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Autonomie oder Heteronomie der Vernunft? Ein jahrhundertealtes ...

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<strong>Autonomie</strong> <strong>o<strong>der</strong></strong> <strong>Heteronomie</strong> <strong>der</strong> <strong>Vernunft</strong>?<br />

<strong>Ein</strong> jahrhun<strong>der</strong>tealtes Missverständnis<br />

Farah Dustdar<br />

Der berühmte Satz von Immanuel Kant, die menschliche <strong>Vernunft</strong> sei Gesetzgeber, rechtfertigte<br />

im Laufe <strong>der</strong> letzten zwei Jahrhun<strong>der</strong>ten die Prozesse <strong>der</strong> Liberalisierung und Säkularisierung<br />

innerhalb <strong>der</strong> westlichen Kultur. Mit Berufung auf die „<strong>Autonomie</strong> <strong>der</strong> <strong>Vernunft</strong>“ –<br />

wie<strong>der</strong>um ein Kantischer Begriff – haben oft die Vertreter <strong>der</strong> Ideologien die Verbindlichkeit<br />

<strong>der</strong> Sittengesetze und <strong>der</strong> Religion schlechthin in Frage gestellt. Wer sich aber gründlich mit<br />

den Werken Kants und seiner Wirkungsgeschichte auseinan<strong>der</strong> setzt, entdeckt eine Reihe von<br />

Fehldeutungen und Missverständnisse, die seine Rezeptionsgeschichte überschatten. Nicht<br />

selten haben die Interpreten Kants Sätze aus dem Kontext heraus genommen, ohne Rücksicht<br />

auf die ursprüngliche Absicht ihres Urhebers kommentiert und für die eigenen Theorien nutzbar<br />

gemacht. Wie und in welchem Zusammenhang sind nun die viel zitierten Begriffe, „<strong>Autonomie</strong><br />

und <strong>Heteronomie</strong> <strong>der</strong> <strong>Vernunft</strong>“, im Kants Denken entstanden?<br />

Der junge Kant war wie alle an<strong>der</strong>en Philosophen <strong>der</strong> deutschen Aufklärung Rationalist und<br />

ein Anhänger des <strong>Vernunft</strong>glaubens. Er entdeckt aber bald, dass die bedeutenden metaphysischen<br />

Fragen, wie die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele nicht rational zu begründen<br />

seien. Anlass dazu gab vor allem die heftige Kritik <strong>der</strong> Empiristen, die Vertreter <strong>der</strong><br />

m<strong>o<strong>der</strong></strong>nen Naturwissenschaften. Diese Schule, die im angelsächsischen Raum entstand, wi<strong>der</strong>legte<br />

das Kausalitätsprinzip und die Existenz einer übersinnlichen und außerhalb <strong>der</strong> Grenzen<br />

<strong>der</strong> Erfahrung liegenden Sphäre. Damit war die alte Metaphysik als Wissenschaft entkräftet.<br />

Die Folgen dieser Entwicklung waren aus <strong>der</strong> Sicht Kants für die Begründung <strong>der</strong> ethischen<br />

Normen verhängnisvoll. Die Empiristen, darunter viele schottischen Moralphilosophen,<br />

haben die Natur des Menschen als die einzige Quelle <strong>der</strong> Moral Geltung gegeben. Sie haben<br />

die Religion und die Metaphysik in ihren Ü berlegungen vollkommen ausgeschlossen und die<br />

Moralphilosophie lediglich auf das „moralische Gefühl“ des Menschen aufgebaut. Ihre Absicht<br />

war, festzustellen, welche Handlungen im ö ffentlichen Leben gebilligt werden kö nnen.<br />

Die treibenden Kräfte für die sogenannten „freundlichen Gefühle“ kind affections waren aus<br />

ihrer Sicht die menschlichen Interessen und das Verlangen nach Glück und nach materiellem<br />

Wohlstand.<br />

Für Kant war diese Begründung <strong>der</strong> Moral brüchig. Da die Menschen von Natur aus verschieden<br />

seien und unterschiedliche Interessen verfolgen, werde die schottische Moralphilosophie<br />

zum ethischen Subjektivismus und im Endeffekt zum Zusammenbruch <strong>der</strong> moralischen Ordnung<br />

führe. Darum bemühte sich Kant dieses Dilemma zu lö sen und eine logische Begründung<br />

<strong>der</strong> moralischen Gesetze zu liefern. Auf diesem Weg gelangt er zu dem Beweis <strong>der</strong><br />

Freiheit des menschlichen Willens. Der Wille sei gegenüber <strong>der</strong> Natur <strong>o<strong>der</strong></strong> <strong>der</strong> Triebe autonom.<br />

In an<strong>der</strong>en Worten: <strong>der</strong> Mensch sei nicht <strong>der</strong> Sklave seiner Neigungen und werde nicht<br />

wie eine Marionette von den Trieben geleitet. Die <strong>Vernunft</strong> sei Autonom und in <strong>der</strong> Lage, die<br />

natürlichen Triebe zu zähmen und die eigenen Handlungen nach den bestimmten Normen zu


ichten. Sich von den Begierden leiten lassen, nennt Kant die <strong>Heteronomie</strong> <strong>der</strong> <strong>Vernunft</strong>. Im<br />

Moment <strong>der</strong> Handlung entscheidet immer <strong>der</strong> Menschen selbst und durch seine <strong>Vernunft</strong>, ob<br />

er die moralischen Vorschriften folgen <strong>o<strong>der</strong></strong> missachten soll. Deshalb behauptet Kant, die<br />

<strong>Vernunft</strong> sei gesetzgebend und damit meint er, <strong>der</strong> Wille sei frei. Gleichzeitig macht Kant<br />

eine klare Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität <strong>der</strong> Handlungen. Für die Legalität<br />

sorgen die ö ffentlichen Gesetze <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft. Das moralische Handeln<br />

hängt aber von freiem Willen <strong>der</strong> Subjekte ab. Hier stö ßt Kant auf ein zweites Problem: wie<br />

kö nne man die Verbindlichkeit <strong>der</strong> ethischen Normen sichern?<br />

Im Falle <strong>der</strong> ö ffentlichen Gesetze war das Problem bereits gelö st. In einem republikanischen<br />

<strong>o<strong>der</strong></strong> repräsentativen System bestimmt das Volk die zivilen Gesetze und kontrolliert sie. Die<br />

Legalität <strong>der</strong> Handlung wird hier durch die Sanktionsmaßnahmen gesichert. Dies trifft aber<br />

nicht <strong>der</strong> sittlichen Gesetze zu. Denn die moralischen Entscheidungen oft innere Prozesse<br />

seien, die nicht von außen wahrgenommen und ohne Zwang kontrolliert werden kö nnen. Die<br />

„Freiheit des Gewissens“, die in einer liberalen Gesellschaft garantiert werden müsse, erlaube<br />

außerdem keine Institution, die Innere des Menschen zu durchschauen und zu sanktioniert.<br />

Die ethischen Vorschriften kö nnen also nicht durch das Volk <strong>o<strong>der</strong></strong> durch die Subjekte bestimmt<br />

und verbindlich gemacht werden. Kants Ausweg aus diesem Dilemma lautet: Die moralischen<br />

Gesetze kö nnen nur dann existieren, wenn man die Existenz eines hö heren moralischen<br />

Gesetzgebers außer dem Menschen voraussetzt. Nur eine solche hö here <strong>Vernunft</strong> <strong>o<strong>der</strong></strong><br />

Gott sei in <strong>der</strong> Lage, das Gewissen <strong>der</strong> Menschen zu durchschauen. „Moral also führt unumgänglich<br />

zur Religion“. Diese Schlussfolgerung, die Kant in seiner „Kritik <strong>der</strong> praktischen<br />

<strong>Vernunft</strong>“ erö rtert, behandelt er später ausführlich in seiner religionsphilosophischen Schrift.<br />

Kants Absicht war, die Metaphysik zu retten und einen Damm gegen die Gefahren <strong>der</strong> materialistischen<br />

Philosophie zu bauen und dem moralischen Untergang aufhalt zu gebieten.<br />

Durch die Ausschreitungen <strong>der</strong> Franzö sischen Revolution und das Aufkommen des Nationalismus<br />

in Europa am Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts hat die friedfertige Kantische Philosophie,<br />

die eine hohe moralische Anfor<strong>der</strong>ung an die bürgerliche Gesellschaft stellte, ihren Realitätsbezug<br />

verloren. Ihre Wie<strong>der</strong>geburt durch die sozialistisch orientierten Denker in den letzten<br />

Jahrzehnten des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts führte zu einer partiellen Rezeption <strong>der</strong> Kantischen Gedanken.<br />

Der Begriff „<strong>Autonomie</strong> <strong>der</strong> <strong>Vernunft</strong>“ entwickelte sich bald zu einem Schlagwort und<br />

rechtfertigte in <strong>der</strong> politischen Philosophie des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts den ethischen Subjektivismus,<br />

im Gegensatz zur Absicht seines Urhebers. Kants Religionsschrift „Die Religion innerhalb<br />

<strong>der</strong> Grenzen <strong>der</strong> bloßen <strong>Vernunft</strong>“ hat während des 20. Jahrhun<strong>der</strong>t kaum die Interessen<br />

<strong>der</strong> Philosophie auf sich gezogen.<br />

In den letzten Jahrzehnten ist die liberale Theorie, die sich um einen normativen Unterbau<br />

bemüht, wie<strong>der</strong> zum Kant zurückgekehrt. Die liberalen Theoretiker stellen heute fest, dass <strong>der</strong><br />

Liberalismus als prägende geistige und politische Grundlagenphilosophie <strong>der</strong> m<strong>o<strong>der</strong></strong>nen Gesellschaften<br />

habe mit seinen Grundprämissen die leitende Frage nach <strong>der</strong> sozialen und moralischen<br />

Fundierung <strong>der</strong> Gesellschaft bereits im Ansatz verfehlt. Nicht zuletzt die Selbstkritik<br />

des Liberalismus veranlasste die Philosophie am Beginn des neuen Jahrtausends <strong>der</strong> Kantischen<br />

Metaphysik und Religionsphilosophie mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

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