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Irrfahrt - Urlaub auf hoher See

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<strong>Irrfahrt</strong><br />

von Stefan Schöner<br />

Wir fahren mit unserem Mietwagen durch Miami. Wir bedeutet:<br />

Unser fünfjähriger Sohn in seinem Kindersitz <strong>auf</strong> der Rückbank,<br />

meine Frau <strong>auf</strong> dem Beifahrersitz und ich hinter dem Steuer.<br />

Meine Frau übernimmt mit Hilfe einer großen Straßenkarte die Navigation,<br />

was der Hauptgrund dafür ist, dass wir uns nicht da befinden,<br />

wo wir hinwollen.<br />

Viel schlimmer noch.<br />

Wir befinden uns genau da, wo wir eigentlich um keinen Preis hinwollen.<br />

In einem der Armenviertel von Miami.<br />

Einem der Slums, um es ganz genau zu sagen.<br />

Vor gut zwanzig Minuten bin ich <strong>auf</strong> Weisung meiner Frau vom<br />

Highway abgebogen und habe fast sofort gemerkt, dass etwas nicht<br />

stimmt. Heruntergekommene Gebäude mit leeren, glaslosen Fensterhöhlen,<br />

ausgeschlachtete Autowracks am Straßenrand und Penner,<br />

die einen Eink<strong>auf</strong>swagen mit ihren Habseligkeiten vor sich herschieben<br />

und unserem Wagen begehrliche Blicke hinterherwerfen,<br />

sprechen eben eine stumme, aber beredte Sprache.<br />

„Wohin hast du uns denn gelotst?“, frage ich meine Frau, die angestrengt<br />

die raschelnde Karte begutachtet, und bemühe mich dabei,<br />

nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen.


„Du bist doch selbst schuld!“, erwidert sie gereizt, knüllt die Karte<br />

zusammen und wirft sie in den Fußraum. „Du weißt doch, dass ich<br />

keine Karten lesen kann. Ich sehe dar<strong>auf</strong> nichts als lauter bunte Flecken!“<br />

Klar, sie hat ja recht.<br />

Was bin ich auch zu blöd, gleichzeitig zu fahren und die Karte zu<br />

lesen...<br />

Ich verschiebe die Klärung der Schuldfrage <strong>auf</strong> später – sollte es ein<br />

später für uns geben – und konzentriere mich <strong>auf</strong>s Fahren. Dunkle<br />

Gestalten tauchen aus den Ruinen links und rechts am Straßenrand<br />

<strong>auf</strong>, viele haben verdächtige Beulen unter den Achseln ihrer<br />

schmutzigen Jacken. Bei denen, die keine Beule vorweisen können,<br />

liegt das daran, dass sie keine Jacken besitzen und ihre Revolver<br />

und Pistolen ganz offen im Hosenbund tragen.<br />

Oh Mist, oh Mist.<br />

Ich frage mich, was ich tun soll, wenn jetzt eine Ampel <strong>auf</strong> Rot<br />

springt. Anzuhalten wäre gleichbedeutend mit einem Überfall, da<br />

bin ich sicher, und die Bewohner dieses reizenden Viertels sehen<br />

nicht so aus, als würden sie dann höflich nach unserem Besitz fragen.<br />

Vermutlich schießen sie erst, rein vorsichtshalber natürlich,<br />

schießen dann nochmal und fragen dann vielleicht...<br />

Wir sind geliefert, das spüre ich.<br />

Geliefert.<br />

Allerdings ist meine Sorge umsonst: Keine der vielen Ampeln, an<br />

denen wir vorbeifahren, springt <strong>auf</strong> Rot.<br />

Keine einzige funktioniert nämlich.


Es braucht auch niemand eine Ampel.<br />

Seit Minuten ist unser Wagen nämlich der einzige in Sichtweite, der<br />

noch über Räder verfügt.<br />

Bis jetzt zumindest.<br />

Überlastet wirken die hiesigen Straßen beim besten Willen nicht.<br />

Mir bricht jetzt trotz der <strong>auf</strong> Volllast l<strong>auf</strong>enden Klimaanlage der<br />

Schweiß aus.<br />

Wo zum Teufel ist der verdammte Highway?<br />

Irgendwo nördlich von uns, also rechts, wenn ich mich irre.<br />

Ich biege <strong>auf</strong> gut Glück an der nächsten Kreuzung mit defekter<br />

Ampel nach rechts ab und werde vom Anblick des gesuchten<br />

Highways belohnt. Leider ist er zwar sichtbar, aber nicht erreichbar,<br />

weit und breit findet sich keine Auffahrt.<br />

Nochmal Mist.<br />

Das Einbahnstraßensystem zwingt mich, wieder nach rechts abzubiegen,<br />

dann nochmal nach rechts, weg vom Highway – und dann<br />

sind wir wieder da, wo wir vorhin schon vorbei gefahren sind.<br />

Ich erkenne klar eines der Autowracks wieder.<br />

Und die düsteren Gestalten sind noch mehr geworden.<br />

Logisch, die wissen, dass es für uns kein Entrinnen gibt – die müssen<br />

nur noch dar<strong>auf</strong> warten, dass uns das Benzin ausgeht...<br />

Ich passiere die Kreuzung und fahre diesmal geradeaus, werde dann<br />

aber von der Verkehrsführung gezwungen, nach links abzubiegen.<br />

Die Gebäude werden mit einem Mal noch heruntergekommener,<br />

was ich nie für möglich gehalten hätte, die Gestalten noch düsterer,


und hier scheint es gerade en vogue zu sein, sich anstelle von<br />

Schießeisen mit langen Messern zu schmücken.<br />

Herrje – das ist hier der Slum des Slums.<br />

Klasse.<br />

Wir sind ja sowas von tot.<br />

Außerdem habe ich jetzt völlig die Orientierung verloren.<br />

Wo ist nur der Highway?<br />

Bitte, bitte, ich will doch gar nicht viel, nur eine klitzekleine Highway-Auffahrt.<br />

Statt einer Auffahrt erreichen wir die Überreste dessen, was früher<br />

mal ein kleiner Park gewesen sein muss. Bäume oder Gras gibt es<br />

zwar nicht mehr, aber an der ebenen Fläche von trockener, festgetrampelter<br />

Erde mit einer einsamen Sitzbank kann man erkennen,<br />

wozu dieser Platz früher diente.<br />

Hier ist richtig was los.<br />

Mindestens hundert, nein, eher hundertfünfzig Slum-Bewohner<br />

drängen sich um ein Fahrzeug von der Sorte, wie sie bei uns für<br />

Geldtransporte benutzt wird. Es ist schwer gepanzert und hat keine<br />

Fenster, sondern nur schmale, schießschartenartige Schlitze in den<br />

Hecktüren.<br />

Rauben die hier etwas gemeinsam am helllichten Tag und <strong>auf</strong> offener<br />

Straße einen Geldtransport aus?<br />

Überraschen würde es mich nicht.<br />

Wir passieren langsam den Ort des Geschehens.<br />

Nein, es ist kein Überfall.


Aus den Schießscharten des Panzerwagens wird offenbar Brot verteilt<br />

– lange Packungen mit Toastbrot, die von gierigen Händen<br />

sofort ergriffen und weggetragen werden.<br />

Und hinter dem gepanzerten Brottransporter stehen ... ich kann es<br />

fast nicht glauben ... da stehen zwei Streifenwagen der örtlichen<br />

Polizei.<br />

Der Geleitschutz für den Brottransporter.<br />

Gott sei Dank.<br />

Die müssen uns helfen.<br />

Sie müssen einfach.<br />

Ich umrunde unter souveräner Missachtung sämtlicher Einbahnstraßenregelungen<br />

den Park – wenn´s euch nicht passt, dürft ihr<br />

uns gerne verhaften – und steuere ein zweites Mal langsam die<br />

Brotausgabe an. Als ich die Polizeiwagen erreiche, drücke ich kurz<br />

<strong>auf</strong> die Hupe, um die Aufmerksamkeit der Polizisten zu erregen.<br />

Der Polizist im vorderen Wagen dreht sich überrascht um und<br />

blickt uns mit großen Augen an. Als wir langsam an ihm vorbei rollen,<br />

schüttelt er resigniert den Kopf, wie ich im Rückspiegel sehen<br />

kann.<br />

„Was für Trottel!“, sagt dieses Schütteln, aber immerhin hat er uns<br />

zur Kenntnis genommen.<br />

Einige Sekunden später heult die Sirene des Streifenwagens zweimal<br />

kurz <strong>auf</strong> – HUI, HUI – und der Wagen schießt mit <strong>hoher</strong> Geschwindigkeit<br />

an uns vorbei, während sein Fahrer uns durchs offene<br />

Fenster zuwinkt: Folgen!<br />

Dem Himmel sei Dank.


Ich trete meinerseits das Gaspedal durch und erreiche damit, dass<br />

sich der Schaltautomat verschluckt und erst einmal seine Gänge<br />

sortieren muss, bevor er sich bequemt, den niedrigsten Gang einzulegen<br />

und uns mit quietschenden Reifen und heulendem Motor hinter<br />

dem davon eilenden Streifenwagen her zu katapultieren.<br />

„Fahr nicht so ruppig!“, schimpft meine Frau, und mein Sohn <strong>auf</strong><br />

dem Rücksitz kichert, aber ich würdige die beiden keiner Antwort,<br />

sondern beiße vielmehr die Zähne zusammen.<br />

Ich tue jetzt alles, was getan werden muss, damit uns der Streifenwagen<br />

nicht abhängt.<br />

Alles.<br />

Basta.<br />

Schließlich, einige heruntergekommene Blocks und etliche Kreuzungen<br />

mit toten Ampeln später, drosselt der Polizist sein Tempo<br />

und weist uns mit einem Winken seines Arms in eine zugemüllte<br />

Seitenstraße, an deren Ende ich ein Schild erkennen kann. Es ist<br />

mit Einschusslöchern übersät, seine Aufschrift ist kaum mehr leserlich,<br />

aber trotzdem kann ich es als Hinweis <strong>auf</strong> den Highway erkennen.<br />

Die lang gesuchte, die ersehnte Auffahrt.<br />

Hurra!<br />

Ich winke dem Polizisten dankbar zu, während er wendet, um zu<br />

seinem Posten zurückzukehren, und ernte ein erneutes Kopfschütteln.<br />

Egal.<br />

Wir haben´s geschafft.<br />

Wir verlassen den Slum.


Auf dem Highway beschleunige ich den Wagen <strong>auf</strong> die erlaubte<br />

Höchstgeschwindigkeit, während meine Frau die Straßenkarte <strong>auf</strong>hebt<br />

und glattstreicht.<br />

„Hm, wo sind wir jetzt?“, murmelt sie und starrt abwechselnd <strong>auf</strong><br />

die Karte und die Schilder am Straßenrand. „Du, wir müssen die<br />

nächste Ausfahrt raus!“<br />

Ich ignoriere sie und passiere die Ausfahrt mit den erlaubten, flotten<br />

fünfundfünfzig Stundenmeilen, was mir einen beleidigten Blick<br />

einträgt.<br />

„Warum bist du denn nicht abgefahren?“, fragt sie mich eisig.<br />

„Weil das genau die gleiche Ausfahrt wie vorhin war“, antworte ich<br />

ihr mit bemüht neutralem Tonfall.<br />

Ich habe schließlich meine Lektion gelernt: Traue niemandem, für<br />

den eine Straßenkarte nur eine Ansammlung bunter Flecken darstellt.<br />

Schon gar nicht in Miami...<br />

ENDE

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