- 1 - Ferdinand Fellmann „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen ...
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<strong>Ferdinand</strong> <strong>Fellmann</strong><br />
<strong>„Wer</strong> <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> <strong>angeschaut</strong> <strong>mit</strong> <strong>Augen</strong>“.<br />
Ästhetische Erfahrung zwischen Eros und Thanatos<br />
Tristan<br />
Wer <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> <strong>angeschaut</strong> <strong>mit</strong> <strong>Augen</strong>,<br />
Ist dem Tode schon anheimgegeben,<br />
Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,<br />
Und doch wird er vor dem Tode beben,<br />
Wer <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> <strong>angeschaut</strong> <strong>mit</strong> <strong>Augen</strong>!<br />
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe,<br />
Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,<br />
Zu genügen einem solchen Triebe:<br />
Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,<br />
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!<br />
Ach, er möchte wie ein Quell versiegen,<br />
Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen<br />
Und den Tod aus jeder Blume riechen:<br />
Wer <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> <strong>angeschaut</strong> <strong>mit</strong> <strong>Augen</strong>,<br />
Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!<br />
Das Gedicht, dass wir eben gehört haben, stammt von dem Deutschen Dichter August<br />
Graf von Platen, der 1839 im Alter von 39 Jahren in Italien gestorben ist. Politisch äußerte<br />
sich seine bürgerlich-liberale Gesinnung im Hass gegen Tyrannei und in Solidarität <strong>mit</strong><br />
Freiheitsbewegungen. Sein Aufenthalt in Italien ist daher als Exil zu bewerten. Platens<br />
Leben war geprägt von Widersprüchen, was seinem nach innen gerichteten<br />
selbstquälerischen Naturell entsprach. Künstlerisch hat sich Platen gegen romantische<br />
Formauflösung gewandt. Das trug ihm den Vorwurf eines pretiösen, kalten und<br />
anachronistischen Klassizisten ein. Vergällt wurde sein Leben durch einen hässlichen<br />
Streit <strong>mit</strong> Heinrich Heine. Platen hat Heine wegen dessen jüdischer Herkunft verunglimpft,<br />
Heine hingegen machte Platens Homosexualität öffentlich. Zu Platens elitärem<br />
<strong>Schönheit</strong>skult gehört sein 1825 verfasstes Lied Tristan. Ich will nun keine Interpretation<br />
und literaturgeschichtliche Einordnung des Liedes vornehmen, obwohl mich das sehr<br />
reizen würde, da ich Tristan für eines der schönsten deutschen Liebesgedichte halte.<br />
Stattdessen beschränke ich mich auf den Inhalt des Gedichts, den ich als Beitrag zur<br />
klassischen Theorie des Schönen auffasse.
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Platen gibt keine substantielle Definition des Schönen, sondern nähert sich der <strong>Schönheit</strong><br />
aus der Perspektive des Betrachters. Er folgt darin Immanuel Kant, der <strong>die</strong> Betrachtung<br />
als freie Zuwendung zum ästhetischen Gegenstand „interesseloses Wohlgefallen“ genannt<br />
hat. Da<strong>mit</strong> ist gesagt, dass <strong>die</strong> ästhetische Erfahrung von allen pragmatischen Bezügen<br />
des Gegenstandes absieht, auch von den Bedürfnissen des Betrachters selbst. So<br />
harmonisch versteht Platen <strong>die</strong> Erfahrung der <strong>Schönheit</strong> nicht mehr. Im Gegenteil: Sie löst<br />
beim Betrachter zwiespältige Gefühle aus. Auf der einen Seite <strong>die</strong> Befreiung von allen<br />
Bindungen des Lebens, auf der anderen Seite <strong>die</strong> Angst, das Leben zu verlieren. Die<br />
Doppelseitigkeit der ästhetischen Erfahrung verweist auf <strong>die</strong> Gefühlsambivalenz der<br />
erotischen Liebe, in der Lust und Schmerz, Hingabe und Enttäuschung unauflösbar<br />
<strong>mit</strong>einander verknüpft sind. Was bleibt, ist <strong>die</strong> Sehnsucht nach Erlösung, <strong>die</strong> ewig<br />
unerfüllbar bleibt. Da<strong>mit</strong> kommt eine Dynamik in <strong>die</strong> ästhetische Erfahrung, <strong>mit</strong> der sich<br />
Platen von Kants Begriff des Schönen entfernt und sich zum Wegbereiter der modernen<br />
Relativierung des Schönen durch <strong>die</strong> Wirkungsästhetik gemacht hat. Da<strong>mit</strong> steht Platen<br />
natürlich nicht allein. Die Anklänge an Schopenhauers Kunstauffassung sind<br />
unübersehbar. Auch Schopenhauer sieht in der Anschauung des schönen Gegenstandes<br />
eine Befreiung vom Druck des triebhaften Willens zum Leben, zugleich aber stellt er in<br />
seiner „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ fest, dass das Individuum vom biologischen<br />
Zwang der Gattung nicht loskommt. Dieser Gedanke lässt sich bis zu Sigmund Freuds<br />
Ableitung der Erfahrung des Schönen aus dem Gebiet des Sexualempfindens verfolgen.<br />
Aller historischen Bedingtheit zum Trotz vertrete ich nun <strong>die</strong> These, dass <strong>die</strong> in Platens<br />
Gedicht formulierte Theorie des Schönen noch heute oder gerade heute im Zeitalter der<br />
Vertreibung des Schönen aus der Literatur und aus der bildenden Kunst eine<br />
unverminderte Aktualität besitzt.<br />
Meine These von der Aktualität des Schönen möchte ich zunächst an der bildenden Kunst<br />
der Gegenwart verdeutlichen, an der gerade zu Ende gegangenen documenta 13. Ich<br />
frage <strong>die</strong>jenigen von Ihnen, <strong>die</strong> in Kassel waren, ob sie ihre Begegnung <strong>mit</strong> den<br />
Exponaten als Anschauung des Schönen bezeichnen würden und ob sie <strong>die</strong> ambivalenten<br />
Gefühle erlebt haben, <strong>die</strong> Platen in seinem Gedicht schildert. Ich glaube, ihre Antwort<br />
würde lauten: „eher nicht“. Soweit ich Besucher der documenta nach ihren Eindrücken<br />
befragt habe, lauteten <strong>die</strong> meisten Antworten: „eindrucksvoll, interessant, viel zu denken<br />
gebend“. Was steckt hinter <strong>die</strong>sen Urteilen, was hat sich gegenüber dem Ideal der<br />
schönen Kunst verändert?
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Die markanteste Veränderung liegt wohl im Verlust der sich selbst genügenden<br />
Anschauung. Was uns präsentiert wird, sind keine in sich geschlossenen Werke mehr, <strong>die</strong><br />
primär unsere Sinne ansprechen, sondern Reflexionsprodukte, deren Versinnlichung eher<br />
nebensächlich ist. Sicherlich handelt es sich auch hier um Kunst, aber um <strong>die</strong> Kunst der<br />
Reflexion, deren Wert man erst erkennt, wenn man in der Geschichte der Kunstreflexion<br />
bewandert ist. Anders als in den Werken alter Meister, <strong>die</strong> zur kontemplativen Versenkung<br />
einladen und immer mehr Inhalte preisgeben, je mehr man sich in sie versenkt, sieht man<br />
an den Installationen nicht mehr, wenn man länger hinschaut. Nicht einmal das Original<br />
braucht man anzuschauen, eine Abbildung im Katalog oder im Internet genügt. Im<br />
Vordergrund steht <strong>die</strong> Reflexion, <strong>die</strong> oft eine politische Botschaft beinhaltet.<br />
Die als „Einmischung“ positiv bewertete Politisierung soll endlich zur Versöhnung von<br />
Kunst und Leben führen und jeden Menschen zum potentiellen Künstler machen. Dahinter<br />
steht der partizipative Individualismus unserer postmodernen Zeit, wogegen natürlich<br />
nichts einzuwenden ist. Aber daraus <strong>die</strong> Gleichsetzung von Kunst und Leben zu folgern,<br />
dürfte ein Missverständnis sein, denn sie liefe auf eine sinnlose Verdoppelung des Lebens<br />
hinaus. Nur durch eine kontemplative Distanzierung macht <strong>die</strong> Kunst am Leben etwas<br />
sichtbar, was über <strong>die</strong> Anforderungen des normalen Lebens hinausweist. Das ist eine alte<br />
philosophische und theologische Denkfigur: Wer <strong>die</strong> Welt gewinnen will, muss ihr erst<br />
entsagt haben. Die negative Dialektik der Welterschließung, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> philosophische<br />
Bewegung der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt stand, firmiert bei<br />
Paul Cezanne unter dem Begriff „Realisierung“ (franz. réalisation). Dann entsteht <strong>die</strong> für<br />
Cezannes Bilder prägende Ambivalenz vom Bildaufbau und Bildzerstörung, <strong>die</strong> einen<br />
starken Formwillen erfordert, um nicht im Chaos zu enden. Mit dem Willen zur Form<br />
kommt wieder <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> zum Zuge, <strong>die</strong> uns <strong>die</strong> Kämpfe und Leiden des Lebens<br />
erträglich macht.<br />
Ich möchte noch ein Exponat auf der documenta 13 erwähnen, in dem sich <strong>die</strong><br />
Anschauung und <strong>mit</strong> ihr <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> gegen <strong>die</strong> Intention des Künstlers durchsetzt. Es<br />
handelt sich um <strong>die</strong> aus Holz geschnitzte „Nähstube“ des rumänisch-ungarischen<br />
Installationskünstlers und Bildhauers Istvan Csakany, von dem der Besucher oft nur eine<br />
Hälfte wahrnimmt, während er <strong>die</strong> andere <strong>mit</strong> Modepuppen bestückte Hälfte der<br />
Installation <strong>mit</strong> ihrer politischen Botschaft übersieht. Hier ist <strong>die</strong> Komposition reicher und<br />
stärker als <strong>die</strong> kritische Reflexion auf <strong>die</strong> Ausbeutung in der Modeindustrie. Die<br />
Komposition macht <strong>die</strong> Installation zum Gegenstand einer besonderen Form der
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Anschauung, <strong>die</strong> der Begründer der Ästhetik als selbständiger Wissenschaft, Alexander<br />
Baumgarten, im 18. Jahrhundert „sinnliche Erkenntnis“ genannt hat.<br />
Heute steht <strong>Schönheit</strong> unter Ideologieverdacht, da man dem Schönen eine unakzeptable<br />
Versöhnung <strong>mit</strong> dem status quo der ungerechten und von Krisen erschütterten Welt<br />
unterstellt. Die Unterstellung, das Schöne sei das Harmonische, trifft für Platens<br />
Auffassung von <strong>Schönheit</strong> nicht zu und war auch in der klassischen Kunsttheorie nie so<br />
gemeint. <strong>Schönheit</strong> schließt keineswegs <strong>die</strong> Darstellung von Dissonanzen aus, <strong>die</strong> zum<br />
Leben gehören, und das Schöne ist für Platen <strong>mit</strong> der Triebhaftigkeit der körperlichen<br />
Existenz des Menschen verbunden. Für ihn erzeugt <strong>die</strong> Liebe das Bewusstsein der<br />
Vergänglichkeit und des Todes. Man kann den Blick aber auch umkehren: Erst der Tod<br />
macht <strong>die</strong> erotische Liebe zu der absoluten Erfahrung, der sich kein Mensch entziehen<br />
kann. Eros und Thanatos bedingen sich gegenseitig, eine Konstellation, <strong>die</strong> seit den<br />
kulturellen Anfängen der Menschheit <strong>die</strong> Einbildungskraft der Künstler beschäftigt hat.<br />
In der europäischen Malerei steht <strong>die</strong> Darstellung des Frauenkörpers im Vordergrund. Der<br />
Gott der erotischen Liebe ist selbst nicht schön, aber <strong>die</strong> Begierde strahlt im leuchtenden<br />
Fleisch der Mädchen und Frauen, deren Portraits und Akte <strong>die</strong> Säle unserer Museen<br />
füllen. Man denke nur an Auguste Renoir, dessen Frauen als Badende oder sich<br />
Kämmende aus der sozialen Wirklichkeit herausgehoben sind. Aber gerade in <strong>die</strong>ser<br />
Isolierung machen sie etwas von der Polarität der Geschlechter sichtbar, <strong>die</strong> über <strong>die</strong><br />
Moden hinausreicht. Man würde zu kurz greifen, wenn man hier nichts anderes als den<br />
Ausdruck typischer Männerphantasien diagnostizieren wollte, <strong>die</strong> in der Frau nur das<br />
Lustobjekt sehen. Sicherlich hat sich <strong>mit</strong> der Emanzipation der Frau unser Verhältnis zum<br />
weiblichen Körper stark verändert. Daher überrascht es nicht, dass Frauenakte in der<br />
Gegenwartskunst kaum noch eine Rolle spielen. Wo menschliche Körper überhaupt<br />
dargestellt werden, dann meist in prekären Situationen des Verfalls oder der Verletzung.<br />
Aber wie <strong>die</strong> Bilder von Picasso oder Gerhard Richter belegen, garantiert <strong>die</strong> Komposition<br />
eine <strong>Schönheit</strong>, <strong>die</strong> nichts mehr <strong>mit</strong> dem schönen Schein zu tun hat.<br />
Soviel zu unserem Ausflug in <strong>die</strong> bildende Kunst, der gezeigt hat, dass <strong>die</strong> Verschiebung<br />
von der Anschauung auf <strong>die</strong> Reflexion nicht unbedingt als Gewinn zu verbuchen ist.<br />
Verloren gegangen ist <strong>die</strong> <strong>mit</strong> der <strong>Schönheit</strong> verbundene existentielle Erfahrung von<br />
Werten jenseits politischer Botschaften. Schaut man von der bildenden Kunst auf <strong>die</strong><br />
Literatur, so bietet sich ein ähnliches Bild, obwohl <strong>die</strong> Dichtkunst anderen Gesetzen<br />
unterliegt als <strong>die</strong> bildende Kunst. Bei Texten kann man von Anschauung nur im
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übertragenen Sinne sprechen, ihr Analogon sind <strong>die</strong> sprachlichen Bilder, <strong>die</strong> Metaphern,<br />
<strong>die</strong> in der Moderne anderen Gesetzen der Gestaltbildung unterliegen. Allgemein kann man<br />
sagen, dass auch im sprachlichen Kunstwerk wie in der bildenden Kunst <strong>die</strong> Reflexion an<br />
Bedeutung gewonnen hat. Auch Auflösungen der Gattungsprinzipien sind unübersehbar,<br />
etwa in der seriellen Erzählweise der Reflexionsprosa ohne Anfang, Mitte und Ende. In der<br />
Poesie der Abschied vom Reim und von klassischen Versmaßen. All <strong>die</strong>se Experimente<br />
allerdings sind nicht so dramatisch und nicht so nachhaltig wie <strong>die</strong> Entgrenzungen der<br />
bildenden Kunst. Der Roman beispielsweise kehrt immer wieder zur Erzählung zurück,<br />
und in der Lyrik hat trotz ungewöhnlicher Inhalte <strong>die</strong> Sprachschönheit nicht ausge<strong>die</strong>nt. Ich<br />
möchte das an einigen Beispielen verdeutlichen.<br />
Zunächst zur Lyrik. Hier ist <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> im Vergänglichen noch bis Rilke ungebrochen.<br />
Einen eindrucksvollen Beleg liefert Georg Heym <strong>mit</strong> seinem Gedicht Ophelia aus dem<br />
Jahre 1910:<br />
Ophelia<br />
Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,<br />
Und <strong>die</strong> beringten Hände auf der Flut<br />
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten<br />
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.<br />
Die letzte Sonne, <strong>die</strong> im Dunkel irrt,<br />
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.<br />
Warum sie starb? Warum sie so allein<br />
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?<br />
Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht<br />
Wie eine Hand <strong>die</strong> Fledermäuse auf.<br />
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht<br />
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,<br />
Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal<br />
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint<br />
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint<br />
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.<br />
Hier hat sich gegenüber Platens Tristan nicht viel verändert. Aber in der zweiten Hälfte des<br />
20. Jahrhunderts hat sich <strong>mit</strong> der Struktur der modernen Lyrik ein Paradigmenwechsel<br />
vollzogen, der von den Gefühlen ganz auf <strong>die</strong> Konstruktion der Worte setzt. Gottfried Benn<br />
zitiert in seinem Marburger Poetologie-Vortrag Probleme der Lyrik (1951) <strong>die</strong> Maxime von<br />
Mallarmé: ein Gedicht entsteht nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten. Der Romanist
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Hugo Friedrich hat 1956 in seinem Buch: Die Struktur der modernen Lyrik <strong>die</strong><br />
Verwandlung des lyrischen Ich der Romantik in das „reine Ich“ der Moderne in einer<br />
kleinen Anthologie von Gedichten des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll belegt. Da<strong>mit</strong> ist <strong>die</strong><br />
<strong>Schönheit</strong> nicht verschwunden, sie bekommt nur einen anderen Klang wie bei Karl Krolow:<br />
Liebesgedicht<br />
Mit halber Stimme rede ich zu dir:<br />
Wirst du mich hören hinter dem bitteren Kräutergesicht<br />
Des Mondes, der zerfällt?<br />
Unter der himmlischen <strong>Schönheit</strong> der Luft,<br />
Wenn es Tag wird,<br />
Die Frühe ein rötlicher Fisch <strong>mit</strong> bebender Flosse?<br />
Du bist schön.<br />
Ich sage es den Feldern voll grüner Pastinaken.<br />
Kühl und trocken ist deine Haut. Ich sage es<br />
Zwischen den Häuserwürfeln <strong>die</strong>ser Stadt, in der ich lebe.<br />
Dein Blick - sanft und sicher wie der eines Vogels.<br />
Ich sage es dem schwingenden Wind.<br />
Dein Nacken - hörst du - ist aus Luft,<br />
Die wie eine Taube durch <strong>die</strong> Maschen des blauen Laubes schlüpft.<br />
Du hebst dein Gesicht.<br />
An der Ziegelmauer erscheint es noch einmal als Schatten.<br />
Schön bist du. Du bist schön.<br />
Wasserkühl war mein Schlaf an deiner Seite.<br />
Mit halber Stimme rede ich zu dir.<br />
Und <strong>die</strong> Nacht zerbricht wie Soda, schwarz und blau.<br />
Sicherlich bewegt sich Krolow 1955 noch <strong>die</strong>sseits der Schrecken, <strong>die</strong> alle dichterische<br />
Phantasie übersteigen. Aber trotz Adornos Verdikt, nach Auschwitz ein Gedicht zu<br />
schreiben, sei barbarisch, so ist doch Paul Celan der Gegenbeweis gelungen. Selbst in<br />
seinem Gedicht Todesfuge gelingt es ihm, im Grauen von Auschwitz noch einen<br />
Vorschein des ewigen Lebens sichtbar zu machen. Der Eros bleibt trotz des massenhaften<br />
anonymen Todes in Margaretes goldenem Haar eine unbesiegbare Macht. Hier nur eine<br />
Strophe:<br />
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts<br />
wir trinken dich <strong>mit</strong>tags und morgens wir trinken dich abends<br />
wir trinken und trinken<br />
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
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dein aschenes Haar Sula<strong>mit</strong>h er spielt <strong>mit</strong> den Schlangen<br />
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland<br />
er ruft streicht dunkler <strong>die</strong> Geigen dann steigt ihr als Rauch in <strong>die</strong> Luft<br />
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng<br />
Es ist ein schönes und eines der schrecklichsten deutschen Gedichte der Nachkriegszeit.<br />
Das Schreckliche liegt in den Bildern, <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> verdankt es dem Rhythmus. Denn es<br />
ist weniger eine Todesfuge als ein "Todestango" - so nämlich lautete der ursprüngliche<br />
Titel <strong>die</strong>ses Totentanzes, <strong>die</strong>ses Tanzes von in Rauch aufgehenden Toten, <strong>die</strong> über den<br />
Wolken eine Freiheit finden, <strong>die</strong> grenzenlos ist.<br />
Auch jenseits der Schrecken deutscher Vergangenheit versteht es <strong>die</strong> Gegenwartslyrik,<br />
ohne festes Versmaß und ohne Reim durch Verdichtung der Sprache Gefühle zu<br />
evozieren, <strong>die</strong> unter <strong>die</strong> Haut gehen. Als Beispiel möchte ich ein Gedicht aus Uljana Wolfs<br />
Lyrikbuch „Kochanie ich habe Brot gekauft“ anführen, das den Titel „Aufwachraum“ trägt:<br />
ach wär ich nur im aufwachraum geblieben<br />
traumverloren tropfgebunden unter weißen<br />
laken neben andern <strong>die</strong> sich auch nicht fanden<br />
eine herde schafe nah am schlaf noch nah an<br />
gott und trost da waren große schwesterntiere<br />
unsre hirten <strong>die</strong> sich samten beugten über uns –<br />
und stellten wir einander vor das zahlenrätsel<br />
mensch: von eins bis zehn auf einer skala sag<br />
wie groß ist dein schmerz? – und wäre keine<br />
grenze da in sicht <strong>die</strong> uns erschließen könnte<br />
aus der tiefe wieder aus dem postnarkotischen<br />
geschniefe – blieben wir ganz nah bei <strong>die</strong>sem<br />
ich von andern schafen kaum zu unterscheiden<br />
<strong>die</strong> hier weiden neben sich im aufwachraum<br />
Hier ist nicht expliziert vom Eros <strong>die</strong> Rede, aber doch von der Liebe zum Leben, das an<br />
<strong>die</strong> Grenze des Todes gestoßen ist. Im Prozess des Aufwachens aus der Narkose<br />
verschwimmen Leben und Tod zu einer Vision, in der Gott, Mensch, Tier und Technik
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ineinander fallen. Sprache und Bilder machen aus der prosaischen Situation eine<br />
Erfahrung der <strong>Schönheit</strong>, <strong>die</strong> der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz trotzt.<br />
Schließlich möchte ich noch einen kurzen Blick auf <strong>die</strong> moderne Prosa werfen.<br />
Gesellschaftliche und auch politische Themen sind in den Vordergrund gerückt. Zwar<br />
gehört <strong>die</strong> Liebe meist noch dazu, doch es ist klar, dass der Eros nicht mehr ungebrochen<br />
als Erfüllung uralter Menschensehnsucht auftritt. Eher in seinen unerwünschten<br />
Nebenfolgen. Zahlreiche Romane und Erzählungen der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />
drehen sich um Beziehungsprobleme. Beispiele dafür gibt es unzählige. Anders als im<br />
klassischen Entwicklungsroman bilden Eros und Thanatos keine Einheit mehr, sondern sie<br />
treten gegeneinander an. Der Eros ist verstört, wie Dieter Wellershoff in seiner Geschichte<br />
der Literatur des Begehrens formuliert hat. Da<strong>mit</strong> hört <strong>die</strong> Liebe auf, als Gefühl erlebt zu<br />
werden. Sie wird nach Niklas Luhmann zum symbolischen Code unwahrscheinlicher<br />
Verständigung zwischen den Geschlechtern.<br />
So unwahrscheinlich dauerhafte Liebe für das Lebensgefühl der auf Selbstbestimmung<br />
bestehenden Männer und Frauen heute auch ist, neue Techniken der Erzählung, deren<br />
Organisationsprinzip weniger im Handlungsablauf und mehr in einfachen Formen<br />
sinnlichen Wahrnehmens liegt, liefern immer wieder Beweise der unvergänglichen<br />
<strong>Schönheit</strong> des Eros. Dazu zählt für mich der Erzählband von Judith Hermann:<br />
Sommerhaus später aus dem Jahre 1998. Hier geht es um <strong>die</strong> Begegnung <strong>mit</strong> einem<br />
Mann namens Stein, der nach der Wende ein denkmalgeschütztes Gutshaus renoviert, in<br />
dem er <strong>mit</strong> der Ich-Erzählerin leben möchte. Aber es kommt nicht dazu, beide zögern, bis<br />
das Haus abbrennt. Das letzte Lebenszeichen von Stein ist eine Ansichtskarte, auf deren<br />
Rückseite steht: „Das Dach ist dicht. Das Kind putzt sich <strong>die</strong> Nase, spricht nicht, ist immer<br />
da. Auf <strong>die</strong> Sonne ist Verlass, ich rauche, wenn sie geht, ich habe was gepflanzt, das<br />
kannst du essen. Den Efeu schneid ich, wenn du kommst, du weist, du hast <strong>die</strong> Schlüssel<br />
immer noch“. Hier liegt <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> in der dichten Beschreibung der Situation des<br />
Scheiterns. Der Versinnlichung des Gedankens entspricht <strong>die</strong> Distanzierung des<br />
Emotionalen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> unverzichtbar ist.<br />
Wenn das Schöne mehr als ein Gefühl ist, was ist es dann? Eher eine Form der<br />
Anschauung, allerdings eine besondere. Für Kant sind Raum und Zeit<br />
Anschauungsformen a priori. Er drückt da<strong>mit</strong> den bekannten Sachverhalt aus, dass alle<br />
Gegenstände und Ereignisse unserer Erfahrung sich genau in Raum und Zeit lokalisieren<br />
lassen. Die ästhetische Anschauung dagegen gehorcht nicht mehr dem Gesetz der
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Eindeutigkeit. In der modernen Prosa äußert sich <strong>die</strong> Mehrdeutigkeit darin, dass<br />
verschiedene Ebenen der Darstellung ineinander verschachtelt sind. Als brandaktuelles<br />
Beispiel sei der gerade <strong>mit</strong> dem deutschen Buchpreis ausgezeichnete erste Roman der<br />
Lyrikerin Ursula Krechel, Landgericht, genannt. "Bald poetisch, bald lakonisch, zeichnet<br />
Krechel präzise ihr Bild der frühen Bundesrepublik - von der Architektur über <strong>die</strong><br />
Lebensformen bis hinein in <strong>die</strong> Widersprüche der Familienpsychologie", heißt es in der<br />
Begründung der Jury für <strong>die</strong> Auszeichnung. Das Buch sei ist ein "bewegender, politisch<br />
akuter, in seiner Anmutung bewundernswert kühler und moderner Roman“. Reflexion,<br />
Protokoll und Erzählung interferieren, und <strong>die</strong> Kunst der Autorin besteht darin, <strong>die</strong><br />
verschiedenen semantischen Netzwerke so zu organisieren, dass ästhetische<br />
Isomorphien entstehen. So rückt das Gefühlsmäßige auf eine sehr hohe Stufe formaler<br />
Komplexität. Die Analogie zur Komplexität und Ambivalenz der erotischen Erfahrung ist<br />
unübersehbar, auch wenn das Thema nichts <strong>mit</strong> Liebe und Sexualität zu tun hat. Der<br />
Gegensatz von Erwartung und Enttäuschung, von Exil und Heimat, von Erinnerung und<br />
Gegenwart machen das Geheimnis aus, das <strong>die</strong> Anmutung der <strong>Schönheit</strong> in der Literatur<br />
für immer bewahrt.<br />
Nachdem wir auch <strong>die</strong> Literatur durchgegangen sind, möchte ich nun einige generelle<br />
Folgerungen zur Theorie der <strong>Schönheit</strong> ziehen. Hat in der Moderne Thanatos den Eros<br />
endgültig besiegt und der Sinnlichkeit <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> ausgetrieben? Ich glaube nicht, da<br />
nach meiner Wahrnehmung <strong>die</strong> <strong>Schönheit</strong> des Eros sich auch im Formwandel der Kunst<br />
und der Literatur behauptet. Sicherlich suchen wir das Schöne nicht mehr in der<br />
harmonischen Stimmigkeit des Sujets. Auch nicht mehr im Rezipienten, wo es Kant noch<br />
lokalisiert hat. Wir wissen heute, dass <strong>die</strong> Lust am Schönen keineswegs interesselos ist.<br />
Vielmehr spricht hier <strong>die</strong> Ambivalenz der erotischen Erfahrung, <strong>die</strong> bei Platen durch <strong>die</strong><br />
homoerotische Liebe gesteigert wird. Aber <strong>die</strong> Gefühlsambivalenz ist nicht pathologisch,<br />
wir brauchen uns deshalb nicht von Freud psychoanalytisch behandeln zu lassen, weil <strong>die</strong><br />
Kunst durch ihre Form <strong>die</strong> inneren Widersprüche des menschlichen Begehrens „aufhebt“<br />
im dialektischen Sinne, den Hegel <strong>die</strong>sem Wort gegeben hat: aufbewahrt und zugleich<br />
überwindet.<br />
Zum Schönen, wie es sich der ästhetischen Anschauung präsentiert, gehören nicht nur <strong>die</strong><br />
Werke der Kunst, sondern auch <strong>die</strong> Natur. In der letzten Strophe von Platens Tristan ist<br />
von der Naturschönheit <strong>die</strong> Rede, von den Blumen, deren <strong>Schönheit</strong> gerade in ihrer<br />
Vergänglichkeit aufscheint. Das erinnert mich an einen Satz in Kafkas früher Erzählung
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Beschreibung eines Kampfes: „Immer habe ich eine so quälende Lust, <strong>die</strong> Dinge zu<br />
sehen, wie sie sich geben mögen, ehe sie sich mir zeigen. Sie sind da wohl schön und<br />
ruhig“. Und Theodor Adorno, einer der wenigen bedeutenden Ästhetiker des 20.<br />
Jahrhunderts, der <strong>die</strong> Krisis des Schönen in der Gegenwartskunst beschreibt, zieht am<br />
Ende das Naturschöne dem Kunstschönen vor und geht so weit zu sagen: „Kunst ahmt<br />
nicht Natur nach, auch nicht einzelnes Naturschönes, doch das Naturschöne an sich“.<br />
Was <strong>die</strong> Menschen in der Natur schön finden, unterliegt historischem Wandel. Als Beispiel<br />
seien nur <strong>die</strong> Alpen genannt, <strong>die</strong> erst im 19. Jahrhundert als Gegenstand ästhetischer<br />
Erfahrung entdeckt wurden. Das „Naturschöne an sich“ aber ist der Mensch, der sich vor<br />
der Vergänglichkeit fürchtet, ihr aber nicht hilflos gegenübersteht. Was ihn rettet, ist <strong>die</strong><br />
<strong>Schönheit</strong> seiner Anschauung, <strong>die</strong> den Zumutungen des endlichen Lebens widersteht. Wie<br />
Lynkeus der Türmer in Goethes Faust im Anblick der Natur so wahr, so seiend singt:<br />
Ihr glücklichen <strong>Augen</strong>,<br />
Was je ihr gesehn,<br />
Es sei wie es wolle,<br />
Es war doch so schön!