Naturwaldreservate in Hessen - Nordwestdeutsche Forstliche ...
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Artenvielfalt<br />
Biodiversität auf engstem Raum: 1.000 Käfer aus dem Naturwaldreservat Stirnberg (Hohe Rhön) <strong>in</strong> 250 verschiedenen Arten
Vorwort<br />
Auf Empfehlung des Ausschusses für Landwirtschaft<br />
und Forsten hat der Hessische Landtag<br />
am 20. September 1988 die E<strong>in</strong>richtung von<br />
<strong>Naturwaldreservate</strong>n <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> beschlossen. Das<br />
von der Landesforstverwaltung erarbeitete Hessische<br />
<strong>Naturwaldreservate</strong>programm hat im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />
nunmehr über 15-jährigen, fruchtbaren Zusammenarbeit<br />
mit dem Frankfurter Forschungs<strong>in</strong>stitut<br />
Senckenberg zu wichtigen Forschungsergebnissen<br />
über den ökologischen Zustand unserer Wälder und<br />
deren Entwicklungsdynamik geführt und Fragen zu<br />
ihrer naturnahen Bewirtschaftung beantwortet.<br />
Auf den untersuchten Flächen wurde e<strong>in</strong>e nicht<br />
vermutete faunistische Artenvielfalt festgestellt mit<br />
zum Teil außergewöhnlichen Funden neuer oder <strong>in</strong><br />
<strong>Hessen</strong> bisher nicht nachgewiesener Arten. Höhlenbrüter<br />
kommen <strong>in</strong> großer Zahl vor; die „Nachmieter“<br />
der Höhlen wie Dohlen, Hohltauben, Käuze und<br />
Fledermäuse haben stark zugenommen. Gleiches gilt<br />
für holzbewohnende Pilze. Manche s<strong>in</strong>d durch ihre<br />
großen Fruchtkörper weith<strong>in</strong> sichtbar, viele andere<br />
leben unsche<strong>in</strong>bar im Verborgenen.<br />
Die Untersuchungsergebnisse der letzten 17 Jahre<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> zwischenzeitlich 15 Veröffentlichungen publiziert<br />
und haben weit über die Grenzen <strong>Hessen</strong>s h<strong>in</strong>aus<br />
große Beachtung gefunden.<br />
Wofür betreiben wir diesen Aufwand? Der Hessische<br />
Staatswald wird seit Beg<strong>in</strong>n des <strong>Naturwaldreservate</strong>programms<br />
flächendeckend naturgemäß bewirtschaftet.<br />
Die naturgemäße oder naturnahe Bewirtschaftung<br />
setzt aber voraus, dass Referenzflächen vorhanden<br />
s<strong>in</strong>d, an denen die natürliche Entwicklung von Wäldern,<br />
also e<strong>in</strong>e Entwicklung ohne menschliche E<strong>in</strong>griffe,<br />
abgelesen werden kann. <strong>Naturwaldreservate</strong> geben<br />
hierfür wichtige H<strong>in</strong>weise. Dies zeigen auch ähnliche<br />
oder gleichgeartete Projekte und Forschungsprogramme<br />
anderer Bundesländer.<br />
Die bisherigen, oft erstaunlichen und auch überraschenden<br />
Forschungsergebnisse und ihre Berücksichtigung<br />
<strong>in</strong> der forstlichen Praxis bedeuten, dass sich<br />
der f<strong>in</strong>anzielle Aufwand für dieses Projekt gelohnt hat,<br />
wir auf dem richtigen Weg s<strong>in</strong>d und dieses Programm<br />
auch bei knapper werdenden Ressourcen fortsetzen<br />
wollen. Dieser Prozess muss im Rahmen e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen<br />
Fortentwicklung aber durchaus auch e<strong>in</strong>e<br />
Diskussion über die Zukunftsperspektiven und die Art<br />
und den Umfang der weiteren Forschung zulassen,<br />
sollen die auf Langzeitstudien angelegten Forschungen<br />
nicht gefährdet werden.<br />
Mit der abgeschlossenen waldkundlichen Erst<strong>in</strong>ventur<br />
aller Reservate und der zoologischen Bearbeitung<br />
von neun Reservaten, darunter alle wichtigen<br />
Buchenwaldgesellschaften <strong>Hessen</strong>s, s<strong>in</strong>d nunmehr<br />
die Grundlagen für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Fortführung der<br />
Naturwaldforschung <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> gelegt. Wir dürfen<br />
gespannt se<strong>in</strong>, welche weiteren Erkenntnisse uns<br />
die „Urwälder von morgen“ <strong>in</strong> Zukunft noch br<strong>in</strong>gen<br />
werden.<br />
Wilhelm Dietzel<br />
Staatsm<strong>in</strong>ister<br />
1
Vorwort<br />
Durchaus überraschend auch für uns Naturwissenschaftler<br />
ist, dass schon kurz- und mittelfristig<br />
spektakuläre Ergebnisse erzielt werden konnten,<br />
die hier der breiten Öffentlichkeit zusammenfassend<br />
vorgestellt werden sollen. Detaillierte Untersuchungen<br />
s<strong>in</strong>d bereits seit e<strong>in</strong>igen Jahren der Fachwelt durch<br />
umfangreiche wissenschaftliche Gebietsmonographien<br />
bekannt.<br />
Das Langzeitprojekt „Hessische <strong>Naturwaldreservate</strong>“ zur<br />
<strong>in</strong>tensiven Erforschung von Waldflächen, die sich ohne<br />
direkte menschliche E<strong>in</strong>griffe „zum Urwald von Morgen“<br />
entwickeln können, läuft nunmehr seit 17 Jahren <strong>in</strong> enger<br />
Kooperation zwischen der Hessischen Landesregierung,<br />
<strong>Hessen</strong>-Forst und dem Forschungs<strong>in</strong>stitut Senckenberg.<br />
Wir möchten auch auf diesem Wege unseren herzlichen<br />
Dank aussprechen für das uns entgegengebrachte<br />
Vertrauen und die langjährige sehr gute Zusammenarbeit.<br />
Besondere Anerkennung verdient die Hessische<br />
Landesregierung dafür, dass sie entgegen dem Zeitgeist,<br />
der auf kurzfristige spektakuläre Erfolge zielt, e<strong>in</strong><br />
Langzeitprojekt fördert.<br />
In Senckenberg hat sie e<strong>in</strong>en Partner gefunden, der<br />
die Kont<strong>in</strong>uität der Forschung gewährleistet. Endgültige<br />
Ergebnisse s<strong>in</strong>d erst nach vielen Jahren zäher,<br />
aufwändiger Untersuchungen zu erwarten.<br />
E<strong>in</strong>e eigens für diese Naturwaldforschung an unserem<br />
Institut <strong>in</strong>s Leben gerufene Projektgruppe wird durch<br />
zahlreiche weitere Wissenschaftler im In- und Ausland<br />
verstärkt. Sie konnte <strong>in</strong> den anfangs vom Naturschutz<br />
als viel zu kle<strong>in</strong> gebrandmarkten <strong>Naturwaldreservate</strong>n<br />
von 8-140 ha e<strong>in</strong>e völlig unerwartete Artenfülle<br />
ausmachen und Kenntnisse über unsere e<strong>in</strong>heimischen<br />
Wälder revolutionieren. <strong>Naturwaldreservate</strong> s<strong>in</strong>d somit<br />
gleichermaßen bedeutsam für die Forschung, den<br />
Naturschutz und die Forstwirtschaft.<br />
Die Wälder <strong>in</strong> den noch zu untersuchenden Reservaten<br />
bergen – wie die bisherigen Ergebnisse erwarten lassen<br />
– sicher noch manche zoologische Überraschung.<br />
Die Hoffnung ist daher wohl nicht überzogen, dass<br />
die langfristige Erforschung ihrer Fauna wesentliche<br />
Beiträge zum Verständnis der Diversität <strong>in</strong> unseren<br />
Wälder liefern wird.<br />
Prof. Dr. F. F. Ste<strong>in</strong><strong>in</strong>ger<br />
ehemaliger Direktor des<br />
Forschungs<strong>in</strong>stituts und Naturmuseums Senckenberg<br />
2
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>Naturwaldreservate</strong> <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong><br />
• Die Urwald-Idee 4<br />
• Das Urwaldmodell 5<br />
• Hessische Waldgesellschaften 6<br />
Waldgeschichte<br />
• Nutzung und Übernutzung der Wälder 12<br />
• Der Blick weitet sich 13<br />
Walddynamik<br />
• Wie man der Natur ihre Geheimnisse entlockt 14<br />
• Totholz – Ökologisches Gold im Naturwald 15<br />
Zoologische Forschung<br />
• Forschungsrahmen 16<br />
• Überraschende Artenvielfalt 18<br />
• Die Artengeme<strong>in</strong>schaft – e<strong>in</strong> komplexes dynamisches System 18<br />
• Nur über die Tierwelt lassen sich wichtige Gebietscharakteristika ermitteln 19<br />
• Totholztradition 19<br />
• Vernetzte Lebensräume 20<br />
• Spektakuläre Funde im e<strong>in</strong>heimischen Buchenwald 20<br />
• Chancen für die Forschung 21<br />
W<strong>in</strong>dwurfforschung<br />
• Vivian und Wiebke – Orkane mit verheerenden Folgen 22<br />
• Ke<strong>in</strong> Baum wie der andere – Insektenbesiedlung auf e<strong>in</strong>er großen W<strong>in</strong>dwurffläche 23<br />
• Der „Kle<strong>in</strong>e Holzbohrer“ räumt im W<strong>in</strong>dwurf auf 23<br />
• Männermangel bei Frauenüberschuss 23<br />
• Diversität im Totholz von Buchenstämmen 24<br />
• Sukzession – In der Entwicklung der Insektenbesiedlung ist ke<strong>in</strong> Baum wie der andere 24<br />
• Auch für den Naturschutz ist e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>dwurf <strong>in</strong>teressant 24<br />
• Pilze als Recycl<strong>in</strong>gspezialisten 25<br />
Ausblick<br />
26<br />
3
<strong>Naturwaldreservate</strong> <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong><br />
Seit 1988 gibt es <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> <strong>Naturwaldreservate</strong><br />
(NWR). Es s<strong>in</strong>d Wälder, <strong>in</strong> denen früher Holz e<strong>in</strong>geschlagen<br />
wurde, die aber nach der Ausweisung zu<br />
<strong>Naturwaldreservate</strong>n vollständig der Natur überlassen<br />
bleiben. <strong>Naturwaldreservate</strong> s<strong>in</strong>d kle<strong>in</strong>e Sonderflächen<br />
mit besonders seltenen oder gefährdeten Pflanzen<br />
und Tieren. In ihnen sollen die für <strong>Hessen</strong> typischen<br />
Waldgesellschaften repräsentiert werden. Heute<br />
bestehen 31 <strong>Naturwaldreservate</strong>, die über alle<br />
hessischen Wuchsgebiete verteilt s<strong>in</strong>d und damit<br />
beispielhaft für alle Höhenstufen, Böden, Geste<strong>in</strong>e<br />
und regionalen Klimagebiete des Landes s<strong>in</strong>d. In den<br />
NWR f<strong>in</strong>det ke<strong>in</strong>e Holznutzung mehr statt. Aber auch<br />
alle anderen Nutzungen, wie z. B. das Beernten von<br />
Saatgut oder das Pilzesammeln s<strong>in</strong>d ausgeschlossen.<br />
Nur die Jagd muss vorerst beibehalten werden, damit<br />
sich <strong>in</strong> den NWR ke<strong>in</strong>e überhöhten Wildbestände<br />
ausbilden.<br />
Ziel des NWR-Programmes ist es, die natürlichen<br />
Abläufe ungestört zuzulassen und die vollständige<br />
Entwicklung von Wäldern bis h<strong>in</strong> zur Zerfallsphase mit<br />
dem Alterstod der Bäume zu beobachten. Der ehemals<br />
durch menschliche Bewirtschaftung geprägte Wald<br />
wird sich so langsam <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es Naturwaldes<br />
entwickeln. Es entstehen die „Urwälder von morgen“.<br />
Funktionen der <strong>Naturwaldreservate</strong> und<br />
Ziele der NWR-Forschung<br />
• Erforschung sich selbst entwickelnder<br />
Waldökosysteme<br />
• Erhaltung und Wiederherstellung natürlicher<br />
Waldgesellschaften<br />
• Forschungsgebiete zur Verbesserung naturnaher<br />
Waldbauverfahren<br />
• Maßstab für Naturnähe<br />
(z. B. für die Regulierung von E<strong>in</strong>griffen)<br />
• Anschauungsobjekte für Umweltbildung und<br />
Naturerlebnis<br />
Die Urwald-Idee<br />
Heute gibt es <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e Urwälder mehr. Das<br />
Anwachsen der Bevölkerung führte bereits im Mittelalter<br />
zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Landnutzung. Nach und nach wurden<br />
selbst die siedlungsfernen Bereiche zu Kulturzwecken<br />
wie Waldweide oder Brennholzproduktion genutzt.<br />
Aber schon im 19. Jahrhundert hat man sich Gedanken<br />
zur Schaffung von Naturreservaten gemacht.<br />
Erste Schutzgebiete wurden im Böhmerwald<br />
(Kubany-Urwald, Zof<strong>in</strong>ski-Urwald) und Frankreich<br />
(Fonta<strong>in</strong>ebleau) errichtet. In Deutschland begann die<br />
Urwaldbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts mit<br />
den Forderungen des süddeutschen Vegetationsgeografen<br />
Robert Gradmann nach der E<strong>in</strong>richtung<br />
von Naturdenkmälern. Daraufh<strong>in</strong> entstanden auch<br />
die ersten <strong>Naturwaldreservate</strong> <strong>in</strong> heutigem S<strong>in</strong>ne. Es<br />
waren im Schwarzwald der „Wilde See / Hornisgr<strong>in</strong>de“<br />
und im Bayerischen Wald das „Höllbachgspreng“.<br />
Beide Gebiete bestehen bis heute. Erst später (1934)<br />
griff Herbert Hesmer am Waldbau<strong>in</strong>stitut <strong>in</strong> Eberswalde<br />
diese Idee wieder auf und konnte zusammen mit Kurt<br />
Hueck von der Reichsstelle für Naturschutz gezielt<br />
Naturwaldzellen <strong>in</strong> Deutschland ausweisen. Nach<br />
dem Krieg wurden <strong>in</strong> der DDR <strong>in</strong> den 50er und 60er<br />
Jahren systematisch Naturwaldzellen e<strong>in</strong>gerichtet.<br />
Erstmals spielte auch die Wissenschaft e<strong>in</strong>e wichtige<br />
Rolle, denn die Gebiete sollten „Freilandlaboratorien“<br />
se<strong>in</strong> und der angewandten Waldforschung dienen.<br />
Das europäische Naturschutzjahr 1970 setzte <strong>in</strong> der<br />
Bundesrepublik neue Impulse für die Naturwald-Idee. In<br />
fast allen Bundesländern entstanden <strong>in</strong> den Folgejahren<br />
systematisch ausgewiesene <strong>Naturwaldreservate</strong>.<br />
<strong>Hessen</strong> schloss sich relativ spät (1988) mit e<strong>in</strong>em<br />
eigenen Naturwaldprogramm an, führte aber mit dem<br />
Vergleichsflächenpr<strong>in</strong>zip (Totalreservat + Vergleichsfläche)<br />
und der konsequenten zoologischen Inventur<br />
neue Forschungsansätze e<strong>in</strong>, die <strong>in</strong>zwischen nationaler<br />
Standard s<strong>in</strong>d. Heute gibt es <strong>in</strong> Deutschland etwa 824<br />
<strong>Naturwaldreservate</strong> mit e<strong>in</strong>er Gesamtfläche von rund<br />
30.600 Hektar.<br />
4
Das Urwaldmodell<br />
Im Rahmen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>ternationalen Arbeitsgruppe haben<br />
<strong>in</strong> den 1980er Jahren Waldbauprofessoren wie Hans<br />
Leibundgut (Schweiz), Hans Mayer (Österreich) und<br />
Stefan Korpel (Slowakei) das Thema „Urwaldforschung<br />
<strong>in</strong> Mitteleuropa“ erneut aufgegriffen. In abgelegenen<br />
Regionen Sloweniens, <strong>in</strong> den Karpaten, <strong>in</strong> Bosnien und<br />
anderen südosteuropäischen Waldgebieten, <strong>in</strong> denen<br />
die letzten Urwaldreste Europas zu f<strong>in</strong>den<br />
waren, führten sie ihre Studien durch. Angesichts<br />
der Komplexität dieser Wälder entwickelten sich<br />
jedoch verschiedene Vorstellungen vom Aufbau e<strong>in</strong>es<br />
Urwaldes. Die wesentlichen Punkte lassen sich <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em vere<strong>in</strong>fachten Modell zusammenfassen.<br />
Jungwuchsphase<br />
Zerfalls- und Verjüngungsphase<br />
2100<br />
1800 1870<br />
Altersbed<strong>in</strong>gte<br />
Abgänge bed<strong>in</strong>gen<br />
starke Strukturierungen<br />
und ermöglichen<br />
Verjüngung<br />
2020<br />
Strukturreicher<br />
Aufwuchs, Stangenholz/<br />
Baumholz<br />
Stagnation des<br />
Wachstums, Starkholz<br />
mit e<strong>in</strong>zelnen<br />
Abgängen<br />
Max. Wachstum,<br />
Tendenz zur<br />
E<strong>in</strong>schichtigkeit<br />
1950<br />
Optimalphase<br />
Altersphase<br />
Abb. 1: Urwaldmodell: Buchen werden von Natur aus durchschnittlich 300 Jahre alt. Daher dauert der Zyklus e<strong>in</strong>es Buchenwaldes<br />
etwa genauso lange. Das bedeutet, nach 300 Jahren wird die vorige Buchen-Generation von e<strong>in</strong>er neuen abgelöst. E<strong>in</strong>en Buchenzyklus<br />
kann man <strong>in</strong> vier Entwicklungsphasen e<strong>in</strong>teilen, die alle etwa 70-80 Jahre dauern. In der Grafik ist die zeitliche Abfolge<br />
der vier Phasen (Jungwuchs-, Optimal-, Alters-, sowie Zerfalls- und Verjüngungsphase) dargestellt. Beg<strong>in</strong>n und Ende jeder Phase<br />
ist mit e<strong>in</strong>er Jahreszahl für e<strong>in</strong>en Beispielswald gekennzeichnet.<br />
5
Hessische Waldgesellschaften<br />
Die natürliche Waldzusammensetzung e<strong>in</strong>er Region<br />
hängt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von den klimatischen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
und dem geologischen Unterbau ab.<br />
Unter den <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> bestehenden Voraussetzungen<br />
mit e<strong>in</strong>er ausreichenden Niederschlagsmenge,<br />
Jahresmitteltemperaturen zwischen 6° und 9° C und<br />
dem Fehlen von Klimaextremen können Waldgesellschaften<br />
gedeihen, die von der Rotbuche (Fagus<br />
sylvatica) dom<strong>in</strong>iert werden. Je nach Nährstoffgehalt<br />
des Bodens entwickeln sich „reiche“ oder<br />
„arme“ Buchen-Mischwälder. Auf Buntsandste<strong>in</strong>- und<br />
Schieferböden wächst überwiegend der eher „arme“<br />
Ha<strong>in</strong>simsen-Buchenwald, während der Waldmeister-<br />
Buchenwald auf Basalt, Kalk und Diabas von Natur<br />
aus gedeiht. Wie dom<strong>in</strong>ant die Rotbuchenwälder <strong>in</strong><br />
<strong>Hessen</strong> von Natur aus wären, zeigt das Schaubild der<br />
„potentiellen natürlichen Vegetation“.<br />
Real bestimmen aber häufig Nadelbäume wie Fichte,<br />
Kiefer und Lärche das Waldbild. Die natürliche Vegetation<br />
wurde durch den E<strong>in</strong>griff des Menschen maßgeblich<br />
bee<strong>in</strong>flusst. Weite Bereiche wurden <strong>in</strong> Siedlungs- und<br />
landwirtschaftliche Nutz-fläche umgewandelt, so dass<br />
<strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> nur noch 42 % der Landesfläche mit Wald<br />
bewachsen ist. Der Bundesdurchschnitt liegt mit 30 %<br />
Waldfläche noch darunter.<br />
Mit mehr als 50 % Buchen- und Eichenwäldern hat<br />
<strong>Hessen</strong> heute trotz allem den höchsten Laubwaldanteil<br />
aller Bundesländer, wobei der Nationalpark<br />
Kellerwald-Edersee e<strong>in</strong> Laubwaldschutzgebiet von nationaler,<br />
ja <strong>in</strong>ternationaler Bedeutung ist..jhkjhjkhjk.<br />
h j k h k j h . j k<br />
Abb. 2: Waldgesellschaften <strong>Hessen</strong>s (potentielle natürliche Vegetation)<br />
6
Ha<strong>in</strong>simsen-Buchenwald<br />
(Luzulo-Fagetum)<br />
• In <strong>Hessen</strong> vorherrschende Waldgesellschaft<br />
(potentiell* 55 % der Landesfläche)<br />
• Vorkommen auf geologischen Geste<strong>in</strong>en,<br />
die zu nährstoffarmen Böden verwittern,<br />
<strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> verbreitet auf Buntsandste<strong>in</strong>,<br />
Schiefer und Grauwacke<br />
• Regionale Verbreitung: Spessart, Odenwald,<br />
Taunus, Burgwald, Rothaargebirge, Nordost-<br />
Hessisches Bergland, Re<strong>in</strong>hardswald<br />
• Baumarten: oft re<strong>in</strong>e Buchenwälder, als<br />
Mischbaumarten vor allem Traubeneiche,<br />
seltener Stieleiche, Sandbirke, Salweide<br />
und Zitterpappel<br />
• Bodenvegetation: Weiße Ha<strong>in</strong>simse, Pillen-<br />
Segge, Draht-Schmiele, Rotes Straußgras,<br />
Weiches Honiggras, Habichtskraut-Arten,<br />
Roter F<strong>in</strong>gerhut<br />
• Typische <strong>Naturwaldreservate</strong>: NWR 1 Niestehänge,<br />
NWR 2 Goldbachs- und Ziebachsrück,<br />
NWR 3 Schönbuche, NWR 9 Hasenblick,<br />
NWR 22 Locheiche, NWR 27 Weserhänge<br />
* Die Prozentangabe für die Waldgesellschaft bezieht sich auf den Zustand<br />
der Landesfläche, den sich Wissenschaftler ohne menschliche E<strong>in</strong>griffe<br />
vorstellen. Der Fachbegriff dafür ist „potentielle natürliche Vegetation“ (pnV).<br />
Abb. 3: NWR Schönbuche: Ha<strong>in</strong>simsen-Buchenwald mit der<br />
charakteristischen Weißen Ha<strong>in</strong>simse<br />
Abb. 4: Weiße Ha<strong>in</strong>simse<br />
Abb. 5: Roter F<strong>in</strong>gerhut<br />
Abb. 6: Schwefelporl<strong>in</strong>g<br />
7
Waldmeister-Buchenwald<br />
(Galio-Fagetum)<br />
• Mit potentiell ca. 25 % Anteil an der Fläche<br />
<strong>Hessen</strong>s zweithäufigste Waldgesellschaft<br />
• Vor allem auf nährstoffreichen Böden aus<br />
vulkanischen Geste<strong>in</strong>en wie Basalt und<br />
Diabas<br />
• Regionale Verbreitung: Vogelsberg,<br />
Westerwald, Rhön, Knüll, Meißner<br />
• Baumarten: Buche mit Berg- und Spitzahorn,<br />
Esche, Bergulme und Traubeneiche<br />
• Bodenvegetation: Waldmeister, E<strong>in</strong>blütiges<br />
Perlgras, Goldnessel, Wald-Veilchen, Wald-<br />
Zwenke, Wald-Segge, Zwiebel-Zahnwurz<br />
• Typische <strong>Naturwaldreservate</strong>: NWR 4<br />
Wattenberg-Hundsberg, NWR 5 Meißner,<br />
NWR 6 Niddahänge, NWR 12 Weiherskopf,<br />
NWR 13 Kreuzberg<br />
Abb. 7: NWR Oppershofen: Waldmeister-Buchenwald<br />
Abb. 8: Waldmeister<br />
Abb. 9: Zwiebel-Zahnwurz<br />
Abb. 10: E<strong>in</strong>beere<br />
8
Waldgersten-Buchenwald<br />
(Hordelymo-Fagetum)<br />
• Mit e<strong>in</strong>em Anteil von potentiell ca. 6-8 % der<br />
Landesfläche <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> relativ selten, da<br />
Muschelkalk und andere Kalkformationen <strong>in</strong><br />
<strong>Hessen</strong> nur an wenigen Stellen vorkommen<br />
• Neben den Kalkböden kommt der<br />
Waldgersten-Buchenwald auch auf Basalt<br />
und Diabas vor, wenn die Geste<strong>in</strong>e nicht<br />
durch Lössschichten überdeckt s<strong>in</strong>d<br />
• Regionale Verbreitung: Muschelkalkgebiete<br />
<strong>in</strong> Nord- und Osthessen, Rhön, Vogelsberg,<br />
Gebiet um Schlüchtern, Zechste<strong>in</strong>region <strong>in</strong><br />
Nordost- und Nordwesthessen<br />
• Baumarten: Buche mit Spitz-, Berg- und<br />
Feldahorn, Bergulme, Elsbeere, Ha<strong>in</strong>buche,<br />
Traubeneiche<br />
• Bodenvegetation: Waldgerste, Wald-<br />
B<strong>in</strong>gelkraut, Gelbes W<strong>in</strong>dröschen,<br />
Nesselblättrige Glockenblume, Aronstab,<br />
Dunkles Lungenkraut, Haselwurz,<br />
Türkenbundlilie, Leberblümchen<br />
• Typische <strong>Naturwaldreservate</strong>: NWR 7 Ru<strong>in</strong>e<br />
Reichenbach, NWR 8 Hoheste<strong>in</strong>, NWR 28<br />
Stirnberg<br />
Abb. 11: NWR Stirnberg/Rhön: Waldgersten-Buchenwald<br />
Abb. 12: Leberblümchen Abb. 13: Türkenbundlilie Abb. 14: Gelbes W<strong>in</strong>dröschen<br />
9
Stieleichen-Ha<strong>in</strong>buchenwald<br />
(Stellario-Carp<strong>in</strong>etum)<br />
• In <strong>Hessen</strong> relativ seltene Waldgesellschaft<br />
auf tiefgründigen Böden von Bach- und<br />
Flussauen<br />
• Baumarten: Stieleiche, Ha<strong>in</strong>buche, Esche,<br />
Feld- und Flatterulme, Erle, Buche<br />
• Bodenvegetation: Waldziest, Großblütiges<br />
Spr<strong>in</strong>gkraut, Hexenkraut, Hohe Schlüsselblume,<br />
Riesen-Schw<strong>in</strong>gel, Scharbockskraut,<br />
Aronstab, Seegras, Gundermann, Wiesenschaumkraut,<br />
Mädesüß, Große Brennnessel<br />
• Typisches Naturwaldreservat:<br />
NWR 25 K<strong>in</strong>zigaue<br />
Abb. 15: NWR K<strong>in</strong>zigaue: Stieleichen-Ha<strong>in</strong>buchenwald -<br />
Aronstab und Hohe Schlüsselblume s<strong>in</strong>d nur zwei Arten des<br />
üppigen Frühjahrsflors.<br />
Abb. 16: Aronstab<br />
Abb. 17: Hohe Schlüsselblume<br />
10
Erlen-Ulmen-Hartholzauenwälder<br />
(Querco-Ulmetum)<br />
• Durch Kultivierung der Flussauen<br />
<strong>in</strong> Deutschland selten gewordene<br />
Waldgesellschaft an größeren Flüssen<br />
• In temporär überschwemmten Flussauen auf<br />
Hochflutlehm<br />
• Baumarten: Stieleiche, Feld- und Flatter-ulme,<br />
Esche, Feldahorn, W<strong>in</strong>terl<strong>in</strong>de, Gewöhnliche<br />
Traubenkirsche, Weißdorn<br />
• Bodenvegetation: Große Brennnessel,<br />
Gundermann, Hopfen, Kratzbeere, Bittersüßer<br />
Nachtschatten, Klettenlabkraut, Hexenkraut,<br />
Waldziest, Blaustern, Rohrglanzgras, Giersch,<br />
Gelbe Schwertlilie<br />
Abb. 18: NWR Karlswörth: Hartholzauenwald am Rhe<strong>in</strong> mit<br />
Blaustern und Bärlauch<br />
• Typisches Naturwaldreservat und größter<br />
noch +/- <strong>in</strong>takter Hartholzauen-Wald<br />
<strong>Hessen</strong>s: NWR 20 Karlswörth (NSG Kühkopf-<br />
Knoblochsaue)<br />
Abb. 19: Blaustern<br />
Abb. 20: Bärlauch<br />
11
Waldgeschichte<br />
Unsere Wälder <strong>in</strong> Mitteleuropa s<strong>in</strong>d im Vergleich zu<br />
tropischen Regenwäldern relativ jung. Nach der Eiszeit<br />
mussten die Bäume erst wieder e<strong>in</strong>wandern, damit<br />
aus Tundren und Steppen wieder Waldlandschaften<br />
werden konnten. Sie kamen vor allem aus Südostund<br />
Südwesteuropa, da die Alpen für viele Pflanzen<br />
e<strong>in</strong>e unüberw<strong>in</strong>dbare Barriere bildeten. Mit Hilfe von<br />
Bohrproben aus Mooren kann man den zeitlichen<br />
Verlauf der Wiederbesiedlung bestimmen und auch<br />
die Wanderwege der verschiedenen Baumarten<br />
rekonstruieren. Der widerstandsfähige Pollen dar<strong>in</strong> ist<br />
sozusagen der F<strong>in</strong>gerabdruck der jeweiligen Baumart<br />
im Geschichtsarchiv Moor. Nach der Eiszeit vor etwa<br />
12.000 Jahren besiedelten zuerst die Pionierbaumarten<br />
Birke und Kiefer das noch waldfreie Deutschland. Hasel,<br />
Eichen, Ulmen, Eschen und L<strong>in</strong>den bildeten <strong>in</strong> der<br />
folgenden recht warmen Periode die Wälder nördlich<br />
der Alpen. Erst mit e<strong>in</strong>er Klimaverschlechterung begann<br />
die Buche ihren langsamen Siegeszug.<br />
Es dauerte aber e<strong>in</strong>ige Jahrtausende, bis sie die<br />
häufigste Baumart wurde. Erste Pollenfunde von Buchen<br />
f<strong>in</strong>den sich im Vogelsberg vor etwa 6.700 Jahren, <strong>in</strong><br />
Rhön und Kellerwald vor über 5.000 Jahren. Die Buche<br />
ist bei uns vor allem e<strong>in</strong> Baum des Hügellandes und<br />
der Mittelgebirge. In diese Höhenlagen dürfte auch die<br />
Rückwanderung zuerst stattgefunden haben.<br />
Der größte Teil Deutschlands wurde von Südosteuropa<br />
wiederbesiedelt und zwar auf der Route: Östliche<br />
Alpen ► Böhmische Mittelgebirge ► Bayerischer Wald<br />
► Oberpfälzer Wald ► Fichtelgebirge ► Frankenwald<br />
► Thür<strong>in</strong>ger Wald.<br />
Bei der Analyse von Moorproben fand man mit dem<br />
Auftauchen von Buchenpollen gleichzeitig Kräuter-,<br />
Getreide- und Gräserpollen, die als Zeiger menschlichen<br />
Wirkens gelten. Dass die nacheiszeitliche Landschaft<br />
aber dennoch vor allem von Wäldern geprägt und<br />
ke<strong>in</strong>e offene Parklandschaft war, zeigen neueste<br />
Forschungen. Große Pflanzenfresser wie Auerochse<br />
und Wisent spielten dabei offenbar ke<strong>in</strong>e wesentliche<br />
landschaftsgestaltende Rolle.<br />
Nutzung und Übernutzung der Wälder<br />
Für die Wissenschaft stellt sich die Frage nach dem<br />
menschlichen E<strong>in</strong>fluss auf die Waldvegetation der<br />
vergangenen Jahrtausende. Die Wetterau wurde<br />
bereits vor 3.000 Jahren von den Kelten landwirtschaftlich<br />
genutzt. Parallel zu e<strong>in</strong>er deutlichen Zunahme von<br />
Getreide, Gräsern und Kräutern lässt sich für die Zeit<br />
ab 720 v. Chr. e<strong>in</strong> Rückgang von Buchen und Eichen<br />
nachweisen.<br />
Abb. 21-24: Vor ca. 12.000-8.600 Jahren: Birken- und Kiefernwälder. Vor 8.600-2.600 Jahren: Haselreiche Eichenmischwälder<br />
mit Ulme (Foto rechts), Esche und L<strong>in</strong>de.<br />
12
Mit dem Anwachsen der Bevölkerung und der<br />
Ausbreitung des Ackerbaus wird der E<strong>in</strong>fluss des<br />
Menschen auf den Wald immer deutlicher. Im<br />
frühen Mittelalter dürfte es nur noch <strong>in</strong> abgelegenen<br />
Mittelgebirgen unberührte Urwälder gegeben haben.<br />
Seither hat sich das heute bekannte landschaftliche<br />
Mosaik von Siedlungs-, Feld- und Waldflächen gebildet.<br />
Wiesen und Weiden für das Vieh gab es im Mittelalter<br />
noch kaum, die Tiere wurden <strong>in</strong> den Wald getrieben.<br />
Waldweide, Schwe<strong>in</strong>emast im Wald, Nutzung der<br />
Waldstreu, Bau- und Brennholze<strong>in</strong>schlag, Köhlerei,<br />
später Aschenbrennerei für die Glasherstellung: Der<br />
Wald diente als Futtergrundlage für das Vieh und war<br />
wichtigste Rohstoffquelle für die Menschen. Um das<br />
wertvolle Salz zu gew<strong>in</strong>nen wurden ganze Wälder <strong>in</strong><br />
den Salzsiedereien verfeuert.<br />
In wenigen Jahrhunderten waren die Wälder <strong>in</strong> weiten<br />
Teilen Deutschlands völlig übernutzt. Bereits 1532<br />
erließ Philip der Großmütige e<strong>in</strong>e Forstordnung, die<br />
zur Blütezeit des hessischen Fachwerkbaus den<br />
sorgsamen Umgang mit Bauholz regeln sollte. Doch<br />
es dauerte noch mehr als 250 Jahre, bis die Holznot<br />
so groß war, dass e<strong>in</strong>e geregelte Forstwirtschaft<br />
begründet wurde.<br />
Der Blick weitet sich<br />
Ideen des Naturschutzes haben <strong>in</strong> den 70er und<br />
80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zunehmend<br />
E<strong>in</strong>fluss auf die Waldbewirtschaftung gewonnen.<br />
Naturnahe Waldbaumethoden mit höheren Anteilen<br />
der Laubbäume setzten sich durch. Besonders stark<br />
zum Waldumbau haben die Stürme Vivian und Wiebke<br />
im Jahr 1990 beigetragen.<br />
Die nachfolgenden Kulturen waren vor allem durch<br />
hohe Buchen- und Eichenanteile geprägt. Zur gleichen<br />
Zeit öffnete sich auch der Blick h<strong>in</strong>ter den „Eisernen<br />
Vorhang“. Für Förster und <strong>in</strong>teressierte Laien aus<br />
<strong>Hessen</strong> war es jetzt möglich, die letzten Urwald-Reste<br />
im östlichen Europa <strong>in</strong> Augensche<strong>in</strong> zu nehmen. E<strong>in</strong>e<br />
Reise zu diesen ursprünglichen Wäldern ist gleichzeitig<br />
e<strong>in</strong>e Reise zu den Ursprüngen unserer Wälder. Denn<br />
ähnlich würden Urwälder <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> aussehen, wenn<br />
es sie heute noch gäbe. „Wer die Möglichkeit des<br />
europäischen Waldes diskutiert und die Balkanwälder<br />
nicht gesehen hat, dem fehlt Entscheidendes“, hatte<br />
Horst Stern schon <strong>in</strong> den siebziger Jahren, bee<strong>in</strong>druckt<br />
von den slowenischen Wäldern, berichtet.<br />
Mit Kiefern, aber vor allem mit Fichten wurden viele<br />
ehemalige Waldflächen seit Ende des 18. Jh. wieder<br />
aufgeforstet. Es entstanden die vom Nadelholz geprägten<br />
Altersklassenwälder, die sich jedoch als anfällig<br />
für Sturmschäden erwiesen und Massenvermehrungen<br />
bestimmter Schädl<strong>in</strong>ge begünstigten.<br />
Abb. 25-28: Vor 7.000 Jahren erfolgt die E<strong>in</strong>wanderung der ersten Buchen. Vor ca.3.000 Jahren dom<strong>in</strong>ieren die ersten<br />
Buchenwälder. Vor 2.700 werden die E<strong>in</strong>flüsse des Menschen durch Rodung und Ackerbau deutlich. Vor 800 Jahren f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>tensive Nutzung der Wälder statt. Köhlereien und die Verwendung von Bauholz s<strong>in</strong>d zwei Beispiele für die große Bedeutung<br />
des Holzes <strong>in</strong> früheren Jahrhunderten.<br />
13
Walddynamik<br />
Walddynamik <strong>in</strong> <strong>Naturwaldreservate</strong>n<br />
Ehemalige Wirtschaftswälder, <strong>in</strong> denen der Mensch<br />
künftig auf E<strong>in</strong>griffe verzichtet, haben die Chance,<br />
sich allmählich zu den „Urwäldern von morgen“ zu<br />
entwickeln. Da die Buche unter unseren gemäßigten<br />
Klimabed<strong>in</strong>gungen die von Natur aus vorherrschende<br />
Baumart ist, würden <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> auf dem überwiegenden<br />
Teil der Landesfläche Buchenmischwälder entstehen.<br />
Wie man der Natur ihre Geheimnisse<br />
entlockt<br />
Da Entwicklungen <strong>in</strong> Wäldern sehr langsam voranschreiten,<br />
s<strong>in</strong>d für die Beobachtung der Walddynamik<br />
Methoden notwendig, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr langfristig<br />
angelegten Konzept <strong>in</strong> bestimmten zeitlichen Abständen<br />
den Entwicklungszustand der Reservate<br />
dokumentieren.<br />
Abb. 29: Rundumfoto gesehen vom Probekreis-Mittelpunkt<br />
Nur <strong>in</strong> wärmeren und trockeneren Gebieten ist die<br />
Eiche der Buche überlegen. Alle anderen Baumarten<br />
kämen nur als Beimischung vor, wobei die Fichte <strong>in</strong> der<br />
Nacheiszeit, d. h. vor dem Beg<strong>in</strong>n der menschlichen<br />
E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> den Wald, überhaupt noch nicht Fuß<br />
gefasst hatte.<br />
Waldökosysteme s<strong>in</strong>d komplexe Gebilde. Nachdem<br />
jegliche Form der Nutzung e<strong>in</strong>gestellt ist, wird die Natur<br />
den Fortgang der Waldentwicklung selbst bestimmen<br />
und auf eigene Weise für Veränderungen sorgen. Vieles<br />
sche<strong>in</strong>t zufällig zu entstehen, doch auch die natürliche<br />
Waldentwicklung folgt bestimmten Gesetzmäßigkeiten,<br />
über die wir allerd<strong>in</strong>gs noch zu wenig wissen. E<strong>in</strong><br />
wesentliches Ziel der <strong>Naturwaldreservate</strong>-Forschung<br />
ist es daher, diese Gesetzmäßigkeiten herauszuf<strong>in</strong>den<br />
und für die naturnahe Waldbewirtschaftung nutzbar zu<br />
machen.<br />
E<strong>in</strong> Grundpr<strong>in</strong>zip des <strong>Naturwaldreservate</strong>-Programmes<br />
<strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> ist der Vergleich von unbewirtschafteten<br />
(Totalreservaten) mit bewirtschafteten Wäldern (Vergleichsflächen).<br />
Beide Flächen zusammen bilden<br />
das Naturwaldreservat. Da man <strong>in</strong> beiden Teilflächen<br />
exakt die gleichen Untersuchungen durchführt, können<br />
natürliche und gesteuerte Prozesse mite<strong>in</strong>ander verglichen<br />
werden. Der E<strong>in</strong>fluss der Forstwirtschaft auf den<br />
Wald wird so sichtbar und umgekehrt kann die Natur als<br />
Vorbild für e<strong>in</strong>e naturnahe Forstwirtschaft dienen. Da<br />
aus Zeit- und Kostengründen ke<strong>in</strong>e flächendeckenden<br />
Untersuchungen <strong>in</strong> den Gebieten möglich s<strong>in</strong>d, wird<br />
e<strong>in</strong>e periodisch wiederkehrende Stichproben<strong>in</strong>ventur<br />
mit dauerhaft vermarkten Probekreisen durchgeführt.<br />
E<strong>in</strong> Gitternetz mit e<strong>in</strong>er Maschenweite von 100 x 100 m<br />
wird über die Flächen gelegt. Die Schnittpunkte bilden<br />
jeweils den Mittelpunkt e<strong>in</strong>es Probekreises mit e<strong>in</strong>em<br />
20-Meter Radius. Innerhalb des Kreises werden alle<br />
Bäume e<strong>in</strong>gemessen und e<strong>in</strong>e Reihe wald-, bodenund<br />
vegetationskundlicher Mess- und Kenndaten erhoben.<br />
14
Die Ergebnisse der waldkundlichen Untersuchung<br />
geben e<strong>in</strong>e Übersicht über die Waldstruktur. Etliche<br />
Fragen wie etwa, aus welchen vertikalen Baum- und<br />
Strauchschichten besteht der Wald, welche Bäume<br />
kommen vor und wie ist das Verhältnis von dünnen<br />
zu dicken Bäumen, lassen sich so beantworten. Die<br />
boden- und vegetationskundlichen Erhebungen geben<br />
Aufschluss über den sogenannten Standort, der die<br />
Bed<strong>in</strong>gungen für das Waldwachstum bestimmt.<br />
Die bekanntesten Totholzbesiedler s<strong>in</strong>d die Spechte,<br />
allen voran der Schwarzspecht. Dessen Höhlen<br />
dienen, nachdem se<strong>in</strong>e Jungen sie verlassen<br />
haben, anschließend vielen Arten wie Hohltauben,<br />
Dohlen, Käuzen und Fledermäusen. Doch auch<br />
kle<strong>in</strong>e, unsche<strong>in</strong>barere Arten s<strong>in</strong>d zw<strong>in</strong>gend auf<br />
das Vorhandense<strong>in</strong> von Totholz angewiesen. So<br />
leben z. B. rund e<strong>in</strong> Viertel der 6.500 <strong>in</strong> Deutschland<br />
vorkommenden Käferarten an absterbenden oder toten<br />
Bäumen.<br />
Wichtige Faktoren s<strong>in</strong>d dabei die Jahresdurchschnittstemperatur,<br />
die jährliche Niederschlagsmenge<br />
sowie die Bodenbeschaffenheit h<strong>in</strong>sichtlich des pH-<br />
Werts und des Wasserspeichervermögens. Doch auch<br />
bestimmte Pflanzen (sogenannte Zeigerpflanzen)<br />
lassen Rückschlüsse auf die jeweiligen Standortbed<strong>in</strong>gungen<br />
zu. Zur fotografischen Dokumentation<br />
werden <strong>in</strong> 10-Jahres-Intervallen an den Mittelpunkten der<br />
jeweiligen Probekreise Rundumfotos gemacht. Durch<br />
die Auswertung der entstehenden Zeitreihen lassen<br />
sich Veränderungen <strong>in</strong> den Wäldern nachvollziehen<br />
und natürliche Prozesse und Gesetzmäßigkeiten<br />
erkennen.<br />
Totholz –<br />
Ökologisches Gold im Naturwald<br />
Totholz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er vielgestaltigen Ausbildung ist e<strong>in</strong><br />
spezifisches Charakteristikum von Naturwäldern und<br />
bietet e<strong>in</strong>er großen Zahl von Vögeln, Insekten und<br />
anderen Lebewesen e<strong>in</strong>en speziellen Lebensraum.<br />
Aus diesem Grund wird bei den Stichproben<strong>in</strong>venturen<br />
nicht nur die Entwicklung der lebenden Bäume<br />
beobachtet. E<strong>in</strong> Eldorado für holzbesiedelnde<br />
Pilze war die W<strong>in</strong>dwurffläche im Naturwaldreservat<br />
Weiherskopf. Mehr als 150 verschiedene Pilzarten<br />
s<strong>in</strong>d dort <strong>in</strong>nerhalb weniger Jahre aufgetreten. Die<br />
große Vielfalt von Totholztypen macht es erforderlich,<br />
e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Daten an den abgestorbenen<br />
Bäumen und Baumteilen, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Probekreis<br />
bef<strong>in</strong>den, zu erfassen.<br />
Aufnahmegrößen für Totholz <strong>in</strong><br />
<strong>Naturwaldreservate</strong>n:<br />
• Länge, Durchmesser, Volumen<br />
• Zersetzungsgrad, R<strong>in</strong>denzustand, Lagerung,<br />
Besonnung<br />
• Besatz mit Moosen, Flechten, Pilzen, Vorhandense<strong>in</strong><br />
von Bohrgängen, Spechtschlägen und<br />
Höhlen<br />
15
Zoologische Forschung<br />
Nicht nur der Tropenwald birgt<br />
Überraschungen - Zoologische Forschung<br />
<strong>in</strong> hessischen <strong>Naturwaldreservate</strong>n<br />
E<strong>in</strong>heimische Buchenwälder beherbergen etwa<br />
viermal mehr Arten als man bisher annahm. In<br />
drei hessischen <strong>Naturwaldreservate</strong>n wurden drei<br />
Tierarten gänzlich neu entdeckt, fünf waren neu für<br />
Deutschland und weitere 73 Arten neu für <strong>Hessen</strong>. In<br />
den Gebieten wurden jeweils weit über 100 Rote-Liste-<br />
Arten nachgewiesen. <strong>Naturwaldreservate</strong> s<strong>in</strong>d daher<br />
gleichermaßen bedeutsam für die Forschung wie für<br />
den Naturschutz und die Forstwirtschaft.<br />
Forschungsrahmen<br />
Von den <strong>in</strong> Deutschland lebenden rund 45.800 Tierarten<br />
(ohne E<strong>in</strong>zeller) s<strong>in</strong>d mehr als 35.000 Landbewohner.<br />
Mit über als 33.000 Arten <strong>in</strong> 30 Ordnungen nehmen<br />
die Insekten hierbei e<strong>in</strong>e herausragende Stellung e<strong>in</strong>.<br />
Daher wurde der Schwerpunkt der Untersuchungen auf<br />
diese Gruppe gelegt (siehe Kasten „Tiergruppen“). Sie<br />
wird mit e<strong>in</strong>em breiten Methodensspektrum untersucht<br />
(siehe Kasten „Methoden“).<br />
Tiergruppen<br />
Als Standardgruppen werden bearbeitet:<br />
• Regenwürmer (Lumbricidae)<br />
• Sp<strong>in</strong>nen (Araneae)<br />
• Wanzen (Heteroptera)<br />
• Käfer (Coleoptera)<br />
• Stechimmen, d. h. Bienen, Wespen und<br />
Ameisen (Aculeata)<br />
• Großschmetterl<strong>in</strong>ge (Makro-Lepidoptera)<br />
• Vögel (Aves)<br />
• Fledermäuse (Chiroptera)<br />
Weitere Gruppen werden von ehrenamtlichen<br />
Mitarbeitern untersucht.<br />
16<br />
Abb. 30: Stammeklektor an stehendem Stamm - dieser<br />
Fallentyp fängt Tiere, die an e<strong>in</strong>em stehenden Baumstamm<br />
entlang nach oben wandern. Der Begriff Eklektor (von<br />
griech. eklektos „ausgewählt“) hat sich für verschiedene<br />
Fallentypen e<strong>in</strong>gebürgert. Die Tiere werden <strong>in</strong> Kopfdosen und<br />
Bodenflaschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Alkohol-Glycer<strong>in</strong>-Mischung abgetötet<br />
und konserviert.<br />
Methoden<br />
Fallenset, zwei Jahre lang kont<strong>in</strong>uierlich e<strong>in</strong>gesetzt:<br />
Zusätzlich:<br />
• Bodenfallen<br />
• Stammeklektoren an lebenden Bäumen<br />
• Stammeklektoren an abgestorbenen Bäumen<br />
(stehend und liegend)<br />
• Stubbeneklektoren<br />
• Totholzeklektoren<br />
• Farbschalen (blaue, gelbe und weiße)<br />
• Fensterfallen<br />
• Lichtfänge<br />
• Begehungen zur Ermittlung der<br />
Siedlungsdichte der Vögel<br />
• gezielte Aufsammlungen
Bisherige Untersuchungsgebiete<br />
Seit 1990 werden die 31 hessischen <strong>Naturwaldreservate</strong><br />
nach und nach von e<strong>in</strong>em Wissenschaftlerteam<br />
des Forschungs<strong>in</strong>stitutes Senckenberg unter<br />
Mitarbeit externer Gutachter erforscht (siehe Kasten<br />
„Bisherige Untersuchungsgebiete“).<br />
• Niddahänge östlich Rud<strong>in</strong>gsha<strong>in</strong>:<br />
montane Waldmeister- und Waldgersten-<br />
Buchenwälder, Schlucht- und Blockwald auf<br />
Basalt<br />
• Schönbuche:<br />
submontaner Ha<strong>in</strong>simsen-Buchenwald auf<br />
Buntsandste<strong>in</strong><br />
• Weiherskopf:<br />
W<strong>in</strong>dwurf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Waldmeister-Buchenwald<br />
auf Basalt (Sonderuntersuchungen zur<br />
Totholzfauna 1991 bis 2000)<br />
• Hoheste<strong>in</strong>:<br />
submontaner bis montaner Waldgersten-<br />
Buchenwald auf Muschelkalk<br />
• Goldbachs- und Ziebachsrück:<br />
submontaner Ha<strong>in</strong>simsen-Buchenwald auf<br />
Buntsandste<strong>in</strong><br />
• Hasenblick:<br />
submontaner Ha<strong>in</strong>simsen-Buchenwald auf<br />
Tonschiefer und Grauwacke<br />
Abb. 31: Farbschalen locken Blütenbesucher<br />
an, die auf verschiedene Blütenfarben spezialisiert<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
• K<strong>in</strong>zigaue:<br />
feuchter Stieleichen-Ha<strong>in</strong>buchenwald auf<br />
quartären Lehmen<br />
Abb. 33: Fensterfallen fangen fliegende Tiere, die gegen die<br />
Scheibe prallen.<br />
Abb. 32: Der Stubbeneklektor mit se<strong>in</strong>er alkoholgefüllten<br />
Kopfdose fängt die Tiere, die aus e<strong>in</strong>em Baumstumpf und<br />
der ihn unmittelbar umgebenden Erde schlüpfen und dann<br />
zum Licht streben.<br />
17
Überraschende Artenvielfalt<br />
Mit 2.328 im Naturwaldreservat Niddahänge östlich<br />
Rud<strong>in</strong>gsha<strong>in</strong> gefundenen Tierarten sowie 1.884<br />
Arten im Naturwaldreservat Schönbuche liegen beide<br />
Gebiete deutlich über den bisherigen Schätzungen<br />
für mitteleuropäische Buchenwälder. Berücksichtigt<br />
man dabei, dass nicht die gesamte Fauna bestimmt<br />
wurde, so ist im Naturwaldreservat Niddahänge östlich<br />
Rud<strong>in</strong>gsha<strong>in</strong> hochgerechnet von über 6.000 Arten, im<br />
Naturwaldreservat Schönbuche von etwa 5.000 Arten<br />
auszugehen.<br />
Das bedeutet, die beiden Reservate beherbergen auf<br />
e<strong>in</strong>er Fläche von nur 73,7 bzw. 54,8 Hektar bereits<br />
13-15 % der e<strong>in</strong>heimischen terrestrischen Arten. Dies<br />
liegt deutlich über den bisher für vergleichbare Wälder<br />
angenommenen 1.500-1.800 Arten und zeigt, dass<br />
auch die bisherige Schätzung von 7.500 Arten für alle<br />
mitteleuropäischen Buchenwälder deutlich zu niedrig<br />
ist.<br />
Abb. 36: Maikäfer machen regelmäßige Massenvermehrungen<br />
durch, je nach Region f<strong>in</strong>den diese <strong>in</strong> Deutschland<br />
alle drei bis vier Jahre statt.<br />
Die Artengeme<strong>in</strong>schaft –<br />
e<strong>in</strong> komplexes dynamisches System<br />
Abb. 34: Das 71,1 ha große Naturwaldreservat Stirnberg bei<br />
Wüstensachsen <strong>in</strong> der Rhön ist e<strong>in</strong> nach Westen exponierter<br />
montaner Waldgersten-Buchenwald auf 700-900 m Höhe.<br />
Oftmals wird aus Kostengründen versucht, e<strong>in</strong>e<br />
komplexe Lebensgeme<strong>in</strong>schaft mittels weniger<br />
Tiergruppen oder gar e<strong>in</strong>zelner „Zeiger“-Arten zu<br />
charakterisieren. Die hessischen Untersuchungen<br />
belegen jedoch, dass die e<strong>in</strong>zelnen Tiergruppen im<br />
Gebietsvergleich sowohl bei der Arten- als auch bei<br />
der Individuenzahl deutlich gegensätzliche Tendenzen<br />
aufweisen können, ohne dass bisher hierfür e<strong>in</strong>e<br />
Gesetzmäßigkeit erkannt werden konnte. Um fundierte<br />
Aussagen machen zu können, empfiehlt es sich daher,<br />
e<strong>in</strong> breites Spektrum an Tiergruppen auf Artniveau zu<br />
bearbeiten.<br />
Mantel- und Wirbeltiere<br />
(Chordata)<br />
Weichtiere (Mollusca)<br />
sonstige Tierstämme (14)<br />
Plattwürmer (Plathelm<strong>in</strong>thes)<br />
Schlauchwürmer<br />
(Nemathelm<strong>in</strong>thes)<br />
Gliederfüsser (Arthropoda):<br />
sonstige<br />
Gliederfüsser (Arthropoda):<br />
Insekten<br />
18<br />
Abb. 35: Der Rotdeckenkäfer Lygistopterus sangu<strong>in</strong>eus<br />
entwickelt sich als Larve <strong>in</strong> morschen Hölzern.<br />
Abb. 37: Anteile der Tierstämme am e<strong>in</strong>heimischen Artenspektrum
Nur über die Tierwelt lassen sich wichtige<br />
Gebietscharakteristika ermitteln<br />
Die meisten Tiergruppen weisen starke jährliche<br />
Schwankungen ihrer Populationsdichte auf. Bei<br />
den Käfern nahm die Individuenzahl z. B. im Naturwaldreservat<br />
Niddahänge im zweiten Untersuchungsjahr<br />
um mehr als 100 % zu. Trends bei den<br />
Bestandsentwicklungen lassen sich daher nur mit<br />
Hilfe von langfristigen Untersuchungen erkennen.<br />
Je nach Jahreszeit dom<strong>in</strong>ieren <strong>in</strong> Boden-, Kraut-,<br />
Strauch- und Baumschicht unterschiedliche Arten.<br />
Etliche traten regelmäßig zur gleichen Zeit dom<strong>in</strong>ant<br />
auf und stellen vermutlich stete Charakterarten des<br />
Gebietes dar. Es kann angenommen werden, dass<br />
die Geme<strong>in</strong>schaften über längere Zeiträume im<br />
wiederkehrenden Rhythmus von den gleichen Arten<br />
geprägt werden. Um dies festzustellen, s<strong>in</strong>d langfristige<br />
Untersuchungen unabd<strong>in</strong>gbar.<br />
1990 1991 1992<br />
Falle 6 7 8 9 10 11 3 4 5 6 7 8 9 10 11 3 4 5 6 7 8 9 10<br />
S C 001<br />
S C 002<br />
(N = 10166)<br />
S C 003<br />
S C 004<br />
S C 005<br />
S C 006<br />
S C 007<br />
S C 008<br />
S C 009<br />
S C 010<br />
S C 011<br />
S C 012<br />
S C 013<br />
S C 014<br />
S C 015<br />
S C 016<br />
S C 017<br />
S C 018<br />
S C 019<br />
S C 020<br />
S C 021<br />
S C 022<br />
S C 030<br />
S C 031<br />
S C 032<br />
S C 033<br />
S C 040<br />
S C 041<br />
S C 042<br />
S C 043<br />
S C 050<br />
S C 051<br />
S C 052<br />
S C 053<br />
S C 060<br />
S C 061<br />
S C 062<br />
S C 063<br />
S C 070<br />
S C 071<br />
S C 080<br />
S C 081<br />
S C 090<br />
S C 091<br />
S C 100<br />
S C 101<br />
S C 110<br />
S C 111<br />
S C 120<br />
S C 121<br />
S C 130<br />
S C 140<br />
S C 141<br />
S C 150<br />
S C 151<br />
S C 160<br />
S C 161<br />
Abb. 38: Im Naturwaldreservat Niddahänge war der Kurzflügler<br />
Aleochara sparsa die häufigste Käferart. 1990 und<br />
1992 wurde der Kurzflügler vorwiegend am Holz und <strong>in</strong><br />
Fensterfallen und Farbschalen nachgewiesen, im Sommer<br />
und Herbst 1991 war er h<strong>in</strong>gegen nahezu an jedem<br />
Fallenstandort zu f<strong>in</strong>den.<br />
Genauso wie der Mensch nicht über die Summe se<strong>in</strong>er<br />
Moleküle zu verstehen ist, kann der Wald nicht durch<br />
E<strong>in</strong>zelaspekte, sondern nur <strong>in</strong> der Gesamtheit se<strong>in</strong>er<br />
Bestandteile verstanden werden. Die Erfassung<br />
von Tieren <strong>in</strong> ihrem Lebensraum liefert Ergebnisse,<br />
die nicht über bodenkundliche, botanische oder<br />
forstliche Analysen gewonnen werden können. Als<br />
herausragende Beispiele werden hier das Totholz und<br />
die Lebensraumvernetzung dargestellt.<br />
Totholztradition<br />
E<strong>in</strong>ige Käferarten, die sonst <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> nahezu<br />
ausschließlich <strong>in</strong> den alten Bannwäldern des<br />
Rhe<strong>in</strong>-Ma<strong>in</strong>-Gebietes gefunden wurden, wie auch<br />
hochspezialisierte Geme<strong>in</strong>schaften von Käfern <strong>in</strong><br />
Zunderschwämmen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis darauf, dass im<br />
Naturwaldreservat Niddahänge langfristig günstige<br />
Totholzbed<strong>in</strong>gungen geherrscht haben. Erst die<br />
detaillierte Analyse auf Artniveau zeigte bei annähernd<br />
gleichen Artenzahlen <strong>in</strong> den <strong>Naturwaldreservate</strong>n<br />
Niddahänge und Schönbuche deutliche Unterschiede<br />
bei den ökologischen Ansprüchen der Arten <strong>in</strong> Bezug<br />
auf Totholzqualität und Klima.<br />
Abb. 39: Abgestorbene stehende Bäume werden <strong>in</strong> der forstlichen<br />
Fachsprache als „Dürrständer“ bezeichnet. Sie dienen<br />
umfangreichen, selten gewordenen Artengeme<strong>in</strong>schaften als<br />
Lebensraum.<br />
19
Vernetzte Lebensräume<br />
Um als Population langfristig überleben zu können,<br />
benötigen zahlreiche Tiere die Vernetzung verschiedener<br />
Strukturen. So brauchen viele Bienen<br />
und Käfer blütenreiche Säume und Lichtungen als<br />
Nahrungsquelle sowie Totholz zum Nisten. Größere<br />
Waldwiesen, Staudenfluren, besonnte Wegränder<br />
und frische W<strong>in</strong>dwürfe sowie Totholz unterschiedlicher<br />
Qualitäten und Mengen belegten dies <strong>in</strong> den <strong>Naturwaldreservate</strong>n.<br />
Abb.142: Die Blattschneiderbiene Megachile lapponica<br />
baut ihre Brutzellen aus Weidenröschen-Blattstücken<br />
<strong>in</strong> Insektenfraßgängen im Holz. Für ihr Überleben s<strong>in</strong>d<br />
Offenflächen (z. B. W<strong>in</strong>dwürfe) mit Weidenröschen-Beständen<br />
ebenso wichtig wie das Vorhandense<strong>in</strong> von<br />
Dürrständern.<br />
Spektakuläre Funde im e<strong>in</strong>heimischen<br />
Buchenwald<br />
Abb.140: Artenreiche Blütensäume s<strong>in</strong>d wichtige Teillebensräume<br />
für viele Tiere, die sich von Pollen oder Nektar<br />
ernähren. Weitere Arten s<strong>in</strong>d als Pflanzenfresser auf diese<br />
Kräuter spezialisiert.<br />
Abb. 41: Der Bockkäfer Gaurotes virg<strong>in</strong>ea besucht Blüten,<br />
um Pollen zu fressen und um nach Geschlechtspartnern<br />
Ausschau zu halten. Se<strong>in</strong>e Larven leben im Holz.<br />
Drei Hautflügler-Arten konnten im Naturwaldreservat<br />
Weiherskopf neu für die Wissenschaft entdeckt werden:<br />
Die Schlupfwespe Gelis albopilosus, die Brackwespe<br />
Eubazus nigroventralis und e<strong>in</strong>e Plattwespe aus der<br />
Gattung Cephalonomia, die derzeit neu beschrieben<br />
wird. Folgende Arten konnten für Deutschland neu<br />
gefunden werden: Der Fransenflügler Hoplothrips<br />
carpathicus, die Zikadenwespe Anteon exiguum,<br />
die Plattwespe Bethylus dendrophilus und die<br />
Schlupfwespe Blacometeorus brevicauda.<br />
Vom Fransenflügler Hoplopthrips carpathicus waren<br />
bislang nur flügellose Weibchen beschrieben. Die<br />
Fänge der NWR-Arbeitgruppe des Forschungs<strong>in</strong>stitutes<br />
Senckenberg machten die ersten Männchen, Larven<br />
und geflügelten Weibchen für die Wissenschaft<br />
bekannt. Für <strong>Hessen</strong> konnten weitere 74 Arten erstmals<br />
nachgewiesen werden, darunter der Regenwurm<br />
Lumbricus meliboeus. Darüber h<strong>in</strong>aus wurden 29 von<br />
der Wissenschaft als verschollen geglaubte Käferarten<br />
wiedergefunden.<br />
Im Naturwaldreservat Niddahänge wurden 171 Arten<br />
der Roten Listen gefährdeter Tiere Deutschlands<br />
nachgewiesen, im Naturwaldreservat Schönbuche 128<br />
Arten.<br />
20
Abb. 43: Fransenflügler Hoplothrips carpathicus<br />
Chancen für die Forschung<br />
Die Untersuchungen <strong>in</strong> hessischen <strong>Naturwaldreservate</strong>n<br />
zeigen, dass die Fauna unserer heimischen<br />
Wälder bislang noch nicht ausreichend erforscht wurde.<br />
Auch relativ kle<strong>in</strong>e Flächen <strong>in</strong> Wirtschaftswäldern<br />
bieten e<strong>in</strong>er beachtlichen Anzahl seltener und<br />
bedrohter Arten Lebensraum. Im Naturwaldreservat<br />
Niddahänge kann dies für e<strong>in</strong>ige Tiergruppen sicherlich<br />
auf e<strong>in</strong>e für Wirtschaftswälder eher untypische, über<br />
längere Zeiträume ungebrochene Tradition mit Totholz<br />
zurückgeführt werden.<br />
Abb. 45: Die Zikadenwespe (Dry<strong>in</strong>idae) Anteon exiguum<br />
wurde erstmalig für Deutschland im Naturwaldreservat<br />
Schönbuche nachgewiesen. Die meisten Dry<strong>in</strong>idenweibchen<br />
parasitieren Zikadenlarven, <strong>in</strong>dem sie diese mit ihren<br />
scherenartigen Vorderbe<strong>in</strong>en fangen und e<strong>in</strong> Ei <strong>in</strong> den Körper<br />
legen. Die Wirte von Anteon exiguum s<strong>in</strong>d noch unbekannt.<br />
Abb. 44: Fallenleerung im Naturwaldreservat Stirnberg<br />
Das Naturwaldreservat Schönbuche belegt, dass auch<br />
Wirtschaftswälder ohne e<strong>in</strong>e derartige Totholztradition<br />
Lebensgeme<strong>in</strong>schaften mit vielen seltenen Tieren<br />
beherbergen können, die <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> den Offenund<br />
Randstrukturen des Waldes leben.<br />
Auch die bisher noch nicht untersuchten hessischen<br />
<strong>Naturwaldreservate</strong> bergen sicher noch manche zoologische<br />
Überraschung. Die langfristige Erforschung<br />
ihrer Fauna wird wesentliche Beiträge zum besseren<br />
Verständnis der Vielfalt <strong>in</strong> unseren Wäldern liefern.<br />
21
W<strong>in</strong>dwurfforschung<br />
Pilze und Insekten als Recycler im<br />
Buchenwald – W<strong>in</strong>dwurf als Chance für<br />
die Forschung<br />
Wenn e<strong>in</strong> Sturm breite Schneisen <strong>in</strong> geschlossene<br />
Wälder reißt oder ganze Bestände komplett umwirft,<br />
ist das e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schneidendes Naturereignis mit erheblichen<br />
Folgen, sowohl <strong>in</strong> wirtschaftlicher H<strong>in</strong>sicht<br />
als auch für die Waldökologie. Tiere und Pflanzen<br />
müssen sich sehr schnell an e<strong>in</strong>e neue Situation<br />
mit veränderten Bed<strong>in</strong>gungen anpassen, wobei die<br />
Konkurrenz zwischen den Arten plötzlich unter völlig<br />
anderen Vorzeichen steht.<br />
Abb. 46: Im Jahr 1990 warfen die Stürme Vivian und Wiebke<br />
24 ha Buchenwald im Naturwaldreservat Weiherskopf<br />
großflächig um.<br />
Vivian und Wiebke –<br />
Orkane mit verheerenden Folgen<br />
Die Folgen der Stürme, die 1990 über das Land h<strong>in</strong>wegfegten,<br />
s<strong>in</strong>d bis heute <strong>in</strong> süd- und mittelhessischen<br />
Wäldern sichtbar. Obwohl die wirtschaftliche Bewältigung<br />
der Sturmkatastrophe damals die gesamte<br />
Forstverwaltung <strong>in</strong> Atem hielt, entschloss man sich, im<br />
Rahmen der Naturwaldforschung e<strong>in</strong> waldökologisches<br />
Projekt zur Sturmschadensforschung im Naturwaldreservat<br />
Weiherskopf (Forstamt Schlüchtern) e<strong>in</strong>zuleiten.<br />
Die gewonnenen Forschungsergebnisse geben e<strong>in</strong>en<br />
E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Entwicklung von Wäldern nach Sturmwürfen<br />
und <strong>in</strong> natürliche Zerfallsprozesse. Im Weiherskopf-Gebiet<br />
waren auf durchnässten Basaltverwitterungsböden durch<br />
die Stürme ca. 24 ha e<strong>in</strong>es 100jährigen Buchenbestandes<br />
großflächig geworfen worden. Da die Fläche e<strong>in</strong>ige Jahre<br />
zuvor als Naturwaldreservat ausgewiesen worden war,<br />
sollte die Reaktion der Pflanzen- und Tierwelt auf die<br />
Sturmschäden untersucht werden.<br />
Ganz wesentlich für das Recycl<strong>in</strong>g abgestorbener<br />
organischer Substanz s<strong>in</strong>d Pilze. Durch ihre Fähigkeiten,<br />
organische Stoffe <strong>in</strong> anorganische umzuwandeln, s<strong>in</strong>d<br />
sie, ebenso wie Insekten, die durch Bohrlöcher erste<br />
E<strong>in</strong>trittspforten <strong>in</strong> die Stämme schaffen, Wegbereiter für<br />
nachfolgende Insekten- und Pilzarten. Um Erkenntnisse<br />
über Ablauf und Umfang der natürlichen ökologischen<br />
Entwicklung zu erhalten, blieben im Naturwaldreservat<br />
Weiherskopf ca. 10.000 Kubikmeter Buchenstammholz<br />
für wissenschaftliche Zwecke unbearbeitet liegen. In zwei<br />
Teilprojekten wurde die Flora holzbewohnender Großpilze<br />
sowie die Insektenfauna untersucht.<br />
Wiederbewaldung<br />
-<br />
Vegetationsentwicklung<br />
Totholzm<strong>in</strong>eralisierung<br />
-<br />
Totholz als Lebensraum<br />
Entwicklung der Bodenvegetation<br />
-<br />
NW-FVA<br />
Photodokumentation<br />
-<br />
NW-FVA<br />
Mykologische Untersuchungen<br />
-<br />
Forschungsbüro Dr. Schlechte<br />
Entomologische Untersuchungen<br />
-<br />
Forschungs<strong>in</strong>stitut Senckenberg<br />
Entwicklung der Verjüngung<br />
-<br />
NW-FVA<br />
Bodenuntersuchung<br />
-<br />
NW-FVA<br />
Physikalischer Holzabbau<br />
-<br />
Institut für Holzbiologie und<br />
Holztechnologie<br />
Universität Gött<strong>in</strong>gen<br />
Abb. 47: Übersicht über das Forschungsprojekt im Naturwaldreservat Weiherskopf<br />
22
Ke<strong>in</strong> Baum wie der andere –<br />
Holzzersetzung und Insektenbesiedlung<br />
auf e<strong>in</strong>er großen W<strong>in</strong>dwurffläche<br />
Noch nie wurden <strong>in</strong> Europa vergleichbare langfristige<br />
Untersuchungen zur Rolle der Insekten bei der<br />
Zersetzung von Buchenstämmen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen<br />
W<strong>in</strong>dwurffläche wie im Naturwaldreservat Weiherskopf<br />
durchgeführt.<br />
In den Jahren 1991-2000 wurden durchgehend sechs<br />
geschlossene Eklektoren an liegenden Buchenstämmen<br />
e<strong>in</strong>gesetzt, die diejenigen Tiere erfassen, die<br />
aus e<strong>in</strong>em 1 m langen Stammabschnitt schlüpfen. Drei<br />
der Fallen blieben über die gesamte Untersuchungsperiode<br />
am selben Baumstamm exponiert. Sie wurden<br />
lediglich jährlich verschoben, so dass e<strong>in</strong>e Neubesiedlung<br />
des zuvor abgefangenen Bereichs möglich<br />
war (Dauerbeobachtungsbäume). Die drei übrigen<br />
Fallen wurden jedes Jahr an neuen Probebäumen<br />
angebracht (Jahresbeobachtungsbäume).<br />
In den Jahren von 1991 bis 1995 dürften sich auf der gesamten<br />
W<strong>in</strong>dwurffläche um die 3 Milliarden Xyleborus<br />
saxeseni <strong>in</strong> den Buchenstämmen entwickelt haben.<br />
Alle<strong>in</strong> im Jahr 1993 waren - hochgerechnet auf<br />
20 ha Fläche - etwa 1,5 Milliarden Individuen des<br />
„Kle<strong>in</strong>en Holzbohrers“ damit beschäftigt, das Holz<br />
der abgestorbenen Buchenstämme anzubohren und<br />
so den weiteren Zersetzungsprozess e<strong>in</strong>zuleiten. Bis<br />
zu 16.460 Käfer schlüpften alle<strong>in</strong> im Mai 1993 aus<br />
e<strong>in</strong>em der untersuchten, 1 m langen Buchenstammabschnitte.<br />
Bereits 1992 war die Massenentwicklung<br />
im Gange, die 1993 ihren Höhepunkt erreichte und<br />
1994 noch immer doppelt so viele Tiere produzierte wie<br />
1992. Erst 1995 war e<strong>in</strong> deutlicher Rückgang dieser<br />
Entwicklung zu verzeichnen.<br />
Mit hoher Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit ist die Populationsentwicklung<br />
von Räubern wie dem R<strong>in</strong>denkäfer<br />
Rhizophagus bipustulatus und der Blumenwanze<br />
Xylocoris cursitans e<strong>in</strong>e Folge dieser Borkenkäfer-<br />
Massenvermehrung und hat ihrerseits e<strong>in</strong>e erhebliche<br />
regulative Wirkung auf die Anzahl des „Kle<strong>in</strong>en<br />
Holzbohrers“.<br />
Abb. 48: Elektoren an liegenden Stämmen fangen die Tiere,<br />
die aus e<strong>in</strong>em 1 m langen Stammabschnitt schlüpfen.<br />
Der „Kle<strong>in</strong>e Holzbohrer“<br />
räumt im W<strong>in</strong>dwurf auf<br />
E<strong>in</strong>e wesentliche und wirksame Funktion im Zersetzungsprozess<br />
von abgestorbenen Buchenstämmen<br />
fällt dem „Kle<strong>in</strong>en Holzbohrer“ (Xyleborus saxeseni)<br />
zu. Der nur 2 mm große Borkenkäfer bohrt Gänge <strong>in</strong><br />
den Holzkörper von Laubbäumen und züchtet dar<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>en mit ihm <strong>in</strong> Symbiose lebenden Pilz, der ihm als<br />
Nahrung dient und se<strong>in</strong>erseits mit Hilfe von Enzymen<br />
das Holz zersetzt.<br />
Vergleichende Untersuchungen <strong>in</strong> anderen <strong>Naturwaldreservate</strong>n<br />
mit geschlossenen Laubwaldbeständen<br />
oder lediglich kle<strong>in</strong>en Sturmlücken belegen e<strong>in</strong>e<br />
bevorzugte Massenentwicklung des Käfers <strong>in</strong> Gebieten<br />
mit großflächigen W<strong>in</strong>dwürfen, wie es im<br />
Naturwaldreservat Weiherskopf der Fall war.<br />
Abb. 49: Kle<strong>in</strong>er Holzbohrer - Xyleborus saxeseni<br />
Männermangel bei Frauenüberschuss<br />
Dass es trotz e<strong>in</strong>er enormen Überzahl an weiblichen<br />
Tieren zu e<strong>in</strong>em ungeheuren Vermehrungspotential<br />
des Borkenkäfers kommt, beruht darauf, dass sich<br />
die Weibchen weitgehend parthenogenetisch vermehren,<br />
d. h. die Nachkommen entwickeln sich aus unbefruchteten<br />
Eiern (Im Untersuchungszeitraum wurden<br />
176.789 Weibchen <strong>in</strong> den Fallen gezählt, denen die<br />
vergleichsweise kle<strong>in</strong>e Anzahl von 201 Männchen gegenüber<br />
stand).<br />
23
Diversität im Totholz von Buchenstämmen<br />
Insgesamt wurden mit den Fallen 419.266 Tiere gefangen<br />
und 821 Arten aus 29 Tierordnungen bestimmt.<br />
42,2 % aller Individuen stellte alle<strong>in</strong> der „Kle<strong>in</strong>e Holzbohrer“.<br />
An e<strong>in</strong>em Dauerbeobachtungsbaum wurden<br />
maximal 148 Käferarten, darunter 97 Totholzkäferarten<br />
und <strong>in</strong>sgesamt 49.413 Individuen gezählt. In e<strong>in</strong>em<br />
Kubikmeter Holz der drei Dauerbeobachtungsbäume<br />
entwickelten sich im Verlauf von neun Jahren 107.565<br />
E<strong>in</strong>zeltiere von 216 verschiedenen Käferarten, davon<br />
128 obligatorische Totholzbesiedler.<br />
Auch für den Naturschutz ist e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>dwurf<br />
<strong>in</strong>teressant<br />
Drei für die Wissenschaft neue Arten, e<strong>in</strong>e für<br />
Deutschland neue Art und zehn für <strong>Hessen</strong> neue Arten<br />
sowie 43 Arten der Roten Liste Deutschlands belegen,<br />
dass e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>dwurf vielen seltenen und bedrohten<br />
Arten e<strong>in</strong>en Lebensraum bietet. Es wurden ke<strong>in</strong>e<br />
Massenentwicklungen von Schädl<strong>in</strong>gen dokumentiert,<br />
die den lebenden Bäumen <strong>in</strong> der Umgebung gefährlich<br />
werden könnten.<br />
Abb. 50: Nachdem das Holz von Käfern mit Gängen<br />
durchzogen wurde, können Ameisen e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen und sich<br />
Nistbereiche ausnagen.<br />
Sukzession –<br />
In der Entwicklung der Insektenbesiedlung<br />
ist ke<strong>in</strong> Baum wie der andere<br />
E<strong>in</strong>e durchgehende Sukzessionsabfolge wurde nicht<br />
festgestellt. Die E<strong>in</strong>zelbäume s<strong>in</strong>d Individuen, die unterschiedliche<br />
Entwicklungsabläufe und Besiedlungsgeschichten<br />
haben können. Die Anzahl jährlich gefangener<br />
Individuen an den e<strong>in</strong>zelnen Bäumen differierten<br />
z. B. um das 22fache. Allgeme<strong>in</strong>e Trends lassen sich<br />
aber erkennen: Nach der Massenvermehrung des<br />
„Kle<strong>in</strong>en Holzbohrers“ im 2. bis 4. Untersuchungsjahr<br />
konnten Ameisen die Fraßgänge besiedeln und bei der<br />
Nestanlage weiteres umfangreiches Holzmaterial ausnagen.<br />
Je weiter die Stämme zersetzt wurden, desto<br />
mehr nahm der Anteil von Milben, Spr<strong>in</strong>gschwänzen<br />
und Zweiflüglern zu.<br />
Abb. 51 und 52: Der R<strong>in</strong>denkäfer Laemophloeus monilis wird<br />
<strong>in</strong> der Roten Liste Deutschlands als gefährdet (oben) und der<br />
Schwarzkäfer Neatus picipes als vom Aussterben bedroht<br />
geführt.<br />
24
Pilze als Recycl<strong>in</strong>gspezialisten<br />
Auf den Buchenstämmen von fünf 400 m 2 großen<br />
Dauerbeobachtungsflächen wurden sechs mal jährlich<br />
die Fruchtkörper der Pilze bestimmt und gezählt.<br />
Dabei wurden Pilzarten nach ihrer Zugehörigkeit den<br />
Start-, Optimal- und Schlussphasen der Holzzersetzung<br />
zugeordnet. Der Verlauf der Artenzahl zeigt<br />
e<strong>in</strong>en Anstieg von bis zu 90 Arten im Jahr 1998 und<br />
danach e<strong>in</strong> allmähliches Abkl<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>e besonders<br />
wirkungsvolle Funktion bei der Holzzersetzung übernehmen<br />
dabei Weißfäule-Erreger, da sie Zellulose und<br />
Lign<strong>in</strong> abbauen.<br />
Abb. 54: Blutmilch-Helml<strong>in</strong>g<br />
Abb. 53: Schmetterl<strong>in</strong>gstramete<br />
E<strong>in</strong>ige davon spielten für das Recycl<strong>in</strong>g im Weiherskopf<br />
e<strong>in</strong>e herausragende Rolle und können als<br />
Schlüsselarten für die Zersetzung von Buchenholz<br />
bezeichnet werden. In der Startphase waren das: der<br />
Geme<strong>in</strong>e Spaltblättl<strong>in</strong>g, die Striegelige Tramete und die<br />
Kohlenbeere. In der folgenden Optimalphase wurde<br />
die Schmetterl<strong>in</strong>gs-Tramete zur quantitativ wichtigsten<br />
Art, während <strong>in</strong> der letzten Phase schließlich die<br />
Hutpilze dom<strong>in</strong>ant auftraten, deren häufigster Vertreter<br />
der Blutmilch-Helml<strong>in</strong>g war. Fünfzehn Jahre nach<br />
dem Sturm s<strong>in</strong>d die Stämme morsch und weich. Das<br />
holzzersetzende Recycl<strong>in</strong>g der Pilze dürfte im Jahr<br />
2010, 20 Jahre nach dem Sturmwurf, fast vollständig<br />
abgeschlossen se<strong>in</strong>.<br />
Abb. 55: Entwicklung der Artenzahl holzzerstörender Pilze im Naturwaldreservat Weiherskopf nach Sturmwurf,<br />
getrennt nach Artengruppen der Holzzersetzungsphasen<br />
25
Ausblick<br />
Seit 1988 gibt es <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> das <strong>Naturwaldreservate</strong>-<br />
Programm. Die Anfangsphase war durch die Auswahl<br />
der geeigneten Reservate und die Konzeption der<br />
waldkundlichen und zoologischen Untersuchungsmethoden<br />
gekennzeichnet. In der Folge wurden<br />
auf dieser Basis Waldstrukturuntersuchungen und<br />
zoologische Inventuren konsequent umgesetzt. Nach<br />
den folgenreichen Stürmen des Jahres 1990 kam als<br />
dritter Schwerpunkt die Sturmflächenforschung h<strong>in</strong>zu.<br />
Die Forschungsergebnisse wurden <strong>in</strong> der Schriftenreihe<br />
„<strong>Naturwaldreservate</strong> <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong>“ mit nunmehr 15<br />
E<strong>in</strong>zelbänden veröffentlicht.<br />
Mit der abgeschlossenen waldkundlichen Erst<strong>in</strong>ventur<br />
aller Reservate und der zoologischen Bearbeitung von<br />
neun Reservaten, darunter alle wichtigen Buchenwaldgesellschaften<br />
<strong>Hessen</strong>s, s<strong>in</strong>d die Grundlagen für<br />
e<strong>in</strong>e erfolgreiche Fortführung der Naturwaldforschung<br />
<strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> gelegt. Berücksichtigt man die Langlebigkeit<br />
von Wäldern und die lange Dauer von<br />
Entwicklungsprozessen, so steht <strong>Hessen</strong> immer noch<br />
am Anfang der Naturwaldbeobachtung.<br />
Die Ziele des Programmes - die Erforschung<br />
der natürlichen Abläufe <strong>in</strong> den Wäldern und der<br />
dauerhafte Schutz der <strong>in</strong> <strong>Hessen</strong> vorkommenden<br />
Waldgesellschaften - können nur erreicht werden,<br />
wenn die hessische Naturwaldforschung dauerhaft und<br />
kont<strong>in</strong>uierlich fortgeführt wird. Diese Aufgabe hat seit<br />
2006 die <strong>Nordwestdeutsche</strong> <strong>Forstliche</strong> Versuchsanstalt<br />
(NW-FVA) <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen übernommen.<br />
Obwohl die <strong>Naturwaldreservate</strong> den ursprünglichen<br />
Wirtschaftswäldern noch sehr ähneln, gew<strong>in</strong>nen wir<br />
bereits heute wertvolle Erkenntnisse für Waldbau<br />
und Naturschutz. Wie viel mehr werden künftige<br />
Generationen davon profitieren, wenn die <strong>Naturwaldreservate</strong><br />
dann wirklich zu „Urwäldern von morgen“<br />
geworden s<strong>in</strong>d.<br />
Abb. 56: Der Buchenkeiml<strong>in</strong>g<br />
26
Abb. 57: Bodenfallenleerung im Blockfeld<br />
des NWR Stirnberg<br />
Abb. 59: Baumhöhenmessung im NWR<br />
Abb. 58: Naturwaldreservat Karlswörth auf dem Kühkopf<br />
27