetisch)<br />

Johanna Bödege-Wolf, Karl-Heinz Breier, Peter Breiner, Thomas Großbölting,<br />

Martin Kintzinger, Wilhelm Knelangen, Martin Lücke, Lothar Maier,<br />

Renate Martinsen, Stephan Sandkötter, Morton Schoolman, Hans Rainer<br />

Sepp, Daniel Siemens, Mirko Wischke<br />

herausgeber<br />

Matthias Lemke, Daniel Kuchler, Sebastian Nawrat<br />

redaktion<br />

Bastian Walter, Ines Weber<br />

Verlag<br />

Meine Verlag | Werner-Heisenberg-Str. 3, D-39106 MAGDEBURG<br />

E-Mail: post@meine-verlag.de<br />

Im Internet: www.meine-verlag.de | www.diskurs.meine-verlag.de<br />

titelgestaltung, layout, satz<br />

Meine Verlag, Coverfoto: © Klaus Jähne<br />

ISSN: 1865-6846<br />

ISBN: 978-3-941305-24-3<br />

© für diese ausgabe<br />

<strong>Dis|kurs</strong> Politikwissenschaftliche und geschichtsphilosophische Interventionen,<br />

Universität Duisburg-Essen – Institut für Politikwissenschaft<br />

Lotharstrasse 65, D-47057 DUISBURG, Germany<br />

160 Dis | kurs


�<br />

��������������<br />

����������������<br />

������������������������������<br />

�����������������<br />

���������������������������������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������������������������������������������������<br />

�����������������������������������������������������������������������������������������<br />

����������������������<br />

�����������������������������������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������������������������������������������������������<br />

��������������������������������������������<br />

�<br />

����������������������������������������<br />

�<br />

��� �������������������������<br />

� �������������������������������� �<br />

� �����������<br />

�� �������������<br />

� ������������������������������������������������<br />

�� ����������<br />

� �������������������������������������������<br />

�� ������������������<br />

��������������������������������������������������<br />

�� �����������������<br />

� ������������������������������������������������������<br />

�� �������������<br />

� �������������������������������<br />

�� ������������������<br />

������������������������������������������������������<br />

�<br />

�<br />

������������������������<br />

�<br />

������������������������������������������������������������������<br />

�<br />

�����������������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������<br />

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!