04.11.2013 Aufrufe

Wenn Gefängnis-Mauern sprechen könnten - Kafo-Online.de

Wenn Gefängnis-Mauern sprechen könnten - Kafo-Online.de

Wenn Gefängnis-Mauern sprechen könnten - Kafo-Online.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Wenn</strong> <strong>Gefängnis</strong>-<strong>Mauern</strong> <strong>sprechen</strong> <strong>könnten</strong><br />

Ein Atheist fin<strong>de</strong>t zu Christus<br />

Ich wur<strong>de</strong> in einer Familie aufgezogen, in <strong>de</strong>r keine Religion anerkannt wur<strong>de</strong>. Während meiner<br />

ganzen Kindheit erhielt ich keinerlei religiöse Unterweisung.<br />

Mein Vater starb, als ich neun Jahre alt war. In unserer Familie war das Geld immer<br />

knapp und oft genug auch das Brot. Ein Bekannter wollte mir einmal einen Anzug schenken,<br />

doch als wir in <strong>de</strong>n La<strong>de</strong>n kamen und <strong>de</strong>r Kaufmann seine beste Ware brachte, sagte er: „Das ist<br />

viel zu schön zu einen solchen Jungen." Ich kann mich immer noch an seine Stimme erinnern.<br />

Meine Schulausbildung war recht mangelhaft, doch wir hatten viele Bücher zu Hause. Noch ehe<br />

ich zehn Jahre alt wur<strong>de</strong>, hatte ich sie alle gelesen und wur<strong>de</strong> genau so ein großer Zweifler wie<br />

Voltarie, <strong>de</strong>n ich verehrte. Hin und wie<strong>de</strong>r interessierte ich mich auch für die Religion. Ich beobachtete<br />

<strong>de</strong>n gottesdienstlichen Ritus in <strong>de</strong>n orthodoxen und römisch-katholischen Kirchen. Einmal<br />

sah ich in einer Synagoge, wie ein Bekannter für seine kranke Tochter betete - sie starb am<br />

nächsten Tag. Ich fragte danach <strong>de</strong>n Rabbiner: „Welcher Gott bringt es fertig, solch ein verzweifeltes<br />

Gebet abzuweisen?" Er hatte keine Antwort. Ich vermochte nicht, an ein allmächtiges Wesen<br />

zu glauben, welches so viele Menschen lei<strong>de</strong>n und Hungers sterben ließ. Noch viel unwahrscheinlicher<br />

erschien es mir, dass dieses Wesen einen Mann von solcher Güte und Weisheit wie<br />

Jesus Christus auf die Er<strong>de</strong> gesandt haben könnte.<br />

Als ich erwachsen war, trat ich ins Geschäftsleben in Bukarest ein. Ich machte meine Sache<br />

gut. Noch keine fünfundzwanzig Jahre alt, hatte ich bereits eine Menge Geld zur Verfügung.<br />

Ich gab es in prunkvollen Bars aus, in Kabaretts und für die Mädchen von Klein-Paris, wie man<br />

die Hauptstadt nannte. Ich fragte nicht nach <strong>de</strong>n Folgen, solange nur mein Hunger nach immer<br />

neuen Reizen gestillt wur<strong>de</strong>. Das war ein Leben, um das mich viele benei<strong>de</strong>ten. Doch mir selbst<br />

brachte es nichts als Herzeleid. Ich wusste, dass ich ein Heuchler war, dass ich etwas in mir<br />

achtlos zerstörte, was gut war und für an<strong>de</strong>re genützt wer<strong>de</strong>n sollte. Ich war überzeugt, dass es<br />

keinen Gott gab. Doch wünschte ich in meinem Herzen, es möchte einen geben, damit das Leben<br />

im Universum einen Sinn habe.<br />

Eines Tages ging ich in die Kirche. Mit an<strong>de</strong>ren Menschen zusammen stand ich vor <strong>de</strong>r<br />

Statue <strong>de</strong>r Jungfrau. Alle beteten, und ich versuchte, ihnen nachzusagen: „Gegrüßest seist du,<br />

Maria, voll <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>n." Doch ich fühlte mich vollkommen leer. Ich sprach zu <strong>de</strong>m Bild:<br />

„Wahrhaftig, das sieht einem Stein ähnlich! So viele Menschen flehen dich an, aber du hast ihnen<br />

nichts zu geben!"<br />

Auch nach meiner Heirat stellte ich noch an<strong>de</strong>ren Mädchen nach. Ich jagte weiter nach<br />

Vergnügen, log, betrog, war leichtsinnig, tat <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Menschen weh. Da mein Körper durch<br />

die Entbehrungen <strong>de</strong>r Kindheit geschwächt war, fühlte dieses ausschweifen<strong>de</strong> Leben dazu, dass<br />

ich mit siebenundzwanzig Jahren an Tuberkulose erkrankte. Zu jener Zeit war die Tb noch eine<br />

fast unheilbare Krankheit, und eine Zeitlang sah es so aus, als wür<strong>de</strong> ich sterben. Ich hatte Angst.<br />

In einem Sanatorium auf <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> kam ich zum ersten Mal in meinem Leben zur Ruhe. Ich lag<br />

da, schaute in die Baumkronen und dachte über die Vergangenheit nach. Sie tauchte in meinem<br />

Gedächtnis wie Szenen aus einem grausigen Schauspiel auf. Meine Mutter weinte um mich,<br />

meine Frau hatte geweint, viele schuldlose Mädchen hatten geweint. Ich hatte verführt, verleum<strong>de</strong>t,<br />

gespottet und geprahlt, nur um Eindruck zu schin<strong>de</strong>n. Da lag ich nun, und die Tränen kamen<br />

mir.<br />

In diesem Sanatorium betete ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebet eines<br />

Atheisten. Ich sagte etwa: „O Gott, ich weiß, dass es dich nicht gibt, doch falls es dich doch gibt,<br />

was ich bestreite, so ist es <strong>de</strong>ine Sache, dich mir zu offenbaren. Es ist nicht meine Pflicht, nach<br />

dir zu suchen."<br />

Meine Weltanschauung war bis dahin materialistisch, doch mein Herz konnte damit nicht<br />

zufrie<strong>de</strong>ngestellt wer<strong>de</strong>n. Ich glaubte an die Theorie, dass <strong>de</strong>r Mensch nur Stoff ist, und dass er in<br />

Salze und Mineralien zerfällt, wenn er stirbt. Ich hatte meinen Vater verloren und habe auch an-<br />

1


<strong>de</strong>re Beerdigungen besucht. Aber niemals konnte ich an Verstorbene an<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>nken als an Persönlichkeiten.<br />

Wer kann sich sein totes Kind o<strong>de</strong>r seine Frau als ein Häufchen von Mineralien<br />

vorstellen? Es ist immer die geliebte Person, die in Erinnerung bleibt. Kann man sich in seinen<br />

Gefühlen <strong>de</strong>rartig irren?<br />

Mein Herz war voller Wi<strong>de</strong>rsprüche. Ich hatte Stun<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n lauten Vergnügungsstätten<br />

unter halbnackten Mädchen und aufpeitschen<strong>de</strong>r Musik verbracht. Doch liebte ich es auch, dann<br />

und wann an einem Wintertag über einen Friedhof zu gehen, wenn <strong>de</strong>r Schnee schwer auf <strong>de</strong>n<br />

Gräbern lag. Dann sagte ich zu mir selbst: „Einmal wirst auch du tot sein. Schnee wird auf <strong>de</strong>in<br />

Grab fallen, während die Leben<strong>de</strong>n lachen, sich umarmen und das Leben genießen. Du wirst ihre<br />

Freu<strong>de</strong> nicht teilen können, du wirst nicht einmal darum wissen, du wirst einfach nicht mehr da<br />

sein. Bald wird sich keiner mehr <strong>de</strong>iner erinnern. Also, was hat das alles noch für einen Sinn?"<br />

<strong>Wenn</strong> ich über soziale und politische Probleme nachdachte, schien es mir durchaus möglich,<br />

dass <strong>de</strong>r Mensch eines Tages ein System fin<strong>de</strong>n könnte, welches allen Menschen Freiheit,<br />

Sicherheit und Wohlstand bringt. Doch wenn je<strong>de</strong>rmann glücklich ist, wird keiner bereit sein zu<br />

sterben. Allein <strong>de</strong>r Gedanke daran, dass sie eines Tages ihr glückliches Dasein verlassen müssen,<br />

wird sie unglücklicher machen <strong>de</strong>nn je.<br />

Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dass Krupp, <strong>de</strong>r durch die Herstellung von todbringen<strong>de</strong>n<br />

Waffen Millionär gewor<strong>de</strong>n war, selbst entsetzliche Angst vor <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> hatte. Niemand<br />

durfte in seiner Gegenwart das Wort „Tod" aus<strong>sprechen</strong>. Er ließ sich von seiner Frau schei<strong>de</strong>n,<br />

weil sie ihm von <strong>de</strong>m Tod eines Neffen erzählt hatte. Er besaß alles, doch er war ein unglücklicher<br />

Mensch. Er wusste, dass sein Glück nicht ewig währen wür<strong>de</strong>. Eines Tages wür<strong>de</strong> er alles<br />

zurücklassen müssen, um in einem Grab zu verwesen.<br />

Ich hatte die Bibel aus literarischem Interesse gelesen. Doch mein Verständnis versagte an<br />

einer Stelle, nämlich da, wo die Gegner Christus herausfor<strong>de</strong>rn: „<strong>Wenn</strong> du Gottes Sohn bist, steige<br />

herab vom Kreuz!" Anstatt ihrer For<strong>de</strong>rung zu ent<strong>sprechen</strong> und seine Macht zu zeigen, stirbt<br />

er. Und doch musste ich immer wie<strong>de</strong>r an ihn <strong>de</strong>nken. Ich sagte zu mir selbst: „<strong>Wenn</strong> ich ihm<br />

doch nur einmal begegnen wür<strong>de</strong> und mit ihm <strong>sprechen</strong> könnte!" Je<strong>de</strong>n Tag en<strong>de</strong>te mein Grübeln<br />

mit diesen Gedanken.<br />

In <strong>de</strong>m Sanatorium gab es eine Patientin, die zu krank war, um ihr Zimmer zu verlassen.<br />

Doch irgendwie hatte sie von mir gehört und sandte mir ein Buch. Es han<strong>de</strong>lte von <strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>rn<br />

Ratisbonne, die einen Or<strong>de</strong>n zur Bekehrung von Ju<strong>de</strong>n gegrün<strong>de</strong>t hatten. Demnach gab es Menschen,<br />

die für mich, einen Ju<strong>de</strong>n, gebetet hatten, während ich selbst mein Leben vergeu<strong>de</strong>te.<br />

In dieser Zeit meiner inneren Zerrissenheit betete - wie ich später herausfand -in einem<br />

Dorf hoch in <strong>de</strong>n Bergen Rumäniens ein alter Schreiner zu Gott: „Mein Gott, ich habe dir auf Er<strong>de</strong>n<br />

gedient und möchte gern noch in dieser Welt wie auch später im Himmel meinen Lohn haben.<br />

Und mein Lohn soll sein, dass ich nicht eher sterbe, bis ich einen Ju<strong>de</strong>n zu Christus gebracht<br />

habe, weil Jesus vom jüdischen Volke kam. Aber ich bin arm, alt und krank. Ich kann nicht mehr<br />

umhergehen und einen Ju<strong>de</strong>n suchen. In meinem Dorfe sind keine. Bringe du einen Ju<strong>de</strong>n in mein<br />

Dorf, und ich will mein Bestes tun, ihn zu Christus zu führen."<br />

Irgen<strong>de</strong>twas Unwi<strong>de</strong>rstehliches zog mich zu jenem Dorf. Ich hatte dort nichts zu suchen.<br />

Rumänien hat über 12000 Dörfer. Aber ich ging ausgerechnet in jenes Dorf. Als <strong>de</strong>r Schreiner<br />

sah, dass ich ein Ju<strong>de</strong> war, warb er um mich, wie wohl noch nie einer um ein schönes Mädchen<br />

geworben hat. Er sah in mir die Antwort auf sein Gebet, und <strong>de</strong>r gab mir die Bibel zu lesen. Ich<br />

hatte auch vorher schon die Bibel öfter gelesen, weil es zur Allgemeinbildung gehörte. Aber die<br />

Bibel, die er mir gab, war eine Bibel von an<strong>de</strong>rer Art. Wie er mir später erzählte, hatte er oft<br />

stun<strong>de</strong>nlang mit seiner Frau für meine und meiner Frau Bekehrung zu Gott gebetet. So war die<br />

Bibel, die er mir damals gab, eigentlich nicht in Buchstaben geschrieben, son<strong>de</strong>rn in Flammenzeichen<br />

<strong>de</strong>r Liebe, die seine Gebete entzün<strong>de</strong>t hatten. Ich konnte sie nur mit Mühe lesen. Denn<br />

ich konnte nur darüber weinen, wenn ich mein schlechtes Leben mit <strong>de</strong>m Leben Jesu verglich,<br />

meine Unreinheit mit Seiner Reinheit, meinen Hass mit Seiner Liebe. Und er nahm mich an, damit<br />

auch ich zu <strong>de</strong>n Seinen gehörte.<br />

Bald nach mir wur<strong>de</strong> auch meine Frau zu Gott bekehrt. Sie brachte noch an<strong>de</strong>re Menschen<br />

zu Christus, und diese an<strong>de</strong>ren brachten wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re zu Christus, und so entstand eine neue<br />

2


evangelische Gemein<strong>de</strong> in Rumänien.<br />

Dann kam die Nazizeit. Wir hatten viel zu lei<strong>de</strong>n. In Rumänien nahm <strong>de</strong>r Nationalsozialismus<br />

die Form einer Diktatur extrem griechisch-orthodoxer Elemente an, die protestantische<br />

Gruppen ebenso wie die Ju<strong>de</strong>n verfolgten.<br />

Längst vor meiner eigentlichen Ordination, und bevor ich überhaupt für mein geistliches<br />

Amt ausgebil<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, war ich in Wirklichkeit schon <strong>de</strong>r Leiter <strong>de</strong>r Kirche, da ich ihr Grün<strong>de</strong>r<br />

war. Ich trug die Verantwortung für sie. Meine Frau und ich wur<strong>de</strong>n mehrmals verhaftet, geschlagen<br />

und vor Nazirichter gezerrt. Der Naziterror war schlimm, aber nur ein Vorgeschmack<br />

von <strong>de</strong>m Schrecken, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>n Kommunisten kommen sollte. Meinem Sohn Mihai mussten<br />

wir einen nichtjüdischen Namen geben, um ihn vor <strong>de</strong>m Tod zu bewahren.<br />

Mein Dienst an <strong>de</strong>n Russen<br />

Weil ich es tief bereute, dass ich ein Atheist gewesen war, wünschte ich nichts sehnlicher<br />

vom ersten Tag meiner Hinkehr zu Gott, als <strong>de</strong>n Russen ein Zeuge Jesu zu sein. Die Russen sind<br />

heute ein Volk, <strong>de</strong>ssen Menschen von Kindheit an im Atheismus erzogen wer<strong>de</strong>n. Mein Wunsch,<br />

gera<strong>de</strong> Russen für das Evangelium zu gewinnen, ist erfüllt wor<strong>de</strong>n. Seine Verwirklichung hatte<br />

schon zur Zeit <strong>de</strong>r nationalsozialistischen Besatzung angefangen, <strong>de</strong>nn wir hatten in Rumänien<br />

viele Tausend Kriegsgefangener Russen, und wir konnte missionarische Arbeit unter ihnen tun.<br />

Es war eine bewegen<strong>de</strong>, erschüttern<strong>de</strong> Arbeit. Meine erste Begegnung mit einem russischen<br />

Kriegsgefangenen wer<strong>de</strong> ich nie vergessen. Er erzählte mir, er sei Ingenieur. Ich fragte ihn,<br />

ob er an Gott glaube. Hätte er „nein" gesagt, wäre ich nicht einmal erstaunt gewesen. Es steht<br />

je<strong>de</strong>m frei, zu glauben o<strong>de</strong>r nicht zu glauben. Aber als ich ihn fragte, ob er an Gott glaube, blickte<br />

er verständnislos zu mir auf und sagte: „Ich habe keinen solchen militärischen Befehl zu glauben.<br />

<strong>Wenn</strong> ich einen Befehl bekomme, wer<strong>de</strong> ich glauben."<br />

Tränen rannen mir über die Wangen. Ich fühlte gera<strong>de</strong>zu mein Herz in Stücke gerissen.<br />

Hier stand ein Mann vor mir, <strong>de</strong>ssen Geist tot war, ein Mensch, <strong>de</strong>r die größte Gabe, die Gott<br />

<strong>de</strong>r Menschheit gegeben hat, verloren hatte: ein Individuum, eine unverwechselbare Person zu<br />

sein. Er war ein willenloses Werkzeug in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Kommunisten, bereit auf Befehl zu<br />

glauben o<strong>de</strong>r nicht. Von sich aus konnte er nicht mehr entschei<strong>de</strong>n. Das war ein typischer Russe*<br />

geprägt von all <strong>de</strong>n Jahren kommunistischer Herrschaft. Nach dieser erschüttern<strong>de</strong>n Erfahrung<br />

über das, was <strong>de</strong>r Kommunismus menschlichen Wesen angetan hat, gelobte ich Gott, diesen<br />

Menschen von nun an mein Leben zu weihen, um ihnen ihre Persönlichkeit wie<strong>de</strong>r zu verschaffen<br />

und ihnen zum Glauben an Gott zu verhelfen.<br />

Ich brauchte nicht nach Russland zu gehen, um die Russen zu erreichen.<br />

Seit <strong>de</strong>m 23. August 1944 waren etwa eine Million russischer Truppen in Rumänien eingerückt,<br />

und schon kurz danach kamen die Kommunisten in unserem Land zur Macht. Damit<br />

zog eine Schreckensherrschaft herauf, die die Lei<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>n Nazis als harmlos erscheinen<br />

ließ.<br />

Zu dieser Zeit hatte die kommunistische Partei in Rumänien, <strong>de</strong>ssen Bevölkerung damals<br />

18 Millionen zählte, nur zehntausend Mitglie<strong>de</strong>r. Aber Wyschinski, <strong>de</strong>r damalige Außenminister<br />

<strong>de</strong>r Sowjetunion, stürmte in die Resi<strong>de</strong>nz König Michaels I., <strong>de</strong>r beim Volk sehr beliebt war,<br />

schlug mit <strong>de</strong>r Faust auf <strong>de</strong>n Tisch und for<strong>de</strong>rte: „Sie müssen Kommunisten in die Regierung<br />

hereinnehmen." Unsere Armee und Polizei wur<strong>de</strong> entwaffnet, und so kamen, unter Gewalt und<br />

von vielen gehasst, die Kommunisten an die Macht. Dies vollzog sich nicht ohne die Mitwirkung<br />

<strong>de</strong>r amerikanischen und britischen Staatsmänner jener Zeit.<br />

Menschen sind vor Gott nicht nur für ihre persönlichen Sün<strong>de</strong>n verantwortlich, son<strong>de</strong>rn<br />

auch für die politischen Sün<strong>de</strong>n ihres Volkes. Die Tragödie all <strong>de</strong>r versklavten Völker Osteuropas<br />

geht auch zu Lasten <strong>de</strong>r amerikanischen und britischen Christen.<br />

3


Die Sprache <strong>de</strong>r Liebe und die Sprache <strong>de</strong>r Verführung klingen gleich<br />

Nach<strong>de</strong>m die Kommunisten einmal zur Macht gekommen waren, gebrauchten sie meisterhaft<br />

das Mittel <strong>de</strong>r Täuschung gegenüber <strong>de</strong>n Kirchen. Denn die Sprache <strong>de</strong>r Liebe und die<br />

Sprache <strong>de</strong>r Verführung klingen gleich. Derjenige, <strong>de</strong>r ein Mädchen zur Frau begehrt, und <strong>de</strong>rjenige,<br />

<strong>de</strong>r sie nur für eine Nacht haben will, um sie danach wie<strong>de</strong>r wegzuwerfen, beteuern bei<strong>de</strong>:<br />

„Ich liebe dich." Jesus mahnt uns in seinem Wort, die Sprache <strong>de</strong>r Verführung von <strong>de</strong>r Sprache<br />

<strong>de</strong>r Liebe zu unterschei<strong>de</strong>n und einen Unterschied zu machen zwischen Wölfen in Schafsklei<strong>de</strong>rn<br />

und echten Schafen.<br />

Als die Kommunisten die Macht innehatten, wussten Tausen<strong>de</strong> von Priestern, Pfarrern<br />

und Predigern die bei<strong>de</strong>n Sprachen nicht zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Die Kommunisten beriefen einen Kongress aller christlichen Körperschaften in unser Parlamentsgebäu<strong>de</strong><br />

in Bukarest ein. Dort waren viertausend Priester, Pastoren und Prediger aller<br />

Religionsgemeinschaften versammelt. Diese viertausend Geistlichen wählten Joseph Stalin zum<br />

Ehrenpräsi<strong>de</strong>nten dieses Kongresses. Gleichzeitig war Stalin amtieren<strong>de</strong>r Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>s Weltverban<strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>r Gottlosenbewegung und ein Massenmör<strong>de</strong>r von Christen. Aber einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren,<br />

ob Bischof o<strong>de</strong>r Pfarrer, erhob sich in unserem Parlament und erklärte öffentlich, dass <strong>de</strong>r<br />

Kommunismus und das Christentum in ihren Grundlagen gleich seien und friedlich nebeneinan<strong>de</strong>r<br />

bestehen <strong>könnten</strong>. Ein Geistlicher nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren fand preisen<strong>de</strong>r Worte für <strong>de</strong>n Kommunismus<br />

und versicherte <strong>de</strong>r neuen Regierung die treue Mitarbeit <strong>de</strong>r Kirche.<br />

Meine Frau saß neben mir und sagte zu mir: „Richard, steh' auf und wasche diese Schan<strong>de</strong><br />

vom Antlitz Christi! Sie speien ihm ins Gesicht." Ich sagte zu meiner Frau: „<strong>Wenn</strong> ich das<br />

tue, verlierst du <strong>de</strong>inen Mann." Sie erwi<strong>de</strong>rte: „Ich möchte keinen Feigling zum Mann haben."<br />

Da stand ich auf und sprach zu diesem Kongress, und ich pries nicht die Mör<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Christen, son<strong>de</strong>rn Christus und Gott und sagte, dass wir zuallererst Ihm unsere Treue schul<strong>de</strong>n.<br />

Alle Re<strong>de</strong>n auf diesem Kongress wur<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Rundfunk übertragen, und das ganze Land<br />

konnte die von <strong>de</strong>r* Rednertribüne <strong>de</strong>s kommunistischen Parlaments verkündigte Botschaft von<br />

Jesus Christus hören. Später musste ich dafür bezahlen, aber das war es wert gewesen.<br />

Orthodoxe und protestantische Kirchenführer wetteiferten miteinan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n Kommunisten<br />

ihre Ergebenheit auszudrücken. Ein orthodoxer Bischof steckte sich Hammer und Sichel auf das<br />

Gewand und for<strong>de</strong>rte seine Priester auf, ihn nicht mehr „Euer Gna<strong>de</strong>n" zu nennen, son<strong>de</strong>rn „Genosse<br />

Bischof.<br />

Ich nahm am Baptistenkongress in <strong>de</strong>r Stadt Resita teil - auch ein Kongress unter <strong>de</strong>r roten<br />

Fahne, wo man stehend miteinan<strong>de</strong>r die sowjetische Nationalhymne sang. Der Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>r<br />

Baptisten verkündigte dort, dass Stalin nichts an<strong>de</strong>res getan habe als die Gebote Gottes zu erfüllen.<br />

Er pries Stalin als einen großen Lehrer <strong>de</strong>r Bibel. Priester wie PatrOscoiu und Rosianü<br />

drückten es noch <strong>de</strong>utlicher aus; sie wur<strong>de</strong>n Beamte <strong>de</strong>r Geheimpolizei. Rapp, stellvertreten<strong>de</strong>r<br />

Bischof <strong>de</strong>r lutherischen Kirche in Rumänien, lehrte nun in <strong>de</strong>m Theologischen Seminar, dass<br />

Gott sich dreimal offenbart habe: einmal durch Mose, dann durch Jesus und das dritte Mal durch<br />

Stalin, wobei letzterer seinen Vorgänger noch überrage.<br />

Man darf über all <strong>de</strong>m nicht vergessen, dass die echten Baptisten, mit <strong>de</strong>nen ich eng verbun<strong>de</strong>n<br />

bin, nicht mitmachten, son<strong>de</strong>rn Jesus Christus treu blieben, wofür sie viel zu lei<strong>de</strong>n hatten.<br />

Die Kommunisten bestimmten jedoch durch „Wahl" ihre Leiter, und die Baptisten hatte keine<br />

an<strong>de</strong>re Wahl, als sie anzunehmen.<br />

Jetzt begannen diejenigen, die statt Diener Christi Diener <strong>de</strong>r Kommunisten gewor<strong>de</strong>n<br />

waren, die Glaubensbrü<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>nunzieren, die sich ihnen nicht anschließen wollten.<br />

So wie nach <strong>de</strong>r Russischen Revolution die Christen dort eine Untergrundkirche gebil<strong>de</strong>t<br />

hatten, zwangen uns nun die Machtergreifung <strong>de</strong>s Kommunismus und <strong>de</strong>r Verrat vieler offizieller<br />

Kirchenführer, auch in Rumänien eine Untergrundkirche zu schaffen; eine, getreu ihrem Auftrag<br />

zu evangelisieren, die frohe Botschaft zu verkündigen und die Kin<strong>de</strong>r für Jesus Christus zu<br />

gewinnen. Die Kommunisten verboten das alles, und die offizielle Kirche fügte sich.<br />

So begann ich gemeinsam mit an<strong>de</strong>ren, Gemein<strong>de</strong>arbeit im geheimen zu betreiben. Nach<br />

4


außen hin hatte ich eine sehr angesehene soziale Stellung, die mit meiner eigentlichen verbogenen<br />

Reichsgottesarbeit nichts zu tun hatte und nur als Deckmantel diente. Ich war Pastor <strong>de</strong>r<br />

Norwegischen Lutherischen Mission, und gleichzeitig arbeitete ich im rumänischen Ausschuss<br />

<strong>de</strong>s Weltkirchenrates. (In Rumänien hatten wir nicht die blasseste Ahnung, dass die Organisation<br />

in irgen<strong>de</strong>iner Weise mit <strong>de</strong>n Kommunisten zusammenarbeiten wür<strong>de</strong>. Zu jener Zeit diente sie<br />

je<strong>de</strong>nfalls in unserem Land ausschließlich <strong>de</strong>r Erleichterung unserer Arbeit.) Diese bei<strong>de</strong>n Ämter<br />

gaben mir einen sehr guten Stand gegenüber <strong>de</strong>n Behör<strong>de</strong>n, die von meiner Untergrundarbeit<br />

nichts wussten.<br />

Die Russen - ein Volk mit dürsten<strong>de</strong>n Seelen<br />

Für mich be<strong>de</strong>utete es <strong>de</strong>n Himmel auf Er<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Russen das Evangelium zu predigen.<br />

Ich habe die Heilsbotschaft Menschen aus vielen Nationen gepredigt, aber ich habe noch nie ein<br />

Volk das Evangelium so in sich einsaugen sehen wie die Russen. Ihre Seelen dürsten gera<strong>de</strong>zu<br />

danach.<br />

Wir arbeiteten unter <strong>de</strong>n Russen nicht nur durch unser Zeugnis im persönlichen Gespräch.<br />

Daneben konnten wir auch missionarischen Dienst in kleinen Versammlungen tun.<br />

Viele unserer Brü<strong>de</strong>r und Schwestern aus <strong>de</strong>r Untergrundkirche wur<strong>de</strong>n gefasst und<br />

schwer misshan<strong>de</strong>lt, aber sie verrieten nie unsere Organisation. Wir hatten aber auch die große<br />

Freu<strong>de</strong>, bei unserer Arbeit Brü<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>rUntergrundkirche in Russland zu treffen und ihre Erfahrungen<br />

zu hören. Was uns vor allem an ihnen auffiel, waren Wesenszüge, wie sie von großen<br />

Heiligen berichtet wer<strong>de</strong>n. Und dabei waren sie durch so viele Jahre kommunistischer Beeinflussung<br />

hindurchgegangen. Einige von ihnen hatten sogar kommunistische Universitäten absolviert;<br />

aber in <strong>de</strong>r Weise, wie ein Fisch im Salzwasser lebt und doch sein Fleisch süß erhält, hatten<br />

sie die kommunistischen Schulen durchlaufen, jedoch ihre Seelen dabei klar und rein in<br />

Christus bewahrt.<br />

Was hatten diese russischen Christen für herrliche Seelen! „Wir wissen", sagten sie,<br />

„dass <strong>de</strong>r Stern mit Hammer und Sichel, <strong>de</strong>n wir an <strong>de</strong>r Mütze tragen, das Zeichen <strong>de</strong>s Antichristen<br />

ist." Sie sagten! das mit großem Kummer. Und sie halfen uns überall, das Evangelium unter<br />

<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren russischen Soldaten auszubreiten.<br />

Russen sind niemals gekünstelt o<strong>de</strong>r oberflächlich in religiösen Dingen. Ob sie gegen die<br />

Religion gekämpft haben o<strong>de</strong>r dafür eingetreten sind und Christus gesucht haben, in bei<strong>de</strong>s haben<br />

sie stets ihre ganze Seele gelegt. Das ist ein Grund, warum in Russland je<strong>de</strong>r Christ ein Missionar<br />

wird, <strong>de</strong>r Seelen zu gewinnen sucht. Das ist aber auch ein Grund, warum kein Land <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> so<br />

aufgeschlossen und reif für die Arbeit <strong>de</strong>s Evangeliums ist. Die Russen sind eines <strong>de</strong>r von Natur<br />

aus am stärksten religiös veranlagte Völker <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Der Gang je<strong>de</strong>r Weltgeschichte könnte verän<strong>de</strong>rt<br />

wer<strong>de</strong>n, wenn wir sie <strong>de</strong>m Angriff <strong>de</strong>s Evangeliums aussetzten. Es ist eine wahre Tragödie,<br />

dass dieses russische Land und seine Völker gera<strong>de</strong>zu einen Hunger nach Gottes Wort haben,<br />

es jedoch <strong>de</strong>n Anschein hat, als ob alle Christen hier die Russen abgeschrieben hätten.<br />

Bei einer Bahnfahrt saß mir in <strong>de</strong>m Abteil ein russischer Offizier gegenüber. Ich hatte mit<br />

ihm über Christus zu <strong>sprechen</strong> versucht, als er mir schon nach wenigen Minuten mit einem wahren<br />

Ausbruch atheistischer Argumente entgegentrat. Von Marx, Stalin, Voltaire, Darwin und<br />

an<strong>de</strong>ren Gewährsleuten flössen ihm Zitate gegen die Bibel nur so aus <strong>de</strong>m Mund. Er gab mir<br />

keine Gelegenheit, ihn zu wi<strong>de</strong>rlegen. Er re<strong>de</strong>te fast eine Stun<strong>de</strong> lang, um mich davon zu überzeugen,<br />

dass es keinen Gott gibt. Als er zu En<strong>de</strong> war, fragte ich ihn: „<strong>Wenn</strong> es keinen Gott gibt,<br />

warum beten Sie <strong>de</strong>nn, wenn Sie in Not sind?" Wie ein beim Stehlen überraschter Dieb erwi<strong>de</strong>rte<br />

er: „Woher wissen Sie <strong>de</strong>nn, dass ich bete?" Ich erlaubte ihm nicht zu entschlüpfen. „Ich habe<br />

meine Frage zuerst gestellt. Ich habe gefragt, warum Sie beten. Bitte, antworten Sie!" Er senkte<br />

etwas <strong>de</strong>n Kopf und gab zu: „Als wir an <strong>de</strong>r Front von <strong>de</strong>n Deutschen eingeschlossen waren, haben<br />

wir alle gebetet. Wir wussten nicht recht, wie wir es anstellen sollten. Deshalb sagten wir<br />

einfach: Du Gott und mütterlicher Geist...'" -was in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r die Herzen ansieht,<br />

sicherlich ein sehr gutes Gebet ist.<br />

5


Unser verborgener Dienst für ein geknechtetes Volk<br />

Das zweite Arbeitsgebiet war unsere geheime missionarische Arbeit unter <strong>de</strong>n Rumänen<br />

selber.<br />

Sehr bald schon ließen auch bei uns die Kommunisten die Maske fallen. Am Anfang hatten<br />

sie noch Metho<strong>de</strong>n angewandt, um die Kirchenführer auf ihre Seite zu ziehen; dann aber begann<br />

<strong>de</strong>r offene Terror. Tausen<strong>de</strong> wur<strong>de</strong>n verhaftet. Einen Menschen für Christus zu gewinnen<br />

Wur<strong>de</strong> auch für uns jetzt eine aufregen<strong>de</strong> Sache, wie sie es für die Russen schon lange war.<br />

Später war ich dann selber im (<strong>Gefängnis</strong> mit solchen Menschen zusammen, die Gott<br />

mich vorher hatte für Christus gewinnen lassen. Ich war mit einem zusammen in<br />

i<br />

<strong>de</strong>rselben Zelle, <strong>de</strong>r sechs Kin<strong>de</strong>r zurückgelassen hatte und nur um seines Glaubens willen im<br />

<strong>Gefängnis</strong> saß. Seine Frau und die Kin<strong>de</strong>r litten Hunger. Wahrscheinlich sah er sie nie mehr wie<strong>de</strong>r.<br />

Ich fragte ihn: „Hegst du irgen<strong>de</strong>inen «Groll gegen mich im Herzen, weil ich dich zu Jesus<br />

Christus gebracht und dadurch <strong>de</strong>ine Familie in solches Elend gestürzt habe?" Er sagte: „Ich habe<br />

keine Worte, um meinen Dank auszudrücken, dass du mich zu <strong>de</strong>m wun<strong>de</strong>rbaren Retter gebracht<br />

hast. Ich wollte es nie mehr an<strong>de</strong>rs haben."<br />

Wie die Kirche aus <strong>de</strong>m Untergrund in die Öffentlichkeit hineinwirkte<br />

Die Untergrundkirche versammelte sich in Privathäusern, in Wäl<strong>de</strong>rn, in Kellergeschossen<br />

- wo immer sie konnte. Dort, im geheimen, bereitete sie ihre Arbeit in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit vor.<br />

Unter <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Kommunisten entwarfen wir unseren Plan für eine Straßenmission, die<br />

zwar mit <strong>de</strong>r Zeit immer gefahrvoller wur<strong>de</strong>, aber auf diese Art viele Menschen erreichte, die<br />

wir sonst nie erreicht hätten. Beson<strong>de</strong>rs meine Frau war darin sehr aktiv. Ein paar Christen sammelten<br />

sich unauffällig an einer Straßenecke und fingen an zu singen. Die Leute blieben um sie<br />

herum stehen, um <strong>de</strong>n schönen Gesang


verborgen.<br />

Es ist keine Kleinigkeit, von <strong>de</strong>r eigenen Familie und von Freun<strong>de</strong>n verachtete zu wer<strong>de</strong>n,<br />

weil man die kommunistische Uniform trägt, und ihnen <strong>de</strong>n wahren Auftrag nicht sagen zu<br />

können. Doch sie nahmen es auf sich - aus selbstloser Liebe zu Christus und seiner Gemein<strong>de</strong>.<br />

Als ich von <strong>de</strong>r Straße weg entführt und jahrelang unter strengster Geheimhaltung in<br />

Haft gehalten wur<strong>de</strong>, trat <strong>de</strong>r Fall ein, dass ein christlicher Arzt Mitglied <strong>de</strong>r Geheimpolizei<br />

wur<strong>de</strong>, um meinen Aufenthaltsort herauszufin<strong>de</strong>n. Als Vertrauensarzt <strong>de</strong>r Geheimpolizei hatte er<br />

Zugang zu <strong>de</strong>n Zellen aller Häftlinge und hoffte so, mich zu ent<strong>de</strong>cken. Alle seine Freun<strong>de</strong> mie<strong>de</strong>n<br />

ihn, weil sie glaubten, er sei Kommunist gewor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Uniform <strong>de</strong>r Folterer umherzulaufen<br />

ist für einen Gläubigen ein weit größeres Opfer, als die Kluft <strong>de</strong>r Häftlinge zu tragen.<br />

Der Arzt fand mich in einer dunklen Kellerzelle und gab Nachricht, dass ich noch am<br />

Leben war. Er war <strong>de</strong>r erste Freund, <strong>de</strong>r mich während meiner ersten achteinhalb Jahre <strong>Gefängnis</strong><br />

aufgespürt hatte. Ihm ist es zu verdanken, dass die Kun<strong>de</strong>, ich sei noch am Leben, hinaus<br />

drang; und als während <strong>de</strong>s Eisenhower-Chrustschow-Tauwetters im Jahre 1956 Häftlinge begnadigt<br />

wur<strong>de</strong>n, stellten Christen <strong>de</strong>r unterdrückten Kirche auch für mich einen Entlassungsantrag,<br />

und ich kam für kurze Zeit frei.<br />

Hätte sich dieser christliche Arzt nicht dazu entschlossen, <strong>de</strong>r Geheimpolizei beizutreten,<br />

um in erster Linie mich aufzuspüren, wäre ich nie herausgekommen. Ich wäre noch heute im<br />

<strong>Gefängnis</strong> o<strong>de</strong>r im Grabe.<br />

Die Untergrundkirche hat auch heute noch Vertrauensleute in <strong>de</strong>r Geheimpolizei, die ihre<br />

christlichen Brü<strong>de</strong>r dadurch schützen, dass sie rechtzeitig sie vor drohen<strong>de</strong>r Gefahr warnen.<br />

Dennoch wer<strong>de</strong>n viele Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Untergrundkirche ent<strong>de</strong>ckt und eingekerkert. Auch<br />

wir hatten unsere Judasse, die ausplau<strong>de</strong>rten und <strong>de</strong>r Geheimpolizei berichteten. Die Kommunisten<br />

scheuten kein Mittel, durch Schläge und Verwendung von Drogen, durch Drohung und Erpressung<br />

Geistliche und Laien ausfindig zu machen, die bereit wären, über ihre Brü<strong>de</strong>r laufend<br />

Berichte zu machen.<br />

Die Revolution frisst ihre Kin<strong>de</strong>r<br />

Im Zuge <strong>de</strong>r Massenverhaftungen, die damals im Gange waren, könnte meine eigene<br />

Verhaftung ohne weiteres als eine Antwort auf mein Gebet angesehen wer<strong>de</strong>n. Niemals hätte ich<br />

jedoch erwartete, dass <strong>de</strong>r erste Mensch, <strong>de</strong>r meine Zelle mit mir teilen wür<strong>de</strong>, Genosse Patrascanu<br />

in eigener Person sein wür<strong>de</strong>.<br />

Einige Tage nach meiner Ankunft wur<strong>de</strong> die Tür meiner Zelle geöffnet, um <strong>de</strong>n staatlichen<br />

Justizminister einzulassen. Mein erster Gedanke war, er käme, um mich persönlich zu verhören.<br />

Weshalb solche Ehre? Doch dann wur<strong>de</strong> die Tür hinter ihm wie<strong>de</strong>r verschlossen, und zu<br />

meiner Verwun<strong>de</strong>rung bemerkte ich, dass sein Kragen offen war, und dass er keine Krawatte<br />

trug. Ich schaute an ihm hinunter bis zu seinen auf Hochglanz geputzten Schuhen: keine Schnürsenkel!<br />

Der zweite Gefangene in meiner funkelnagelneuen Zelle war <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Kommunismus<br />

in unserem Land zur Macht verholfen hatte.<br />

Er setzte sich auf die an<strong>de</strong>re Pritsche und schwang die Beine hoch. Als ein hartgesottener<br />

Verstan<strong>de</strong>smensch dachte er nicht daran, sich durch diese plötzliche Verwandlung von einem<br />

Minister in einen Galgenvogel aus <strong>de</strong>r Ruhe bringen zu lassen. Eingehüllt in unsere Mäntel, um<br />

uns vor <strong>de</strong>r kühlen Märzwitterung zu schützen, begannen wir eine Unterhaltung. Ich wusste,<br />

dass Patrascanus Grundsätze das Recht gebrochen und sehr viel Unheil angerichtet hatten. Dennoch<br />

war es mir möglich, ihn als Mensch gern zu haben und an seine Aufrichtigkeit zu glauben.<br />

Seine Verhaftung tat er mit einem Achselzucken ab. Es war keineswegs seine erste Bekanntschaft<br />

mit <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong>. Von <strong>de</strong>n früheren Machthabern Rumäniens war er bereits mehrmals<br />

verhaftet wor<strong>de</strong>n. Allem Anschein nach hatte seine zunehmen<strong>de</strong> Beliebtheit zu einem Komplott<br />

<strong>de</strong>r übrigen Parteiführer gegen ihn geführt. Einige Tage vorher war er auf einem Kongress von<br />

seinem Kollege, <strong>de</strong>m Innenminister Teohari Georgescu, als Burgeois und Verräter im Klassenkampf<br />

öffentlich angeprangert wor<strong>de</strong>n. Die zweite Anklage, er habe „möglicherweise die Unterstützung<br />

<strong>de</strong>r imperialistischen Mächte hinter sich gehabt", wur<strong>de</strong> von Finanzminister Vasile Lu-<br />

7


ca vorgebracht. Luca war während <strong>de</strong>s Nazi-Regimes zusammen mit Patrascanu im <strong>Gefängnis</strong><br />

gewesen. Diese Beschuldigungen waren von Anna Pauker, die auch zu seinen alten Freun<strong>de</strong>n<br />

gehörte, erfolgreich unterstützt wor<strong>de</strong>n.<br />

Sie hätten schon geraume Zeit gegen ihn gearbeitet, erzählte Patrascanu, doch eine Sache<br />

hätte sich beson<strong>de</strong>rs gegen ihn als Kommunist ausgewirkt: Er hatte einem von Georgescus Funktionären<br />

die Frage gestellt, ob an <strong>de</strong>n Gerüchten, dass Gefangene gefoltert wür<strong>de</strong>, etwas Wahres<br />

wäre. „Aber gewiss", sagte <strong>de</strong>r Mann vom Ministerium, sie seien Konterrevolutionäre und verdienten<br />

kein Mitlied, beson<strong>de</strong>rs, wenn sie ihre- Informationen zurückhielten. Patrascanu war<br />

zutiefst bestürzt. „Wir haben jahrelang gekämpft, um <strong>de</strong>r Partei zur Macht zu verhelfen. Und<br />

dies soll nun das Ergebnis sein?" fragte er. Sein Protest wur<strong>de</strong> Georgescu berichtet. Dann folgte<br />

seine Brandmarkung auf <strong>de</strong>m Kongress.<br />

„Als ich <strong>de</strong>n Saal verließ", erzählte er, „sah ich, dass ein an<strong>de</strong>rer Fahrer in meinem Wagen<br />

auf mich wartete. Er sagte: , ihr Chauffeur Ionescu ist plötzlich krank gewor<strong>de</strong>n, Genosse<br />

Patrascanu.' Ich stieg ein, zwei Geheimpolizisten folgten mir -und nun bin ich hier." Er war sich<br />

sicher, dass er bald wie<strong>de</strong>r in sein Amt eingesetzt wür<strong>de</strong>. Als das Aben<strong>de</strong>ssen kam, begann ich<br />

es selbst zu glauben, <strong>de</strong>nn anstatt Graupensuppe brachte man ihm Hühnchen, Käse, Obst und<br />

eine Flasche Weißwein. Patrascanu nahm ein Glas Wein, schob das Tablett zu mir herüber und<br />

sagte, er hätte keinen Appetit.<br />

Am nächsten Morgen wur<strong>de</strong> Patrascanu hinausgeführt, und ich dachte, er wür<strong>de</strong> verhört.<br />

Am Abend kam er schlecht gelaunt wie<strong>de</strong>r und erzählte, er hätte keine Fragen zu beantworten<br />

gehabt; statt<strong>de</strong>ssen hätte er in <strong>de</strong>r Universität, wo er die Rechte lehrte, eine Vorlesung gehalten.<br />

Die Partei wollte seine Verhaftung für eine Zeitlang geheim halten. Da Patrascanu dreißig Jahre<br />

kommunistischer Schulung hinter sich hatte, blieb ihm nichts an<strong>de</strong>res übrig, als mitzumachen. Er<br />

re<strong>de</strong>te mit mir, weil er, selbst außerhalb <strong>de</strong>s <strong>Gefängnis</strong>ses, mit nieman<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rem re<strong>de</strong>n durfte.<br />

Selbst seiner Frau gegenüber zu gestehen, dass er sich in Untersuchungshaft befand, o<strong>de</strong>r jeman<strong>de</strong>n<br />

um Rat zu bitten, hatte ein to<strong>de</strong>swürdiges Vergehen be<strong>de</strong>utete. Diese Isolierung zerrte an seinen<br />

Nerven. Genau das aber war beabsichtigt. Nur mir gegenüber konnte er sich geben, wie er<br />

war, <strong>de</strong>nn er hatte Grund zu <strong>de</strong>r Annahme, dass ich die Außenwelt nie wie<strong>de</strong>r sehen wür<strong>de</strong>.<br />

Ich versuchte, Patrascanu die Ursache seiner politischen Haltung zu zeigen. „Sie haben<br />

vieles mit Marx und Lenin gemeinsam", sagte ich, „ihre I<strong>de</strong>en und ihre Handlungsweise waren<br />

ebenfalls das Ergebnis einer schweren Jugend. Marx war sehr begabt, doch als Ju<strong>de</strong> in Deutschland,<br />

wo <strong>de</strong>r Antisemitismus immer mehr um sich griff, konnte er kein an<strong>de</strong>res Betätigungsfeld<br />

fin<strong>de</strong>n und wur<strong>de</strong> Revolutionär. Lenins Bru<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> gehängt, weil er an einem Anschlag auf<br />

<strong>de</strong>n Zaren beteiligt gewesen war. Die Wut und die Ächtung hegten in ihm <strong>de</strong>n Wunsch, die Welt<br />

auf <strong>de</strong>n Kopf zu stellen. Mit Ihnen ist das gleiche geschehen. Ihre Auffassungen sind ein Ergebnis<br />

Ihres persönlichen Schicksals, nicht Ihres objektiven Denkens."<br />

Patrascanu wies diesen Gedanken zurück. Seine Nerven suchten sich ein Ventil in langen<br />

Re<strong>de</strong>n gegen die Schlechtigkeit <strong>de</strong>r Kirche. Die üble Zeit <strong>de</strong>r Borgia-Päpste, die spanische Inquisition,<br />

die Grausamkeit <strong>de</strong>r Kreuzzüge wur<strong>de</strong>n genau unter die Lupe genommen.<br />

„Aber es sind gera<strong>de</strong> die Sün<strong>de</strong>n und Fehler <strong>de</strong>r Kirche, die uns um so mehr Grund geben,<br />

sie zu bewun<strong>de</strong>rn", meinte ich.<br />

„Wie meinen Sie das?" fragte Patrascanu bestürzt.<br />

Ich erwi<strong>de</strong>rte: „Ein Krankenhaus mag mit Eiter- und Blutgestank erfüllt sein, doch das<br />

gera<strong>de</strong> ist das Schöne an ihm: die Kranken mit ihren ekelerregen<strong>de</strong>n Wun<strong>de</strong>n und hässlichen<br />

Krankheiten wer<strong>de</strong>n aufgenommen. Die Kirche ist Christi Krankenhaus. Millionen von Patienten<br />

wer<strong>de</strong>n darin mit Liebe behan<strong>de</strong>lt. Die Kirche nimmt die Sün<strong>de</strong>r auf. Lei<strong>de</strong>r sündigen sie<br />

aber auch dann noch, und für ihre Sün<strong>de</strong>n wird die Kirche verantwortlich gemacht. An<strong>de</strong>rerseits<br />

erscheint mir die Kirche wie eine Mutter, die zu ihren Kin<strong>de</strong>rn hält, selbst wenn sie Verbrechen<br />

begehen. Die Machenschaften und Vorurteile <strong>de</strong>r Diener <strong>de</strong>r Kirche sind ein Zerrbild <strong>de</strong>ssen, was<br />

wirklich von Gott kommt, nämlich die Bibel, ihrer Lehren, <strong>de</strong>s Gottesdienstes und <strong>de</strong>r Gna<strong>de</strong>nmittel.<br />

Die See for<strong>de</strong>rt jährlich Tausen<strong>de</strong> von Menschenleben, doch niemand bestreitet ihre<br />

Schönheit."<br />

Patrascanu lächelte: „Genau das gleiche könnte ich vom Kommunismus behaupten. Sei-<br />

8


ne Vertreter sind unvollkommen, es gibt Schurken unter ihnen, doch das be<strong>de</strong>utet nicht, dass<br />

unsere I<strong>de</strong>en nicht in Ordnung sind."<br />

„Dann urteilen Sie doch nach <strong>de</strong>n Früchten, wie Jesus es riet", sagte ich. „Die Geschichte<br />

<strong>de</strong>r Kirche ist zwar durch manches Traurige befleckt, und doch hat sie Menschen in "<strong>de</strong>r Welt<br />

mit Liebe und Fürsorge überschüttete. Sie hat eine große Anzahl von Heiligen hervorgebracht,<br />

und Christus, <strong>de</strong>r heiligste von allen, ist ihr Haupt, wie sehen dagegen Ihre Idole aus? Männer<br />

wie Marx, <strong>de</strong>n sein Biograph Rjasanov, Direktor <strong>de</strong>s Moskauer Marx-Instituts, als einen Trinker<br />

schil<strong>de</strong>rt; o<strong>de</strong>r Lenin, <strong>de</strong>ssen Frau berichtet, dass er ein leichtfertiger Spieler war, und <strong>de</strong>ssen<br />

Schriften von Gift nur so triefen. , An ihren Früchten wer<strong>de</strong>t ihr sie erkennen.' Der Kommunismus<br />

hat das Leben von Millionen unschuldiger Opfer ausgelöscht und ganze Län<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n<br />

Rand <strong>de</strong>s Ruins gebracht. Er hat die Luft mit Lüge und Furcht erfüllt. Die Kirche hat eine negative<br />

und positive Seite. Wo ist <strong>de</strong>nn die positive Seite <strong>de</strong>s Kommunismus?"<br />

Patrascanu verteidigte die Logik seiner Parteigrundsätze.<br />

„Die Grundsätze als solche be<strong>de</strong>uten noch gar nichts", sagte ich. „Man kann ohne weiteres<br />

unter einer wohlklingen<strong>de</strong>n Parole Gräueltaten verüben. Hitler sprach von <strong>de</strong>m, Kampf um<br />

Lebensraum' und mor<strong>de</strong>te ganze Völker. Stalin sagte: Wir müssen Menschen wie Blumen hegen'<br />

- und tötete seine und Ihre Frau."<br />

Patrascanu wur<strong>de</strong> es unbehaglich, doch er blieb offen: „Unser Endziel ist, die ganze Welt<br />

für <strong>de</strong>n Kommunismus zu gewinnen. Es gibt einige wenige, die <strong>de</strong>n ganzen Weg mit uns gehen<br />

wollen. Doch wir können auch je<strong>de</strong>rzeit einige fin<strong>de</strong>n, die aus egoistischen Grün<strong>de</strong>n gewillt<br />

sind, uns eine Zeitlang zu helfen. Erst hatten wir Rumäniens obere Gesellschaftsschicht und <strong>de</strong>n<br />

König, die <strong>de</strong>n Alliierten bei <strong>de</strong>m Kampf gegen die Nazis halfen. Als sie ihre Aufgaben erfüllt<br />

hatten, liquidierten wir sie. Wir gewannen die orthodoxe Kirche mit Versprechungen. Anschließend<br />

gebrauchten wir kleinere Religionsgruppen, um sie zu zersetzen. Wir hetzten die Bauern<br />

gegen die Grundbesitzer auf und später arme Bauern gegen die reichen. Im En<strong>de</strong>ffekt wer<strong>de</strong>n sie<br />

alle zusammen in Kollektiven zusammengefasst. Die ist Lenins Taktik, und sie funktioniert."<br />

Ich sagte: „Es ist allgemein bekannt, dass alle Ihre Mitläufer entwe<strong>de</strong>r verhaftet, hingerichtet<br />

o<strong>de</strong>r sonst irgendwie umgebracht wor<strong>de</strong>n sind. Wie können Sie nur hoffen, dass Sie auch<br />

weiterhin fortfahren können, die Menschen für Ihre Zwecke zu benutzen und sie dann wegzuwerfen?"<br />

Patrascanu lachte: „Weil sie dumm sind! Hier ist ein Beispiel: Zehn Jahre nach <strong>de</strong>m Ersten<br />

Weltkrieg hatte Trotzki <strong>de</strong>n Plan, die Weltrevolution gewaltsam durchzuführen. Der große<br />

bolschewistische Denker Bucharin stellte sich dagegen. Er behauptete, es wäre besser zu warten,<br />

bis die kapitalistischen Län<strong>de</strong>r sich selbst untereinan<strong>de</strong>r vernichten wür<strong>de</strong>n. Russland könnte sich<br />

dann auf die Seite <strong>de</strong>s Siegers stellen und <strong>de</strong>n Löwenanteil von <strong>de</strong>n unterworfenen Län<strong>de</strong>rn an<br />

sich reißen. Eine bemerkenswerte Prophezeiung! Doch damals nahm sie keiner ernst. Das Ergebnis<br />

<strong>de</strong>s letzten Weltkrieges war, dass die Hälfte Europas und zwei Drittel Asiens kommunistisch<br />

wur<strong>de</strong>n. Hätten die Westmächte dies damals geahnt, dieser Krieg hätte nie stattgefun<strong>de</strong>n. Doch<br />

glücklicherweise hören unsere Fein<strong>de</strong> nicht auf unsere Beweisführung. Auch lesen sie unsere<br />

Bücher nicht, <strong>de</strong>shalb können wir offen re<strong>de</strong>n."<br />

Ich <strong>de</strong>utete auf einen schwachen Punkt in seiner Argumentation: „Eines scheinen Sie<br />

noch nicht begriffen zu haben, Herr Patrascanu. Sie haben die Menschen benutzt und haben sie<br />

anschließend erledigt. Genauso haben Ihre Genossen Sie benutzt und wer<strong>de</strong>n Sie nun erledigen.<br />

Halten Sie nicht vor dieser üblen Logik <strong>de</strong>r Lehren Lenins die Augen geschlossen?"<br />

Diesmal sprach Patrascanu mit unverhohlener Bitterkeit: „Als Danton zur Guillotine geführt<br />

wur<strong>de</strong>, sah er, wie Robespierre von einem Balkon zuschaute, und er rief aus: du wirst mir<br />

folgen!' Und ich versichere Ihnen heute, dass sie mir alle folgen wer<strong>de</strong>n: Anna Pauker, Georgescu<br />

und auch Luca."<br />

Und dies traf auch innerhalb <strong>de</strong>r nächsten drei Jahre ein.<br />

9


Die genutzte Chance<br />

Patrascanu versuchte, sich über mich lustig zu machen. Er sprach über die Pläne <strong>de</strong>r Partei zur<br />

Ausmerzung und Ausrottung <strong>de</strong>s Christentums in Rumänien. Anna Pauker, Georgescu und an<strong>de</strong>re<br />

Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Zentralkomitees hatten bereits geheime Unterredungen mit Metropolit Justinian<br />

gehabt und waren <strong>de</strong>r Meinung, dass er als Patriarch für ihre Zwecke bestens geeignet sei.<br />

„Justinian", sagte Patrascanu, „ hat mit Gott genau so viel zu tun, wie ich mit <strong>de</strong>m Kaiser von<br />

Japan. Und was <strong>de</strong>n alten Patriarchen Nicodim anbelangt, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>t doch an Altersschwachsinn.<br />

Am Anfang <strong>de</strong>s Krieges veröffentlichte er Enzykliken und rief je<strong>de</strong>rmann auf, gegen <strong>de</strong>n siebenköpfigen<br />

bolschewistischen Drachen zu kämpfen, um, nach<strong>de</strong>m wir mit Hitler gebrochen hatten,<br />

seine Schäfchen zu beschwören, zusammen mit <strong>de</strong>r siegreichen Roten Armee gegen das Nazi-Ungeheuer<br />

zu marschieren. Kann man vor einem solchen Manne Respekt haben? Je<strong>de</strong>r im<br />

Lan<strong>de</strong> weiß, wie Patriarch Nicodim gehan<strong>de</strong>lt hat. Das sind eure Kirchenfürsten, und die übrigen<br />

sind auch nicht viel besser, die bringen euch auch nicht weiter."<br />

Ich gab zur Antwort, dass er vielleicht einigen vorbildlicheren Christen begegnen könne,<br />

wenn er das <strong>Gefängnis</strong> nicht so schnell verließe, wie er hoffte.<br />

„Patriarch Nicodim ist kein schlechter Mensch", meinte ich, „doch er ist alt und verbraucht.<br />

Den zukünftigen Patriarchen Justinian kann ich ebenfalls nicht verurteilen, noch solche,<br />

die mit List o<strong>de</strong>r Gewalt auf eure Seite gebracht wur<strong>de</strong>n. Es ist dasselbe, wie wenn man ein<br />

Mädchen verführt und sie hinterher eine Dirne nennt."<br />

Ich hoffte, dieser Seitenhieb wür<strong>de</strong> seine Wirkung auf Patrascanu nicht verfehlen. Er hatte<br />

nämlich die Neigung, mit Genuss und in sehr geschmackloser Weise über geschlechtliche<br />

Dinge zu <strong>sprechen</strong>. Auch versuchte ich, ihm zu erklären, was christliche Liebe be<strong>de</strong>utet. Anfangs<br />

war er mit seinen eigenen Sorgen zu sehr beschäftigt, um auf mich zu hören. Doch er war<br />

ein Mann, <strong>de</strong>r das ständige Lesen und Studieren gewohnt war und nun kein einziges Buch mehr<br />

hatte. So disputierte er, um sich zu zerstreuen. Über <strong>de</strong>n Glauben sagte er: „Ich habe das alles in<br />

<strong>de</strong>r Schule gelernt. Damals betete ich, doch später hörte ich damit auf."<br />

Ich fragte ihn, weshalb.<br />

„Euer Jesus verlangt zu viel. Beson<strong>de</strong>rs, wenn man noch jung ist." Ich erwi<strong>de</strong>rte: „Ich<br />

habe noch nie <strong>de</strong>n Eindruck gehabt, dass Jesus von Menschen etwas verlangt. Als mein Sohn<br />

Mihai klein war, gab ich ihm Geld, um mir ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. So schenkt uns<br />

Jesus die guten Eigenschaften, die er von uns zu verlangen scheint und macht aus uns bessere<br />

Charaktere. Aber vielleicht hatten Sie keinen guten Religionslehrer."<br />

„Kann sein, sie sind nicht sehr häufig." Patrascanu setzte sich auf und gähnte. „Übrigens<br />

gibt es eine Menge Dinge im Christentum, die ich nicht schlucken kann."<br />

„Und die wären?"<br />

„Demut, und beson<strong>de</strong>rs die Unterwerfung unter die Tyrannei. Nehmen Sie <strong>de</strong>n Brief <strong>de</strong>s<br />

Paulus an die Römer. Er sagt, dass alle Regierung von Gott ist. Also müssen wir brav sein, unsere<br />

Steuern pünktlich bezahlen und nicht gegen <strong>de</strong>n Stachel locken. Und das alles zu <strong>de</strong>r Zeit, als<br />

Nero <strong>de</strong>r Herrscher <strong>de</strong>r Welt war!"<br />

Ich sagte: „Lesen Sie die Bibel noch einmal, und Sie wer<strong>de</strong>n fin<strong>de</strong>n, dass sie voll revolutionärer<br />

Explosivkraft ist. Sie beginnt mit <strong>de</strong>r Befreiung <strong>de</strong>r jüdischen Sklaven vom Pharao. Sie<br />

berichtet weiter von Gi<strong>de</strong>on, Jael, Jehu und vielen an<strong>de</strong>rn Kämpfern gegen die Tyrannei. Und<br />

bevor wir weiterre<strong>de</strong>n: Auf welche Weise kam <strong>de</strong>nn die von Gott eingesetzte Regierung an die<br />

Macht? Gewöhnlich doch als Ergebnis eines Umsturzes. <strong>Wenn</strong> man sich also <strong>de</strong>r Regierung unterstellt,<br />

ordnet man sich <strong>de</strong>nen unter, die eine erfolgreiche Revolution durchgeführt haben. Washington<br />

kam an die Regierung, in<strong>de</strong>m er die Englän<strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rwarf."<br />

„Wie Lenin die Zaren stürzte", warf Patrascanu ein. „Nur, um noch schlimmeren Terror<br />

zu bringen. Und eines Tages wird ein Mann kommen, <strong>de</strong>r die kommunistische Tyrannei been<strong>de</strong>n<br />

wird. Er wird eine freie Regierungsform einführen. Er wird dann die Obrigkeit von Gott sein.<br />

Dann wer<strong>de</strong>n wir uns unterordnen. Diese Stelle <strong>de</strong>r Schrift lehrt in Wirklichkeit n i c h t , dass<br />

man <strong>de</strong>n Tyrannen gehorchen muss, doch man soll das sinnlose Blutvergießen bei Revolutionen,<br />

10


die aussichtslos sind, vermei<strong>de</strong>n."<br />

Patrascanu sagte: „Wie ist es mit, Gebet <strong>de</strong>m Kaiser, was <strong>de</strong>s Kaisers ist?' Mit diesem<br />

Satz for<strong>de</strong>rte doch Jesus gewiss die Unterwerfung <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>n römischen Tyrannen."<br />

„Der erste Kaiser war ein Usurpator", sagte ich, „selbst für das Römische Reich. Er war<br />

ein General, <strong>de</strong>r sich selbst zum Diktator gemacht hatte. Palästina wur<strong>de</strong> durch Gewalt römische<br />

Kolonie. Caesars Nachfolger hatten dort nicht mehr Rechte, als die Russen hier. So ist es klar,<br />

was Jesus meinte. Gebt <strong>de</strong>m Kaiser, was wir ihm schuldig sind: einen Fußtritt in <strong>de</strong>n Hintern<br />

und schmeißt ihn hinaus."<br />

Patrascanu brüllte vor Lachen: „<strong>Wenn</strong> je<strong>de</strong>r Priester die Bibel so erklären wür<strong>de</strong> wie Sie,<br />

wür<strong>de</strong>n wir bald zu einer besseren Verständigung kommen", sagte er. Ich war nicht so sicher.<br />

Eines Abends bat er mich, ihm ganz kurz <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s christlichen Glaubens zu erklären.<br />

Ich sagte das nicäische Glaubensbekenntnis auf und meinte: „Und Sie Ihrerseits sollten mir<br />

sagen, woraus <strong>de</strong>r kommunistische Glaube wirklich besteht."<br />

Patrascanu dachte einen Augenblick nach: „Wir Kommunisten glauben, dass wir die<br />

Welt beherrschen wer<strong>de</strong>n", sagte er und lehnte sich zurück auf seinen schmutzigen Strohsack.<br />

Am nächsten Morgen holte man ihn aus <strong>de</strong>r Zelle. Ich habe ihn nie wie<strong>de</strong>rgesehen. In <strong>de</strong>r<br />

einen Woche <strong>de</strong>s Zusammenseins waren wir uns recht nahe gekommen. Ich fühlte, dass er von<br />

<strong>de</strong>m, was ich sagte, bewegt war. Doch es passte nicht in sein Programm, sich dies auch selbst<br />

einzugestehen. Erst nach Jahren hörte ich, was aus ihm gewor<strong>de</strong>n war.<br />

Selbstmord?<br />

Ich wusste, dass mir die Folter bevorstand, und so beschloss ich, mich eher selbst zu töten, als<br />

an<strong>de</strong>re zu verraten. Ich hatte keinerlei moralische Skrupel, <strong>de</strong>nn für einen Gläubigen be<strong>de</strong>utet<br />

das Sterben: zu Christus gehen. Ich wür<strong>de</strong> ihm alles erklären, und er wür<strong>de</strong> gewiss alles verstehen.<br />

Die hl. Ursula zog <strong>de</strong>n Freitod <strong>de</strong>m Verlust ihrer Jungfräulichkeit vor, als die Barbaren ihr<br />

Kloster plün<strong>de</strong>rten. Dafür wur<strong>de</strong> sie heilig gesprochen. Meine höchste Pflicht war also, meine<br />

Freun<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>cken, und nicht, mein Leben zu erhalten.<br />

Das Problem war, das Mittel für <strong>de</strong>n Selbstmord sicherzustellen, bevor man mein Vorhaben<br />

vermuten wür<strong>de</strong>. Wächter durchsuchten Gefangene und ihre Zellen regelmäßig nach allen<br />

Gegenstän<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen sie sich umbringen <strong>könnten</strong>: nach Glasscherben, Bindfä<strong>de</strong>n und Rasierklingen.<br />

Einmal sagte ich <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong>arzt bei <strong>de</strong>r Morgenvisite, ich könnte mich an die<br />

Einzelheiten, die im Verhör benötigt wür<strong>de</strong>, nicht erinnern, weil ich schon wochenlang nicht geschlafen<br />

hätte. Er verschrieb mir für je<strong>de</strong> Nacht eine Schlaftablette. Der Wächter sah mir je<strong>de</strong>s<br />

Mal in <strong>de</strong>n Mund, um sicher zu sein, dass ich sie geschluckt hatte, doch ich legte die Tablette<br />

unter die Zunge und nahm sie heraus, wenn er gegangen war. Doch, wo sollte ich meinen Schatz<br />

verstecken? Nicht an meinem Körper, mit <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>rzeit alles Mögliche geschehen konnte. Meine<br />

Schlafunterlage war auch nicht <strong>de</strong>r rechte Ort dafür. Sie musste je<strong>de</strong>n Tag ausgeschüttelt und<br />

zusammengelegt wer<strong>de</strong>n. Doch es gab noch die an<strong>de</strong>re Unterlage, auf welcher Patrascanu geschlafen<br />

hatte. Ich trennte eine Naht ein wenig auf und versteckte je<strong>de</strong>n Tag eine Pille zwischen<br />

<strong>de</strong>m Stroh.<br />

Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Monats besaß ich dreißig Pillen. Sie waren zwar ein Trost gegen die Furcht<br />

vor <strong>de</strong>m Zusammenbrechen unter <strong>de</strong>n Folterqualen. Doch tiefe Melancholie überkam mich oft bei<br />

<strong>de</strong>m Gedanken daran. Es war Sommer, vertraute Geräusche drangen von draußen zu mir. Ein<br />

Mädchen sang, eine Straßenbahn fuhr quietschend um die Ecke, Mütter riefen ihre Söhne: „Silviu,<br />

Emil, Matie!" Flugsamen schwebten durch die Luft und fielen sacht auf <strong>de</strong>n Zementbo<strong>de</strong>n<br />

meiner Zelle. Ich fragte Gott: „Was tust du? Warum bin ich gezwungen, meinem Leben ein En<strong>de</strong><br />

zu machen, das ich <strong>de</strong>inem Dienst geweiht habe?" Eines Abends sah ich durch mein schmales<br />

Fenster, gera<strong>de</strong> als <strong>de</strong>r erste Stern am dunklen Himmel erschien. Als ich ihn sah, kam mir <strong>de</strong>r<br />

Gedanke, dass Gott mir jetzt diesen Lichtstrahl sandte, welcher seine scheinbar sinnlose Reise<br />

bereits vor Millionen von Jahren angetreten hatte. Und heute schien er durch die Gitterstäbe meiner<br />

Zelle, um mir Trost zu bringen.<br />

Am nächsten Morgen erschien <strong>de</strong>r Wächter. Ohne ein Wort zu sagen, griff er nach <strong>de</strong>m<br />

11


Strohsack mit meinem Pillenvorrat und trug ihn zu irgen<strong>de</strong>inem an<strong>de</strong>re Gefangenen. Zuerst war<br />

ich recht <strong>de</strong>primiert, dann lachte ich und fühlte mich zuversichtlicher <strong>de</strong>nn je. <strong>Wenn</strong> Gott meinen<br />

Selbstmord nicht wollte, wür<strong>de</strong> er mir gewiss Kraft geben, die Lei<strong>de</strong>n zu tragen, die vor mir<br />

lagen.<br />

In <strong>de</strong>r Manege<br />

Die Geheimpolizei sei bisher geduldig mit mir gewesen, wur<strong>de</strong> mir in <strong>de</strong>n nächsten Tagen gesagt.<br />

Nun sei es an <strong>de</strong>r Zeit, zu einigen brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Dem Großinquisitor,<br />

Oberst Dulgheru, war es bis jetzt immer gelungen, diese Ergebnisse zu erzwingen. Nun saß<br />

er, die gepflegten Hän<strong>de</strong> auf die Tischplatte gebreitet, still und drohend vor mir. „Sie haben mit<br />

uns gespielt", sagte er.<br />

Vor <strong>de</strong>m Krieg hatte Dulgheru in <strong>de</strong>r sowjetischen Botschaft gearbeitet. Unter <strong>de</strong>n Nazis<br />

wur<strong>de</strong> er interniert und freun<strong>de</strong>te sich auf diese Weise mit Gheorghiu-Dej und an<strong>de</strong>re kommunistischen<br />

Gefangenen an. Diesen waren damals seine Eigenschaften - Intelligenz, mit Grausamkeit<br />

gekoppelt - nicht entgangen. Und da war er nun, um über Leben und Tod zu entschei<strong>de</strong>n.<br />

Ohne nur einen Augenblick zu warten, begann Dulgheru mich auszufragen. Er wolle alles<br />

über einen Mann aus <strong>de</strong>r Roten Armee wissen, <strong>de</strong>r Bibeln nach Russland geschmuggelt hatte.<br />

Bis dahin schien ihnen von meiner Arbeit unter <strong>de</strong>n Russen nichts bekannt zu sein. Der verhaftete<br />

Soldat hat mich zwar nicht verraten, doch es kam ans Licht, dass wir uns getroffen hatten.<br />

Jetzt musste ich mehr <strong>de</strong>nn je die einzelnen Worte genau abwägen. Ich hatte diesen Mann tatsächlich<br />

in Bukarest getauft, und er war auf diese Weise unser Mitarbeiter gewor<strong>de</strong>n.<br />

Dulgherus Fragen waren hartnäckig. Er meinte, etwas Wichtiges aufgespürt zu haben. In<br />

<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Wochen brachte mich <strong>de</strong>r ständige Wechsel seiner Metho<strong>de</strong>n zu völligen Erschöpfung.<br />

Die Betten wur<strong>de</strong>n aus meiner Zelle entfernt. Ich konnte in <strong>de</strong>r Nacht insgesamt nur<br />

etwas eine Stun<strong>de</strong> auf einem Stuhl zusammengekauert schlafen. Zweimal in <strong>de</strong>r Minute klickte<br />

das Guckloch an <strong>de</strong>r Tür, und das Auge <strong>de</strong>s Wächters erschien. <strong>Wenn</strong> ich eingeduselt war, kam<br />

er herein und stieß mich mit <strong>de</strong>m Fuß wie<strong>de</strong>r wach. Ich verlor schließlich je<strong>de</strong> Empfindung für<br />

Zeit. Einmal erwachte ich und sah, dass die Tür angelehnt war. Sanfte Musik ertönte im Korridor<br />

- o<strong>de</strong>r war es eine Täuschung? Die Töne verwirrten sich, und ich hörte, wie eine Frau<br />

schluchzte. Dann begann sie zu schreien - es war meine Frau!<br />

„Nein, nein, bitte nicht schlagen, bitte nicht wie<strong>de</strong>r schlagen, ich kann es nicht aushalten!"<br />

Ich hörte, wie die Peitsche auf <strong>de</strong>n Körper aufschlug. Die Schreie wur<strong>de</strong>n immer lauter<br />

und erreichten einen unerträglichen Höhepunkt. Je<strong>de</strong>r Muskel meines Körpers krampfte sich vor<br />

Entsetzen zusammen. Nach und nach wur<strong>de</strong> das Stöhnen leiser. Doch jetzt war es eine frem<strong>de</strong><br />

Stimme. Sie verstummte, es war wie<strong>de</strong>r still. Noch völlig betäubt zitterte ich und war in<br />

Schweiß geba<strong>de</strong>t. Später erfuhr ich, dass dies ein Tonband war. Doch je<strong>de</strong>r Gefangene, <strong>de</strong>r es<br />

hörte, dachte, dass das Opfer seine Frau o<strong>de</strong>r seine Geliebte wäre.<br />

Dulgheru war ein kultivierter Unmensch nach <strong>de</strong>m Vorbild <strong>de</strong>r sowjetischen Diplomaten,<br />

mit <strong>de</strong>nen er verkehrte. „Ich lasse nur ungern foltern", sagte er zu mir. Da er in <strong>de</strong>n <strong>Gefängnis</strong>sen<br />

alle Gewalt hatte, verzichtete er auf schriftliche Aufzeichnungen und Zeugen. Oft kam er<br />

nachts ganz allein in meine Zelle, um das Verhör fortzusetzen. Eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Sitzung zog<br />

sich mehrere Stun<strong>de</strong>n lang hin. Er fragte nach meinen Beziehungen zu <strong>de</strong>r anglikanischen Mission,<br />

und was ich dort getan hätte. Er wur<strong>de</strong> immer zorniger.<br />

„Wissen Sie", sagte er giftig, „dass ich noch heute Nacht Ihre Hinrichtung als Konterrevolutionär<br />

anordnen kann?"<br />

„Herr Oberst", sagte ich, „Sie haben jetzt die Gelegenheit, ein Experiment zu machen.<br />

Sie sagen, Sie können mich erschießen lassen. Ich weiß, dass es stimmt. Leben Sie Ihre Hand an<br />

mein Herz. <strong>Wenn</strong> es beschleunigt schlägt, wür<strong>de</strong> das be<strong>de</strong>uten, dass ich Angst habe. Dann gibt<br />

es we<strong>de</strong>r Gott, noch ein ewiges Leben. Schlägt es aber ruhig, so heißt das: ich gehe zu <strong>de</strong>m Einen,<br />

<strong>de</strong>n ich liebe. Dann müssen Sie um<strong>de</strong>nken, dann gibt es einen Gott und das ewige Leben."<br />

Dulgheru schlug mir mitten ins Gesicht, doch bedauerte er sofort diese unbeherrschte<br />

12


Handlung. „Sie sind ein Dummkopf, Georgescu", sagte er. „Merken Sie <strong>de</strong>nn nicht, dass Sie ganz<br />

und gar von meiner Gna<strong>de</strong> abhängig sind? Ihr Heiland, o<strong>de</strong>r wie Sie ihn nennen, wird nie ein<br />

<strong>Gefängnis</strong>tor öffnen, Sie wer<strong>de</strong>n die Westminsterabtei nie sehen."<br />

Ich sagte: „Er heißt Jesus Christus, und wenn er will, kann er mich befreien, und ich<br />

wer<strong>de</strong> auch die Westminsterabtei sehen."<br />

Dulgheru stierte mich an und rang nach Atem. Dann schrie er: „Also gut! Morgen wer<strong>de</strong>n<br />

Sie <strong>de</strong>n Genossen Brinzaru kennenlernen!"<br />

Major Brinzaru, Dulgherus rechte Hand, hatte die Aufsicht über einen Raum, in <strong>de</strong>m<br />

Keulen, Gummiknüppel und Peitschen aufbewahrt wer<strong>de</strong>n. Er hatte behaarte Arme wie ein Gorilla.<br />

An<strong>de</strong>re Vernehmungsbeamte gebrauchten seinen Namen als Drohmittel. Der zeitgenössische<br />

russische Dichter Wosnessenski schreibt: „In diesen Tagen <strong>de</strong>s unaussprechlichen Lei<strong>de</strong>ns<br />

ist <strong>de</strong>r wahrhaft glücklich zu nennen, <strong>de</strong>r kein Herz besitzt." In dieser Beziehung war Brinzaru<br />

ein glücklicher Mensch. Er führte mir sein Waffensortiment vor. „Haben sei beson<strong>de</strong>re Wünsche?"<br />

fragte er. „Wir sind hier gern <strong>de</strong>mokratisch." -<br />

Dann führte er mir sein Lieblingsgerät vor, eine lange schwarze Gummipeitsche.<br />

„Schauen Sie sich das Firmenzeichen an." Darauf stand: Ma<strong>de</strong> in USA.<br />

„Wir besorgen das Auspeitschen", sagte Brinzaru, in<strong>de</strong>m er seine gelben Zähne entblößte,<br />

„aber Ihre amerikanischen Freun<strong>de</strong> liefern uns die Werkzeuge dazu." Damit schickte er mich zurück<br />

in meine Zelle, um über alles nachzu<strong>de</strong>nken.<br />

Der Wächter erzählte mir, dass Brinzaru vor <strong>de</strong>m Krieg bei einem führen<strong>de</strong>n Politiker als<br />

Chauffeur gearbeitet hatte. Er war dort wie ein Familienmitglied behan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>r<br />

kommunistischen Machtübernahme, die für Brinzaru einen plötzlichen Aufstieg in die Reihen<br />

<strong>de</strong>r Geheimpolizei be<strong>de</strong>utete, wur<strong>de</strong> ihm einmal ein jugendlicher Gefangener zum Verhör gebracht.<br />

Es war <strong>de</strong>r Sohn jenes Politikers. Er hatte versucht, eine patriotische Untergrundbewegung<br />

zu organisieren. „Ich habe dich oft auf meinem Schoß gehalten, als du noch ein kleines<br />

Kind warst", sagte Brinzaru zu ihm. Dann folterte er <strong>de</strong>n Burschen und erschoss ihn eigenhändig.<br />

Seltsamerweise blieben die angedrohten Schläge aus. Während einer seine allabendlichen<br />

Kontrollrundgänge schlug Brinzaru <strong>de</strong>n Deckel <strong>de</strong>s Gucklochs hoch und beobachtete mich<br />

einen Augenblick lang. „Na? Immer noch hier, Georgescu? Was macht Jesus heute Abend?"<br />

„Er betet für Sie", antwortete ich. Er ging ohne ein Wort <strong>de</strong>r Erwi<strong>de</strong>rung.<br />

Am nächsten Tag kam er wie<strong>de</strong>r. Nach seinen Anweisungen stellte man mich so an die<br />

Wand, dass meine über <strong>de</strong>n Kopf erhobenen Hän<strong>de</strong> sie gera<strong>de</strong> noch berührten. „Halte ihn in dieser<br />

Stellung", sagte Brinzaru, bevor er die Zelle verließ.<br />

Die Folter begann also doch. Ich möchte nicht viel Wesen davon machen, doch es muss<br />

gesagt wer<strong>de</strong>n, weil diese Dinge in allen <strong>Gefängnis</strong>sen <strong>de</strong>r kommunistischen Geheimpolizei<br />

noch heute geübt wer<strong>de</strong>n. Zuerst musste ich stun<strong>de</strong>nlang stehen. Meine Beine fingen an zu zittern<br />

und schwollen schließlich an. <strong>Wenn</strong> ich zusammenbrach, gab man mir eine Brotrin<strong>de</strong> und<br />

einen Schluck Wasser und ließ mich wie<strong>de</strong>r stehen. Ein Wächter löste <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren ab. Einige von<br />

ihnen zwangen mich, lächerliche o<strong>de</strong>r unanständige Stellungen einzunehmen. Dies dauerte mit<br />

kurzen Unterbrechungen viele Tage und Nächte. Ich musste stets die Mauer ansehen.<br />

Ich dachte an <strong>Mauern</strong>, die in <strong>de</strong>r Bibel erwähnt wer<strong>de</strong>n. Ein Vers aus Jesaja, <strong>de</strong>n ich mir<br />

ins Gedächtnis rief, machte mich traurig. Gott sagt darin, dass Israels Sün<strong>de</strong>n zwischen ihm und<br />

seinem Volk eine Mauer errichtet hätten. Die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Christen hatten <strong>de</strong>n Triumph <strong>de</strong>r<br />

Kommunisten ermöglicht. Deshalb war jetzt diese Mauer vor mir. Dann fiel mir <strong>de</strong>r Vers ein:<br />

„Mit meinem Gott will ich über eine Mauer springen." Auch ich wür<strong>de</strong> vielleicht durch diese<br />

Wand hindurch einen Sprung in die geistliche Welt und in die Gemeinschaft mit <strong>de</strong>m Herrn machen.<br />

Ich erinnerte mich an die hebräischen Kundschafter, die aus <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong> Kanaan zurückkehrten,<br />

um von großen, befestigten Städten zu berichten. Doch wie die <strong>Mauern</strong> von Jericho fielen,<br />

so mussten auf Gottes Geheiß auch die <strong>Mauern</strong> dieser Städte einstürzen. <strong>Wenn</strong> Schmerzen<br />

mich übermannten, wie<strong>de</strong>rholte ich <strong>de</strong>n Vers aus <strong>de</strong>m Hohelied: „Mein Freund ist gleich einem<br />

Reh o<strong>de</strong>r jungem Hirsch. Siehe, er steht hinter unserer Wand." Ich stellte mir vor, dass Jesus hinter<br />

dieser meiner Wand steht und mir Kraft verleiht. Ich erinnerte mich daran, dass das erwählte<br />

Volk <strong>de</strong>n Sieg errang, solange Moses auf <strong>de</strong>m Berg seine Hän<strong>de</strong> empor hielt. Ich hatte mit erho-<br />

13


enen Hän<strong>de</strong>n zu stehen. Vielleicht waren auch unsere Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn Gottes in ihrem<br />

Kampf eine Hilfe.<br />

Major Brinzaru schaute von Zeit zu Zeit herein und fragte, ob ich nun bereit wäre nachzugeben.<br />

Als ich wie<strong>de</strong>r einmal auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lag, sagte er: „Aufstehen! Wir haben doch noch<br />

beschlossen, dass Sie die Westminsterabtei besuchen sollen. Sie machen sich jetzt auf <strong>de</strong>n Weg."<br />

- „Marsch!" befahl <strong>de</strong>r Wächter. Ich versuchte, meine Schuhe anzuziehen, doch meine Füße waren<br />

zu sehr geschwollen. „Los, vorwärts! Immer im Kreis herumgehen! Ich wer<strong>de</strong> draußen aufpassen."<br />

Ich weiß nicht, wie viel Tage und Nächte ich in <strong>de</strong>r „Manege" verbracht habe. Während<br />

ich mich fortbewegte, begann ich für die Wächter zu beten. Ich erinnerte mich an das Hohelied.<br />

Darin wird uns von <strong>de</strong>m heiligen Tanz erzählt, <strong>de</strong>n Christi Braut zu Ehren ihres Bräutigams<br />

tanzt. Ich dachte: Ich will mich so schön bewegen, als wäre dies hier ein Tanz <strong>de</strong>r Liebe für Jesus.<br />

Eine Zeitlang schien es zu gelingen. <strong>Wenn</strong> ein Mensch alles, was er tun soll, willensmässsig<br />

bejaht, dann tut er bei allem nur seinen eigenen Willen. Die härtesten Proben wer<strong>de</strong>n dann leichter,<br />

<strong>de</strong>nn man führt sie ja freiwillig aus. Als ich mich immer weiter im Kreis herum bewegte,<br />

schien sich alles um mich zu drehen. Ich konnte eine Wand von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren nicht mehr unterschei<strong>de</strong>n,<br />

auch nicht die Tür von <strong>de</strong>r Wand. Genauso wie die Liebe Gottes zwischen <strong>de</strong>n guten<br />

und bösen Menschen keinen Unterschied macht, <strong>de</strong>nn sie möchte alle umfangen.<br />

Ich hatte bereits einen Monat ohne wirklichen Schlaf hinter mir, als <strong>de</strong>r Wächter mir eine<br />

schwarze Brille aufsetzte und mich in einen an<strong>de</strong>ren Verhörraum führte. Dieses Mal befand sich<br />

eine Frau unter <strong>de</strong>n Inquisitoren. Einmal sagte sie schrill: „<strong>Wenn</strong> Sie keine vernünftigen Antworten<br />

geben, wer<strong>de</strong>n wir Sie auf <strong>de</strong>r Folterbank strecken müssen."<br />

Ich wur<strong>de</strong> zu einer an<strong>de</strong>ren Zelle geführt. Dort stülpte man mir eine Kapuze über <strong>de</strong>n<br />

Kopf und befahl, mich hinzuhocken. Die Arme wur<strong>de</strong>n um die Knie gelegt. Zwischen meine<br />

Knie und die Ellenbogen schob man eine Metallstang und hob mich auf ein Gerüst. Mein Kopf<br />

schlug nach hinten über, meine Füße kamen nach oben. Während man mir <strong>de</strong>n Kopf festhielt,<br />

schlug jemand auf meine Fußsohlen. Je<strong>de</strong>r Schlag glich einer Explosion. Manch einer traf auf die<br />

Oberschenken und auf das Steißbein. Ich wur<strong>de</strong> mehrmals ohnmächtig. Mit kalten Wassergüssen<br />

brachte man mich immer wie<strong>de</strong>r zu Bewusstsein, und je<strong>de</strong>s Mal sagte man mir, ich brauchte<br />

nur einen einzigen Namen zu nennen, und es wür<strong>de</strong> aufhören. Als sie mich schließlich herunternahmen,<br />

musste ich in meine Zelle getragen wer<strong>de</strong>n.<br />

Bei je<strong>de</strong>m Gang in diesen Raum trug ich die schwarze Brille. Sie verhin<strong>de</strong>rte, dass ich<br />

die Anordnung <strong>de</strong>s <strong>Gefängnis</strong>ses kennenlernte. Manchmal musste ich die Brille aufbehalten,<br />

während ich geschlagen wur<strong>de</strong>. <strong>Wenn</strong> man <strong>de</strong>n Schlag sehen kann, <strong>de</strong>r auf einen zukommt, kann<br />

man sich innerlich darauf einstellen. Doch die Unmöglichkeit zu sehen, wann und wohin er<br />

trifft, verdoppelt die Furcht.<br />

Schließlich unterzeichnete ich, was meine eigene Person betraf, sämtliche „Bekenntnisse",<br />

die sie wünschten. Ich sei ein Ehebrecher und zur gleichen Zeit homosexuell. Ich hätte die<br />

Kirchenglocken verkauft und <strong>de</strong>n Erlös unterschlagen (obwohl unsere Kirche ein Gebetssaal<br />

ohne Glocken war). Unter <strong>de</strong>m Deckmantel <strong>de</strong>r Arbeit für <strong>de</strong>n Weltkirchenrat hätte ich Spionage<br />

getrieben. Mein Plan wäre gewesen, die Regierung durch einen Akt <strong>de</strong>s Verrats zu stürzen. Ich<br />

und an<strong>de</strong>re hätten damals die kommunistische Partei infiltriert und dann Geheimnisse verraten.<br />

Brinzaru las diese Geständnisse und fragte: „Wo sind die Namen <strong>de</strong>rer, an die Sie die Geheimnisse<br />

weitergereicht .haben?"<br />

Er war sehr erfreut, als ich ihm eine Anzahl Namen und Adressen nannte. Das wür<strong>de</strong> ihm<br />

sicher eine Gratifikation und vielleicht sogar eine Beför<strong>de</strong>rung einbringen. Doch einige Tage<br />

später wur<strong>de</strong> ich wie<strong>de</strong>r ausgepeitscht* Die Namen waren nachgeprüft wor<strong>de</strong>n. Es waren alles<br />

Menschen, die entwe<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Westen geflohen o<strong>de</strong>r gestorben waren. Doch in <strong>de</strong>r kurzen<br />

Atempause war ich wie<strong>de</strong>r ein wenig zu Kräften gekommen.<br />

Das Warten war vielleicht die allerschlimmste Tortur. Dazuliegen, die Schrei und das<br />

Weinen zu hören und zu wissen, in einer Stun<strong>de</strong> bist du selbst an <strong>de</strong>r Reihe! Doch Gott half mir,<br />

nie etwas zu sagen, das an<strong>de</strong>ren scha<strong>de</strong>n konnte. Ich verlor leicht das Bewusstsein. Sie waren<br />

aber an meinem Fortleben interessiert, <strong>de</strong>nn je<strong>de</strong>r Gefangene konnte eine Quelle weitere Infor-<br />

14


mationen sein. In <strong>de</strong>n nicht abzusehen<strong>de</strong>n Wendungen <strong>de</strong>s Parteigeschicks konnten diese Informationen<br />

vielleicht einmal von Nutzen sein. So kam es nicht darauf an, wie lange man einen<br />

Menschen in Haft hielt. Ein Arzt war stets bei <strong>de</strong>n Folterungen anwesend. Er musste <strong>de</strong>n Puls<br />

fühlen und achtgeben, dass das Opfer nicht etwa in die bessere Welt entschlüpfte, während die<br />

Geheimpolizei es noch brauchte. Es war ein Sinnbild <strong>de</strong>r Hölle, <strong>de</strong>ren Qualen ewig sind, und in<br />

<strong>de</strong>r man nicht sterben kann.<br />

Sich an einen Bibeltext zu erinnern, war nicht einfach. Dennoch bemühte ich mich, nie<br />

aus <strong>de</strong>m Sinn zu verlieren, dass Jesus wohl als ein König auf die Welt hatte kommen können.<br />

Statt<strong>de</strong>ssen zog er es vor, wie ein Verbrecher verurteilt und ausgepeitscht zu wer<strong>de</strong>n. Die von<br />

<strong>de</strong>n Römern benutzte Geißel war grauenhaft. Bei je<strong>de</strong>m Hieb, <strong>de</strong>n ich erhielt, dachte ich daran,<br />

dass Jesus dieselben Schmerzen kannte. Diese Schmerzen mit ihm zu teilen, war Freu<strong>de</strong> für<br />

mich.<br />

So unglaublich es auch scheinen möchte, die Ausführungsorgane <strong>de</strong>r spanischen Inquisition<br />

dachten allen Ernstes, dass das Verbrennen von Ketzern eine heilige Pflicht sei. Genauso<br />

waren viele von <strong>de</strong>n Parteimännern <strong>de</strong>r Überzeugung, dass ihre Handlungsweise gerechtfertigt<br />

sei. Oberst Dulgheru schien zu dieser Gruppe zu gehören. Oft sagte er: „Es gibt Informationen,<br />

die zum Schutze <strong>de</strong>s Staates notwendig sind. Deshalb müssen alle Personen, die mit solchen Informationen<br />

zurückhalten, misshan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Dies ist für die sozialistische Gesellschaft von<br />

lebenswichtiger Be<strong>de</strong>utung." Sehr viel später, als ich, vor nervöser Erschöpfung nur noch ein<br />

weinen<strong>de</strong>s Wrack, vor ihm saß, sagte Dulgheru mit so etwas wie Mitleid: „Warum geben Sie<br />

nun nicht nach? Das hat doch gar keinen Zweck. Sie sind nur ein Mensch und wer<strong>de</strong>n schließlich<br />

zugrun<strong>de</strong> gehen." Genau das Gegenteil hatte ich erfahren. Hätte ich nur menschliche Kraft<br />

gehabt, hätte ich niemals durchgehalten. Doch <strong>de</strong>r Leib ist nur <strong>de</strong>r vorübergehen<strong>de</strong> Aufenthaltsort<br />

<strong>de</strong>r Seele.<br />

Eines Abends brachte man mir einen Teller appetitlich duften<strong>de</strong>n Gulaschs und vier<br />

Scheiben Brot. Doch noch ehe ich einen Bissen davon nehmen konnte, erschien <strong>de</strong>r Wächter<br />

wie<strong>de</strong>r und befahl mir, meine Sachen zu nehmen und ihm zu folgen. Er führte mich dahin, wo<br />

schon an<strong>de</strong>re Gefangene aufgestellt waren. In Gedanken noch immer bei meinem nie gegessenen<br />

Gulasch wur<strong>de</strong> ich in einem Lastwagen zum Innenministerium gebracht. Dieses prunkvolle<br />

Gebäu<strong>de</strong> wird von Touristen immer sehr bewun<strong>de</strong>rt. Keiner von ihnen ahnt, dass sich darunter<br />

ein großangelegtes <strong>Gefängnis</strong> mit einem Labyrinth von Gängen befin<strong>de</strong>t. Hun<strong>de</strong>rte von hilflosen<br />

Insassen sind darin untergebracht.<br />

Meine Zelle befand sich tief unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Eine Glühbirne an <strong>de</strong>r Decke beleuchtete<br />

kahle Wän<strong>de</strong> und ein eisernes Bettgestell mit drei Latten und einem Strohsack. Es fiel mir auf,<br />

dass kein Eimer vorhan<strong>de</strong>n war. Das be<strong>de</strong>utete, dass ich stets auf <strong>de</strong>n Wächter angewiesen war,<br />

<strong>de</strong>r mich zum Abort führen musste. Das war für je<strong>de</strong>n Gefangenen die allerschlimmste Zumutung.<br />

Manchmal ließ man sie stun<strong>de</strong>nlang warten und machte sich über ihr flehentliches Bitten<br />

lustig. Aus Furcht, ihre Qualen <strong>könnten</strong> noch gesteigert wer<strong>de</strong>n, hörten manche Männer und<br />

auch Frauen auf, etwas zu essen und zu trinken. Ich selbst hatte schon aus <strong>de</strong>m gleichen Gefäß<br />

gegessen, in das ich meine Notdurft verrichtet hatte, ohne es vorher auszuwaschen, weil kein<br />

Wasser da war.<br />

Schweigen<br />

In dieser Zelle verbrachte ich die nächsten zwei Jahre <strong>de</strong>r Einzelhaft. Ich hatte nichts zu<br />

lesen und auch keinerlei Schreibmaterial. Meine Gesellschaft bestand nur aus meinen Gedanken,<br />

und ich war nie ein Grübler gewesen. Man hatte mich kaum jemals stillsitzen sehen. Doch Gott<br />

war da. Aber hatte ich wirklich gelebt, um Gott zu dienen? O<strong>de</strong>r war es lediglich mein Beruf?<br />

Im Läuterungsfeuer<br />

Ich arbeitete mir eine Zeiteinteilung aus, die ich die nächsten zwei Jahre hindurch einhielt.<br />

Während <strong>de</strong>r ganzen Nacht blieb ich wach. Um 20 Uhr schellte es, um <strong>de</strong>n Beginn <strong>de</strong>r<br />

15


Nachtruhe anzuzeigen. Dann begann ich mit meinem Programm. Manchmal war ich nie<strong>de</strong>rgeschlagen,<br />

manchmal froh, doch immer waren die Nächte zu kurz für all das, was ich vorhatte.<br />

Den Anfang bil<strong>de</strong>te ein Gebet. Nicht selten weinte ich dabei, und oft waren es Tränen <strong>de</strong>s<br />

Dankes. Ähnlich <strong>de</strong>n Radiosendungen wer<strong>de</strong>n Gebete <strong>de</strong>s Nachts besser gehört. Es ist die Zeit<br />

<strong>de</strong>r großen geistlichen Schlachten. Als nächstes kam die Predigt, die ich wie in <strong>de</strong>r Kirche hielt.<br />

Kein Wächter konnte das geflüsterte „Geliebte Brü<strong>de</strong>r!" hören. Ich schloss mit „Amen". Endlich<br />

konnte ich die volle Wahrheit sagen. Ich brauchte mir keine Gedanken darüber zu machen, was<br />

<strong>de</strong>r Bischof <strong>de</strong>nkt, die Gemein<strong>de</strong> sagen o<strong>de</strong>r die Spitzel berichten wür<strong>de</strong>n. Ich predigte keineswegs<br />

ins Leere. Gott, seine Engel und die Heiligen hören je<strong>de</strong> Predigt. Doch ich fühlte auch, dass<br />

sich unter <strong>de</strong>n Zuhörern diejenigen befan<strong>de</strong>n, die mich zum Glauben geführt hatten. Mitglie<strong>de</strong>r<br />

meiner Her<strong>de</strong>: Tote und Leben<strong>de</strong>, meine Familie und meine Freun<strong>de</strong> befan<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>r „Wolke<br />

von Zeugen", von <strong>de</strong>r die Bibel spricht. Die im Glaubensbekenntnis erwähnte Gemeinschaft<br />

<strong>de</strong>r Heiligen wur<strong>de</strong> mir zur Erfahrung.<br />

Ein Folterknecht wur<strong>de</strong> Christ<br />

Einmal, als unsere Klosetts verstopft waren, führte man mich zu <strong>de</strong>r Toilette, die die<br />

Wächter benützten. An <strong>de</strong>r Wand über <strong>de</strong>m Waschbecken hing ein kleiner Spiegel. Zum ersten<br />

Mal seit zwei Jahren sah ich mich selbst.<br />

Als ein jugendlicher und gesun<strong>de</strong>r Mann hatte ich das <strong>Gefängnis</strong> betreten. Man hatte mich<br />

für gutaussehend gehalten. Als ich jetzt sah, was aus mir gewor<strong>de</strong>n war, musste ich lachen. Es<br />

war ein trauriges, homerisches Gelächter. So viele Menschen hatten mich geliebt und bewun<strong>de</strong>rt.<br />

<strong>Wenn</strong> sie jetzt <strong>de</strong>n schrecklichen Mann sehen <strong>könnten</strong>, <strong>de</strong>r mich aus <strong>de</strong>m Spiegel anstarrte,<br />

wür<strong>de</strong>n sie entsetzt sein. Auf einmal wur<strong>de</strong> mir klar, dass das wahrhaft Wertvolle in uns für das<br />

Auge unsichtbar ist. Eines Tages wer<strong>de</strong> ich noch hässlicher wer<strong>de</strong>n, nur ein Skelett und ein<br />

Schä<strong>de</strong>l. Und <strong>de</strong>r Gedanke daran stärkte meinen Glauben und das Verlangen, ein geistliches Leben<br />

zu führen.<br />

In <strong>de</strong>r Toilette fand ich eine zerrissene Zeitung, die erste, die ich seit meiner Verhaftung<br />

zu Gesicht bekam. Sie enthielt die Nachricht, dass <strong>de</strong>r Premierminister Groza fest entschlossen<br />

sei, die Reichen auszurotten. Wie seltsam, dachte ich, eine Regierung, die Wohlhaben<strong>de</strong> liquidiert,<br />

während die übrige Welt versucht, <strong>de</strong>r Armut ein En<strong>de</strong> zu bereiten. Ich suchte nach Patrascanus<br />

Namen, um zu sehen, ob er rehabilitiert wor<strong>de</strong>n war. Doch er befand sich nicht unter <strong>de</strong>n<br />

Namen <strong>de</strong>r Minister, die bei Grozas Ansprache anwesend waren.<br />

Als ich in meine Zelle zurückgeführt wur<strong>de</strong>, hörte ich einen Frau laut weinen und schreien,<br />

als wäre sie von Sinnen. Die Aufschreie schienen aus <strong>de</strong>m unter uns gelegenen Teil <strong>de</strong>s <strong>Gefängnis</strong>ses<br />

zu kommen. Sie steigerten sich bis zum Paroxysmus und brachen dann plötzlich ab.<br />

Einige Tage später wur<strong>de</strong> ein neuer Gefangener in meine Nachbarzelle gebracht. „Wer<br />

sind Sie?" fragte ich durch Klopfzeichen und bekam prompt Antwort. Es war Ion Mihalache, ein<br />

Mitglied verschie<strong>de</strong>ner Regierungen in <strong>de</strong>r Vorkriegszeit und ein ehemaliger Kollege <strong>de</strong>s großen<br />

politischen Führers Iuliu Maniu. Als die Partei mit <strong>de</strong>m Terror begann, schloss sich Mihalache<br />

einer Gruppe an, die versuchen wollte, ins Ausland zu fliehen. Am Flughafen wur<strong>de</strong> er verhaftet<br />

und im Oktober 1947 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Mihalache war in <strong>de</strong>n Sechzigern.<br />

„Mein ganzes Leben lang habe ich gekämpft, um meinen Landsleuten zu helfen. Und das ist<br />

mein Lohn", sagte er.<br />

„<strong>Wenn</strong> Sie zu allem, was kommt, ja sagen, dann kann nichts kommen, was Sie nicht<br />

wünschen", signalisierte ich. „Verzicht ist <strong>de</strong>r Weg zum Frie<strong>de</strong>n." „Es gibt keinen Frie<strong>de</strong>n ohne<br />

Freiheit", war seine Antwort.<br />

Ich sagte: „In einem Land, in <strong>de</strong>m die Tyrannei regiert, ist das <strong>Gefängnis</strong> ein Ehrenplatz."<br />

Er sagte, er hätte Gott verloren.<br />

Ich gab zur Antwort: „Niemand kann Gott verlieren. Wir sind die Verlorenen. <strong>Wenn</strong> wir<br />

uns selbst fin<strong>de</strong>n, fin<strong>de</strong>n wir das Göttliche in uns. Die <strong>Gefängnis</strong>zeit kann uns bei diesem Suchen<br />

eine Hilfe sein." Er sagte] er wolle es versuchen.<br />

16


Zwei Tage später wur<strong>de</strong> Mihalache in eine an<strong>de</strong>re Zelle versetzt. Vorher berichtete er<br />

mir noch, dass die schreien<strong>de</strong> Frau, die wir gehört hatten, die Frau <strong>de</strong>s früheren Premierministers<br />

Ion Gigurtu war. Das plötzliche Abbrechen ihrer Schreie wies darauf hin, dass man sie in<br />

eine Zwangsjacke gesteckt und geknebelt hatte. Als ich das nächste Mal wie<strong>de</strong>r an die Wand<br />

klopfte, erhielt ich keine Antwort. Mihalache war nicht mehr da.<br />

Nicht lange danach begann man wie<strong>de</strong>r, mich zu verhören. Das Verhör führte gewöhnlich<br />

Leutnant Grecu, ein junger Mann, hart, intelligent und selbstsicher. In <strong>de</strong>n politischen Schulungen<br />

war ihm die Überzeugung eingeimpft wor<strong>de</strong>n, er baue durch seine Tätigkeit eine bessere<br />

Welt auf.<br />

„Uns ist bekannt, dass Sie mit an<strong>de</strong>ren Gefangenen, einschließlich Mihalache, durch<br />

Morsezeichen in Verbindung gestan<strong>de</strong>n haben. Wir müssen jetzt ganz genau<br />

wissen, was je<strong>de</strong>r von ihnen gesagt hat. Ebenfalls möchten wir wissen, wie und wann<br />

Sie noch an<strong>de</strong>re <strong>Gefängnis</strong>regeln gebrochen haben. Und jetzt die Wahrheit gesagt,<br />

sonst..."<br />

Er knallte mit <strong>de</strong>r Peitsche auf <strong>de</strong>n Schreibtisch. „Sie haben eine halbe Stun<strong>de</strong> Zeit", sagte<br />

er und verließ <strong>de</strong>n Raum.<br />

Ich setzte mich hin, um zu schreiben Das erste Wort musste „Erklärung" heißen. Ich hatte<br />

Mühe zu schreiben, <strong>de</strong>nn seit zwei Jahren hatte ich kein Schreibwerkzeug mehr in <strong>de</strong>r Hand<br />

gehabt. Ich gab zu, <strong>Gefängnis</strong>regeln übertreten zu haben: Ich hatte Evangeliumsbotschaften an<br />

die Wand geklopft, ich hatte Pillen gesammelt, um mich zu töten, ich hatte aus einem Stück<br />

Blech ein Messer gefertigt und Schachfiguren aus Brot und Krei<strong>de</strong> gemacht. Ich hatte mich mit<br />

an<strong>de</strong>ren Gefangenen verständigt, doch ihre Namen waren mir unbekannt. (Dass ich Sün<strong>de</strong>nbekenntnisse<br />

in Morse gehört und sogar Menschen zu Jesus geführt hatte, erwähnte ich nicht.) Ich<br />

schrieb weiter: „Niemals habe ich gegen die Kommunisten gesprochen. Ich bin ein Jünger Jesu,<br />

und er hat uns Liebe' zu unseren Fein<strong>de</strong>n geschenkt. Ich verstehe die Kommunisten und bete um<br />

ihre Bekehrung. Ich möchte, dass sie meine Glaubensbrü<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n. Über das, was die an<strong>de</strong>ren<br />

mir gesagt haben, kann ich keine Aussage machen. Ein Priester Gottes kann niemals ein Anklagezeuge<br />

sein. Ich bin berufen zu rechtfertigen, nicht zu verklagen."<br />

Seinen Knüppel schwingend erschien Grecu wie<strong>de</strong>r, auf die Minute pünktlich. Offensichtlich<br />

hatte er gera<strong>de</strong> Gefangene ausgepeitscht.<br />

Er griff nach meiner Erklärung und fing an zu lesen. Nach einer Weile legte er die Peitsche<br />

zur Seite. Als er zu En<strong>de</strong> gelesen hatte, sah er mich bekümmert an und sagte: „Herr Wurmbrand<br />

(er hatte mich vorher noch nie mit „Herr" angere<strong>de</strong>t), weshalb sagen Sie, dass Sie mich<br />

lieben? Das ist doch eines von <strong>de</strong>n christlichen Geboten, das kein Mensch zu halten imstan<strong>de</strong><br />

ist! Ich könnte jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r mich jahrelang in <strong>de</strong>r Einzelhaft hält, mich schlägt und hungern<br />

lässt, unmöglich lieben!"<br />

Ich sagte: „Es geht hier nicht um das Halten eines Gebotes. Als ich zum Glauben an<br />

Christus kam, wur<strong>de</strong> ich wie<strong>de</strong>rgeboren und ein vollkommen neuer Mensch. Mein Wesen wur<strong>de</strong><br />

mit Liebe erfüllt. Wie aus einer Quelle nur Wasser kommen kann, so bringt ein lieben<strong>de</strong>s Herz<br />

nur Liebe hervor."<br />

Zwei Stun<strong>de</strong>n lang sprachen wir über <strong>de</strong>n christlichen Glauben und seine Beziehung zu<br />

<strong>de</strong>n marxistischen Doktrinen, nach welchen er erzogen war. Grecu war überrascht, als ich ihm<br />

sagte, das erste Werk von Marx sein ein Kommentar zum Johannes-Evangelium gewesen. Rjasanow<br />

behauptet es, <strong>de</strong>r Direktor <strong>de</strong>s Marx-Institutes in Moskau. Er muss es doch wissen. Ich gab<br />

ihm auch Zitate, beson<strong>de</strong>rs aus Marx' Frühschriften, in <strong>de</strong>nen er sich positiv über das Christentum<br />

und beson<strong>de</strong>rs über Luther äußert.<br />

Nach diesem Gespräch ließ mich Grecu fast je<strong>de</strong>n Tag für ein bis zwei Stun<strong>de</strong>n zu sich<br />

bringen. Er hatte festgestellt, dass die von mir angeführten Zitate tatsächlich stimmten. Das war<br />

die Einleitung zu einer Reihe langer Diskussionen über <strong>de</strong>n christlichen Glauben, wobei ich stets<br />

in beson<strong>de</strong>rer Weise die <strong>de</strong>mokratischen und revolutionären Wesenszüge <strong>de</strong>s frühen Christentums<br />

unterstrich.<br />

Grecu sagte wie<strong>de</strong>rholt: „Ich bin als Atheist erzogen, ich wer<strong>de</strong> nie etwas an<strong>de</strong>rs wer<strong>de</strong>n."<br />

Ich sagte zu ihm: „Atheismus ist für Christen ein heiliges Wort. Als unsere Vorväter um<br />

17


ihres Glaubens willen <strong>de</strong>n wil<strong>de</strong>n Tieren vorgeworfen wur<strong>de</strong>n, hatten Nero und Caligula sie als<br />

Atheisten bezeichnet. <strong>Wenn</strong> also jemand sich selbst einen Atheisten nennt, habe ich Achtung vor<br />

ihm."<br />

Grecu lächelte. Ich fuhr fort: „Herr Leutnant! Einer meiner Vorfahren im 17. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />

war ein Rabbiner. Seine Biographen berichten, wie er einmal einem Atheisten begegnete und<br />

sagte: ich benei<strong>de</strong> Sie, teurer Bru<strong>de</strong>r! Ihr geistlicher Zustand ist viel besser als unserer. <strong>Wenn</strong> ich<br />

einen Menschen in Not sehe, so kommt es oft vor, dass ich sage: Gott wird ihm helfen! Dann gehe<br />

ich weiter. Sie glauben nicht an Gott, infolge<strong>de</strong>ssen müssen Sie allen, die Ihnen in <strong>de</strong>n Weg<br />

kommen, an seiner Statt helfen'"<br />

„Christen haben an <strong>de</strong>r Partei viel auszusetzen, doch nicht <strong>de</strong>shalb, weil sie atheistisch gesinnt<br />

ist, son<strong>de</strong>rn weil sie eine verkehrte Art von Atheisten hervorbringt. Es gibt zwei Arten: solche,<br />

die sagen, es gibt keinen Gott - also kann ich alles Böse tun, was ich will. Die an<strong>de</strong>ren meinen:<br />

Da es keinen Gott gibt, ist es meine Aufgabe, all das gute zu tun, das Gott tun wür<strong>de</strong>, wenn<br />

es ihn gäbe. Der größte Atheist im zweiten Sinn war Christus selbst. <strong>Wenn</strong> er hungrige, kranke<br />

und verzweifelte Menschen sah, ging er nicht vorbei und sagte: Gott wird ihnen schon helfen.' Er<br />

han<strong>de</strong>lte, als läge die ganze Verantwortung auf ihm allein, und die Menschen begannen zu fragen:<br />

Ist <strong>de</strong>nn dieser Mann Gott selbst? Er tut Gottes Werke!' Auf diese Weise fan<strong>de</strong>n sie heraus,<br />

dass Jesus Gott ist. <strong>Wenn</strong> Sie, Herr Leutnant, es fertigbringen, diese Art von Atheist zu wer<strong>de</strong>n,<br />

wenn Sie lernen, je<strong>de</strong>n Menschen zu lieben und je<strong>de</strong>m Menschen zu dienen, wer<strong>de</strong>n die Leute<br />

rasch merken, dass Sie ein Kind Gottes gewor<strong>de</strong>n sind, und Sie selbst wer<strong>de</strong>n das Göttliche in<br />

sich ent<strong>de</strong>cken."<br />

Solche Argumente mögen manche Leute schockieren. Doch Paulus sagt, ein Missionar<br />

solle <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n ein Ju<strong>de</strong> und <strong>de</strong>n Griechen ein Grieche sein. Dem Marxisten Grecu gegenüber<br />

musste ich ein Marxist sein und die Sprache gebrauchen, die er verstand. Meine Worte gingen<br />

ihm zu Herzen. Er begann nachzu<strong>de</strong>nken und gewann Jesus lieb. In seiner Khaki-Uniform mit<br />

<strong>de</strong>n blauen Streifen <strong>de</strong>r Sicherheitspolizei bekannte Grecu zwei Wochen später vor mir in meiner<br />

schmutzigen und zerlumpten <strong>Gefängnis</strong>kleidung seine Sün<strong>de</strong>n. Wir wur<strong>de</strong>n Brü<strong>de</strong>r.<br />

Von da an half Grecu in tapferer Weise <strong>de</strong>n Gefangenen, so gut er konnte, durch alle<br />

Schwierigkeiten und Gefahren. Zum Schein diente er noch <strong>de</strong>r Partei und spielte nach außen hin<br />

seine Rolle. Eines Tages verschwand er, und niemand wusste, was aus ihm gewor<strong>de</strong>n war. Ich<br />

versuchte vorsichtig, etwas durch die Wächter zu erfahren. Nach <strong>de</strong>ren Meinung war er verhaftet<br />

wor<strong>de</strong>n. Eine wahre Bekehrung zu verbergen, ist durchaus keine leichte Sache.<br />

In <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>szelle<br />

Eines Tages, als meine Temperatur gera<strong>de</strong> stieg, und ich mich schwach und elend fühlte,<br />

kamen die Wächter wie<strong>de</strong>r, um mich abzuholen. Sie hängten mir ein Laken über <strong>de</strong>n Kopf und<br />

führten mich einen Korridor entlang. Als das Tuch abgenommen wur<strong>de</strong>, befand ich mich in einem<br />

großen kahlen Raum mit vergitterten Fenstern. Vier Männer und eine Frau saßen hinter einem<br />

Tisch mir gegenüber. Das waren meine Richter. Jetzt sollte ich verurteilt wer<strong>de</strong>n.<br />

„Ein Rechtsanwalt ist zu Ihrem Verteidiger ernannt wor<strong>de</strong>n", sagte <strong>de</strong>r Gerichtsvorsitzen<strong>de</strong>,<br />

„er hat von Ihrem Recht, Zeugen einzuberufen, keinen Gebrauch gemacht. Setzen Sie<br />

sich."<br />

Wächter hielten mich auf einem Stuhl fest. Man verabreichte mir eine Stärkungsspritze.<br />

Als die Aufwallungen von Brechreiz und Schwin<strong>de</strong>l abebbten, sah ich, dass <strong>de</strong>r Staatsanwalt<br />

sich erhoben hatte. Er sagte, ich hätte die gleiche verbrecherische I<strong>de</strong>ologie in Rumänien vertreten<br />

wie Josef Broz Tito in Jugoslawien. Ich phantasiere, dachte ich. Zur Zeit meiner Verhaftung<br />

war Marschall Tito als ein Musterkommunist hingestellt wor<strong>de</strong>n. Dass er in <strong>de</strong>r Zwischenzeit als<br />

ein Abtrünniger und Verräter entlarvt wor<strong>de</strong>n war, war mir nicht bekannt. Der Staatsanwalt fuhr<br />

mit <strong>de</strong>r endlosen Aufzählung meiner Straftaten fort: Spionagearbeit durch die skandinavische<br />

Kirchenmission und <strong>de</strong>n Weltkirchenrat, Ausbreitung imperialistischer I<strong>de</strong>ologien unter <strong>de</strong>m<br />

Deckmantel kirchlicher Arbeit, Infiltrierung in die Partei mit <strong>de</strong>m eigentlichen Zweck, die Partei<br />

zu zerstören u.a.m. Während die Stimme weiterre<strong>de</strong>te, fühlte ich, wie ich vom Stuhl glitt. Die<br />

18


Verhandlung wur<strong>de</strong> unterbrochen, während ich eine weitere Spritze erhielt.<br />

Mein Verteidiger tat, was er konnte, es war nicht viel. „Haben Sie noch etwas zu sagen",<br />

fragte <strong>de</strong>r Vorsitzen<strong>de</strong>. Seine Stimme schien weit weg zu sein. Vor meinen Augen wur<strong>de</strong> es dunkel.<br />

Mein verwirrter Kopf war nur eines einzigen Gedankens fähig.<br />

„Ich liebe Gott", sagte ich.<br />

Mein Urteil lautete: Zwanzig Jahre Zwangsarbeit. Die Gerichtsverhandlung hatte zehn<br />

Minuten gedauert. Ehe man mich wegbrachte, wur<strong>de</strong> mir wie<strong>de</strong>r ein Laken um <strong>de</strong>n Kopf gewickelt.<br />

Zwei Tage später flüsterte Tachici mir zu: „Sie verlassen uns. Gott sei mit Ihnen." Ein<br />

an<strong>de</strong>rer Wächter kam herein. Die bei<strong>de</strong>n trugen mich zwischen sich zum Haupteingang. Ich sali<br />

Bukarest unten ausgebreitet, zum letzten Mal für die nächsten sechs Jahre. Vorschriftsmäßige<br />

Ketten von fünfzig Pfund Gewicht wur<strong>de</strong>n mir um die Fußknöchel gehämmert. Ich wur<strong>de</strong> in einen<br />

Lastwagen verfrachtet, in <strong>de</strong>m sich bereits etwa vierzig Männer und einige Frauen befan<strong>de</strong>n.<br />

Alle, sogar die Kranken, trugen Ketten. Neben mir begann ein Mädchen zu weinen, und ich bemühte<br />

mich, es zu trösten.<br />

„Kennen Sie mich nicht mehr?", schluchzte sie. Ich schaute sie mir näher an, doch ihr<br />

Gesicht war mir unbekannt.<br />

„Ich gehörte zu Ihrer Gemein<strong>de</strong>." Nach meiner Verhaftung hätte sie aus Armut einen<br />

Diebstahl begangen, erzählte sie weiter, und sei zu drei Monaten Zwangsarbeit verurteilt wor<strong>de</strong>n.<br />

„Ich schäme mich, so", sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Ich gehörte zu Ihrer Kirche, und<br />

Sie sind jetzt ein Märtyrer. Ich aber bin eine Diebin."<br />

„Auch ich bin ein Sün<strong>de</strong>r, gerettet durch die Gna<strong>de</strong> Gottes", sagte ich. „Glaube an Christus,<br />

und <strong>de</strong>ine Sün<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n dir vergeben wer<strong>de</strong>n."<br />

Sie küsste mir die Hand und versprach, nach ihrer Entlassung meine Familie wissen zu<br />

lassen, dass sie mich gesehen habe.<br />

Auf einem Rangierbahnhof wur<strong>de</strong>n wir in einen Spezialtransportwagen für Gefangene<br />

verla<strong>de</strong>n. Die Fenster waren winzig und undurchsichtig. Während wir langsam dahinratterten,<br />

aus <strong>de</strong>m Flachland in die Ausläufer <strong>de</strong>r Karpaten hinauf, stellten wir fest, dass alle von uns Tb<br />

hatten. So kamen wir zu <strong>de</strong>m Schluss, dass man uns nach Tirgu-Ocna verschickte, wo sich eine<br />

Art Sanatorium für tuberkulöse Gefangene befand. Etwa vierhun<strong>de</strong>rt Jahre lang hatten dort<br />

Sträflinge in <strong>de</strong>n Salzminen gearbeitet. Vor dreißig Jahre hatte ein berühmter Arzt namens Romascanu<br />

dort dieses Sanatorium gebaut und es <strong>de</strong>m Staat übergeben. Bevor die Kommunisten<br />

an die Macht kamen, hatte es einen ausgezeichneten Ruf.<br />

Nach einer Reise von dreihun<strong>de</strong>rt Kilometern, die Tag und Nacht gedauert hatten, kamen wir am<br />

Bahnhof von Tirgu-Ocna an. Die Stadt hatte 30 000 Einwohner. Mit sechs an<strong>de</strong>ren Männern, die<br />

nicht gehen konnten, wur<strong>de</strong> ich auf einen Handkarren gela<strong>de</strong>n. Die übrigen zogen uns, während<br />

die Wächter zusahen, zu einem großen Gebäu<strong>de</strong> am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Stadt. Als ich hineingetragen<br />

wur<strong>de</strong>, erblickte ich ein bekanntes Gesicht. Es war Dr. Al<strong>de</strong>a, ein früherer Faschist, <strong>de</strong>r sich bekehrt<br />

hatte und ein Freund unserer Familie gewor<strong>de</strong>n war. Nach<strong>de</strong>m ich in <strong>de</strong>r Quarantänestation<br />

ins Bett gebracht wor<strong>de</strong>n war, untersuchte er mich.<br />

„Ich bin selbst ein Gefangener", sagte er mir, „doch sie lassen mich als Arzt arbeiten. Es<br />

gibt hier keine Krankenschwestern und nur eine Arzt. Deshalb müssen wir uns gegenseitig helfen,<br />

so gut wir können."<br />

Er maß meine Temperatur und untersuchte mich. „Ich möchte dich nicht belügen", sagte<br />

er, „wir können nichts für dich tun. Du hast vielleicht noch etwa zwei Wochen zu leben. Versuche<br />

zu essen, was man dir gibt, obwohl es nichts taugt. Sonst -„ er tippte mich an die Schulter<br />

und ging weiter.<br />

Während <strong>de</strong>r nächsten Tage starben zwei <strong>de</strong>r Männer, die vom Bahnhof aus in <strong>de</strong>m Karren<br />

hierher gezogen wor<strong>de</strong>n waren. Ich hörte, wie ein an<strong>de</strong>rer von ihnen Dr. Al<strong>de</strong>a heiser anflehte:<br />

„Ich schwören Ihnen, dass es mir besser geht, Doktor. Das Fieber geht herunter, ich weiß es,<br />

bitte hören Sie doch! Heute habe ich nur einmal Blut gespuckt, lassen Sie mich nicht in <strong>de</strong>n<br />

Raum Nr. 4 bringen!"<br />

Ich fragte <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r mir <strong>de</strong>n wässerigen Haferschleim brachte, was mit <strong>de</strong>m Raum<br />

19


Nr. 4 los sei. Er stellte <strong>de</strong>n Teller vorsichtig hin und antwortete: „Da kommt man hin, wenn es<br />

feststeht, dass es keine Hoffnung mehr gibt."<br />

Ich versuchte, <strong>de</strong>n Schleim zu essen, doch es ging nicht. Jemand fütterte mich mit <strong>de</strong>m<br />

Löffel. Ich konnte das Essen nicht bei mir behalten. Dr. Al<strong>de</strong>a sagte: „Es tut mir leid, doch man<br />

besteht darauf. Er musst in <strong>de</strong>n Raum Nr. 4."<br />

Ich kam also mit meinen Lei<strong>de</strong>nsgenossen vom Karren wie<strong>de</strong>r zusammen.<br />

Im Koma<br />

Ich hätte eigentlich schon tot sein müssen. <strong>Wenn</strong> Gefangene an meinem Bett vorbeigingen,<br />

bekreuzigten sie sich. Die meiste Zeit lag ich im Koma. <strong>Wenn</strong> ich stöhnte, drehten mich die<br />

an<strong>de</strong>ren auf die Seite o<strong>de</strong>r gaben mir zu trinken.<br />

Dr. Al<strong>de</strong>a konnte nur wenig helfen. „Hätten wir doch nur diese mo<strong>de</strong>rnen Medikamente",<br />

sagte er. „Streptomycin, eine neue amerikanische Ent<strong>de</strong>ckung, soll Wun<strong>de</strong>r gegen die Tuberkulose<br />

wirken. Doch die Partei behauptet, das alles sei nur westliche Propaganda."<br />

Die vier Männer, die mit mir zusammen in <strong>de</strong>n Raum verlegt wor<strong>de</strong>n waren, starben während<br />

<strong>de</strong>r nächsten vierzehn Tage. Ich selbst war zuweilen nicht sicher, ob ich noch lebte o<strong>de</strong>r<br />

schon tot war. In <strong>de</strong>r Nacht schlief ich immer wie<strong>de</strong>r für kurze Zeit ein, um von heftigen<br />

Schmerzstößen geweckt zu wer<strong>de</strong>n. Die an<strong>de</strong>ren drehten mich je<strong>de</strong> Nacht durchschnittlich vierzigmal<br />

auf die Seite, um die Schmerzen zu lin<strong>de</strong>rn. Eiter floss mir aus Dutzen<strong>de</strong>n von offenen<br />

Stellen. Meine Brust war vor Eiter aufgedunsen, und auch die Wirbelsäule war in Mitlei<strong>de</strong>nschaft<br />

gezogen. Fortwährend spuckte ich Blut.<br />

Meine Seele war nur noch durch einen dünnen Fa<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Leib verbun<strong>de</strong>n, und ich<br />

war bereits im Begriff, die sichtbare Welt zu verlassen. Ich fragte meinen Schutzengel: „Was bist<br />

du für ein Beschützer, wenn du mich nicht vor diesem Lei<strong>de</strong>n und noch nicht einmal vor unchristlichen<br />

Gedanken bewahren kannst?"<br />

Ich überlebte die erste Krise. Das Mitleid in <strong>de</strong>n Augen von Dr. Al<strong>de</strong>a verwan<strong>de</strong>lte sich<br />

allmählich in Verwun<strong>de</strong>rung, weil ich immer noch am Leben blieb.<br />

Obwohl ich keine Medikamente erhielt, begann das Fieber am Morgen für eine Stun<strong>de</strong> etwas<br />

herunterzugehen, meine Gedanken wur<strong>de</strong>n klarer. Ich fing an, um mich zu blicken und<br />

nahm wie<strong>de</strong>r von meiner Umgebung Notiz.<br />

Keiner starb als Atheist<br />

In unserem Raum befan<strong>de</strong>n sich zwölf eng nebeneinan<strong>de</strong>r gestellte Betten und einige<br />

kleine Tische. Die Fenster waren offen, und ich konnte Männer in einem Gemüsegarten arbeiten<br />

sehen. Hinter ihnen befan<strong>de</strong>n sich hohe <strong>Mauern</strong> mit Stacheldraht. Es war sehr still. Hier gab es<br />

keine Alarmglocken, keine brüllen<strong>de</strong>n <strong>Gefängnis</strong>wärter - ja, überhaupt keine Wärter. Sie fürchteten<br />

die Ansteckung und hielten sich <strong>de</strong>n Patienten so fern wie möglich. So wur<strong>de</strong> Tirgu-Ocna<br />

„per distance" verwaltet und war durch Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit eines <strong>de</strong>r etwas weniger<br />

strengen <strong>Gefängnis</strong>se. Niemand sorgte o<strong>de</strong>r tat etwas für uns. Wir trugen noch die Kleidung,<br />

in <strong>de</strong>r wir verhaftet wor<strong>de</strong>n waren. In all <strong>de</strong>n Jahren wur<strong>de</strong> sie immer wie<strong>de</strong>r mit allem<br />

nur auffindbaren Zeug zusammengeflickt.<br />

Strafgefangene brachten das Essen bis vor die Tür <strong>de</strong>r politischen Abteilung. Von dort<br />

aus wur<strong>de</strong> es zu <strong>de</strong>n einzelnen Zellen getragen. Wer gehen konnte, holte sich seine Ration selbst,<br />

die übrigen bekamen sie ans Bett. ES gab eine dünne Kohlsuppe, etwas weiße Bohnen o<strong>de</strong>r eine<br />

Wassersuppe aus Hirse o<strong>de</strong>r Mais. Einige <strong>de</strong>r Insassen, die gut bei Kräften waren, konnten draußen<br />

ein Grundstück umgraben, die übrigen lagen auf ihren Pritschen und schlugen die Zeit mit<br />

Geschwätz tot. In Raum Nr. 4 jedoch herrschte eine an<strong>de</strong>re Atmosphäre. Da ihn bisher niemand<br />

lebend verlassen hatte, wur<strong>de</strong> er „die To<strong>de</strong>szelle" genannt.<br />

Dreißig Monate lag ich darin. Während dieser Zeit starben die Männer scharenweise,<br />

und ihren Platz nahmen an<strong>de</strong>re ein. Doch eine Tatsache war bemerkenswert: Keiner von ihnen<br />

starb als Atheist. Faschisten, Kommunisten, Heilige, Mör<strong>de</strong>r, Diebe, Priester, reiche Landbe-<br />

20


sitzer und die ärmsten aller Bettler waren in einer kleinen Zelle zusammengepfercht. Doch starb<br />

keiner von ihnen, ohne vorher sich mit Gott und Menschen versöhnt zu haben.<br />

Viele betraten <strong>de</strong>n Raum Nr. 4 als überzeugte Gottesleugner. Doch ich sah, wie ihr Unglaube<br />

angesichts <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s stets in sich zusammenfiel. <strong>Wenn</strong> eine Katze über eine Brücke<br />

läuft, be<strong>de</strong>utet das noch nicht, dass die Brücke tragfähig ist. <strong>Wenn</strong> aber ein Zug über sie fahren<br />

kann, dann ist sie es bestimmt. <strong>Wenn</strong> ein Mann sich Atheist nennt, während er mit seiner Frau<br />

bei Kaffee und Kuchen sitzt, so ist dies noch kein Beweis für <strong>de</strong>n Atheismus. Eine echte Überzeugung<br />

muss enormen Zerreißproben standhalten können. Und dazu ist <strong>de</strong>r Atheismus nicht in<br />

<strong>de</strong>r Lage.<br />

Das Johannesevangelium<br />

Aristar starb im Februar. Um ihn begraben zu können, mussten wir <strong>de</strong>n tiefen Schnee<br />

wegschaufeln und <strong>de</strong>n steinharten Bo<strong>de</strong>n aufbrechen. Wir beerdigten ihn neben Abt Iscu, Gafencu,<br />

Bucur und einer Menge an<strong>de</strong>rer aus <strong>de</strong>m Raum Nr. 4, die er gekannt hatte. Sein Bett wur<strong>de</strong><br />

von Avram Radonovivi, einem ehemaligen Musikkritiker aus Bukarest, belegt.<br />

Avram kannte ganze Sätze aus Partituren von Bach, Beethoven und Mozart und konnte<br />

sie stun<strong>de</strong>nlang summen. Für uns war es wie ein Sinfoniekonzert. Doch er hatte eine noch größere<br />

Kostbarkeit mitgebracht: Wegen seiner Tuberkulose, von <strong>de</strong>r auch die Wirbelsäule angegriffen<br />

war, trug er bei seiner Ankunft in Tirgu-Ocna eine Gipsverband. Bald darauf konnten wir<br />

beobachten, wie Avram in sein graues Gipsgehäuse hineingriff und ein kleines zerlesenes Buch<br />

ans Licht beför<strong>de</strong>rte. Wir alle hatten jahrelang nichts Gedrucktes mehr zu Gesicht bekommen. Er<br />

lag da und blätterte leise Seite um Seite weiter, bis es ihm bewusst wur<strong>de</strong>, dass gierige Augen<br />

ihn anstarrten.<br />

„Sie haben ein Buch", sagte ich. „Was ist es? Woher haben Sie es?" „Es ist das Johannesevangelium",<br />

sagte Avram. „Als die Polizei kam, um mich zu holen, habe ich es noch schnell in<br />

meinem Gipsverband versteckt." Er lächelte: „Möchten Sie es ausleihen?"<br />

Ich schloss meine Hän<strong>de</strong> um das Büchlein, als wäre es ein leben<strong>de</strong>r Vogel. Keine lebensretten<strong>de</strong><br />

Droge hätte mich mehr erfreuen können. Ich hatte vieles aus <strong>de</strong>r Bibel auswendig gelernt<br />

und hatte selbst in einem Seminar über die Bibel unterrichtet. Dennoch schwand mir <strong>de</strong>r<br />

Bibeltext je<strong>de</strong>n Tag mehr aus <strong>de</strong>m Gedächtnis. Oft hatte ich versucht, mich damit zu trösten, dass<br />

das Fehlen eines Bibeltextes folgen<strong>de</strong>n Vorteil habe: Ich war jetzt gezwungen, auf das zu hören,<br />

was Gott mir direkt zu sagen hat, während ich in <strong>de</strong>r Bibel nur das lese, was <strong>de</strong>n Propheten und<br />

Heiligen offenbart wor<strong>de</strong>n ist.<br />

Das Johannesevangelium wan<strong>de</strong>rte von Hand zu Hand. Mir fiel es schwer, darauf zu verzichten.<br />

Ich glaube, dass für gebil<strong>de</strong>te Menschen das <strong>Gefängnis</strong> noch schwerer zu ertragen ist als<br />

für Arbeiter und Bauern. Letztere fin<strong>de</strong>n oft interessantere Gesellschaft, als sie vorher hatten.<br />

Doch ein Mensch, <strong>de</strong>r viel zu lesen gewohnt ist, fühlt sich wie ein Fisch auf <strong>de</strong>m Trockenen.<br />

Viele lernten das ganze Evangelium auswendig. Je<strong>de</strong>n Tag unterhielten wir uns darüber,<br />

doch wir mussten sorgfältig überlegen, welche von <strong>de</strong>n Gefangenen in unser Geheimnis eingeweiht<br />

wer<strong>de</strong>n konnten. Dieses Johannesevangelium half vielen, <strong>de</strong>n Weg zu Jesus zu fin<strong>de</strong>n.<br />

Unter diesen war auch Professor Popp. Das Leben in <strong>de</strong>r Gemeinschaft lebendiger Christen hatte<br />

ihn <strong>de</strong>m Glauben immer näher gebracht. Die Worte von Johannes waren im Begriff, diese Vorarbeit<br />

zu vollen<strong>de</strong>n. Doch es gab noch ein letztes Hin<strong>de</strong>rnis zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

„Ich habe wie<strong>de</strong>r versucht zu beten", sagte <strong>de</strong>r Professor, „doch zwischen <strong>de</strong>m Hersagen<br />

<strong>de</strong>r orthodoxen Formeln, die ich als Jung gelernt hatte und <strong>de</strong>r Bitte um die Gunst <strong>de</strong>s Allmächtigen,<br />

auf die ich keinen Anspruch habe, gibt es nicht viel zu sagen. Es ist wie bei <strong>de</strong>m König in<br />

Hamlet, mein Wort fliegt auf, mein Geist bleibt unbeschwingt'." (Hamlet 3/397)<br />

Ich erzählte ihm von einem Pfarrer, <strong>de</strong>r an das Sterbebett eines alten Mannes gerufen<br />

wur<strong>de</strong>. Er wollte sich gera<strong>de</strong> in einen Sessel neben <strong>de</strong>m Bett setzen, doch <strong>de</strong>r alte Mann bat:<br />

„Bitte, setzen Sie sich nicht dorthin." Der Pfarrer holte sich einen Stuhl, hörte seine Beichte und<br />

gab ihm das heilige Abendmahl. Der alte Mann lebte wie<strong>de</strong>r ein wenig auf und sagte: „Ich<br />

möchte Ihnen die Geschichte dieses Sessels erzählen. Vor fünfzig Jahren, als ich noch ein junger<br />

21


Bursche war, besuchte mich hier ein alter Pastor und fragte mich, ob ich es gewohnt sei zu beten.<br />

Ich antwortete: , Nein. Ich habe niemand, zu <strong>de</strong>m ich beten kann. Selbst wenn ich so laut rufe,<br />

wie ich nur kann, wird mich <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r im nächsten Stockwerk wohnt, nicht hören können;<br />

wie soll es Gott im Himmel können?' ,Dann lass nur das Beten sein', erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r alte Pastor<br />

freundlich. , setze dich statt<strong>de</strong>ssen je<strong>de</strong>n Morgen hier mit einem an<strong>de</strong>ren Stuhl dir gegenüber.<br />

Stelle dir dann vor, Jesus Christus säße vor dir, wie er es damals in vielen Häusern von Palästina<br />

getan hat. Was wür<strong>de</strong>st du ihm dann sagen?’, <strong>Wenn</strong> ich ehrlich wäre, wür<strong>de</strong> ich sagen, dass ich<br />

nicht an ihn glaube', erwi<strong>de</strong>rte ich. , Gut’, sagte <strong>de</strong>r Pastor, das zeigt wenigstens, was du wirklich<br />

<strong>de</strong>nkst. Du könntest ein weiteres tun und ihn auf die Probe stellen. <strong>Wenn</strong> er existiert, soll er<br />

es doch beweisen! O<strong>de</strong>r, wenn du Gottes Art, die Welt zu regieren, nicht billigst, warum sagst<br />

du es ihm nicht? Du wärest nicht <strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r sich beklagt. König David und Hiob haben auch<br />

Gott gesagt, dass er nach ihrer Meinung ungerecht sei. O<strong>de</strong>r hast du einen Wunsch, dann teile<br />

ihn Jesus genau mit. Bedanke dich, wenn du es bekommen hast. Dieser Gedankenaustausch liegt<br />

im Bereich <strong>de</strong>s Gebetes. Re<strong>de</strong> keine frommen Phrasen daher. Sag das, was du wirklich <strong>de</strong>nkst.'."<br />

Der sterben<strong>de</strong>n Mann fuhr fort: „Ich glaube zwar nicht an Christus, doch ich liebte <strong>de</strong>n<br />

alten Pastor. Ihm zuliebe setzte ich mich vor diesen Sessel und tat so, als säße Christus darin.<br />

Einige Tage lang war es nur ein Spiel, doch dann wusste ich, dass er gegenwärtig war. Ich besprach<br />

wirkliche Probleme mit einem Heiland, <strong>de</strong>r wirklich da war; ich bat um Führung und<br />

wur<strong>de</strong> geführt. Gebet wur<strong>de</strong> Zwiegespräch. Seit<strong>de</strong>m sind fünfzig Jahre vergangen, und je<strong>de</strong>n<br />

Tag spreche ich mit Jesus, <strong>de</strong>r in diesem Sessel sitzt."<br />

Der Pastor war dabei, als dieser Mann starb. Als letztes streckte er noch grüßend die<br />

Hand aus nach <strong>de</strong>m unsichtbaren Freund im Sessel.<br />

„Beten Sie auch auf diese Weise?" fragte <strong>de</strong>r Professor. Ich sagte: „Ich stelle mir gern<br />

vor, dass Jesus neben mir steht und ich mich mit ihm so wie jetzt mit Ihnen unterhalten kann.<br />

Menschen, die ihm in Nazareth und Bethlehem begegneten, sagten ihm keine Gebete auf. Sie<br />

sprachen so, wie es ihnen ums Herz war, und auch wir sollen es tun."<br />

Popp sagte: „Was meinen Sie, warum viele von <strong>de</strong>nen, die mit ihm vor zweitausend Jahren<br />

in Palästina gesprochen haben, nicht seine Nachfolger gewor<strong>de</strong>n sind?"<br />

Ich sagte: „Die Ju<strong>de</strong>n hatten Jahrhun<strong>de</strong>rte lang um das Kommen <strong>de</strong>s Messias gebetet.<br />

Keiner tat es lauter als <strong>de</strong>r Sanhedrin, <strong>de</strong>r Hohe Rat. Doch als <strong>de</strong>r Messias tatsächlich kam, spotteten<br />

sie, spien ihn an und verurteilten ihn zum To<strong>de</strong>. Denn das letzte, was sie gebrauchen konnten,<br />

war ein Mann, <strong>de</strong>r ihre bequeme Routine über <strong>de</strong>n Haufen warf. Das trifft auch heute auf<br />

viele Menschen aus allen Nationen zu."<br />

Professor Popp wur<strong>de</strong> ein Christ. „Als ich Sie zum ersten Mals ah, hatte ich eine Vorahnung,<br />

dass Sie mir etwas zu geben hätten", sagte er mir später.<br />

Solche. Intuitionen waren im <strong>Gefängnis</strong> nichts Ungewöhnliches. <strong>Wenn</strong> man ganz und<br />

gar von <strong>de</strong>r Außenwelt abgeschnitten ist, entwickelt man einen neuen Sinn für die unsichtbaren<br />

Dinge.<br />

Wir wur<strong>de</strong>n enge Freun<strong>de</strong>. Oft, wenn wir still beisammen saßen, sprach er die Gedanken<br />

aus, die mir gera<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n Kopf gingen. So sollte es unter Freun<strong>de</strong>n und unter Ehegatten sein,<br />

doch es ist selten <strong>de</strong>r Fall.<br />

Englisch gegen Zahnschmerzen<br />

Einige Monate nach Stalins Tod wur<strong>de</strong> die Erlaubnis erteilt, monatlich ein Paket von zuhause<br />

zu empfangen. Postkarten wur<strong>de</strong>n unter uns verteilt, und ich schrieb nach Hause mit <strong>de</strong>r<br />

Bitte, mir zusätzlich zu <strong>de</strong>n Nahrungsmitteln noch Zigaretten und „Dr. Filons alte Klei<strong>de</strong>r" zu<br />

schicken. Ich selbst kann das Rauchen nicht vertragen, doch weil die an<strong>de</strong>ren sich so verzweifelt<br />

nach einer Zigarette sehnten, ließ ich mir stetes die gestattete Menge schicken, um sie verschenken<br />

zu können. Das Ergebnis war, das diejenigen, <strong>de</strong>nen ich nichts geben konnte, beleidigt waren<br />

und solche, die etwas bekamen, <strong>de</strong>n Verdacht hegten, ich wür<strong>de</strong> an<strong>de</strong>rn mehr geben.<br />

Meine Bitte um die alten Klei<strong>de</strong>r von Dr. Filon versetzte meine Familie in Verwirrung.<br />

22


Der Arzt war ein kleiner Mann, und ich war sehr groß. Ich hoffte, sie wür<strong>de</strong>n begreifen, dass ich<br />

in Wirklichkeit um Streptomycin bat. Al<strong>de</strong>a hatte mir berichtet, dass die Vertreter <strong>de</strong>r sozialistischen<br />

Medizin jetzt zugaben, dass die vor zehn Jahren in Amerika ent<strong>de</strong>ckte Droge tatsächlich<br />

wirksam sei. <strong>Wenn</strong> ich etwas davon bekommen könnte, wäre er in <strong>de</strong>r Lage, mich zu behan<strong>de</strong>ln.<br />

Doch es war uns nicht gestattet, schriftlich darum zu bitten.<br />

Abgesehen von <strong>de</strong>r Tuberkulose, quälten mich die ständig wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Zahnschmerzen.<br />

Wir alle hatten darunter zu lei<strong>de</strong>n. Der Mangel an vollwertiger Nahrung und Zahnbehandlung<br />

ließ die Zähne in kurzer Zeit <strong>de</strong>r Karies anheimfallen. Manch einem waren die Zähne<br />

auch ausgeschlagen wor<strong>de</strong>n. Zeitweise hatte ich fünfzig Pfund schwere Ketten um die Knöchel<br />

und konnten nicht einmal einige Schritte gehen, um die Zahnschmerzen einzudämmen. Am allerschlimmsten<br />

litt ich in Tirgu-Ocna darunter. Ein Zahn im Oberkiefer bereitete mir <strong>de</strong>n ganzen<br />

Tag über schreckliche Schmerzen. Gegen Abend verlagerte sich <strong>de</strong>r Schmerz dann in <strong>de</strong>n Unterkiefer.<br />

Es war kein Zahnart da, und so bestand keine Aussicht auf Erleichterung. Von Pascal<br />

wird erzählt, er habe seine Zahnschmerzen mit <strong>de</strong>m Lösen mathematischer Aufgaben bekämpft.<br />

Ich versuchte also, Predigten zusammenzustellen. Doch <strong>de</strong>r Schmerz war anscheinend <strong>de</strong>m mathematischen<br />

Rechnen mehr unterworfen als freier Gedankenarbeit. Es kamen dabei nur kümmerliche<br />

Predigten heraus. Ich fing an zu dichten, doch es wur<strong>de</strong>n Gedichte <strong>de</strong>r Verzweiflung.<br />

So versuchte ich, die Schmerzen zu vergessen, in <strong>de</strong>m ich mit Josif ein Gespräch anfing.<br />

Ich setzte mich zu ihm und fragte, weshalb er so zornig wer<strong>de</strong>, wenn ich re<strong>de</strong>te.<br />

Er sagte: „Ich hasse Gott, und wenn Sie so weitermachen, sage ich es <strong>de</strong>n Wächtern!"<br />

Seine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. „Lassen Sie mich in Ruhe!"<br />

Doch die gute Veranlagung <strong>de</strong>s Jungen gewann stets die Oberhand. Ein o<strong>de</strong>r zwei Tage<br />

später erzählte er mir von seiner Hoffnung, seine Schwester in Deutschland wie<strong>de</strong>rzusehen. Sie<br />

wollten dann zusammen zu Verwandten nach Amerika auswan<strong>de</strong>rn.<br />

„Dann musst du anfangen, englisch zu lernen", sagte ich. „Ich möchte es schrecklich<br />

gern, aber wer kann es mir hier beibringen?"<br />

Ich sagte, ich wäre bereit, ihm Unterricht zu geben. „Wirklich? Ist das wahr?" Er war<br />

überglücklich. Obwohl wir we<strong>de</strong>r Bücher noch Schreibmaterial besaßen, erwies er sich als ein<br />

glänzen<strong>de</strong>r Schüler.<br />

Ich erzählte ihm von <strong>de</strong>n englischen Büchern, die ich gelesen hatte und ließ ihn Teile aus<br />

<strong>de</strong>r Bibel, die ich auswendig konnte, nach<strong>sprechen</strong>.<br />

Spion<br />

Josif war nicht <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r gedroht hatte, mich anzuzeigen. Eine größere Gefahr unter<br />

uns waren jedoch die geheimen Spitzel. Solche Männer gaben oft vor, Patrioten zu sein. Damit<br />

kamen sie beson<strong>de</strong>rs bei jungen Menschen rasch zum Ziel.<br />

Partisanen, die sich jahrelang in <strong>de</strong>n Bergen Rumäniens versteckt gehalten hatten, animierten<br />

viele Jugendliche, eigene antikommunistische Gruppen zu bil<strong>de</strong>n. Das hatte zur Folge,<br />

dass achtzehn- und neunzehnjährige Jungen und Mädchen festgenommen und eingekerkert wur<strong>de</strong>n.<br />

In Tirgu-Ocna hatten wir sogar einen Vierzehnjährigen bei uns. Diese jungen Leute lauschten<br />

gerne <strong>de</strong>n Geschichten, die <strong>de</strong>r ehemalige Oberst <strong>de</strong>s Geheimdienstes, Armeanu, von König<br />

Stefan <strong>de</strong>m Großen und an<strong>de</strong>ren Vaterlandshel<strong>de</strong>n zu erzählen pflegte.<br />

General Stavrat, <strong>de</strong>r Armeanu von früher her kannte, sagte: „Ich traue diesem Manne<br />

nicht. Wir müssen uns vor ihm in acht nehmen."<br />

Am gleichen Tag hörte ich im Vorbeigehen, wie Armeanu mit einem jungen Partisanen<br />

namens Tiberiu sprach. „Mich haben sie erwischt", sagte Tiberiu, „doch die an<strong>de</strong>ren kämpfen<br />

weiter." Als ich wie<strong>de</strong>r an ihnen vorüberging, hörte ich Tiberiu sagen, dass sich unter <strong>de</strong>n Partisanen<br />

ein junges Mädchen befän<strong>de</strong>. Armeanu sah mich kommen, klopfte ihm auf die Schulter<br />

und ging.<br />

Ich bat Josif, genau zuzuhören. Ihn wür<strong>de</strong> Armeanu weniger beachten, und tatsächlich<br />

konnte er einige Aben<strong>de</strong> später einige Fetzen <strong>de</strong>r Unterhaltung hören.<br />

„Du bist doch ein so hübscher Kerl, hast du <strong>de</strong>nn kein Mädchen gehabt?" fragte Armea-<br />

23


nu. „Klar!" „Und ich wette, dass sie auch hübsch ist. Wie heißt sie <strong>de</strong>nn?" „Maria." „Und wo<br />

kommt sie her?" - "Aha, ich kenne <strong>de</strong>n Ort, ich war sogar mit einer Familie Celinescu befreun<strong>de</strong>t.<br />

Sie hatten eine Tochter mit <strong>de</strong>mselben Namen... Achso, <strong>de</strong>ine Maria ist ein Fräulein Cuza.<br />

Und ihr Vater?... Ein Hauptmann, sagst du? Vielleicht zufällig in <strong>de</strong>m 22. Regiment?... Ach, im<br />

15ten. Ja, ja."<br />

Nach diesem Bericht war auch ich <strong>de</strong>r Meinung, dass dieser Armeanu höchstwahrscheinlich<br />

ein Agent war. Das Mädchen Maria wür<strong>de</strong> vermutlich innerhalb weniger Tage im <strong>Gefängnis</strong><br />

lan<strong>de</strong>n. General Stavrat wollte ihn sofort stellen, doch ich wusste, dass wir keinerlei Beweismaterial<br />

gegen diesen Mann hatten. Als ich bald darauf Armeanu allein sah, begann ich eine Unterhaltung.<br />

Er fragte, warum ich im <strong>Gefängnis</strong> sei, und ich erkannte eine einmalige Gelegenheit.<br />

„Als Spion", sagte ich und setzte hinzu, mit einem Nationalisten wie ihm könne ich gewiss<br />

offen re<strong>de</strong>n. „Dass ich verhaftet bin, hat nichts zu be<strong>de</strong>uten. Ich bin nur ein kleines Rädchen<br />

in <strong>de</strong>r Organisation." Ich ließ noch einige weitere An<strong>de</strong>utungen fallen und ließ ihn Namen<br />

und Adressen aus mir herauslocken. Sein hämisches Gesicht hatte einen triumphieren<strong>de</strong>n Ausdruck.<br />

Er meinte, eine Information ergattert zu haben, die seine Freilassung sicherstellte.<br />

Sobald die Zelle am nächsten Morgen geöffnet wur<strong>de</strong>, sah Stavrat, wie Armeanu <strong>de</strong>m<br />

Wächter etwas zuflüsterte. Sofort wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Oberst zur „medizinischen Untersuchung" bestellt.<br />

Das war ein häufig gebrauchter Vorwand zum Ausfragen <strong>de</strong>r Spitzel. Dann wur<strong>de</strong> ich zum politischen<br />

Funktionär beor<strong>de</strong>rt. Dieser Mann muss im Geiste schon einen Extrastern auf seinen<br />

Schulterklappen gesehen haben. Ohne <strong>de</strong>n geringsten Versuch, Armeanu zu schützen, verlangte<br />

er sofort die ganze Geschichte <strong>de</strong>s großen internationalen Spionagenetzes, das ich erwähnt hatte.<br />

„<strong>Wenn</strong> Sie die Informationen weiterleiten, die ich gestern Armeanu gegeben habe, wer<strong>de</strong>n<br />

Sie in Bukarest Wut erregen, Herr Leutnant. Deswegen möchte ich Ihnen raten, es nicht zu<br />

tun. Sie wür<strong>de</strong>n sich selbst nur scha<strong>de</strong>n."<br />

„Wie meinen Sie das?" fragte er.<br />

Ich sagte: „Das Ganze ist erfun<strong>de</strong>n! Ich wollte lediglich prüfen, ob <strong>de</strong>r Verdacht zu<br />

Recht besteht, <strong>de</strong>n ich gegen Armeanu habe. Ich weiß jetzt Bescheid."<br />

Der Offizier starrte mich ungläubig an. Dann brach er in Lachen aus.<br />

Ich ging zurück und erzählte Stavrat alles. Er nahm sich Armeanu vor. „Tapfere Männer<br />

sind unter Ihrem Kommando in <strong>de</strong>n Tod gegangen", sagte er, „und Sie sind jetzt ein Verräter<br />

gewor<strong>de</strong>n!"<br />

Armeanu tobte. Doch von diesem Tag an war er ein Ausgestoßener. Jahre später hörte<br />

ich, dass er im <strong>Gefängnis</strong> gestorben sei. Alle seine Verräterei hatte ihm nur Schan<strong>de</strong> gebracht.<br />

Liebe und Notlüge<br />

Mein nächstes Päckchen enthielt 100 Gramm Streptomycin. Der Wink war verstan<strong>de</strong>n<br />

wor<strong>de</strong>n. Ich dachte an die Männer, die ich im Raum Nr. 4 zurückgelassen hatte, und bat Stavrat,<br />

das Medikament <strong>de</strong>m Kränksten von ihnen zu überbringen.<br />

„Es ist Sultaniuc", sagte er mit Abscheu, „ein Nazi von <strong>de</strong>r Eisernen Gar<strong>de</strong> und mit allen<br />

Wassern gewaschen. Er steht kurz vor <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>, obwohl er es nicht zugeben will. Sie sollten das<br />

Zeug lieber selbst nehmen! - Aber, wenn Sie es unbedingt wollen..."<br />

Stavrat kam sehr bald wie<strong>de</strong>r zurück. „Er wollte wissen, von wem die Medizin käme. Als<br />

ich sagte, sie wäre von Ihnen, gab er zur Antwort, er wolle nichts von einem Ju<strong>de</strong>n annehmen. An<br />

einem solchen Fanatiker ist Hopfen und Malz verloren."<br />

Ich hoffte, noch einen an<strong>de</strong>ren Weg zu fin<strong>de</strong>n. Als Stavrat gegangen war, bat ich Josif,<br />

die Rolle <strong>de</strong>s Vermittlers zu übernehmen. Ihn könne niemand für falsch halten.<br />

„Sage Sultaniuc, dass <strong>de</strong>r General sich getäuscht habe. Sage ihm, es ist ein Geschenk von<br />

Graniceru. Er war auch ein Mann <strong>de</strong>r Eisernen Gar<strong>de</strong>, und ich hörte, dass er kürzlich Medikamente<br />

bekommen habe."<br />

Josifs Versuche blieben erfolglos. „Sultaniuc glaubt nicht, dass Graniceru ihm etwas<br />

schenken will. Er wird das Pulver nicht annehmen, wenn Sie nicht einen Eid schwören, dass es<br />

nicht von Ihnen kommt."<br />

24


„Warum nicht?" sagte ich. „Ich habe ihm die Medizin gegeben, und er kann auch <strong>de</strong>n Eid<br />

dazu haben. Das Streptomycin ist in Wirklichkeit auch gar nicht mein Eigentum. Ich über es Gott<br />

in <strong>de</strong>m Augenblick, da ich es erhielt."<br />

Dr. Al<strong>de</strong>a war irgendwo an<strong>de</strong>rs beschäftigt gewesen, als das Streptomycin ankam. Als er<br />

hörte, was daraus gewor<strong>de</strong>n war, war er sprachlos. Sogar Stavrat war durch meinen „falschen<br />

Eid" verwirrt. Er meinte: „Ich dachte, ihr Geistlichen verlangt stets die volle Wahrheit und nichts<br />

als die Wahrheit."<br />

Stavrat sollte bald erfahren, was die „volle Wahrheit" kosten kann. Zwei neue Häftlinge,<br />

von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn ausgesagt hatte, wur<strong>de</strong>n zu uns in die Zelle gebracht. Der eine<br />

war ein katholischer Bischof, <strong>de</strong>r Rom eine Mitteilung davon machen wollte, wie grausam seine<br />

Gemein<strong>de</strong> verfolgt wer<strong>de</strong>. Der an<strong>de</strong>re war ein Rechtsanwalt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Klagebrief <strong>de</strong>s Bischofs<br />

<strong>de</strong>m Päpstlichen Nuntius - als es in Bukarest noch einen gab - zum Weiterleiten an <strong>de</strong>n Vatikan<br />

überbracht hatte. Als <strong>de</strong>r Rechtsanwalt <strong>de</strong>n Palast <strong>de</strong>s Nuntius verlassen hatte, wur<strong>de</strong> er festgenommen.<br />

Er bestritt, einen Brief überbracht zu haben und wur<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Bischof konfrontiert.<br />

Der Bischof sagte: „Ich kann nicht lügen. Ja, ich habe ihm einen Brief gegeben."<br />

Bei<strong>de</strong> Männer wur<strong>de</strong>n gefoltert und fan<strong>de</strong>n sich in Tirgu-Ocna wie<strong>de</strong>r, wo sie darüber<br />

diskutierten, was recht gewesen sei. Der Bischof hoffte auf meine Unterstützung, doch ich konnte<br />

sie ihm nicht geben. „Es ist schön und gut, wenn ein Mann sich weigert zu lügen. Dann sollte<br />

er aber auch gefährliche Dinge ganz allein bewerkstelligen. <strong>Wenn</strong> er hingegen an<strong>de</strong>re mit in die<br />

Gefahr hineingezogen hat, muss er diejenigen schützen, koste es, was es wolle."<br />

„Die ganze Geschichte hat mir viel Not gemacht", protestierte <strong>de</strong>r Bischof, „aber wie<br />

konnte ich etwas Unwahres sagen?"<br />

Ich erwi<strong>de</strong>rte, dass es bestimmt unsere Pflicht wäre, unseren Freun<strong>de</strong>n zu helfen, wenn<br />

wir sogar unseren Fein<strong>de</strong>n wohl tun sollten. „<strong>Wenn</strong> meine Gastgeberin <strong>de</strong>n ganzen Tag mit <strong>de</strong>n<br />

Vorbereitungen für das Aben<strong>de</strong>ssen zugebracht hat, so fühle ich mich verpflichtet, ihr ein Kompliment<br />

zu sagen, selbst wenn ihr das Essen missglückt sein sollte. Das ist keine Lüge, son<strong>de</strong>rn<br />

einfache Höflichkeit. <strong>Wenn</strong> die Männer hier fragen: .Wann wer<strong>de</strong>n die Amerikaner kommen?'<br />

sage ich ihnen: , Es kann nicht mehr allzu lange dauern'. Lei<strong>de</strong>r ist es nicht die Wahrheit, aber es<br />

ist auch keine Lüge. Es ist ein Wort <strong>de</strong>r Hoffnung!"<br />

Der Bischof ließ sich nicht überzeugen. Ich sprach weiter: „<strong>Wenn</strong> Sie die Puristen als<br />

Maßstab nehmen, wird alle Kunst zu einer Lüge. Wissen Sie, Faust hat niemals einen Vertrag<br />

mit <strong>de</strong>m Teufel unterschrieben - da ist nur dieser Lügner Goethe am Werk. Auch Hamlet hat<br />

niemals existiert. Das ist die Lüge eines Shakespeares. Die einfachsten Witze (ich hoffe, dass<br />

Sie über Witze lachen!) sind eine Erfindung.<br />

„Das mag schon sein", erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Bischof, „aber hier han<strong>de</strong>lt es sich um eine persönliche<br />

Angelegenheit. <strong>Wenn</strong> sie, Herr Wurmbrand, von <strong>de</strong>n Kommunisten verhört wer<strong>de</strong>n, haben<br />

Sie nicht das Empfin<strong>de</strong>n, dass Sie die Wahrheit sagen müssen?"<br />

„Natürlich nicht! Ich habe keinerlei Be<strong>de</strong>nken, das erste beste zu sagen, was mir in <strong>de</strong>n<br />

Sinn kommt, solange es diejenigen, die meine Freun<strong>de</strong> fangen wollen, auf eine falsche Spur<br />

bringt. Sollte ich etwa diesen Leute Informationen geben, die sie zu Angriffen auf die Gemein<strong>de</strong><br />

benutzen können? Ich bin ein Diener Gottes!<br />

Diese Welt benutzt schöne Worte für abscheuliche Dinge: Betrug wird Klugheit genannt.<br />

Gemeinheit läuft unter <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>r Volkswirtschaft, Lüsternheit schmückt sich mit <strong>de</strong>m<br />

Wort, Liebe’. Aber hier ist das hässliche Wort, Lüge’ für etwas gebraucht wor<strong>de</strong>n, das unser<br />

Instinkt für richtig befin<strong>de</strong>t. Ich achte die Wahrheit, aber ich wür<strong>de</strong>, lügen’, um einen Freund zu<br />

retten."<br />

Als wir dann allein waren, fragte mich Josif: „Was nennen Sie dann also eine Lüge?" -<br />

„Warum erwartest du eine Definition von mir? <strong>Wenn</strong> <strong>de</strong>in eigenes Gewissen vom Heiligen Geist<br />

geleitete ist, wird es dir in <strong>de</strong>r jeweiligen Lebenslage kundtun, was du sagen und was du verschweigen<br />

sollst. Du <strong>de</strong>nkst doch nicht, dass <strong>de</strong>r Eid, von <strong>de</strong>m du Sultaniuc wegen <strong>de</strong>s Streptomycins<br />

berichtet hast, eine Lüge war?" „O nein", sagte Josif mit seinem lieben Lächeln. „Das<br />

war eine Tat <strong>de</strong>r Liebe."<br />

25


Begegnung mit <strong>de</strong>m Sohn<br />

Josifs Bitterkeit schwand immer mehr. Eines Tages fragte ich ihn nach unserer Englischstun<strong>de</strong>:<br />

„Warum sagst du, dass du Gott hasst?" „Warum?" wie<strong>de</strong>rholte er. „Sagen Sie mir zuerst,<br />

warum Gott <strong>de</strong>n Tb-Bazillus geschaffen hat", und er meinte, damit sei die Unterhaltung abgeschlossen.<br />

„Ich will es dir gern erklären", sagte ich, „wenn du in Ruhe zuhören willst." Er gab traurig<br />

zurück: „<strong>Wenn</strong> Sie das können, wer<strong>de</strong> ich die ganze Nacht zuhören."<br />

Ich drohte, ihn beim Wort zu nehmen. Es sei ein Problem, sagte ich, das an <strong>de</strong>r Wurzel<br />

<strong>de</strong>s menschlichen Lei<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s Bösen rühre. Josif war nicht <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r wissen wollte; wie<br />

solche Dinge unter <strong>de</strong>n Augen eines gnädigen Gottes geschehen konnte. Wahrscheinlich haben<br />

wir uns alle im <strong>Gefängnis</strong> diese Frage gestellt, und es gab nicht nur eine, son<strong>de</strong>rn mehrere Antworten.<br />

„Erstens haben wir die Neigung, das Unangenehme mit <strong>de</strong>m Schlechten zu verwechseln.<br />

Warum ist <strong>de</strong>r Wolf böse? Weil er die Schafe frisst. Und das ärgert mich, <strong>de</strong>nn ich möchte das<br />

Schaffleisch selbst gern essen! Doch <strong>de</strong>r Wolf muss Schafe fressen, um leben zu können, ich<br />

aber kann mich von an<strong>de</strong>ren Dingen ernähren.<br />

Außer<strong>de</strong>m hat <strong>de</strong>r Wolf <strong>de</strong>n Schafen gegenüber keinerlei Verpflichtungen. Wir jedoch<br />

pflegen sie von klein auf, füttern und tränken sie, und wenn sie volles Vertrauen zu uns gefasst<br />

haben, dann schlachten wir sie ab. Und niemand <strong>de</strong>nkt dabei, dass wir böse sind."<br />

Josif hatte seinen Kopf in die Hand gestützt und sah mich an. „Mit <strong>de</strong>n Bazillen ist es das<br />

gleiche: Ein Bazillus erzeugt <strong>de</strong>n Sauerteig, ein an<strong>de</strong>rer ruiniert die Lunge eines Kin<strong>de</strong>s. Keiner<br />

<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Keime han<strong>de</strong>lt bewusst, und doch fin<strong>de</strong> ich <strong>de</strong>n einen gut und verdamme <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren.<br />

Die Dinge sind also nicht gut o<strong>de</strong>r böse in sich selbst, wir stufen sie nach ihrer Nützlichkeit<br />

für uns ein. Wir wollen, dass das ganze Universum sich uns anpasst, obwohl wir nur ein winziges<br />

Teilchen davon sind."<br />

In <strong>de</strong>r Zelle war es dunkel und erstaunlich still. „Zweitens", sagte ich, „ist das, was wir<br />

böse nennen, oft einfach das noch nicht vollen<strong>de</strong>te Gute."<br />

„In meinem Fall", warf Josif ein, „wird das einiger Beweise bedürfen."<br />

Ich sagte: „Du hattest vor viertausend Jahren einen Namensvetter. Er wur<strong>de</strong> von seinen<br />

Brü<strong>de</strong>rn in die Sklaverei verkauft und hatte in Ägypten unter vielen an<strong>de</strong>ren Ungerechtigkeiten<br />

zu lei<strong>de</strong>n. Danach wur<strong>de</strong> er zum Ministerpräsi<strong>de</strong>nten erhoben und hatte so die Macht, das Land -<br />

und seine treulosen Brü<strong>de</strong>r - vor <strong>de</strong>m Hungerto<strong>de</strong> zu retten. Wie Joseph kannst auch du nie wissen,<br />

ob das, was sich ereignet hat, letzten En<strong>de</strong>s gut o<strong>de</strong>r böse ist, bevor die Geschichte zu En<strong>de</strong><br />

ist. <strong>Wenn</strong> ein Maler ein Porträt anfängt, ist alles, was du zunächst sehen kannst, ein Gewirr von<br />

Farben. Es dauert lange, bis das Mo<strong>de</strong>ll erkennbar wird. Je<strong>de</strong>r bewun<strong>de</strong>rt das Bild <strong>de</strong>r Mona Lisa,<br />

doch Leonardo hat vierzig Jahre gebraucht, um es zu vollen<strong>de</strong>n. Beim Besteigen eines Berges<br />

muss man ein Stück harte Arbeit leisten, bevor man vom Gipfel aus das Panorama genießen<br />

kann."<br />

„Aber die Männer, die hier im <strong>Gefängnis</strong> sterben", sagte Josif, „wer<strong>de</strong>n die Aussicht<br />

vielleicht nie sehen."<br />

„Es kann aber auch sein, dass die Zeit im <strong>Gefängnis</strong> ihnen zum Aufstieg verhilft. Wäre<br />

Genosse Gheorgiu-Dej jemals in Rumänien an die Macht gelangt, wenn er nicht wie wir im <strong>Gefängnis</strong><br />

gesessen hätte?"<br />

„Aber was ist mit solchen, die zu ihren Lebzeiten nicht mehr zur Freiheit gelangen?"<br />

„Lazarus starb in Armut und Krankheit", sagte ich. „Aber Jesus erzählt uns in seiner Geschichte,<br />

dass er von <strong>de</strong>n Engeln in die ewige Seligkeit getragen wur<strong>de</strong>. Nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> wird<br />

je<strong>de</strong>r von uns eine Entschädigung bekommen. Erst wenn wir das En<strong>de</strong> von allem sehen, können<br />

wir hoffen, das Ganze zu verstehen."<br />

Josif versprach, darüber nachzu<strong>de</strong>nken.<br />

Eine gute Nachricht vermag Zahnschmerzen sofort zu heilen. Der Brief, <strong>de</strong>n ich bekam,<br />

brachte mich in <strong>de</strong>n siebenten Himmel, weil er mir mitteilte, dass sich meine Frau in Freiheit<br />

befand. Sie durfte zwar Bukarest immer noch nicht verlassen, aber mein Sohn sollte bald die<br />

26


Erlaubnis bekommen, mich zu besuchen. Damit en<strong>de</strong>te <strong>de</strong>r Brief, weitere Informationen waren<br />

nicht erlaubt.<br />

Ich hatte Mihai zum letzten Mal gesehen, als er neun Jahre alt war. Jetzt war er bereits<br />

fünfzehn. Ich konnte mir meinen Sohn gar nicht so groß vorstellen. Wir waren immer sehr große<br />

Freun<strong>de</strong> gewesen, und <strong>de</strong>r Gedanke an unsere Begegnung ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe.<br />

Schließlich wur<strong>de</strong> ich in eine große Halle geführt. Ich musste in einer Kabine Platz nehmen. Sie<br />

hatte nur ein kleines Fenster, mit drei Eisenstäben vergittert. Das Gegenüber konnte nur einen<br />

kleinen Teil meines Gesichts sehen. Der <strong>Gefängnis</strong>wärter rief aus: „Mihai Wurmbrand!" Er kam<br />

herein und setzte sich mir gegenüber. Er sah bleich, mager und hohlwangig aus, mit <strong>de</strong>n ersten<br />

Anzeichen eines Bartes.<br />

Hastig, aus Angst, er könnte unterbrochen wer<strong>de</strong>n, begann er: „Mutter sagt, selbst wenn<br />

du im <strong>Gefängnis</strong> sterben solltest, darfst du nicht traurig sein, weil wir uns alle im Himmel wie<strong>de</strong>rsehen<br />

wer<strong>de</strong>n." Welch ein Trost in diesen ersten Worten! Ich wusste nicht, ob ich lachen o<strong>de</strong>r<br />

weinen sollte. Ich riss mich zusammen. „Wie geht es ihr? Habt ihr zu Hause genug zu essen?"<br />

„Es geht ihr gut, und wir haben zu essen", sagte er. „Unser Vater ist sehr reich."<br />

Die Wächter, <strong>de</strong>ren Aufgabe es war, unser Gespräch zu überwachen, grinsten. Sie meinten,<br />

meine Frau hätte wie<strong>de</strong>r geheiratet.<br />

Auf je<strong>de</strong> meiner Fragen fand Mihai eine Antwort in Form eines Bibelverses, so dass ich in<br />

<strong>de</strong>n wenigen Minuten, die uns bewilligt waren, nur wenig über das Leben meiner Familie erfuhr.<br />

Doch Mihai sagte mir, er hätte bei <strong>de</strong>n Wächtern am Eingang ein Päckchen für mich abgegeben.<br />

Ich bekam das Päckchen am nächsten Tag zusätzlich zu <strong>de</strong>n erlaubten, weil Mihai es an<br />

Richard Wurmbrand adressiert hatte. Alle an<strong>de</strong>ren waren an mein <strong>Gefängnis</strong>-Ich, Vasile<br />

Georgescu, gerichtet. Bald darauf traten alle Einschränkungen wie<strong>de</strong>r voll in Kraft. Wir erhielten<br />

keine Besuche, keine Pakete und keine Briefe mehr.<br />

Jesusähnlichkeit<br />

Josifs <strong>Gefängnis</strong>strafe war bis auf einige Wochen abgelaufen. Er schmie<strong>de</strong> schon Zukunftspläne,<br />

sagte er mir. „Meine Schwester in Deutschland wird für uns eine Ausreisegenehmigung<br />

nach Amerika beantragen. Ich wer<strong>de</strong> mein Englisch vervollkommnen und ein Handwerk<br />

erlernen."<br />

Doch er konnte sich immer noch nicht mit seinem entstellten Gesicht abfin<strong>de</strong>n. Eines<br />

Abends erzählte ich ihm von Helen Keller. Wie sie, blind und taubstumm, <strong>de</strong>nnoch zu einer <strong>de</strong>r<br />

be<strong>de</strong>utendsten Persönlichkeiten Amerikas wur<strong>de</strong>. Josif war fasziniert. Ich schil<strong>de</strong>rte ihm, wie sie<br />

sich selbst das Klavierspielen beigebracht hatte. Ihre einzige Hilfe bestand in einem Stück tönen<strong>de</strong>n<br />

Holzes, <strong>de</strong>ssen freies En<strong>de</strong> sie zwischen die Zähne nahm, während das an<strong>de</strong>re En<strong>de</strong> am<br />

Klavier befestigt war. Durch ihre Arbeit erhielten Tausen<strong>de</strong> von Blin<strong>de</strong>n die Blin<strong>de</strong>nschrift.<br />

„In einem ihrer bekannten Bücher schreibt sie, sie haben <strong>de</strong>n Sternenhimmel zwar nie<br />

gesehen, doch sie habe <strong>de</strong>n Himmel in ihrem Herzen. Aus diesem Grun<strong>de</strong> sei sie in <strong>de</strong>r Lage, vor<br />

<strong>de</strong>r Menschheit, die zwar sehen kann, aber oft versäumt, diesen Sinn zweckent<strong>sprechen</strong>d zu<br />

gebrauchen, die Herrlichkeit <strong>de</strong>r Schöpfung Gottes auszubreiten."<br />

Helen Keller stammte aus einer wohlhaben<strong>de</strong>n Familie. <strong>Wenn</strong> sie das „Glück" gehabt hätte,<br />

wie an<strong>de</strong>re Mädchen im Besitz gesun<strong>de</strong>r Sinne zu sein, hätte sie ihr Leben möglicherweise<br />

mit Banalitäten verzettelt. Statt<strong>de</strong>ssen benutzte sie das, was man allgemein Unglück nennt, als<br />

Ansporn zum Erreichen ungeahnter Erfolgsmöglichkeiten."<br />

„Solche Fälle kommen auch nur einmal unter Tausen<strong>de</strong>n vor", sagte Josif sinnend.<br />

„Das stimmt nicht! Es gibt viele, die ihr gleichen. Der russische Schriftsteller Ostrowskij<br />

war blind, gelähmt und so verarmt, dass er seinen Roman auf Packpapier schreiben musste. Sein<br />

Roman ist heute weltberühmt. Große Männer waren oft kranke Menschen. Schiller, Chopin und<br />

Keats hatten Tuberkulose wie wir. Bau<strong>de</strong>laire, Heine und unser eigener Dichter Eminescu hatten<br />

die Syphilis. Die Wissenschaftler sagen uns, dass die Erreger dieser Krankheiten unsere Nervenzellen<br />

anregen und auf diese Weise die Intelligenz und das Wahrnehmungsvermögen steigern,<br />

wenn sie auch am En<strong>de</strong> zum Wahnsinn o<strong>de</strong>r zum To<strong>de</strong> führen. Tuberkulose kann einen<br />

27


schlechten Menschen noch schlechter machen, aber ein guter Mensch wird dadurch nur besser.<br />

Durch die Erkenntnis, dass sein Leben bald zu En<strong>de</strong> geht, wird er <strong>de</strong>n Wunsch haben, alles Gute<br />

zu schaffen, das in seiner Kraft steht, solange er noch Zeit hat."<br />

Josif half oft im Raum Nr. 4. Ich fragte ihn: „Ist dir die beson<strong>de</strong>re Art von Heiterkeit,<br />

Sanftmut und Klarheit aufgefallen, die einigen <strong>de</strong>r Tuberkulosekranken eigen ist?" Seine Augen<br />

leuchteten auf: „Tatsächlich! Das stimmt. Wie eigentümlich."<br />

Ich sagte: „Tausen<strong>de</strong> von Jahre hindurch hielt man eine Pilzart, die sich in <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n<br />

ausbreitete, für schädlich. Dann hat Sir Alexan<strong>de</strong>r Fleming vor fünfundzwanzig Jahren das Gute<br />

daran ent<strong>de</strong>ckt: Penicillin, das unzählige Krankheiten heilt, war das Ergebnis. Dieser Pilz wur<strong>de</strong><br />

als schädlich betrachtet, bis seine Nützlichkeit erkannt wur<strong>de</strong>. Wahrscheinlich müssen wir noch<br />

lernen, die Tb-Bazillen zu unserem Besten zu nutzen. <strong>Wenn</strong> diese für uns unheilbare Krankheit<br />

endlich besiegt wor<strong>de</strong>n ist, wird man vielleicht unsere Kin<strong>de</strong>r mit geringen Dosen damit impfen,<br />

um ihre Intelligenz anzuregen.<br />

Gott schuf Himmel und Er<strong>de</strong> und auch <strong>de</strong>in Leben und so viel Schönheit, Josif. Dein Lei<strong>de</strong>n<br />

hat einen Sinn, genauso wie Jesu Lei<strong>de</strong>n sinnvoll war. Denn durch seinen Kreuzestod hat er<br />

die Menschheit erlöst." Josef zitterte in seinem neuen Hemd, das inzwischen schon abgetragen<br />

war. So nahm ich die Jacke aus Wollstoff, die mir meine Verwandten geschickt hatten, und<br />

trennte für mich selbst das Futter aus. Dann bat ich Josif, die Jacke anzunehmen. Er zog sie an<br />

und schlug wohlig die Arme um seine enge Brust, um zu zeigen, wie warm er sich fühlt.<br />

Josifs Bekehrung nahm an diesem Tag ihren Anfang. Doch er brauchte noch einen Anstoß,<br />

<strong>de</strong>r ihm zum Glauben verhalf. Dies geschah bei <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>r Brotrationen. Je<strong>de</strong>n<br />

Morgen wur<strong>de</strong> das Brot reihenweise auf <strong>de</strong>n Tisch gelegt. Je<strong>de</strong> Portion sollte etwa hun<strong>de</strong>rt<br />

Gramm wiegen, doch es gab immer geringe Unterschie<strong>de</strong>. Deshalb gab es oft Unstimmigkeiten<br />

darüber, wer zuerst wählen dürfe, und wer zuletzt an <strong>de</strong>r Reihe sei. Man wur<strong>de</strong> um Rat gefragt,<br />

welche Portion wohl die größte sei. Hinterher fühlte sich <strong>de</strong>r Beratene oft betrogen, und Freundschaften<br />

gingen an einem Bissen Schwarzbrot zugrun<strong>de</strong>. Als ein mürrischer Häftling namens<br />

Trailescu mich zu täuschen versuchte, wur<strong>de</strong> er von Josif beobachtet.<br />

Ich sagte zu Trailescu: „Nehmen Sie mein Brot noch dazu. Ich weiß, wie hungrig Sie<br />

sind." Er zuckte mit <strong>de</strong>r Achsel und stopfte sich das Brot in <strong>de</strong>n Mund.<br />

Am gleichen Abend saß ich mit Josif zusammen. Wir übersetzten Verse aus <strong>de</strong>m Neuen<br />

Testament ins Englische. Josif meinte: „Wir haben jetzt fast alles gelesen, was Jesus gesagt hat.<br />

Doch ich weiß immer noch nicht, was für ein Mensch er gewesen ist."<br />

„Ich will es dir beschreiben", sagte ich. „Als ich noch im Raum Nr. 4 war, hatten wir einen<br />

Pastor unter uns, <strong>de</strong>r bereit war, alles wegzuschenken, was er besaß: seinen letzten Bissen<br />

Brot, seine Medizin und seine Klei<strong>de</strong>r. Ich habe solche Dinge auch manchmal weggegeben,<br />

wenn ich sie lieber für mich behalten hätte. Doch manchmal konnte ich mich außergewöhnlich<br />

ruhig verhalten, wenn die an<strong>de</strong>ren Männer hungrig, krank und in Not waren. Es machte mir<br />

nichts aus. Dieser an<strong>de</strong>re Pastor aber besaß wirklich eine Christusähnlichkeit. Man hatte das<br />

Gefühl, dass die bloße Berührung seiner Hand Ruhe und Gesundheit zu vermitteln vermochte.<br />

Eines Tages sprach er mit einer kleinen Gruppe von Häftlingen, und einer stellte ihm die gleiche<br />

Frage, die du mir gestellt hast: , Wie war Jesus? Ich habe nie jeman<strong>de</strong>n getroffen, <strong>de</strong>r so war wie<br />

<strong>de</strong>r Mann, von <strong>de</strong>m Sie <strong>sprechen</strong>.' Der Pastor muss in diesem Augenblick sehr mutig gewesen<br />

sein, <strong>de</strong>nn er antwortete schlicht und <strong>de</strong>mütig: Jesus ist wie ich.' Und <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r die Freundlichkeit<br />

<strong>de</strong>s Pastors oft erfahren hatte, antwortete lächelnd, <strong>Wenn</strong> Christus Ihnen ähnlich ist,<br />

dann liebe ich ihn.' Es kommt nur sehr selten vor, dass man <strong>de</strong>rartiges aus<strong>sprechen</strong> darf, Josif.<br />

Doch darin sehe ich das wahre Christentum. An ihn zu glauben ist gar nicht so schwer. Das<br />

wahrhaft Große ist, ihm ähnlich zu wer<strong>de</strong>n.<br />

„Herr Pastor, ich bin auch jemand Jesusähnlichem begegnet", sagte Josif. Sein Blick war<br />

voller Unschuld und Frie<strong>de</strong>n.<br />

Einige Augenblicke vergingen, und wir fuhren mit unserem Unterricht fort. Ich erzählte<br />

Josif, was Jesus <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n zur Antwort gab, als sie ihn um ein Zeichen baten, damit sie an ihn<br />

glauben <strong>könnten</strong>. , unsere Väter', sagten sie,,hatten Brot vom Himmel; Moses hatte es ihnen gegeben.'<br />

Und Jesus antwortete: , Ich bin das Brot <strong>de</strong>s Lebens! Wer zu mir kommt, <strong>de</strong>r wird nie<br />

28


wie<strong>de</strong>r hungern o<strong>de</strong>r dürsten. Eure Väter haben gegessen und sind gestorben, ich aber spreche<br />

von <strong>de</strong>m Brot, welches vom Himmel kommt. <strong>Wenn</strong> ein Mensch davon isst, wird er nie sterben'."<br />

Am nächsten Tag arbeitete Josif, wie er es jetzt oft tat, im Raum Nr. 4. Als wir uns am<br />

Abend wie<strong>de</strong>rsahen, sagte er: „Mein größter Wunsch ist, ein Christ zu wer<strong>de</strong>n." Ich taufte ihn<br />

mit ein wenig Wasser aus einem Bleikrug, während ich sprach: „Im Namen <strong>de</strong>s Vaters und <strong>de</strong>s<br />

Sohnes und <strong>de</strong>s Heiligen Geistes." Als er entlassen wur<strong>de</strong>, war sein Herz von je<strong>de</strong>r Bitterkeit<br />

völlig frei.<br />

Am Tag seiner Entlassung umarmte er mich zum Abschied. In seinen Augen waren Tränen.<br />

„Sie haben mir wie ein Vater geholfen", sagte er, jetzt komme ich mit Gottes Hilfe allein<br />

zurecht."<br />

Jahre später sind wir uns wie<strong>de</strong>r begegnet. Er war ein Christ, doch nun war er stolz, die<br />

Narben zu tragen, die ihn einst so bitter gemacht hatten.<br />

Die Quittung<br />

Ein neuer Trupp von Gefangenen wur<strong>de</strong> eingeliefert. Einer von ihnen, <strong>de</strong>r grausame<br />

Schläge bekommen hatte, verlangte nach mir. Zusammen mit Prof. Popp ging ich über <strong>de</strong>n<br />

Gang.<br />

Es war Boris. Nach<strong>de</strong>m die Umschulungsaffäre zu En<strong>de</strong> war, hatte man <strong>de</strong>n alten Gewerkschaftler<br />

von einem <strong>Gefängnis</strong> in das an<strong>de</strong>re gesteckt. Jetzt lag er vor uns auf <strong>de</strong>m Steinfußbo<strong>de</strong>n,<br />

wo ihn die Wächter hingeworfen hatten. Die an<strong>de</strong>ren Zelleninsassen waren draußen zum<br />

Laufschnappen, und kein Mensch hatte ihm geholfen, bis Popp vorüber kam. Wir hoben ihn auf<br />

eine Pritsche. Sein schmutziges Hemd, steif von geronnenem Blut, klebte an seinem Körper.<br />

Ganz langsam und unter Schmerzen weihten wir es auf. Sein Rücken, kreuz und quer von frischen<br />

und schon verschorften Peitschenstriemen be<strong>de</strong>ckt, kam zum Vorschein. Das war <strong>de</strong>r<br />

Lohn für seine Mitarbeit bei <strong>de</strong>r Umschulung und auch all <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Mitläufer, die durch das<br />

Schwingen <strong>de</strong>r Peitsche die Gunst <strong>de</strong>r Partei zu gewinnen hofften.<br />

Die Häftlinge kehrten von draußen zurück. Viele von ihnen blickten mit Hass und Verachtung<br />

auf Boris.<br />

„Ich wollte es ja nicht an<strong>de</strong>rs haben", sagte <strong>de</strong>r Alte, während Popp und ich seine Wun<strong>de</strong>n<br />

reinigten.<br />

„Du hast es auch ganz schön bekommen", sagte jemand.<br />

Boris presste meinen Arm: „Ich habe jeman<strong>de</strong>n getroffen, <strong>de</strong>n Sie kennen. Patrascanu gab<br />

mir eine Botschaft für Sie."<br />

Boris erzählte, dass Luretiu Patrascanu, <strong>de</strong>r ehemalige Justizminister, <strong>de</strong>r kurz nach unserer<br />

Verhaftung 1948 meine Zelle geteilt hatte, tot war. In <strong>de</strong>m Jahr <strong>de</strong>r Unsicherheit, das Stalins<br />

Tod folgte, hatten die Parteichefs - genau wie unsere Wächter - Angst, sie <strong>könnten</strong> in einer Konterrevolution<br />

untergehen. In ihren Augen war <strong>de</strong>r Häftling Patrascanu ein Mann mit großer Anhängerschaft,<br />

<strong>de</strong>r Führer einer Befreiungsbewegung wer<strong>de</strong>n könnte. Sie fürchteten seine Rache.<br />

Nach<strong>de</strong>m er sechs Jahre im <strong>Gefängnis</strong> verbracht hatte, leitete man ein eiliges Gerichtsverfahren<br />

ein und verurteilte ihn zum To<strong>de</strong>.<br />

Boris war nur kurz mit ihm zusammengewesen. Er erzählte, dass Patrascanu, <strong>de</strong>r so viel<br />

getan hatte, um <strong>de</strong>m Kommunismus an die Macht zu verhelfen, noch vor <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> gefoltert<br />

wor<strong>de</strong>n sei. Als er sich über die Kälte beklagt hatte, zog man ihm warme Winterklei<strong>de</strong>r an und<br />

legte ihn in Ketten. Die Zelle wur<strong>de</strong> solange erhitzt, bis er nach Luft rang und in Schweiß geba<strong>de</strong>t<br />

war. Er bat flehentlich, die Zentralheizung abzudrehen. Sie zogen ihn bis aufs Hemd aus,<br />

stellten die Heizung ab und ließen die Temperatur in <strong>de</strong>r Zelle unter <strong>de</strong>n Nullpunkt absinken. Auf<br />

diese Weise wur<strong>de</strong> er abwechselnd gebraten und abgekühlt, und als er danach immer noch nicht<br />

starb, wur<strong>de</strong> er hinausgeführt und erschossen.<br />

Boris erzählte: „Er sagte zu mir: , Sollten Sie noch einmal Wurmbrand begegnen, sagen<br />

Sie ihm, dass er recht gehabt hat'."<br />

Dr. Al<strong>de</strong>a erschien. „Wir müssen Sie in <strong>de</strong>n Raum Nr. 4 bringen", sagte er zu Boris.<br />

29


Marina und Sabine<br />

Die nasskalten Wochen in Craiova und Poarta-Alba, die Transporte, bei <strong>de</strong>nen die Gefangenen<br />

aneinan<strong>de</strong>rgekettet wur<strong>de</strong>n, verschlimmerten meine Tuberkulose erneut. Im nächsten <strong>Gefängnis</strong>,<br />

das sich in <strong>de</strong>n Bergen von Siebenbürgen, in Gherla, befand, kam ich in solch einem<br />

Zustand an, dass man mich gleich in eine <strong>de</strong>r Zellen legte, die als „Hospital" bekannt waren.<br />

Unsere Ärztin, eine junge Frau namens Marina, erzählte mir, dies sei ihre erste Arbeitsstelle.<br />

An<strong>de</strong>re Patienten berichteten, ihr sei, als sie am Tage ihres Antritts von Zelle zu Zelle gegangen<br />

sei, alle Farbe aus <strong>de</strong>m Gesicht gewichen. Während ihres Studiums war sie in keiner<br />

Weise darauf vorbereitet wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>rartigem Schmutz, <strong>de</strong>r Hungersnot, <strong>de</strong>m völligen Mangel an<br />

einfachsten Medikamenten und Ausrüstungsgegenstän<strong>de</strong>n und dieser an Grausamkeit grenzen<strong>de</strong>n<br />

Vernachlässigung zu begegnen. Sie dachten schon, sie wür<strong>de</strong> ohnmächtig zusammenbrechen,<br />

doch sie hielt durch.<br />

Marina war ein großgewachsenes, zartes junges Mädchen. Blon<strong>de</strong>s Haar umrahmte ihr<br />

von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht. Nach<strong>de</strong>m sie mich untersucht hatte, sagte sie mir: „Sie<br />

brauchen gutes Essen und ganz viel frische Luft."<br />

Ich konnte nicht an<strong>de</strong>rs als lachen. „Aber wissen Sie <strong>de</strong>nn nicht, wo wir uns befin<strong>de</strong>n,<br />

Dr. Marina?"<br />

Tränen traten ihr in die Augen. „So habe ich es aber auf <strong>de</strong>r Medizinischen Fakultät gelernt."<br />

Einige Tage später erschienen einige Offiziere von hohem Rang und besuchten das <strong>Gefängnis</strong>.<br />

Dr. Marina bekam sie im Gang außerhalb <strong>de</strong>r Zellen zu fassen und sagte: „Genossen,<br />

niemand hat diese Männer zum To<strong>de</strong> verurteilt; <strong>de</strong>r Staat bezahlt mich dafür, dass ich sie am<br />

Leben erhalte, genauso, wie er Sie dafür bezahlt, diese Menschen in Gewahrsam zu halten. Ich<br />

möchte lediglich um Zustän<strong>de</strong> bitten, die es mir ermöglichen, meinen Beruf auszuüben."<br />

„Sie stehen also auf <strong>de</strong>r Seite dieser Verbrecher", sagte eine Männerstimme.<br />

„In Ihren Augen sind sie vielleicht Verbrecher, Genosse Inspektor", erwi<strong>de</strong>rte sie, „doch<br />

für mich sind es meine Patienten."<br />

Die Verhältnisse wur<strong>de</strong>n nicht besser, doch statt<strong>de</strong>ssen bekamen wir eine Nachricht, die<br />

für mich mehr wert war als sämtliche Arzneimittel <strong>de</strong>s Arzneibuches zusammengenommen. Vor<br />

<strong>de</strong>r Genfer Gipfelkonferenz sollten wir die Erlaubnis bekommen, Verwandtenbesuch zu empfangen.<br />

Die allgemeine Aufregung steigerte sich ins Unerträgliche. Wir alle befan<strong>de</strong>n uns im Zustand<br />

<strong>de</strong>r Hochspannung. Ein Mann konnte eben noch voller Freu<strong>de</strong> sein und war im nächsten<br />

Augenblick <strong>de</strong>n Tränen nahe. Einige von uns hatten schon seit zehn o<strong>de</strong>r zwölf Jahren keine<br />

Nachricht von ihren Familien. Ich hatte Sabine acht Jahre lang nicht gesehen.<br />

Endlich war es soweit. Als mein Name aufgerufen wur<strong>de</strong>, führte man mich in eine große<br />

Halle. Ich musste mich hinter einen Tisch stellen. In etwa zwanzig Meter Entfernung erblickte<br />

ich meine Frau, ebenfalls hinter einem Tisch. Der Kommandant, links und rechts von Offizieren<br />

und Wächtern umgeben, stellte sich zwischen uns an die Wand, als sei er im Begriff, die Rolle<br />

<strong>de</strong>s Schiedsrichters bei einem Tennisspiel zu übernehmen.<br />

Wie gebannt sah ich Sabine an. Es schien mir, als ob all die Lei<strong>de</strong>nsjahre ihr eine ungeahnte<br />

Schönheit und friedvolle Haltung verliehen hätten, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.<br />

Sie stand mit gefalteten Hän<strong>de</strong>n da und lächelte.<br />

Ich hielt mich am Tisch fest und rief: „Geht es euch gut zuhause?"<br />

Meine Stimme hatte in diesem Raum einen frem<strong>de</strong>n Klang. Sabine sagte: „Ja, es geht<br />

uns allen gut, Gott sei gedankt."<br />

„Es ist hier nicht erlaubt, Gott zu erwähnen", unterbrach uns <strong>de</strong>r Kommandant.<br />

„Lebt meine Mutter noch?" fragte ich.<br />

„Gottlos, sie lebt."<br />

„Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie Gott nicht erwähnen dürfen."<br />

Dann fragte Sabine: „Wie geht es dir gesundheitlich?"<br />

„Ich bin zurzeit im <strong>Gefängnis</strong>hospital."<br />

30


Der Kommandant: „Sie dürfen nicht darüber <strong>sprechen</strong>, wo Sie sich innerhalb <strong>de</strong>s <strong>Gefängnis</strong>ses<br />

befin<strong>de</strong>n."<br />

Ich fing von neuem an: „Wie ist es mit meinem Gerichtsverfahren, gibt es da Hoffnung<br />

auf eine Berufung?"<br />

Der Kommandant: „Sie dürfen über Ihr Gerichtsverfahren nicht verhan<strong>de</strong>ln."<br />

In diesem Stil ging es weiter, bis ich schließlich sagte:<br />

„Geh heim, Liebling, die wer<strong>de</strong>n uns ja doch nicht miteinan<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>n lassen."<br />

Meine Frau hatte mir einen Korb mit Lebensmitteln und Kleidung mitgebracht. Nicht<br />

einmal einen einzigen Apfel durfte sie mir geben.<br />

Als ich weggeführt wur<strong>de</strong>, konnte ich noch über die Schulter sehen, wie Sabine von bewaffneten<br />

Wächtern durch die Tür am an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Halle nach draußen begleitet wur<strong>de</strong>.<br />

Der Kommandant, völlig gedankenabwesend, zün<strong>de</strong>te sich eine neue Zigarette an.<br />

Am gleichen Abend blieb Dr. Marina am Fußen<strong>de</strong> meines Bettes stehen: „Oh weh", sagte<br />

sie, „und ich hoffte so sehr, <strong>de</strong>r Besuch Ihrer Frau wür<strong>de</strong> Ihnen gut tun."<br />

Wir wur<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>. Sie erzählte mir, dass sie keinerlei religiöse Unterweisung gehabt<br />

hätte, und meinte, eine Atheistin zu sein.<br />

„Heutzutage ist es doch je<strong>de</strong>r, nicht wahr?"<br />

Einmal war ich mit Marina und einem an<strong>de</strong>ren gläubigen Gefangenen allein. In einer<br />

kleinen Kabine, die als Behandlungsraum diente, erwähnte ich, dass heute Pfingsten sei.<br />

„Was ist das?" fragte sie. Der Wächter vom Dienst durchsuchte gera<strong>de</strong> die Kartei. Ich<br />

wartete, bis er mit <strong>de</strong>r gewünschten Karte hinausgegangen war, und antwortete: „Es ist <strong>de</strong>r Tag,<br />

an <strong>de</strong>m Gott uns vor vielen tausend Jahren die zehn Gebote gegeben hat."<br />

Ich hörte die Fußtritte <strong>de</strong>s Wächters, <strong>de</strong>r zurückkam, und setzte laut hinzu: „Und hier,<br />

Frau Doktor, tut es weh, wenn ich huste."<br />

Der Wächter ordnete die Karte wie<strong>de</strong>r ein und verließ abermals <strong>de</strong>n Raum. Ich fuhr fort:<br />

„Pfingsten ist auch <strong>de</strong>r Tag, an <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Heilige Geist auf die Apostel ausgegossen wur<strong>de</strong>."<br />

Draußen ertönten wie<strong>de</strong>r Schritte, und ich sagte rasch: „Und nachts habe ich furchtbare<br />

Schmerzen im Rücken."<br />

Dr. Marina musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen. Ich setzte meine unterbrochene<br />

Predigt fort, während sie meine Brust abklopfte, mich bat zu husten und mir in <strong>de</strong>n<br />

Hals sah. Schließlich brach sie in Lachen aus: „Hören Sie auf, brachte sie atemlos hinter ihrem<br />

Taschentuch hervor, als das stumpfsinnige Gesicht <strong>de</strong>s Wächters wie<strong>de</strong>r im Türrahmen erschien.<br />

„Sie können es mir ein an<strong>de</strong>rmal erzählen."<br />

In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Wochen erzählte ich ihr das ganze Evangelium. Durch das Zeugnis von<br />

mir und von an<strong>de</strong>ren Gläubigen in Gherla fand sie <strong>de</strong>n Weg zu Jesus. Von da an nahm sie noch<br />

größere Risiken auf sich, um uns zu helfen.<br />

Als ich mich Jahre später in einem an<strong>de</strong>ren <strong>Gefängnis</strong> befand, hörte ich, dass Dr. Marina<br />

an einem akuten rheumatischen Fieber und daraus entstan<strong>de</strong>nen Herzkomplikationen gestorben<br />

sei. Sie hatte sich stets überarbeitet.<br />

Finanzminister Luca<br />

Ich wur<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r nach Vacaresti gebracht, <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong>krankenhaus, in <strong>de</strong>m ich, nach<br />

meiner Isolierhaft in <strong>de</strong>n Zellen unterhalb <strong>de</strong>s Innenministeriums einen Monat verbracht hatte.<br />

Das Krankenhaus war überfüllter <strong>de</strong>nn je. Patienten mit Tuberkulose mussten mit an<strong>de</strong>ren Kranken<br />

in einem Raum liegen, was gegenseitige Infizierung zur Folge hatte.<br />

Zwei Funktionäre <strong>de</strong>r Geheimpolizei kamen, um mich zu verhören.<br />

„Was halten Sie jetzt vom Kommunismus?" hänselten sie mich.<br />

„Wie kann ich das sagen?" antwortete ich. „Ich bin ihm nur innerhalb seiner <strong>Gefängnis</strong>se<br />

begegnet."<br />

Sie grinsten, und einer von ihnen meinte: „Jetzt können Sie es von einem ganz hohen Tier<br />

aus erster Hand lernen. Sie kommen mit Vasile Luca, <strong>de</strong>m alten Finanzminister, in eine Zelle."<br />

Luca war im März 1953 wegen <strong>de</strong>s Währungsskandals seines Postens enthoben wor<strong>de</strong>n.<br />

31


Das hatte auch zum Sturz <strong>de</strong>r Anna-Pauker-Clique beigetragen. Zusammen mit <strong>de</strong>m Innenminister<br />

Theohari Georgescu war Luca aus <strong>de</strong>r Partei ausgeschlossen wor<strong>de</strong>n, und alle drei befan<strong>de</strong>n<br />

sich zurzeit in verschie<strong>de</strong>nen <strong>Gefängnis</strong>sen, zusammen mit <strong>de</strong>n Opfern ihres fünfjährigen Regimes.<br />

Während seiner Regierungszeit war Luca von vielen umschmeichelt, aber von wenigen<br />

geliebt wor<strong>de</strong>n.<br />

Jetzt nahmen sowohl die Wächter als auch die Häftlinge die Gelegenheit wahr, um ihre<br />

Verachtung <strong>de</strong>utlich zu bekun<strong>de</strong>n. Luca saß allein in einer Ecke unserer gemeinsamen Zelle, biss<br />

sich die Knöchel wund und murmelte vor sich hin. Er war ein alter, kranker Mensch, in <strong>de</strong>m man<br />

unmöglich <strong>de</strong>n Mann wie<strong>de</strong>rerkennen konnte, <strong>de</strong>ssen Bild einst so häufig in <strong>de</strong>n Zeitungen erschienen<br />

war.<br />

Für Luca gab es keine Hilfe in seinem Elend. Ein Christ hat in je<strong>de</strong>r notvollen Situation<br />

die Gewissheit, dass er im Glauben <strong>de</strong>n Weg geht, <strong>de</strong>n Christus ihm vorangegangen ist. Luca<br />

jedoch, <strong>de</strong>r sein ganzes Leben im Dienste <strong>de</strong>s Kommunismus verbracht hatte, blieb jetzt we<strong>de</strong>r<br />

Hoffnung noch Glauben. Sollte die Nationalisten wie<strong>de</strong>r ans Ru<strong>de</strong>r kommen o<strong>de</strong>r die Amerikaner<br />

das Land besetzen, wären Luca und seine Genossen die ersten, die gehängt wür<strong>de</strong>n. Und<br />

vorläufig wur<strong>de</strong>n sie von ihren ehemaligen Parteifreun<strong>de</strong>n mit Strafen verfolgt. Zum Zeitpunkt<br />

unserer Begegnung war Luca einem Nervenzusammenbruch nahe.<br />

Er erzählte mir, dass man ihn, nach<strong>de</strong>m er in Ungna<strong>de</strong> gefallen war, unter <strong>de</strong>r Folter gezwungen<br />

hätte, völlig absur<strong>de</strong> Geständnisse abzulegen. Das Militärgericht hatte ihn zum To<strong>de</strong><br />

verurteilt, doch das Urteil war in lebenslängliche Haft umgewan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n.<br />

„Sie wussten, dass ich sowieso nicht mehr lange leben wer<strong>de</strong>", sagte er hustend.<br />

Manchmal überkamen ihn Wutanfälle, und er tobte gegen seine Parteifein<strong>de</strong>. Als er eines<br />

Tages das Essen, das in unsere Zelle geschoben wur<strong>de</strong>, einfach nicht hinunterbekommen konnte,<br />

bot ich ihm ein Stück Brot an. Er nahm es hungrig.<br />

„Warum haben Sie das getan?" knurrte er.<br />

„Ich habe <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s Fastens im <strong>Gefängnis</strong> kennen gelernt."<br />

„Und <strong>de</strong>r wäre?"<br />

Ich sagte: „Erstens stellt es unter Beweis, dass <strong>de</strong>r Geist <strong>de</strong>n Körper beherrschen kann.<br />

Zweitens rettet es mich vor Streitereien und bösen Gedanken, die so häufig wegen <strong>de</strong>s Essens entstehen.<br />

Und drittens - nun, wenn ein Christ im <strong>Gefängnis</strong> nicht fastete, was hat er dann noch, das<br />

er <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren geben kann?"<br />

Luca gab zu, dass die einzige Hilfe, die er nach seiner Verhaftung erhalten hatte, von Seiten<br />

<strong>de</strong>r Christen kam. Doch dann gewann seine üble Laune wie<strong>de</strong>r die Oberhand.<br />

„Ich kenne jedoch bei weitem mehr Geistliche, die Erzschurken sind. Als Mitglied <strong>de</strong>s<br />

Zentralkomitees hatte ich alle Sekten und Religionsgemeinschaften fest in <strong>de</strong>r Hand. In meinem<br />

Büro hatte ich von je<strong>de</strong>m Priester <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s eine Akte. Auch von Ihnen. Ich überlegte schon, ob<br />

es in ganz Rumänien nicht wenigstens einen Priester gäbe, <strong>de</strong>r nicht bereit war, bei Anbruch <strong>de</strong>r<br />

Dunkelheit bei mir an <strong>de</strong>r Hintertür zu klopfen, um zu <strong>de</strong>nunzieren."<br />

Ich sagte, dass <strong>de</strong>r Mensch wohl oft <strong>de</strong>n christlichen Glauben verunehre, doch viel häufiger<br />

sei es <strong>de</strong>r Fall, dass <strong>de</strong>r Glaube <strong>de</strong>n Menschen ta<strong>de</strong>le.<br />

Das beweise nicht nur die große Zahl <strong>de</strong>r Heiligen aus alten Zeiten, son<strong>de</strong>rn auch viele<br />

be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Christen, <strong>de</strong>nen man heute begegnen könne.<br />

Luca war ärgerlich. Sein Groll gegen alle Welt machte es ihm unmöglich, jeman<strong>de</strong>m gute<br />

Eigenschaften zuzugestehen. Er wie<strong>de</strong>rholte die üblichen atheistischen Argumente, die Kirche<br />

habe die Wissenschaftler verfolgt. Ich erinnerte ihn meinerseits an die großen Wissenschaftler,<br />

die Christen waren, von Newton und Kepler angefangen, bis zu Pawlow und <strong>de</strong>m Ent<strong>de</strong>cker <strong>de</strong>r<br />

Narkose, Sir James Simpson.<br />

Luca meinte: „Diese Männer beugten sich lediglich unter <strong>de</strong>n Konventionen ihrer Zeit."<br />

Ich sagte: „Kennen Sie <strong>de</strong>n Ausspruch Louis Pasteurs, <strong>de</strong>s Ent<strong>de</strong>ckers <strong>de</strong>r Mikroben und<br />

<strong>de</strong>r Schutzimpfung? „Je crois comme une charbonniere le proges en sience."<br />

Er glaubte wie ein einfacher Bergmann, wie eine Grubenarbeiterin <strong>de</strong>s vorigen Jahrhun<strong>de</strong>rts.<br />

Dieser Mann, <strong>de</strong>r fast sein ganzes Leben in <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Forschung führend<br />

war, hatte <strong>de</strong>n Glauben <strong>de</strong>r einfachsten Menschen."<br />

32


Luca sagte ungehalten: „Und wie ist es mit all <strong>de</strong>n Wissenschaftlern, die von <strong>de</strong>r Kirche<br />

verfolgt wur<strong>de</strong>n?"<br />

Ich fragte, ob er sie mit Namen nennen könne.<br />

„Galilei natürlich, <strong>de</strong>r ins <strong>Gefängnis</strong> musste. Giordano Bruno, <strong>de</strong>n man verbrannt hat..."<br />

Er stockte.<br />

Ich sagte: „Sie können also nur zwei Fälle innerhalb von 2000 Jahren nennen. Nach allen<br />

menschlichen Maßstäben zu urteilen, ist das ein Triumph für die Kirche. Vergleichen Sie nur<br />

dieses Ergebnis mit <strong>de</strong>n Rekor<strong>de</strong>n, die die Partei allein in Rumänien in <strong>de</strong>n letzten zehn Jahren<br />

aufstellte. Viele Tausen<strong>de</strong> von unschuldigen Menschen wur<strong>de</strong>n erschossen, gefoltert und verhaftet.<br />

Sie selbst sind nur kraft meineidiger Zeugenaussagen, durch Drohungen und Bestechungen<br />

erpresst, verurteilt wor<strong>de</strong>n. Wie hoch schätzen Sie <strong>de</strong>nn die Zahl <strong>de</strong>r gerichtlichen Fehlsprüche in<br />

allen Län<strong>de</strong>rn unter kommunistischer Herrschaft?"<br />

Eines Abends sprach ich über die Einsetzung <strong>de</strong>s Abendmahls und die Worte, die Jesus<br />

an Judas richtete: „Was du tust, das tue bald."<br />

Luca sagte: „Nichts in <strong>de</strong>r Welt wird mich dazu bringen, an Gott zu glauben. Doch wenn<br />

ich glauben wür<strong>de</strong>, wäre mein einziges Gebet an ihn: , Was du tust, das tue bald.'"<br />

Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapi<strong>de</strong>. Er spuckte Blut und fieberte. Auf<br />

seiner Stirn brach kalter Schweiß aus.<br />

Zu diesem Zeitpunkt kam ich in ein an<strong>de</strong>res <strong>Gefängnis</strong>. Bevor ich Abschied nahm, versprach<br />

er mir, an seine Seele zu <strong>de</strong>nken. Ich hatte keine Möglichkeit zu erfahren, was danach<br />

gesehen ist. Doch wenn ein Mensch mit sich selbst zu rechten anfängt, ist die Chance sehr gering,<br />

die Wahrheit zu fin<strong>de</strong>n. Bekehrung ist gewöhnlich die Sache eines einzigen Augenblicks. Die<br />

Botschaft trifft das Herz, und sofort bricht aus <strong>de</strong>r Tiefe <strong>de</strong>s Wesens etwas Neues und Heilen<strong>de</strong>s<br />

auf.<br />

Ich bin damals noch vielen Menschen begegnet, die Luca glichen. Oft sprach ich mit<br />

meinen Freun<strong>de</strong>n darüber, wie man die Kommunisten und ihre Kollaborateure im Falle eines<br />

Zusammenbruchs <strong>de</strong>s kommunistischen Systems behan<strong>de</strong>ln sollte. Christen waren gegen Racheaktionen,<br />

waren aber <strong>de</strong>nnoch geteilter Meinung. Einige meinten, die Vergebung müsse vollständig<br />

sein. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>r sagten, Jesus habe eine Grenze aufgestellt, in<strong>de</strong>m er Petrus anwies,<br />

<strong>de</strong>m Schuldigen nicht siebenmal, son<strong>de</strong>rn siebzigmal siebenmal zu vergeben. Diese Grenzen<br />

seien von <strong>de</strong>n Kommunisten schon längst überschritten.<br />

Meiner Ansicht nach haben wir lediglich das Recht, nach gründlicher Untersuchung je<strong>de</strong>s<br />

einzelnen Falles und unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r bösen Einflüssen, die diesen Menschen zu <strong>de</strong>m<br />

gemacht haben, was er ist, <strong>de</strong>n Bösewicht ohne Rachsucht in einen Zustand zu versetzen, wo er<br />

kein Unheil mehr anrichten kann.<br />

Die Kommunisten haben bereits sehr viel Zeit und Kraft darauf verwen<strong>de</strong>t, sich gegenseitig<br />

zu bestrafen. Man sagt, dass Stalin Lenin vergiftet habe. Er hat Trotzki mit einem Eispickel<br />

umbringen lassen. Chruschtschow war so mit Hass gegen seinen eigenen Genossen (Stalin) erfüllt,<br />

dass er <strong>de</strong>ssen Ruf ruinierte und sein Mausoleum schän<strong>de</strong>te.<br />

Luca, Theohari Gorgescu, Anna Pauker und viele an<strong>de</strong>re fielen ihrem eigenen grausamen<br />

System zum Opfer.<br />

Schurke - Bischof- Christ<br />

George Bajenaru war <strong>de</strong>r Sohn eines orthodoxen Bischofs. Er war als <strong>de</strong>r „nie<strong>de</strong>rträchtigste<br />

Priester in ganz Rumänien" bekannt. Er fälschte die Unterschrift seines Vaters, um zu<br />

Wür<strong>de</strong>n und aka<strong>de</strong>mischen Gra<strong>de</strong>n zu gelangen. Er veruntreute die Gel<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Schule, an <strong>de</strong>r<br />

seine Frau Schulleiterin war. Als sie Selbstmord beging, um seine Tat zu <strong>de</strong>cken, zeigte er keinerlei<br />

Reue. Er hatte sogar seinen eigenen Vater gegen Bezahlung bespitzelt. Dann ging er in <strong>de</strong>n<br />

Westen und gab vor, ein politischer Flüchtling zu sein. Man verlieh ihm die Bischofswür<strong>de</strong> und<br />

übertrug ihm die Betreuung <strong>de</strong>r orthodoxen Rumänen im Ausland. Von diesen Gruppen und vom<br />

Weltkirchenrat verschaffte er sich größere Geldzuwendungen. Die Kommunisten warteten inzwischen<br />

ihre Zeit ab.<br />

33


Bajenaru war früher ein weltlich gesinnter, arroganter Mensch mit <strong>de</strong>r Statur eines Bullen<br />

gewesen. Jetzt war er mager und zusammengeschrumpft. Er erzählte mir seine Geschichte. Er<br />

war zur Hochzeit eines reichen Rumänen nach Österreich gefahren und verlebte dort einige Tage.<br />

Als er eines Nachts aus einem Restaurant im französischen Sektor hinausging, hörte er<br />

Schritte hinter sich. Eine Keule sauste auf seinen Kopf nie<strong>de</strong>r. Doch nach einem Augenblick riss<br />

sich Bajenaru wie<strong>de</strong>r hoch und begann zu kämpfen. Vier Männer rangen mit ihm, dann spürte er<br />

einen Na<strong>de</strong>lstich im Bein.<br />

„Als ich wie<strong>de</strong>r zu Bewusstsein kam, befand ich mich in <strong>de</strong>r Sowjetzone. An <strong>de</strong>r Wand<br />

<strong>de</strong>s Raumes, in <strong>de</strong>m ich mich befand, hing ein Spiegel, doch <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r mich daraus anschaute,<br />

war mir unbekannt. Mein schwarzer Bart war weg, man hatte mein Haar kurzgeschnitten und<br />

rot gefärbt. Meine Haut war gebleicht wor<strong>de</strong>n, damit sie zur Haarfarbe passte. Man flog mich<br />

nach Moskau. Die Vernehmungsbeamten im Lubjanka-<strong>Gefängnis</strong> vermuteten, ich sei vielleicht<br />

eine Schlüsselfigur <strong>de</strong>r angloamerikanischen Spionage. Sie verlangten Aussagen über die Pläne<br />

<strong>de</strong>s Weltkirchenrates hinter <strong>de</strong>m Eisernen Vorhang und über die Machenschaften <strong>de</strong>r im Westen<br />

leben<strong>de</strong>n Rumänen. Ich konnte ihnen nichts sagen, ich hatte ja lediglich meinem eigenen Vergnügen<br />

gelebt. Die Russen wollten mir das nicht glauben."<br />

,Sehr wohl, Euer Gna<strong>de</strong>n', sagten sie,wir wer<strong>de</strong>n durch ärztliche Mittel Ihr Gedächtnis<br />

etwas auffrischen.'<br />

Bajenaru hob seine Hän<strong>de</strong> auf, um zu zeigen, dass seine Fingernägel gebrochen waren.<br />

„Man hat mir Na<strong>de</strong>ln unter die Nägel gesteckt", sagte er. „Der Arzt hatte einen weißen<br />

Kittel an. Zwei Schwestern waren anwesend. Je<strong>de</strong> wissenschaftliche Hilfe, die Sie sich nur <strong>de</strong>nken<br />

können, war da, außer <strong>de</strong>r Narkose."<br />

Bajenaru wur<strong>de</strong> zwei Wochen lang gefoltert. Er war <strong>de</strong>m Wahnsinn nahe, als die Russen<br />

endlich zur Einsicht kamen, er habe ihnen tatsächlich nichts zu berichten. Daraufhin übergaben<br />

sie ihn <strong>de</strong>r Geheimpolizei in Bukarest. Dort folterte man ihn erneut.<br />

In Jilava wur<strong>de</strong>n seine Verhöre immer noch fortgesetzt. <strong>Wenn</strong> er nach <strong>de</strong>n Verhören in<br />

die Zelle zurückkam, beschuldigten ihn die Häftlinge, er sei ein Spitzel. Er war wirklich soweit,<br />

dass er nur noch <strong>de</strong>n Wunsch hatte, seine Taten wie<strong>de</strong>r gutzumachen. Das Lei<strong>de</strong>n hatte ihn geläutert.<br />

Doch, obwohl Bajenaru seinen Gesinnungswan<strong>de</strong>l auf vielfältige Weise unter Beweis<br />

stellte, wollten ihm die an<strong>de</strong>ren nicht glauben. Als er einmal eine Liturgie hielt und laut für <strong>de</strong>n<br />

König und die königliche Familie betete, benachrichtigte jemand <strong>de</strong>n Wächter. Er wur<strong>de</strong> mit mir<br />

und einigen an<strong>de</strong>ren Geistlichen zusammen, die zu <strong>de</strong>n Opfern <strong>de</strong>s Denunzianten gehörten, in<br />

<strong>de</strong>n sogenannten „Schwarzen Raum" gesperrt.<br />

Man jagte uns eine steile Treppe hinunter in einen fensterlosen, unterirdischen Raum. Er<br />

befand sich in <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>s Forts und hatte wahrscheinlich früher als Munitionslager gedient.<br />

Der Raum war völlig bombensicher. Von <strong>de</strong>r Decke tropfte es unaufhaltsam, und dadurch stand<br />

<strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s „Schwarzen Raumes" ständig unter Wasser. Selbst im Sommer war es hier bitterkalt.<br />

„Wir müssen uns ständig bewegen", sagte eine Stimme in <strong>de</strong>r völligen Dunkelheit. Wir<br />

fingen also an, im Kreis herumzugehen. Immer wie<strong>de</strong>r glitt einer auf <strong>de</strong>m schlüpfrigen Bo<strong>de</strong>n<br />

aus. Dennoch hielten wir durch und liefen, bis man uns schließlich nach vielen Stun<strong>de</strong>n, völlig<br />

erschöpft und vom häufigen Fallen zerschun<strong>de</strong>n, wie<strong>de</strong>r herausließ.<br />

An<strong>de</strong>re sagte, wir hätten noch Glück gehabt. Manche Männer wür<strong>de</strong>n bis auf die Haut<br />

ausgezogen, bevor man sie in <strong>de</strong>n „Schwarzen Raum" einsperrte. Die Geschichte von <strong>de</strong>n achtzehn<br />

Männern, die man zwei Tage da unten gelassen, und die <strong>de</strong>nnoch überlebt hatten, war noch<br />

allen in Erinnerung,<br />

Es waren alle Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Nationalen Bauernpartei, im mittleren Alter o<strong>de</strong>r schon älter.<br />

Um <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> zu entrinnen, bil<strong>de</strong>ten sie aus ihren Körpern eine Schlange. Je<strong>de</strong>r klammerte<br />

sich fest an seinen Vor<strong>de</strong>rmann, um sich wann zu halten. So marschierten sie Tag und Nacht<br />

endlos im Kreis herum, von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. Oft brach einer von ihnen<br />

zusammen, doch je<strong>de</strong>s Mal zogen ihn dann die an<strong>de</strong>ren aus <strong>de</strong>m Wasser und zwangen ihn weiterzumachen.<br />

Bajenaru betete weiter für <strong>de</strong>n König. Endlich fand seine Gerichtsverhandlung statt. Er<br />

kehrte zurück und sagte ruhig, dass man ihn zum To<strong>de</strong> verurteilt habe. Er war <strong>de</strong>mütig gewor-<br />

34


<strong>de</strong>n. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass <strong>de</strong>mütige Menschen, die vielleicht früher grobe<br />

Sün<strong>de</strong>n begangen hatten, <strong>de</strong>r Verfolgung häufig besser standhielten als Christen von hoher<br />

Geistlichkeit. Der heilige Chrysostomus, <strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r römischen Wagenrennen lebte, sagte<br />

einmal: „<strong>Wenn</strong> man einen Wettstreit veranstalten wür<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m man vor <strong>de</strong>n einen Wagen die<br />

Pfer<strong>de</strong> Gerechtigkeit und Hochmut spannt und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren von Sün<strong>de</strong> und Demut ziehen lässt,<br />

dann wür<strong>de</strong> nach meiner Überzeugung <strong>de</strong>r zweite Wagen <strong>de</strong>n Himmel zuerst erreichen."<br />

Oberst Popescu riet Bajenaru, ein Gna<strong>de</strong>ngesuch einzureichen, doch Bajenaru erwi<strong>de</strong>rte:<br />

„Ich erkenne diese Richter nicht an, ich gehorche Gott und <strong>de</strong>m König."<br />

Nach<strong>de</strong>m man Bajenaru in die To<strong>de</strong>szelle verlegt hatte, sagte Popescu: „Vielleicht hatten<br />

wir unrecht, als wir uns auch als seine Richter aufspielten."<br />

Monatelang hörten wir nicht von ihm. Dann kam er wie<strong>de</strong>r in unsere Zelle. Sein To<strong>de</strong>surteil<br />

war in lebenslängliche Haft umgewan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n. Obwohl er in seinem Wesen ein völlig<br />

verwan<strong>de</strong>lter Mensch war, wur<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Häftlinge nicht akzeptiert. „Das ist<br />

wie<strong>de</strong>r nur ein Trick, du Satan", sagte sie. Doch diese Anschuldigung war ungerecht. Man hatte<br />

Bajenaru die Freilassung in Aussicht gestellt, falls er gewillt war, für die Geheimpolizei zu arbeiten.<br />

Er gab zur Antwort: „Ich verlasse das <strong>Gefängnis</strong> erst dann, wenn <strong>de</strong>r letzte Priester gegangen<br />

ist."<br />

Bajenarus Strafmil<strong>de</strong>rung sah man als verdächtig an. Es kam bei weitem häufiger vor,<br />

dass eine Strafe erhöht wur<strong>de</strong>, als dass man ein Urteil reduzierte. Unter <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>s<br />

Kommunismus ist es <strong>de</strong>m Saat je<strong>de</strong>rzeit möglich, die Strafe eines Schuldiggesprochenen zu erhöhen.<br />

Es ist tatsächlich vorgekommen, dass einem Manne, <strong>de</strong>r zu lebenslänglicher Haft verurteilt<br />

war und <strong>de</strong>r schon zwölf Jahre abgesessen hatte, ohne je<strong>de</strong> Begründung gesagt wur<strong>de</strong>, man<br />

habe sein Urteil revidiert. Am nächsten Tag wur<strong>de</strong> er erschossen.<br />

Bajenaru wur<strong>de</strong> in eine an<strong>de</strong>re Zelle gesteckt, wo er von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Häftlingen getreten<br />

und geschlagen wur<strong>de</strong>. Zweimal versuchte er, sich das Leben zu nehmen. Dann überführte man<br />

ihn in ein an<strong>de</strong>res <strong>Gefängnis</strong>, wo er starb.<br />

Entlassung<br />

Im Frühjahr 1956 nistete hoch oben unter <strong>de</strong>m Dach unserer Zelle, in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Fensters,<br />

ein Schwalbenpaar.<br />

Eines Tages kündigte ein Zirpen an, dass die Jungen ausgeschlüpft waren. Einer <strong>de</strong>r<br />

Häftlinge stellte sich auf die Schultern eines an<strong>de</strong>ren und schaute ins Nest hinein. „Es sind vier!"<br />

rief er. Die Schwalbeneiter schienen rastlos tätig zu sein. Anstatt nur dauernd von unserer Freilassung<br />

z u re<strong>de</strong>n, zählten wir zur Abwechslung, wie oft sie ein- und ausflogen, um <strong>de</strong>n Jungen<br />

Futter zu holen. Pro Tag waren es 250 Flüge. Ein alter Mann vom Lan<strong>de</strong> meinte: „In 21 Tagen<br />

sind sie flügge." Die an<strong>de</strong>ren lachten. „Ihr wer<strong>de</strong>t es ja sehen", sagte er. Am 20. Tag war immer<br />

noch nichts geschehen. Doch am 21. flogen die jungen Vögel mit viel Gezwitscher und Geflatter<br />

aus. Unsere Freu<strong>de</strong> war groß. „Gott hat für sie einen Fahrplan gemacht", sagte ich, „er kann für<br />

uns das gleiche tun."<br />

Wochen vergingen. Die Brandmarkung Stalins schien tatsächlich ein neues „Tauwetter"<br />

nach sich zu ziehen. Zwar konnte es nicht von Dauer sein, doch wur<strong>de</strong>n viele Häftlinge im Zuge<br />

einer Amnestie entlassen. Wür<strong>de</strong> ich mich unter ihnen befin<strong>de</strong>n? Dieser Gedanke machte mich<br />

nur traurig, <strong>de</strong>nn wenn sie mich jetzt laufen ließen - wem könnte ich nützlich sein? Mein Sohn<br />

war erwachsen und konnte sich wohl kaum noch an seinen Vater erinnern. Sabine war gewöhnt,<br />

allein fertig zu wer<strong>de</strong>n. Die Gemein<strong>de</strong> hatte an<strong>de</strong>re Pfarrer, die weniger Unannehmlichkeiten<br />

verursachten.<br />

Eines frühen Morgens wur<strong>de</strong>n meine Gedanken, die in diese Richtung gingen, plötzlich<br />

von einer Stimme unterbrochen:<br />

„Zum Verhör, sofort! Voran!"<br />

Also wie<strong>de</strong>r diese Grobheit, die Angst, die Fragen, auf die ich falsche Antworten fin<strong>de</strong>n<br />

musste. Ich fing an, meine Sachen zusammenzusuchen, während <strong>de</strong>r Wächter brüllte: „Los, los,<br />

<strong>de</strong>r Wagen wartet!" Ich hastete mit ihm durch die Gänge und über <strong>de</strong>n Hof. Während wir die<br />

35


Treppen hinaufstiegen, wur<strong>de</strong> ein eisernes Tor nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren geöffnet.<br />

Dann war ich draußen.<br />

Weit und breit war kein Auto zu sehen. Nur ein Beamter war da, <strong>de</strong>r mit einen Zettel aushändigte.<br />

Ich nahm ihn entgegen. Es war ein Gerichtsbeschluss, <strong>de</strong>r besagte, dass ich unter die<br />

Amnestie fiele und frei sei.<br />

Verständnislos starrte ich auf <strong>de</strong>n Zettel. Alles, was ich herausbrachte, war: „Aber ich<br />

habe doch nur achteinhalb Jahre abgesessen, und mein Urteil lautete auf zwanzig Jahre."<br />

„Sie müssen das <strong>Gefängnis</strong> sofort verlassen. Dies kommt vom höchsten Gerichtshof."<br />

„Ich muss aber doch noch etwa zwölf Jahre abbüßen!"<br />

„Hören Sie auf zu argumentieren. Machen Sie, dass Sie wegkommen!"<br />

„Aber sehen Sie mich nur an!" Mein zerrissenes Hemd war grau vor Schmutz. Die Hose<br />

sah vor lauter Flicken wie eine bunte Landkarte aus. Meine Stiefel hätten von Charlie Chaplin<br />

geliehen sein können. „Der erste beste Polizist wird mich festnehmen!"<br />

„Wir haben hier keine Kleidung für Sie. Machen Sie, dass Sie verschwin<strong>de</strong>n."<br />

Der Beamte ging zurück ins <strong>Gefängnis</strong>. Die Pforte schlug zu, und <strong>de</strong>r Riegel wur<strong>de</strong> vorgeschoben.<br />

Außerhalb <strong>de</strong>r Gefangnismauern war keine Seele zu sehen. Ich stand allein inmitten<br />

<strong>de</strong>r einsamen Sommerlandschaft. Der warme Junitag war so still, dass ich das geschäftige Summen<br />

<strong>de</strong>r Insekten hören konnte. Eine helle Landstraße erstreckte sich weit in die Ferne zwischen<br />

Bäumen von einem erstaunlich satten Grün.<br />

Im Schatten einiger Kastanienbäume wei<strong>de</strong>ten Kühe. Wie still es war!<br />

Ich rief laut aus, damit die Wächter auf <strong>de</strong>n <strong>Mauern</strong> mithören konnten: „O Gott, hilf mir,<br />

dass ich mich nicht über meine Freiheit mehr freue als darüber, dass du im <strong>Gefängnis</strong> bei mir<br />

warst!"<br />

Von Jilava bis Bukarest sind es fünf Kilometer. Ich nahm mein Bün<strong>de</strong>l über die Schulter<br />

und ging querfel<strong>de</strong>in. Mein Besitz bestand lediglich aus einer Sammlung muffig riechen<strong>de</strong>r<br />

Lumpen. Doch im <strong>Gefängnis</strong> waren sie mir so wertvoll gewesen, dass ich nie daran gedacht hätte,<br />

sie dort zurückzulassen. Bald verließ ich die Straße und ging durch das tiefe Gras. Ich strich<br />

ab und zu über die raue Baumrin<strong>de</strong> und blieb stehen, um eine Blume o<strong>de</strong>r ein junges Blatt zu<br />

betrachten.<br />

Zwei Gestalten kamen mir entgegen. Es war ein altes Bauernehepaar. Sie hielten mich an<br />

und fragten neugierig: „Kommst du von dort?" Der Mann holte eine Lei heraus, eine Münze im<br />

Werte von etwa zehn Pfennig, und reichte ihn mir.<br />

Ich sah auf <strong>de</strong>n Lei in meiner Hand und musste beinahe lachen. Nie zuvor hatte mir jemand<br />

einen Lei geschenkt.<br />

„Geben Sie mir Ihre Adresse, damit ich es Ihnen zurückgeben kann", sagte ich.<br />

„Nein, nein, behalte es nur", re<strong>de</strong>te er mir zu, mich mit „Du" anre<strong>de</strong>nd, wie es die Rumänen<br />

bei Kin<strong>de</strong>rn und Bettlern tun. Ich ging mit meinem Bün<strong>de</strong>l auf <strong>de</strong>r Schulter weiter.<br />

Eine an<strong>de</strong>re Frau sprach mich an: „Du kommst von dort? Sie hoffte, einiges über <strong>de</strong>n<br />

Dorfpriester von Jilava zu erfahren, <strong>de</strong>r einige Monate vorher verhaftet wor<strong>de</strong>n war. Ich war ihm<br />

zwar nicht begegnet, erklärte ihr aber, dass ich selbst Pfarrer sei. Wir setzten uns auf eine Mauer<br />

am Straßenrand. Ich war so glücklich, jeman<strong>de</strong>n gefun<strong>de</strong>n zu haben, <strong>de</strong>r über Jesus re<strong>de</strong>n wollte,<br />

dass ich es nicht eilig hatte, nach Hause zu kommen. Als ich mich endlich wie<strong>de</strong>r aufmachte,<br />

holte auch sie einen Lei hervor: „Für die Straßenbahn."„Aber ich habe schon einen Lei."„Dann<br />

nehmen Sie es um Christi Willen."<br />

Ich ging weiter, bis ich an eine Straßenbahnhaltestelle am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hauptstadt kam.<br />

Die Leute wussten sofort, woher ich kam und umringten mich von allen Seiten. Sie fragten nach<br />

Vätern, Brü<strong>de</strong>rn, Vettern - je<strong>de</strong>r hatte irgen<strong>de</strong>inen Verwandten im <strong>Gefängnis</strong>. Als ich in die<br />

Straßenbahn einstieg, wollten sie mich nicht <strong>de</strong>n Fahrpreis bezahlen lassen. Mehrere stan<strong>de</strong>n auf<br />

und boten mir ihren Sitzplatz an. Freigelassene Häftlinge sind in Rumänien bei weitem keine<br />

Ausgestoßenen. Sie wer<strong>de</strong>n mit höchstem Respekt behan<strong>de</strong>lt. Ich saß da mit meinem Bün<strong>de</strong>l auf<br />

<strong>de</strong>m Schoß. Doch gera<strong>de</strong>, als <strong>de</strong>r Wagen losfuhr, hörte ich draußen Rufe: „Halt, halt!" Mir blieb<br />

beinahe das Herz stehen. Mit einem Ruck kam <strong>de</strong>r Straßenbahnwagen zum Stehen, als ein Polizist<br />

mit seinem Motorrad plötzlich seitwärts einbog. Es war ein Irrtum gewesen - er kam, um<br />

36


mich wie<strong>de</strong>r zurückzuholen! Doch nein, <strong>de</strong>r Fahrer drehte sich um und rief zu uns: „Er sagt, dass<br />

hinten jemand auf <strong>de</strong>m Trittbett steht!"<br />

Neben mir saß eine Frau mit einem Korb frischer Erdbeeren. Ich schaute ungläubig darauf.<br />

„Hast du dieses Jahr noch keine gegessen?" fragte sie.<br />

„Schon acht Jahre lang nicht", antwortete ich.<br />

Sie sagte: „Bitte, nimm dir doch!" Und sie füllte mir die Hän<strong>de</strong> mit zarten, reifen Beeren.<br />

Ich aß und stopfte mir <strong>de</strong>n Mund voll wie ein hungriges Kind.<br />

Schließlich stand ich vor meiner eigenen Haustür. Einen Augenblick lang zögerte ich. Sie<br />

waren auf mein Kommen nicht vorbereitet. Schmutzig und zerlumpt wie ich war, bot ich ein erschrecken<strong>de</strong>s<br />

Bild. Doch dann öffnete ich die Tür. Im Flur stan<strong>de</strong>n einige junge Leute, unter ihnen<br />

ein schlaksiger junger Mann. Er starrte mich an. „Vater!" brach es aus seinem Mund.<br />

Es war mein Sohn Mihai. Ich hatte ihn zum letzten Mal vor drei Jahren gesehen. Jetzt<br />

war er achtzehn.<br />

Dann kam mir meine Frau entgegen. Ihr fein geschnittenes Gesicht war schmaler gewor<strong>de</strong>n,<br />

doch ihr Haar war immer noch schwarz. Ich fand sie schöner <strong>de</strong>nn je. Vor meinen Augen<br />

begann es zu schwimmen. Als sie die Arme um mich legte, konnte ich nur mit äußerster Mühe<br />

herausbringen: „Bevor wir uns küssen, muss ich dir etwas sagen: Denke nicht, dass ich nun aus<br />

<strong>de</strong>m Elend in die Freud gekommen bin! Ich komme aus <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> mit Jesus im <strong>Gefängnis</strong> in die<br />

Freu<strong>de</strong> mit ihm daheim. Ich komme nicht aus <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong> nach Hause, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r Heimat<br />

im <strong>Gefängnis</strong> zu meiner Heimat bei dir."<br />

Sie schluchzte. Ich sagte: „Jetzt kannst du mich küssen, wenn du willst." Später sang ich<br />

ihr leise ein kleines Lied vor. Ich hatte es vor Jahren schon für sie gedichtet, um es ihr vorzusingen,<br />

wenn wir uns je wie<strong>de</strong>rsehen sollten.<br />

Mihai kam und verkün<strong>de</strong>te, die Wohnung sei voller Besucher, die nicht gehen wollten,<br />

ohne mich begrüßt zu haben.<br />

Unsere Gemein<strong>de</strong>glie<strong>de</strong>r hatten in ganz Bukarest herumtelefoniert. Die Türklingel ging<br />

pausenlos. Alte Freun<strong>de</strong> brachten neue mit. Leute mussten gehen, damit an<strong>de</strong>re Platz zum Stehen<br />

hatten. Je<strong>de</strong>s Mal, wenn ich einer Frau vorgestellt wur<strong>de</strong>, musste ich in meiner lächerlichen<br />

Hose, die durch einen Bindfa<strong>de</strong>n zusammengehalten wur<strong>de</strong>, eine höfliche Verbeugung machen.<br />

Als schließlich alle gegangen waren, war es fast Mitternacht. Sabine drängte mich, etwas zu essen.<br />

Doch ich empfand keinen Hunger. „Heute haben wir Freu<strong>de</strong> im Übermaß gehabt", sagte<br />

ich. „Morgen wollen wir einen Dank- und Fastentag halten und vor <strong>de</strong>m Abendbrot das heilige<br />

Abendmahl feiern."<br />

Ich wandte mich zu Mihai. Drei <strong>de</strong>r Besucher, darunter eine Universitätsprofessorin <strong>de</strong>r<br />

Philosophie, die ich noch nicht kannte, hatten mir heute Abend erzählt, dass mein Sohn sie zum<br />

Glauben an Jesus Christus geführt hätte. Und ich hatte befürchtet, dass er, allein, ohne Vater und<br />

Mutter, verloren gehen wür<strong>de</strong>!<br />

Ich konnte meine Freu<strong>de</strong> nicht in Worte fassen.<br />

Mihai sagte: „Vater, du hast so viel Schweres erlebt. Ich möchte gern wissen, was du aus<br />

all <strong>de</strong>inen Lei<strong>de</strong>n gelernt hast."<br />

Ich legte <strong>de</strong>n Arm um ihn und sagte: „Mihai, in all dieser Zeit habe ich die Bibel fast<br />

vergessen. Doch vier Dinge waren mir immer gegenwärtig: Es gibt einen Gott, Christus ist unser<br />

Erretter, es gibt ein ewiges Leben, und die Liebe ist das Höchste."<br />

„Das ist alles, was ich wissen wollte", sagte mein Sohn. Später erzählte er mir, dass er<br />

sich entschlossen hätte, Theologie zu studieren.<br />

Diese Nacht konnte ich in meinem sauberen, weichen Bett nicht einschlafen. Ich setzte<br />

mich und schlug die Bibel auf. Ich suchte nach <strong>de</strong>m Buch Daniel, das immer mein Lieblingsbuch<br />

gewesen war. Doch ich konnte es nicht fin<strong>de</strong>n. Statt<strong>de</strong>ssen wur<strong>de</strong> mein Auge durch eine Zeile<br />

aus <strong>de</strong>m 3. Johannesbrief festgehalten: „Ich habe keine größere Freu<strong>de</strong> als zu hören, dass meine<br />

Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Wahrheit wan<strong>de</strong>ln." Auch ich hatte teil an dieser Freu<strong>de</strong>. Ich ging ins Zimmer<br />

meines Sohnes, um mich zu vergewissern, dass er tatsächlich da war. Im <strong>Gefängnis</strong> hatte ich oft<br />

37


von diesem Moment geträumt, um dann in meiner Zelle aufzuwachen.<br />

Zwei Wochen vergingen, ehe ich wie<strong>de</strong>r regelmäßig schlafen konnte. Inzwischen wur<strong>de</strong><br />

ich im bestmöglichen Krankenhaus behan<strong>de</strong>lt und hatte das beste Bett im sonnigsten Krankenzimmer.<br />

Weil ich ein ehemaliger Häftling war, wollte mir je<strong>de</strong>rmann auf <strong>de</strong>r Straße, in <strong>de</strong>n Geschäften<br />

und sonst überall behilflich sein. Der Strom <strong>de</strong>r Besucher setzte wie<strong>de</strong>r ein.<br />

In <strong>de</strong>r beengten Freiheit<br />

Jetzt, da ich endlich frei war, sehnte ich mich aus tiefstem Herzen nach Ruhe und Erholung.<br />

Doch <strong>de</strong>r Kommunismus arbeitete über all unaufhörlich daran, die Kirche vollends zu zerstören.<br />

Der Frie<strong>de</strong>, nach <strong>de</strong>m ich mich sehnte, wür<strong>de</strong> eine Flucht vor <strong>de</strong>r Wirklichkeit be<strong>de</strong>uten<br />

und meine Seele gefähr<strong>de</strong>n.<br />

Ich hatte zwar nur ein armseliges Zuhause vorgefun<strong>de</strong>n. Dennoch war ich besser dran als<br />

viele an<strong>de</strong>re. Wir besaßen eine winzig Mansar<strong>de</strong>nwohnung, die aus zwei Räumen bestand und<br />

kaum möbliert war. Ich schlief in einem alten Holzbett mit weicher Matratze, die uns ein Nachbar<br />

geliehen hatte. Durch ein Polster wur<strong>de</strong> das Bett für meine Größe verlängert. Das Wasser<br />

musste drei Treppen tiefer im Keller geholt wer<strong>de</strong>n, und die nächste Toilette, die wir benutzen<br />

durften, befand sich in einem an<strong>de</strong>ren Haus. Ich hatte nichts Besseres erwartet. Wir alle im <strong>Gefängnis</strong><br />

wussten von <strong>de</strong>r Wohnungs- und Lebensmittelknappheit, und dass Kirchen geschlossen<br />

o<strong>de</strong>r für einen an<strong>de</strong>ren Zweck benutzt wur<strong>de</strong>n.<br />

Die komfortable Wohnung, die wir früher hatten, war nach <strong>de</strong>r Verhaftung meiner Frau<br />

beschlagnahmt wor<strong>de</strong>n. Nach ihrer Entlassung hatte sie sich geweigert, sich von mir schei<strong>de</strong>n zu<br />

lassen und konnte <strong>de</strong>shalb keine Arbeit bekommen. Sie hatte in äußerster Armut gelebt, Damenstrümpfe<br />

repariert und war völlig auf die Güte unserer Freun<strong>de</strong> angewiesen. Sie sagte mir, das<br />

Leben wäre ihr unerträglich erschienen, wäre Mihai nicht gewesen.<br />

Als Mihai 13 Jahre alt war, bekam er die Erlaubnis, seine Mutter zu besuchen. Er war<br />

während <strong>de</strong>r drei Jahre Zwangsarbeit am Kanal. Bei<strong>de</strong>r Eltern beraubt, auf die Barmherzigkeit<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren angewiesen, war er recht verbittert.<br />

„Ich borgte mir das Geld, um zum Arbeitslager fahren zu können", erzählte er. „In <strong>de</strong>m<br />

Raum, wo wir uns begegneten, trennten uns zwei Reihe Eisengitter voneinan<strong>de</strong>r. Mutter hatte<br />

eine Sträflingskleidung an und war abgemagert und schmutzig. Sie war <strong>de</strong>m Weinen nahe und<br />

musste laut rufen, damit ich ihre Worte verstehen konnte. ,Mihai, glaube an Jesus und sei treu',<br />

sagte sie. , Mutter’, antwortete ich, , wenn du an einem solchen Ort wie diesem immer noch<br />

glauben kannst, dann muss ich es auch'."<br />

Als Sabine nach Bukarest zurückgekehrt war, stellte sie fest, dass Mihai Klavierstimmer<br />

gewor<strong>de</strong>n war, nach<strong>de</strong>m ihn ein Stimmer <strong>de</strong>s Opernhauses in die Lehre genommen hatte. Er<br />

hatte ein so gutes Gehör, dass er in <strong>de</strong>r Lage war, dieses Handwerk bereits mit elf Jahren selbständig<br />

auszuüben. Bald verdiente er genug, um seiner Mutter helfen zu können und sich eine<br />

Schulausbildung zu ermöglichen. Es war ein Leben in Armut, aber sie hatten Brot.<br />

Mihai hatte schon frühzeitig Schwierigkeiten mit <strong>de</strong>r Partei. Damals wur<strong>de</strong> ihm als Musterschüler<br />

das Recht zugesprochen, ein rotes Halstuch zu tragen. Er weigerte sich jedoch, da es<br />

ein Abzeichen <strong>de</strong>r „Unterdrücker" sei.<br />

Er wur<strong>de</strong> offiziell von <strong>de</strong>r Schule verwiesen, wur<strong>de</strong> aber, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Sturm sich gelegt<br />

hatte, heimlich wie<strong>de</strong>r aufgenommen. Seine Lehrer dienten <strong>de</strong>m Sowjetregime nur <strong>de</strong>m Schein<br />

nach. Mit 14 Jahren musste er wie<strong>de</strong>r die Schule verlassen, weil er behauptet hatte, er habe die<br />

Bibel selbst gelesen, und die Angriffe auf die Religion in <strong>de</strong>n Schulbüchern beruhten auf falschen<br />

Aussagen. Von da an versuchte er, seine Ausbildung in Abendkursen fortzusetzen.<br />

Mihai war ein Christ und war nicht für <strong>de</strong>n Kommunismus. Doch wenn ein Singvogel in<br />

<strong>de</strong>r Nähe eines Krähennestes aufwächst, wird er unweigerlich, ein Gekrächz herauszubringen,<br />

und Mihai hörte nur wenig, was ihm zu einem klaren Urteil hätte verhelfen können. Einen Tag<br />

nach meiner Rückkehr musste ich ihm sagen, dass er einer Täuschung erlegen sei, wenn er glaube,<br />

die Arbeiter in <strong>de</strong>n kapitalistischen Län<strong>de</strong>rn stürben vor Hunger. Seinen Kommilitonen war<br />

diese Vorstellung etwas Selbstverständliches. Ein Mädchen erzählte mir, sie habe in <strong>de</strong>r Schule<br />

38


über die hungern<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r von Amerika Tränen vergossen.<br />

Selbst die Besten unter <strong>de</strong>n jungen Leuten schienen in ihrem Denken durcheinan<strong>de</strong>rgebracht<br />

und falsch orientiert zu sein. Ihnen war je<strong>de</strong> Gelegenheit genommen, sich mit <strong>de</strong>m<br />

Schrifttum <strong>de</strong>r großen christlichen Autoren vertraut zu machen.<br />

Und nicht nur das, selbst die Werke von Denkern wie Plato, Kant, Schopenhauer und<br />

Einstein konnte man nirgendwo käuflich erwerben. Mihais Freun<strong>de</strong> erzählten, dass ihre Eltern<br />

und die Professoren oft völlig gegensätzliche Dinge aussagten. Nicht selten baten mich diese<br />

jungen Menschen um meine Stellungnahme.<br />

Ein junger Theologiestu<strong>de</strong>nt von <strong>de</strong>r Universität in Klauenburg bat mich, ihm bei seiner<br />

Doktorarbeit zu helfen. „Was ist Ihr Thema?" fragte ich.<br />

„Die Geschichte <strong>de</strong>s liturgischen Gesanges in <strong>de</strong>r lutherischen Kirche."<br />

Ich sagte: „Sie sollten zu Beginn Ihrer Dissertation schreiben, dass man <strong>de</strong>n Verstand <strong>de</strong>r<br />

jungen Menschen nicht mit geschichtlichen Belanglosigkeiten füttern soll, wenn ihnen vielleicht<br />

schon morgen <strong>de</strong>r Tod um ihres Glaubens willen bevorstehen kann."<br />

„Was soll ich aber dann überhaupt noch studieren?" fragte er.<br />

„Wie man sich auf Opfer und Martyrium vorbereitet", gab ich zur Antwort.<br />

Ich erzählte ihm einiges von <strong>de</strong>m, was ich im <strong>Gefängnis</strong> erlebt hatte. Bald brachte er seine<br />

Freun<strong>de</strong> mit. Sie hatten alle die gleichen Probleme, wenn es darum ging, einen klaren inneren<br />

Kurs einzuschlagen. Ich fragte sie nach ihrem Studium.<br />

Einer von ihnen sagte: „Unser Theologieprofessor behauptet, Gott habe sich dreimal offenbart:<br />

das erste Mal Moses, das zweite Mal Jesus und das dritte Mal Karl Marx."<br />

„Und was <strong>de</strong>nkt euer Pastor darüber?"<br />

„Je mehr er re<strong>de</strong>t, <strong>de</strong>sto weniger scheint er wirklich auszusagen."<br />

Das En<strong>de</strong>rgebnis dieser Gespräche war, dass ich mich einverstan<strong>de</strong>n erklärte, mit nach<br />

Klauenburg zu fahren und dort in <strong>de</strong>r Kathedrale zu predigen. Die Stu<strong>de</strong>nten wollten meine Bücher<br />

haben. Doch alles, was ich geschrieben hatte, war verboten.<br />

Vor meiner Abreise musste ich noch einen Besuch abstatten. Damit wollte ich ein Ver<strong>sprechen</strong><br />

erfüllen, das ich im <strong>Gefängnis</strong> <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r „Armee <strong>de</strong>s Herrn" gegeben hatte.<br />

Die „Armee <strong>de</strong>s Herrn" - eine Religionsgemeinschaft etwa <strong>de</strong>r Heilsarmee ähnlich -, wur<strong>de</strong> von<br />

<strong>de</strong>r Geheimpolizei unerbittlich verfolgt.<br />

Einige Jahre waren vergangen, weit ich <strong>de</strong>n Patriarchen Justinian Marina gesprochen<br />

hatte, und ich nahm an, dass er helfen wür<strong>de</strong>. Der Schafen, <strong>de</strong>n er <strong>de</strong>r Kirche zugefügt hatte, war<br />

groß. Es lag aber durchaus in seiner Macht, auch etwas Gutes zu tun.<br />

Ich traf ihn bei seinem Spaziergang in <strong>de</strong>n Gartenanlagen hinter seinem Schloss an.<br />

Vermutlich zog er es vor, mich im Garten zu empfangen, weil es dort keine Mikrofone und keine<br />

horchen<strong>de</strong>n Sekretäre gab. Ich sagte: „Sie sind Patriarch, Menschen kommen zu Ihnen mit <strong>de</strong>r<br />

Bitte um Stellung und Pension. Auch müssen Sie überall predigen und singen. So kam mir <strong>de</strong>r<br />

Gedanke, Sie einmal zu besuchen und Ihnen etwas vorzusingen. Es ist ein Lied <strong>de</strong>r, Armee <strong>de</strong>s<br />

Herrn', ich habe es im <strong>Gefängnis</strong> gelernt." Ich sang ihm das Lied vor und bat ihn, doch etwas für<br />

diese guten, einfachen Menschen zu unternehmen. „Sie sollen nicht ewig im <strong>Gefängnis</strong> sitzen,<br />

nur weil sie einer bestimmten Religionsgruppe angehören."<br />

Er sagte, er wolle sich darum bemühen, und wir hatten noch ein langes Gespräch.<br />

Ich versuchte, ihn zu Gott zurückzurufen. „Im Garten von Gethsemane", sagte ich, „hat<br />

Jesus sogar Judas mit, Freund’ angere<strong>de</strong>t und eröffnete ihm auf diese Weise <strong>de</strong>n Weg zur Erlösung."<br />

Ich wollte einen Samen Säen, aus <strong>de</strong>m die Sinnesän<strong>de</strong>rung wachsen konnte. Er hörte<br />

schweigend und sogar <strong>de</strong>mütig zu, meinte aber, er könne nur wenig tun. Man habe ihm <strong>de</strong>n Metropoliten<br />

von Jassy, Justin Moisescu, zur Seite gestellt. Sollte er zu weit gehen o<strong>de</strong>r gar sein Amt<br />

nie<strong>de</strong>rlegen, wür<strong>de</strong> Moisescu seinen Platz als Patriarch einnehmen, und die Lage wäre noch<br />

schlimmer als vorher. Justinian hatte eine gewisse Achtung vor mir, doch obwohl er in seinem<br />

geteilten Herzen die eigene Handlungsweise nicht bejahen konnte, en<strong>de</strong>te sein Schwanken stets<br />

damit, dass er <strong>de</strong>n For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Partei gehorsam nachkam.<br />

Später erfuhr ich, dass er die Angelegenheit <strong>de</strong>r „Armee" in <strong>de</strong>r Heiligen Syno<strong>de</strong> zur<br />

Sprache gebracht hatte. Der Metropolit stellte sich gegen ihn. (Und ausgerechnet dieser Mann<br />

39


wur<strong>de</strong> als <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>r orthodoxen Kirche in <strong>de</strong>n Weltkirchenrat aufgenommen!) Danach<br />

erhielt Justinian eine Rüge vom Ministerium für Religion, weil er mich empfangen hatte. Ein<br />

Sekretär hatte natürlich über meinen Besuch Meldung erstattet, wie auch <strong>de</strong>r Patriarch stets über<br />

seinen Sekretär berichtete. Justinian hatte sich bereit erklärt, einige Vertreter <strong>de</strong>r „Armee <strong>de</strong>s<br />

Herrn" zu empfangen. Doch als sie ankamen, jagte er sie davon. „So, Wurmbrand hat euch gesagt,<br />

dass ihr kommen sollt, was? Es wird langsam Zeit, dass er wie<strong>de</strong>r ins <strong>Gefängnis</strong> kommt."<br />

Untergrundarbeit setzt wie<strong>de</strong>r ein<br />

Die Nachricht, ich hätte zugesagt, eine Vortragsserie in Rumäniens alter Universitätsstadt<br />

zu halten, wur<strong>de</strong> sofort <strong>de</strong>r Regierung mitgeteilt. Gleichzeitig warnte man, mein eigentliches Ziel<br />

sei, unter <strong>de</strong>m Deckmantel von Vorträgen über christliche Philosophie <strong>de</strong>n Marxismus anzugreifen<br />

und die Stu<strong>de</strong>nten aufzuwiegeln. Der dienstfreudige Denunziant war diesmal ein Baptistenprediger.<br />

Er sagte mir ins Gesicht, was er getan hatte.<br />

Dass er so han<strong>de</strong>lte, überraschte mich keineswegs. Nach meiner Entlassung bin ich vielen<br />

seiner Kollegen - Priestern, Pfarrern und sogar Bischöfen - begegnet, die diese Art Information<br />

regelmäßig an das Religionsministerium weiterleiteten. Gewöhnlich han<strong>de</strong>lte es sich um Berichte<br />

über die eigenen Gemein<strong>de</strong>mitglie<strong>de</strong>r, und in <strong>de</strong>n meisten Fällen waren die Geistlichen über<br />

ihr eigenes Han<strong>de</strong>ln beschämt und traurig. Sie sagten, es ginge ihnen dabei weniger um ihre eigene<br />

Sicherheit, sie wollten vielmehr ihre Kirchen vor <strong>de</strong>r Schließung bewahren. In je<strong>de</strong>r Stadt<br />

befan<strong>de</strong>n sich vom Religionsministerium beauftragte Geheimpolizisten, die alle Prediger regelmäßig<br />

über das Verhalten ihrer Gemein<strong>de</strong>mitglie<strong>de</strong>r ausfragten. Ganz abgesehen von <strong>de</strong>r politischen<br />

Einstellung, wollte man wissen, welche Gemein<strong>de</strong>mitglie<strong>de</strong>r häufig zum Abendmahl gingen,<br />

welche von ihnen versuchten, Menschen für Jesus zu gewissen und was für Sün<strong>de</strong>n die einzelnen<br />

beichteten. Solche, die sich weigerten, <strong>de</strong>rartige Fragen zu beantworte, wur<strong>de</strong>n kurzerhand<br />

entlassen. Fand sich kein „geeigneter" Vertreter, <strong>de</strong>r ihr Amt übernahm, wur<strong>de</strong>n die Kirchen<br />

geschlossen. Dies führte dahin, dass es seinerzeit in Rumänien vier große Kategorien von<br />

Geistlichen gab: Solche, die im <strong>Gefängnis</strong> saßen, solche, die unter Zwang ihren Bericht erstatteten<br />

und sich bemühten, möglichst wenig auszusagen, solche, die achselzuckend taten, was ihnen<br />

befohlen war, und solche, die am Denunzieren Geschmack gefun<strong>de</strong>n hatten. Es gab auch an<strong>de</strong>re,<br />

die nicht informierten, aber es waren nur sehr wenige, die nicht irgendwie mit <strong>de</strong>m Kommunismus<br />

Kompromisse gemacht hätten.<br />

Bei meinem ersten Abend in Klausenburg waren eine Gruppe von etwa fünfzig Stu<strong>de</strong>nten<br />

und einige Theologieprofessoren anwesend.<br />

Ich hatte mit meinen Vorträgen am Montag begonnen. Am Dienstag hatte sich die Zuhörerschaft<br />

verdoppelt. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Woche starrten mich bereits über tausend Augenpaare an.<br />

Die ganze Universität schien sich in <strong>de</strong>r Kathedrale zusammenzudrängen. Ich wusste, dass viele<br />

von ihnen das sehnliche Verlangen hatten, die Wahrheit zu hören, sich aber vor <strong>de</strong>n Konsequenzen<br />

dieser Wahrheit fürchteten.<br />

Ich erzählte ihnen die Geschichte eines Arztes aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s frühen Christentums. Er<br />

wur<strong>de</strong> vom Kaiser zu Unrecht ins <strong>Gefängnis</strong> geworfen. Einige Wochen später erlaubte man seiner<br />

Familie, ihn zu besuchen. Anfangs weinten sie alle. Seine Klei<strong>de</strong>r hingen in Fetzen, seine<br />

Nahrung bestand täglich aus einer Scheibe Brot und einem Krug Wasser. Dann aber fragte seine<br />

Frau verwun<strong>de</strong>rt: „Wie kommt es nur, dass du so gut aussiehst? Man könnte meinen, du kämest<br />

gera<strong>de</strong> von einer Hochzeit." Der Arzt erwi<strong>de</strong>rte lächelnd, er habe ein Heilmittel gegen alle Nöte<br />

gefun<strong>de</strong>n. Seine Familienmitglie<strong>de</strong>r fragten ihn, was das sei. Er erzählte ihnen: „Ich habe einen<br />

Kräutertee ent<strong>de</strong>ckt, <strong>de</strong>r gegen alles Leid und alle Sorgen hilft. Er enthält sieben Kräuter. Ich<br />

wer<strong>de</strong> sie euch nennen.<br />

Das erste heißt Genügsamkeit. Sei zufrie<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m, was du hast.<br />

Das zweite Kraut ist <strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong> Menschenverstand.<br />

Das dritte ist die Erinnerung an frühere Sün<strong>de</strong>n.<br />

Das vierte ist <strong>de</strong>r Gedanke an die Lei<strong>de</strong>n, die Christus mit Freu<strong>de</strong>n für uns getragen hat.<br />

Das fünfte Kraut ist die Erkenntnis, dass die Lei<strong>de</strong>n uns von Gott als von einem Vater<br />

40


auferlegt sind.<br />

Das sechste ist das Wissen, dass kein Leid das Leben eines Christen zerstören kann.<br />

Das letzte Kräutlein im Rezept ist die Hoffnung."<br />

Als ich <strong>de</strong>n Vortrag been<strong>de</strong>t hatte, stand Rugojanu auf und bahnte sich, ohne noch einmal<br />

zurückzublicken, seinen Weg aus <strong>de</strong>r Kathedrale. Ich stieg von <strong>de</strong>r Kanzel herunter. In <strong>de</strong>r<br />

Versammlung begann eine gedämpfte Unterhaltung.<br />

Draußen begrüßten mich die Stu<strong>de</strong>nten mit Beifallrufen und Applaus.<br />

Gleich am nächsten Tag wur<strong>de</strong> ich zu meinem Bischof beor<strong>de</strong>rt. Er teilte mir mit, Rugojanu<br />

mache Schwierigkeiten. Er berichtete mir gera<strong>de</strong> über die Beschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Religionsministeriums,<br />

als Rugojanu selbst hereinstolzierte. „Ah, Sie!" rief er aus. „Welche Ausre<strong>de</strong>n versuchen<br />

Sie noch zu machen? Ein Schwall von staatsfeindlichen Aussagen! Ich habe es mit eigenen Ohren<br />

gehört!"<br />

Ich fragte, was ihm <strong>de</strong>nn im Einzelnen missfallen hätte. Alles war schlecht, beson<strong>de</strong>rs<br />

meine Kur gegen das Lei<strong>de</strong>n.<br />

„Aber was haben Sie <strong>de</strong>nn an meinem guten Tee auszusetzen?" fragte ich. „Welches<br />

Kräutlein hat Ihnen nicht zugesagt?"<br />

„Sie haben ihnen erzählt, dass das Rad sich immer dreht", sagte er heftig. „Aber mit dieser<br />

konterrevolutionären Behauptung haben Sie sich geirrt! Das Rad wird sich nicht drehen,<br />

mein Freund! Der Kommunismus ist und bleibt hier - für immer!" Sein Gesicht war von Hass<br />

verzerrt.<br />

„Ich habe <strong>de</strong>n Kommunismus nicht erwähnt", antwortete ich. „Ich sagte lediglich, dass<br />

das Rad <strong>de</strong>s Lebens sich ständig dreht. So war ich im <strong>Gefängnis</strong>, und jetzt bin ich frei. Ich war<br />

krank, und jetzt geht es mir besser. Ich hatte meine Gemein<strong>de</strong> verloren, und jetzt darf ich wie<strong>de</strong>r<br />

arbeiten."<br />

„Nein, nein, nein! Sie meinten, dass <strong>de</strong>r Kommunismus zu Fall kommen wird, und alle<br />

haben genau gewusst, woran Sie <strong>de</strong>nken. Bil<strong>de</strong>n sie sich ja nicht ein, darüber sei schon das letzte<br />

Wort gefallen!"<br />

Rugojanu berief eine Versammlung <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Kirchenmänner im Sitz <strong>de</strong>s Bischofs<br />

von Klausenburg ein, wo ich beschuldigt wur<strong>de</strong>, mit versteckten Angriffen gegen die Regierung<br />

die Jugend vergiften zu wollen. „Sie können sich darauf verlassen, er wird nie wie<strong>de</strong>r predigen",<br />

schrie Rugojanu, immer mehr in Raserei geratend. Es war abstoßend. Zum Schluss rief er aus:<br />

„Wurmbrand ist erledigt! Wurmbrand ist erledigt! Wurmbrand ist erledigt!" Dann griff er nach<br />

Hut und Mantel und verließ das Gebäu<strong>de</strong>.<br />

Er war etwa hun<strong>de</strong>rt Meter gegangen, als ein Wagen einem Hund ausweichen wollte, ins<br />

Schleu<strong>de</strong>rn kam, auf <strong>de</strong>n Bürgersteig geriet und Rugojanu gegen die Wand quetschte. Er war auf<br />

<strong>de</strong>r Stelle tot.<br />

Die Geschichte von Rugojanus letzten Worten und <strong>de</strong>m, was folgte, war bald in ganz<br />

Rumänien bekannt. In diesen Jahren hat Gott uns oft ein Zeichen gegeben.<br />

Der Entzug <strong>de</strong>r Erlaubnis, mich als Pfarrer zu betätigen, hin<strong>de</strong>rte mich nicht daran zu<br />

predigen. Ich musste jetzt jedoch im Geheimen arbeiten, wie ich es damals nach <strong>de</strong>m Krieg unter<br />

<strong>de</strong>n sowjetischen Soldaten getan hatte. Eine weitere Gefahr stellten die Besuche <strong>de</strong>r ehemaligen<br />

<strong>Gefängnis</strong>kamera<strong>de</strong>n dar, die um Rat und Hilfe baten. Manche von ihnen waren jetzt Spitzel<br />

gewor<strong>de</strong>n und versuchten, mich aufs Glatteis zu führen. Diese unglücklichen Männer hatten sich<br />

von ihrer Entlassung zuviel versprochen. Nach<strong>de</strong>m sie festgestellt hatten, dass ihr Familienleben<br />

zusammengebrochen war, wandten sie sich <strong>de</strong>m Jagen nach sexuellen Genüssen zu und versuchten,<br />

ihre verlorene Jugend wie<strong>de</strong>rzugewinnen. Die kostete gewöhnlich mehr Geld, als sie aufbringen<br />

konnten. Und <strong>de</strong>r kürzeste Weg zu einem Neuanfang mit <strong>de</strong>r Regierung und zu raschen<br />

Gel<strong>de</strong>innahmen führte über das Versorgen <strong>de</strong>r Partei mit Informationen. Die Freiheit dieser<br />

Männer war eine noch größere Tragik als ihre Zeit im <strong>Gefängnis</strong>.<br />

Der beste Schutz gegen die Spitzel waren die Warnungen, die uns Freun<strong>de</strong> zukommen ließen,<br />

die bei <strong>de</strong>r Geheimpolizei arbeiteten. Mehrere unserer Glaubensbrü<strong>de</strong>r hatten irgen<strong>de</strong>inen<br />

Posten bei <strong>de</strong> Partei inne. Ein junges Ehepaar, das tagsüber in <strong>de</strong>r Propagandaabteilung arbeitete,<br />

verbrachte die Aben<strong>de</strong> mit uns im Gebet. Mehr als einmal kamen wir in <strong>de</strong>r Wohnung eines <strong>de</strong>r<br />

41


führen<strong>de</strong>n Offiziere <strong>de</strong>r Geheimpolizei zusammen, während er abwesend war. Seine Hausgehilfin<br />

gehörte nämlich zu unserem Kreis. Wir trafen uns in Kellerräumen, Dachkammern, Mietswohnungen<br />

und Bauernhäusern. Unsere Gottesdienste waren so einfach und so schön wie die <strong>de</strong>r<br />

ersten Christen vor 1900 Jahre. Wir sangen laut. <strong>Wenn</strong> jemand Fragen stellte, war es eine Geburtstagsfeier.<br />

Christliche Familien mit drei o<strong>de</strong>r vier Familienmitglie<strong>de</strong>rn feierten manchmal 35<br />

Geburtstage im Jahr! Zuweilen trafen wir uns im Freien. Der Himmel war unser Dom, die Vögel<br />

sorgten für die Musik, die Blumen spen<strong>de</strong>ten Weihrauch. Die Sterne waren unsere Kerzen. Die<br />

Engel waren die Altardiener, die sie anzün<strong>de</strong>ten und <strong>de</strong>r fa<strong>de</strong>nscheinige Anzug eines Märtyrers,<br />

<strong>de</strong>n man gera<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong> entlassen hatte, war uns viel kostbarer als die herrlichen<br />

Priestergewän<strong>de</strong>r.<br />

Abermals verhaftet<br />

Ich wusste natürlich, dass man mich früher o<strong>de</strong>r später wie<strong>de</strong>r verhaften wür<strong>de</strong>. Nach <strong>de</strong>m<br />

Aufstand in Ungarn wur<strong>de</strong> die Lage mit je<strong>de</strong>m Monat schwieriger. Chruschtschow kündigte<br />

einen neuen Siebenjahresplan an „zur Ausrottung aller Überreste <strong>de</strong>s Aberglaubens". Kirchen<br />

wur<strong>de</strong>n geschlossen o<strong>de</strong>r in kommunistische Klubs, Museen o<strong>de</strong>r Getrei<strong>de</strong>speicher umgewan<strong>de</strong>lt.<br />

Solche, die in <strong>de</strong>n Parteizeitungen als „Schwindler im schwarzen Priesterrock" geschmäht<br />

wur<strong>de</strong>n, trieb man zu Tausen<strong>de</strong>n zusammen.<br />

Ich betete: „Herr, wenn du im <strong>Gefängnis</strong> Menschen kennst, <strong>de</strong>nen ich helfen, und Seelen,<br />

die ich retten kann, dann schicke mich dorthin zurück. Ich will es gerne tragen." Sabine zögerte<br />

manchmal, sagte aber dann „Amen". Zu dieser Zeit war sie irgendwie von <strong>de</strong>r inneren Freu<strong>de</strong><br />

erfüllt, die aus <strong>de</strong>m Wissen kam, dass wir Jesus bald auf eine noch vollkommenere Weise dienen<br />

wür<strong>de</strong>n.<br />

Am 15. Januar 1959 um ein Uhr nachts holten sie mich. Unsere kleine Mansar<strong>de</strong>nwohnung<br />

wur<strong>de</strong> während einer vierstündigen Haussuchung völlig auf <strong>de</strong>n Kopf gestellt. Mein Sohn<br />

fand seinen Gürtel hinter einem abgerückten Schrank. „Und da sagt man, dass die Geheimpolizei<br />

zu nichts nütze sei", bemerkte er. „Ich habe in <strong>de</strong>r ganzen Wohnung danach gesucht." Am nächsten<br />

Tag wur<strong>de</strong> er wegen seiner „Unverschämtheiten" von <strong>de</strong>r Abendschule verwiesen.<br />

Als ich abgeführt wur<strong>de</strong>, hob Sabine meine Bibel von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> auf. Auf einem kleinen<br />

Zettel hatte ich <strong>de</strong>n Satz aus <strong>de</strong>m Hebräerbrief (Kap. 11,35) notiert: „Durch Glauben... haben<br />

Frauen ihre Toten durch Auferstehung wie<strong>de</strong>rbekommen.“ Darunter hatte ich geschrieben: „Mit<br />

solch einer Frau bin ich verheiratet."<br />

„25 Jahre"<br />

Als nächstes brachte man mich zum Verhör ins Bukarester Uranus-<strong>Gefängnis</strong>. Ein Major<br />

<strong>de</strong>r Geheimpolizei bemühte sich, mich dazu zu bringen, die Namen <strong>de</strong>r „Konterrevolutionäre" zu<br />

nennen, die ich kannte.<br />

Ich sagte ihm, es sei mir eine Freu<strong>de</strong>, einige Konterrevolutionäre zu nennen, sowohl in<br />

Russland als auch im eigenen Land. Mehrere tausend von ihnen waren während <strong>de</strong>r dreißiger<br />

Jahre in <strong>de</strong>r Sowjetunion von Jagoda, <strong>de</strong>m damaligen Innenminister, getötet wor<strong>de</strong>n. Aber letzten<br />

En<strong>de</strong>s wur<strong>de</strong> Jagoda selbst als <strong>de</strong>r eigentliche Konterrevolutionär entlarvt. Anschließend<br />

wur<strong>de</strong>n unter seinem Nachfolger Berija Hun<strong>de</strong>rttausen<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Geheimpolizei in <strong>de</strong>n Tod getrieben,<br />

bis auch Berija erschossen wur<strong>de</strong>. Ich fügte dann noch hinzu, dass <strong>de</strong>r größte Feind <strong>de</strong>r<br />

Revolution <strong>de</strong>r Mör<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Million, Joseph Stalin, gewesen sei. Man habe ihn inzwischen aus<br />

seinem Grab am Roten Platz entfernt. Man solle also, meiner Meinung nach, lieber an an<strong>de</strong>ren<br />

Orten nach Konterrevolutionären suchen als in meiner kleinen Gemein<strong>de</strong>.<br />

Der Offizier befahl, man solle mich schlagen und in Einzelhaft bringen. Dort blieb ich<br />

bis zu meiner Gerichtsverhandlung. Es war eine zehn Minuten dauern<strong>de</strong> Wie<strong>de</strong>rholung meines<br />

Prozesses vor zehn Jahren und fand in einer Geheimsitzung statt. Diesmal waren meine Frau<br />

und mein Sohn anwesend, um die gegen mich erhobene Anklage zu hören.<br />

42


Später wartete ich in meiner Zelle auf <strong>de</strong>n Abtransport zum nächsten <strong>Gefängnis</strong>. Während<br />

ich <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren von Christus erzählte, kam ein Offizier herein und gab <strong>de</strong>n neuen Gerichtsbeschluss<br />

bekannt.<br />

Das Urteil war von zwanzig auf fünfundzwanzig Jahre erhöht wor<strong>de</strong>n. Ich dankte ihm<br />

und fuhr fort zu predigen.<br />

Christus wird wie<strong>de</strong>rkommen<br />

Außer mir befan<strong>de</strong>n sich in <strong>de</strong>m Transportwagen <strong>de</strong>r Geheimpolizei noch an<strong>de</strong>re Pfarrer,<br />

die gera<strong>de</strong> verurteilt wor<strong>de</strong>n waren. Nach kurzer Fahrt rollte <strong>de</strong>r Wagen eine steile Rampe hinunter<br />

und hielt. Ich wur<strong>de</strong> ganz verzagt, <strong>de</strong>nn ich wusste, dass ich mich wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m unterirdischen<br />

<strong>Gefängnis</strong> von Jilava befand. Wir hörten Rufe: „Heraus mit ihnen!" Und die Wagentüren<br />

schlugen auf.<br />

Eine Gruppe knüppelschwingen<strong>de</strong>r Wächter trieb uns unter Schlägen <strong>de</strong>n Gang entlang.<br />

Sie hatten gera<strong>de</strong> getrunken und brachen beim Anblick <strong>de</strong>r Priester in ein Freu<strong>de</strong>ngeheul aus.<br />

Die graue, schmutzige <strong>Gefängnis</strong>kluft wur<strong>de</strong> uns vor die Füße geworfen. Solchen, die beim Umziehen<br />

etwas zu langsam waren, wur<strong>de</strong>n die Klei<strong>de</strong>r vom Leibe gerissen. Unter schallen<strong>de</strong>m Gelächter<br />

wur<strong>de</strong>n alle Bärte abgeschnitten, die Köpfe wur<strong>de</strong>n uns von groben Hän<strong>de</strong>n rasiert. Blutend<br />

und halbnackt trieb man uns in einer großen Zelle zusammen.<br />

In <strong>de</strong>r Februarkälte saßen wir dicht zusammengedrängt auf <strong>de</strong>m Steinfußbo<strong>de</strong>n. Bald darauf<br />

torkelte ein Wächter herein und grölte: „Alle Priester raus!" Draußen hinter <strong>de</strong>r Tür hörte<br />

man unterdrücktes Gelächter und Schnaufen.<br />

Wir marschierten im Gänsemarsch heraus und mussten wie<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>n Knüppelschlägen<br />

Spießruten laufen. Wir versuchten, unsere Köpfe so gut es ging mit <strong>de</strong>n Armen zu schützen.<br />

Wer hinfiel, wur<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>rben Stiefeln getreten und angespieen.<br />

Eine halbe Stun<strong>de</strong> später wur<strong>de</strong>n die Priester nochmals herausgerufen, doch keiner rührte<br />

sich. Die Wächter stürmten in die Zelle hinein und schlugen blindlings auf uns ein.<br />

Ich bemühte mich um meine nächsten Nachbarn. Einer von ihnen hatte einige Zähne verloren,<br />

und seine Lippe war arg aufgeschlagen. Während ich ihm das Blut aus <strong>de</strong>m Gesicht wischte,<br />

sagte er: „Ich bin <strong>de</strong>r Archimandrit Cristescu."<br />

Wir hatten uns vor Jahren kennengelernt. Ich hatte damals auf eine Audienz beim orthodoxen<br />

Patriarchen gewartet. Miron Cristescu arbeitete in <strong>de</strong>ssen Büro, und ich erzählte ihm von<br />

unseren Nöten. Er legte mir die Hän<strong>de</strong> auf die Schultern und sagte: „Bru<strong>de</strong>r, Christus wird wie<strong>de</strong>rkommen,<br />

darauf hoffen wir." So etwas sollte ein Mann Gottes oft sagen, und doch kommt es<br />

nur selten vor. Ich hatte ihn nicht vergessen, aber kahlköpfig, das Gesicht mit Blut und Schmutz<br />

verschmiert, war er nicht wie<strong>de</strong>rzuerkennen.<br />

Stun<strong>de</strong>nlang saßen wir da und froren. Miron Christescu erzählte uns, wie er und noch<br />

an<strong>de</strong>re Männer um <strong>de</strong>n Patriarchen versucht hatten zu verhin<strong>de</strong>rn, dass die Kirche in Werkzeug<br />

<strong>de</strong>s Staates wur<strong>de</strong>. Sie rechneten damit, dass sie an das bessere Ich <strong>de</strong>s Patriarchen appellieren<br />

<strong>könnten</strong>. Aber Gheorhiu-Dej hatte eine gute Wahl getroffen. Justinian wur<strong>de</strong> auf einen Besuch<br />

nach Moskau geschickt, wo man ihm noch mehr <strong>de</strong>n Kopf verdrehte. Er versetzte <strong>de</strong>n Katholiken,<br />

<strong>de</strong>n Unierten und allen innerhalb seiner Her<strong>de</strong>, die nicht mitmachen wollten, Schlag auf<br />

Schlag.<br />

„Hier bin ich also, wie auch die übrigen", sagte <strong>de</strong>r Archimandrit Cristescu. „Es war ein<br />

Fehler von mir, etwas erreichen zu wollen. Ich hätte von Anfang an klaren Wi<strong>de</strong>rstand leisten<br />

sollen."<br />

„Lassen Sie sich von solchen Gedanken nicht zu sehr traurig machen", sagte ich.<br />

Er blickte mich mit seinen guten Augen an und sagte: „Bru<strong>de</strong>r Wurmbrand, ich kenne nur<br />

eine Traurigkeit, nämlich die, dass ich kein Heiliger bin."<br />

Von einer Kanzel herunter wäre es nur eine schöne Phrase gewesen, aber in dieser<br />

schrecklichen Zelle und nach <strong>de</strong>n grausamen Schlägen gesprochen offenbarten diese Worte seine<br />

wahre innere Größe.<br />

43


Professor Popp<br />

Als ein neuer Trupp Häftlinge eingeliefert wur<strong>de</strong>, erkannte ich unter ihnen zu meinem Erschrecken<br />

Professor Popp. Er sah krank aus und bewegte sich wie ein alter Mann. Nach <strong>de</strong>r Amnestie<br />

von 1956 waren wir uns nicht mehr begegnet, und auch meine Briefe an ihn waren unbeantwortete<br />

geblieben. An jenem Abend erklärte mir Popp <strong>de</strong>n Grund dafür.<br />

Wie viele an<strong>de</strong>re entlassene Gefangene hatte er sich in die Jagd nach Vergnügungen gestürzt.<br />

„Ich war wie ausgehungert!" erzählte er. „Ich hatte Angst, mein Leben wäre schon vorbei.<br />

Ich musste mir selbst beweisen, dass ich mich noch freuen konnte. Ich verschleu<strong>de</strong>rte mein<br />

Geld, trank zu viel und verließ meine Frau wegen einer jüngeren. Dann tat es mir leid, ich hatte<br />

nicht vergessen, was ich als Christ gelobt hatte. Ich wollte Sie aufsuchen, aber Sie waren weit<br />

weg. So erzählte ich alles einem an<strong>de</strong>ren Pfarrer und sagte, <strong>de</strong>r Kommunismus sei schuld daran,<br />

dass unser Land zugrun<strong>de</strong> gehe. Er hörte mich an - dann <strong>de</strong>nunzierte er mich."<br />

Popp war erneut zu zwölf Jahren <strong>Gefängnis</strong> verurteilt wor<strong>de</strong>n. Sein erster <strong>Gefängnis</strong>aufenthalt<br />

hatte all seine innere Kraft und Güte ans Licht gebracht. Er war damals wie ein Seevogel,<br />

<strong>de</strong>r gegen <strong>de</strong>n Wind am höchsten steigt, und <strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r heruntergeht, wenn <strong>de</strong>r Wind sich legt.<br />

Aber jetzt war sein Wille schwach. Ich versuchte, ihn zu Gott zurückzubringen, doch das Leben<br />

erschien ihm völlig sinnlos.<br />

Er erzählte, dass er bald nach seiner Verurteilung von seinem „Staatsbegräbnis" unterrichtet<br />

wor<strong>de</strong>n sei. Dies war <strong>de</strong>r neue Schlager im Leben <strong>de</strong>r Volksrepublik: <strong>Wenn</strong> ein Konterevolutionär<br />

ins <strong>Gefängnis</strong> kam, rief ein Parteifunktionär seine Kollegen, Freun<strong>de</strong> und Familienangehörige<br />

zusammen. Der Funktionär verkün<strong>de</strong>te dann <strong>de</strong>n Versammelten: „Genossen, dieser<br />

Mann ist tot für immer und für alle. Wir sind hier, um sein An<strong>de</strong>nken zu begraben." Seine Vergehen<br />

gegen <strong>de</strong>n Staat mussten eins nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren von <strong>de</strong>n „Trauern<strong>de</strong>n" angeprangert wer<strong>de</strong>n.<br />

Popps Tochter, die Witwe war, machte auch mit. Hätte sie sich geweigert, so hätte sie vielleicht<br />

ihre Arbeit verloren, und sie war Mutter von drei kleinen Kin<strong>de</strong>rn.<br />

Am zweiten Tag wur<strong>de</strong> Popp mir zur Arbeit zugeteilt. Wir mussten <strong>de</strong>n Fußbo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

großen Zelle von einem En<strong>de</strong> bis zum an<strong>de</strong>rn schrubben. Wir waren fast fertig, als <strong>de</strong>r Häftling,<br />

<strong>de</strong>n die Wächter zum Stubenältesten ernannt hatten, auf uns zukam und mit <strong>de</strong>m Fuß <strong>de</strong>n Eimer<br />

mit <strong>de</strong>m schmutzigen Putzwasser umstieß. „Jetzt fangt noch einmal von vorne an!" sagte er.<br />

Schließlich kam ein Wächter zur Inspektion. Er packte <strong>de</strong>n Stubenältesten und drückte sein Gesicht<br />

nach unten, wo etwas Schmutz war, <strong>de</strong>n er mit seinen eigenen Stiefeln hereingebracht hatte.<br />

„Dreck!" brüllte er.<br />

Wir schrubbten also noch eine Stun<strong>de</strong> lang unter <strong>de</strong>n Fußtritten und Beschimpfungen <strong>de</strong>s<br />

Stubenältesten. Ein Unterdrückter ist <strong>de</strong>r schlimmste Unterdrücker.<br />

Nach diesem Erlebnis zitterte Popp vor Erschöpfung.<br />

Zur Ablenkung machte ich ihn beim Essen mit Pastor Gaston bekannt. Ein Ausdruck <strong>de</strong>s<br />

Entsetzens ging über Gastons Gesicht. Popp wandte sich einfach ab und schloss die Augen.<br />

Im Laufe <strong>de</strong>r Zeit zog sich <strong>de</strong>r Professor immer mehr in sich selbst zurück. Wir mussten<br />

ihn zwingen zu essen und ihm je<strong>de</strong>n Morgen helfen, sich fertig zu machen. Er lachte nicht, weinte<br />

nicht und beteiligte sich in keiner Weise am Leben <strong>de</strong>r Zelleninsassen. Aber eines Morgens,<br />

gereizt von einer spöttischen Bemerkung unseres Stubenältesten, sprang er diesem an die Kehle<br />

und würgte ihn wie ein Irrsinniger, bis zwei Wächter ihn mit Knüppeln nie<strong>de</strong>rschlugen. Bewusstlos<br />

brachte man ihn zur Krankenstation. Am nächsten Tag hörten wir, dass er tot sei.<br />

Leben nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong><br />

Dieser tragische Vorfall machte uns alle sehr traurig. Während einige nach orthodoxer<br />

Sitte für Popps Seele beteten, lag Gaston schweigend auf seiner Pritsche. Als ich anfing, vom<br />

ewigen Leben zu <strong>sprechen</strong>, stand er auf und ging woan<strong>de</strong>rs hin.<br />

An diesem Abend sprach man in <strong>de</strong>r Zelle über das Leben nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>. Man fragte<br />

Gaston, wie er über diese Fragen <strong>de</strong>nke.<br />

„Fortschrittliche Unitarier glauben nicht an ein Leben nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>", sagte er.<br />

44


„Aber wir <strong>sprechen</strong> doch jetzt nicht mit <strong>de</strong>n fortschrittlichen Unitariern", erwi<strong>de</strong>rte ich,<br />

„wir <strong>sprechen</strong> mit Ihnen. Wir wollen <strong>de</strong>n Mut haben, wir selbst zu sein, nicht immer wir Katholiken,<br />

wir Protestanten, wir Rumänen...!"<br />

„Also gut, ich persönlich glaube nicht daran."<br />

„<strong>Wenn</strong> Sie von einer persönlichen Meinung <strong>sprechen</strong>", sagte ich, „so ist das <strong>de</strong>r erste<br />

Schritt zum Glauben, <strong>de</strong>nn die Persönlichkeit ist die größte Gabe Gottes an die Menschen, das<br />

einzige, das bleibt, wenn <strong>de</strong>r Körper <strong>de</strong>n Verän<strong>de</strong>rungen unterworfen wird. Die Sauerstoff- und<br />

Wasserstoffatome in meinem und in Ihrem Köper sind gleich. Meine und Ihre Körpertemperatur<br />

kann mit <strong>de</strong>m gleichen Gerät gemessen wer<strong>de</strong>n. Alle körperlichen Energien, chemische wie<br />

elektrische, sind bei <strong>de</strong>m einen Menschen genauso wie bei <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Aber meine Gedanken,<br />

meine Gefühle, mein Wille, sind allein mir eigen. Physische Energie ist wie eine Poker-<br />

Spielmarke ohne Prägung. Geistige Energie gleicht aber einer Münze, die das Bild <strong>de</strong>s Königs<br />

trägt. Aus welchem Grun<strong>de</strong> sollte sie das Schicksal <strong>de</strong>s Köpers teilen?"<br />

Florescu, <strong>de</strong>r sich einen Hocker herbeigeholt hatte, stieß einen unanständigen Fluch aus<br />

und sagte: „Ich glaube an das, was ich sehen, schmecken und fühlen kann. Wir alle sind nur Materie<br />

wie dieses Stück Holz, auf <strong>de</strong>m ich sitze. <strong>Wenn</strong> man tot ist, dann ist eben Feierabend!"<br />

Ich ging zu ihm hinüber und trat gegen <strong>de</strong>n Hocker, auf <strong>de</strong>m er saß.<br />

Der Hocker flog in eine an<strong>de</strong>re Ecke und Florescu schlug mit einem dumpfen Geräusch<br />

auf <strong>de</strong>m Fußbo<strong>de</strong>n auf. Voller Wut rappelte er sich wie<strong>de</strong>r auf und wollte auf mich losgehen,<br />

aber die an<strong>de</strong>rn hielten ihn zurück. „Was soll <strong>de</strong>nn das?" stieß er wütend hervor.<br />

„Du hast doch behauptet, du seiest genauso Materie wie <strong>de</strong>r Hocker", erwi<strong>de</strong>rte ich sanft,<br />

„<strong>de</strong>r Hocker aber hat sich mit keinem einzigen Wort beklagt."<br />

Es gab Gelächter, in das sogar Gaston einstimmte.<br />

„Verzeih mir, Florescu“, sagte ich, „ich wollte nur beweisen, dass Materie we<strong>de</strong>r auf<br />

Liebe noch auf Hass reagiert und sich damit wesentlich von uns unterschei<strong>de</strong>t."<br />

Florescu schmollte eine Weile, unterbrach uns aber dann aufs Neue. „Ich könnte vielleicht<br />

glauben, wenn die Toten einmal zurückkämen und mit uns re<strong>de</strong>ten."<br />

„Ich bin gewiss, dass Menschen schon mit <strong>de</strong>n Toten Kontakt gehabt haben", antwortete<br />

ich. „Große Wissenschaftler, von Newton bis zu Sir Oliver Lodge, haben an <strong>de</strong>n Spiritismus<br />

geglaubt. Die Bibel beschreibt, wie <strong>de</strong>r König Saul <strong>de</strong>n toten Samuel heraufbeschwören lässt.<br />

Die Schrift verbietet es zwar, sagt aber, dass es möglich sei."<br />

Der Lärm wegen <strong>de</strong>s Hockers hatte die an<strong>de</strong>ren aufhorchen lassen, und ich fing an, ernstlich<br />

über das Leben nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> zu predigen. Für uns war es keine aka<strong>de</strong>mische Frage, son<strong>de</strong>rn<br />

ein Thema von brennen<strong>de</strong>m, unmittelbarem Interesse. In Gherla starben ja je<strong>de</strong>n Tag Menschen.<br />

„<strong>Wenn</strong> Gott uns nur für dieses Leben geschaffen hätte", sagte ich, „wür<strong>de</strong> er uns zuerst<br />

das Alter und seine Weisheit gegeben haben, erst dann die Jugend mit ihrer Vitalität. Es scheint<br />

sinnlos, Erfahrung und Wissen zu sammeln, um sie mit ins Grab zu nehmen. Luther vergleicht<br />

unser Leben auf Er<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Leben eines noch ungeborenen Kin<strong>de</strong>s. Er sagt: <strong>Wenn</strong> ein Embryo<br />

im Mutterleib Überlegungen anstellen könnte, wür<strong>de</strong> er sich wun<strong>de</strong>rn, weshalb ihm Hän<strong>de</strong><br />

und Füße wachsen. Er wür<strong>de</strong> gewiss zu <strong>de</strong>r Überzeugung kommen, dass es auch eine zukünftige<br />

Welt geben müsse, in <strong>de</strong>r er spielen, laufen und arbeiten wür<strong>de</strong>. Wir wer<strong>de</strong>n genauso wie <strong>de</strong>r<br />

Embryo für eine zukünftige Lebensführung vorbereitet."<br />

Ich vergaß die Wächter und erhob meine Stimme, um mit meiner Predigt auch die Häftlinge<br />

zu erreichen, welche auf <strong>de</strong>n Pritschen lagen, die bis zur Decke aufeinan<strong>de</strong>r gestockt waren.<br />

In <strong>de</strong>m Halbdunkel, das die über uns hängen<strong>de</strong> schwache Birne noch trübsinniger machte,<br />

waren viele Augen auf mich gerichtet.<br />

Ich sprach weiter: „Angenommen, ich möchte beweisen, dass eine Halbliterflasche fünf<br />

Liter Milch fassen kann. Ihr wür<strong>de</strong>t mich für verrückt erklären. Aber in meinem Kopf kann ich<br />

gleichzeitig die Gedanken an ein Ereignis wie die Sintflut haben, die vor Jahrtausen<strong>de</strong>n, stattgefun<strong>de</strong>n<br />

hat. Ich kann mir meine Frau und meinen Sohn in <strong>de</strong>m Zimmer, in <strong>de</strong>m ich sie verlassen<br />

45


habe, vorstellen, ich kann an Gott und an <strong>de</strong>n Teufel <strong>de</strong>nken. Wie kommt es nur, dass <strong>de</strong>r enge<br />

Raum meines Kopfes sowohl die Dinge <strong>de</strong>s täglichen Lebens als auch das Unendliche und Ewige<br />

umfassen kann. Das Unermessliche kann nur von etwas erfasst wer<strong>de</strong>n, das auch unermesslich ist<br />

- das ist <strong>de</strong>r Geist. <strong>Wenn</strong> <strong>de</strong>in Geist, <strong>de</strong>n nichts einschränken kann, alles in Raum und Zeit erreichen<br />

kann, wie kannst du dann glauben, dass er das Schicksal dieser Hülle, unseres Leibes, teilen<br />

wird?"<br />

Während ich über diese Dinge sprach, herrschte eine Stille, wie man sie in einer Kirche<br />

nie vorfin<strong>de</strong>t. Keiner gähnte, keiner war unruhig, niemand ließ seine Gedanken abschweifen.<br />

Die Häftlinge in schmutziger Kleidung, hohlwangig und großäugig vor Hunger, nahmen diese<br />

Botschaft vom Leben nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> auf, wie die durstige Er<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Regen empfängt.<br />

Der Priester ohne Hoffnung<br />

Am nächsten Morgen wachte ich vor <strong>de</strong>m allgemeinen Wecken auf und sah, dass Gastons<br />

Pritsche leer war. Dann erkannte ich die Umrisse seiner schmächtigen Gestalt am Fenster.<br />

Meine Decke über die Schulter gelegt, gesellte ich mich zu ihm. Wir sahen durch die Gitter hinunter.<br />

Der Morgen graute. Im Hof war Nebel, doch wir konnten eine Reihe von schwarzen Särgen<br />

sehen, die in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Haupteinfahrt stan<strong>de</strong>n. Darin lagen die Männer, die innerhalb <strong>de</strong>r<br />

letzten 24 Stun<strong>de</strong>n gestorben waren. In einem davon musste Popp sein. Das war in Gherla ein<br />

alltäglicher Anblick, und ich wun<strong>de</strong>rte mich, dass Gaston gera<strong>de</strong> an diesem Tag aufgestan<strong>de</strong>n<br />

war, um zuzusehen. Ich versuchte, ihn zu überre<strong>de</strong>n, wie<strong>de</strong>r ins Bett zu gehen, aber er rührte<br />

sich nicht von <strong>de</strong>r Stelle.<br />

Vor unseren Augen überquerte ein Wächter <strong>de</strong>n Hof und hob die Deckel von <strong>de</strong>n Särgen<br />

ab, so dass die Leichen sichtbar wur<strong>de</strong>n. Hinter ihm kam eine ungeschlachte Gestalt mit einem<br />

Spieß in <strong>de</strong>r Hand. Sie holte damit aus und stach <strong>de</strong>r Reihe nach in je<strong>de</strong>n Leichnam hinein.<br />

„Gott gebe ihren Seelen Frie<strong>de</strong>n", sagte ich.<br />

Die Wächter wollten sich vergewissern, dass keiner mehr am Leben war und kein möglicher<br />

Ausreißer <strong>de</strong>n Platz <strong>de</strong>r Leichen eingenommen hatte. Gaston zitterte. Ich legte ihm die Decke<br />

um, aber er blieb am Fenster stehen und sah zu, wie die Särge wie<strong>de</strong>r geschlossen und auf<br />

einen Lastwagen gela<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie zum Rozsa-Sandor-Friedhof bringen sollte.<br />

Danach saß Gaston tagelang da und grübelte. Was in ihm auch vorgehen mochte, er<br />

wollte es uns nicht preisgeben. Alle meine Versuche, ihm in seinem Leid zu helfen, wies er<br />

schroff zurück. An <strong>de</strong>n Aben<strong>de</strong>n hörte er zu, wenn die an<strong>de</strong>ren abwechseln Geschichten erzählten,<br />

aber nur einmal gab er selbst etwas zum Besten.<br />

Die Häftlinge warfen sich gegenseitig Blicke zu. Gaston war schon so lange schweigsam<br />

und mürrisch gewesen, dass sie nicht wussten, was jetzt kommen wür<strong>de</strong>.<br />

Er erzählt: „Einmal, gera<strong>de</strong> vor meiner Verhaftung, saß ich in einem Restaurant. Ich<br />

dachte, dass ein gutes Essen meine Stimmung heben wür<strong>de</strong>. Ich hing meinen Mantel in die Nähe<br />

eines Ecktisches auf und ließ mir alles servieren, worauf ich Appetit hatte. Ein an<strong>de</strong>rer Gast sah<br />

mich besorgt an und stand auf, um mit mir zu <strong>sprechen</strong>. Aber ich winkte ab. , Bitte", sagte ich,<br />

wir alle haben unsere Sorgen, ich möchte in Frie<strong>de</strong>n zu Mittag essen.' Das Essen war gut. Ich<br />

zün<strong>de</strong>te eine Zigarre an und dachte, ich müsste mich eigentlich für mein unfreundliches Verhalten<br />

entschuldigen. Ich bat <strong>de</strong>n Mann um Verzeihung und meinte, vielleicht möchte er mir jetzt<br />

seine Nöte erzählen, Zu spät', sagte er, <strong>de</strong>r Ofen hat schon ein Loch in Ihren Mantel gebrannt!'"<br />

Gastons Geschichte erntete einiges Gelächter, aber er selbst ging zurück zu seiner Pritsche<br />

und legte sich im Dunkeln nie<strong>de</strong>r. Früher hatte Gaston Stun<strong>de</strong>n damit zugebracht, uns zu<br />

erzählen; dass er Christus als <strong>de</strong>n größten Lehrer, nicht aber als Gott verehrte. Er nannte uns die<br />

Stellen, welche die Unitarier in <strong>de</strong>r Bibel für wahr und welche sie für unwahr hielten.<br />

Ihre Umwertung ließ nicht mehr viel von <strong>de</strong>m übrig, was einem Menschen Halt geben<br />

konnte. Auch über das ewige Leben machten sie sich nicht übermäßig viel Gedanken, sagte er<br />

seinerzeit. Aber nun fing er wie<strong>de</strong>r an, über Professor Popp zu <strong>sprechen</strong>. Welchen Beweis gab<br />

es, das nach <strong>de</strong>r grauenvollen Szene, die wir damals in <strong>de</strong>r Morgendämmerung zusammen beobachtet<br />

hatten, noch irgen<strong>de</strong>twas da war? Er meinte, ein männliches Wesen brauche vier Dinge,<br />

46


um leben zu können: Nahrung, Wärme, Schlaf und eine Gefährtin. „Und auf die letzte kann man<br />

verzichten", fügte Gaston hinzu. „Meine Frau hat mich verlassen und lebt mit einem an<strong>de</strong>ren<br />

Mann. Unsere bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r sind in einem staatlichen Heim."<br />

„Das glauben Sie doch selbst nicht", sagte ich. „Wir haben hier von diesen Dingen das<br />

äußerste Minimum, und <strong>de</strong>nnoch können sie je<strong>de</strong>n Tag die Männer lachen und singen hören. Ihr<br />

Körper hat nichts, worüber Sie singen <strong>könnten</strong>. Etwas an<strong>de</strong>res singt in Ihnen. Sie glauben doch<br />

an die Seele, nicht wahr? Das, was die alten Ägypter, Kaa’, die Griechen, Psyche’ und die Hebräer,<br />

‘Neschama’ nennen. O<strong>de</strong>r weshalb sollten Sie sich sonst um die Erziehung Ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />

Sorge machen? <strong>Wenn</strong> für Sie nach einigen Jahrzehnten doch alles vorüber sein wird, welchen<br />

Sinn haben Religion. Moral o<strong>de</strong>r Anstand dann noch für uns?"<br />

Gaston schwieg.<br />

„Es ist zu spät", sagte er, „für mich gibt es keinen Kurswechsel mehr. Mein Leben ist<br />

ausgebrannt wie mein Mantel damals im Restaurant. Leute haben versucht, mich rechtzeitig zu<br />

warnen, doch jetzt ist nichts mehr zu machen. Ich habe nichts mehr, wofür es sich lohnt zu leben.<br />

Das einzige, was mich noch vom Selbstmord zurückhält, ist meine Angst vor <strong>de</strong>m Sterben.<br />

Ich hatte vor einiger Zeit eine Glasscherbe und wollte mir damit die Pulsa<strong>de</strong>rn durchschnei<strong>de</strong>n.<br />

Aber ich war zu feige dazu."<br />

Ich sagte: „Selbstmord beweist nichts an<strong>de</strong>res, als dass die Seele stark und unabhängig<br />

genug ist, um <strong>de</strong>n Körper aus ihren eigenen Grün<strong>de</strong>n zu töten. Sie wür<strong>de</strong>n vielleicht genau das<br />

gleiche empfin<strong>de</strong>n, wenn Sie frei wären und alles hätten, was Sie sich wünschen. Das mit Ihrer<br />

Frau und Ihren Kin<strong>de</strong>rn ist zwar sehr schwer, aber ich habe das Gefühl, dass es noch etwas an<strong>de</strong>res<br />

gibt, was Ihnen Not macht, etwas, was Sie noch keinem Menschen gesagt haben."<br />

Ich fuhr fort: „Ich habe einen Gefangenen gekannt, <strong>de</strong>r bewusst hungerte, um seinem<br />

Sohn, <strong>de</strong>r mit ihm zusammen im <strong>Gefängnis</strong> war, Brot geben zu können. Er starb schließlich an<br />

Unterernährung. Das zeigt, wie stark die Seele ist. Ein Mann wie Kreuger, <strong>de</strong>r schwedische<br />

Streichholzmillionär, besaß alles, was <strong>de</strong>r Körper nur brauchen konnte. Er beging Selbstmord<br />

und hinterließ einige Zeilen, die von, Melancholie’ sprachen. Er besaß noch etwas an<strong>de</strong>res als<br />

seinen Körper: seine Seele, um die er sich nie gekümmert hatte. Aber Sie haben die inneren<br />

Kraftquellen. Sie haben <strong>de</strong>n christlichen Glauben, <strong>de</strong>r Ihnen helfen kann. Sprechen Sie mit Jesus,<br />

er wird Ihnen Trost und Kraft geben."<br />

Gaston seufzte im Dunkeln. „<strong>Wenn</strong> Sie so re<strong>de</strong>n, hat man das Gefühl, er lebe und sei<br />

ganz nah bei "uns."<br />

„Aber gewiss lebt er", sagte ich. „Glauben Sie <strong>de</strong>nn nicht einmal an die Auferstehung?<br />

Morgen will ich sie Ihnen beweisen."<br />

„Sie sind aber hartnäckig", sagte er, „schlimmer als ein Kommunist."<br />

Die Auferstehung Jesu<br />

Als die Häftlinge sich am nächsten Abend miteinan<strong>de</strong>r unterhielten, erinnerte ich sie,<br />

dass Ostern nahe bevorstand. Es war mein zweites in Gherla.<br />

„<strong>Wenn</strong> wir hartgekochte Eier hätten, <strong>könnten</strong> wir sie rot färben und damit nach <strong>de</strong>r orthodoxen<br />

Sitte anstoßen", sagte ich. Ich streckte die Hand aus, als ob ich ein Ei hinhielte, und sagte:<br />

„Christus ist auferstan<strong>de</strong>n!"<br />

Der alte Vasilescu, einer <strong>de</strong>r Bauern, stieß meine Faust mit <strong>de</strong>r seinen an und rief: „Er ist<br />

wahrhaftig auferstan<strong>de</strong>n!" Die Stimmen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wie<strong>de</strong>rholten im Chor <strong>de</strong>n traditionellen<br />

Antwortgruß.<br />

„Es ist seltsam, wenn man so etwas sagt", meinte ich, mich <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zuwen<strong>de</strong>nd. „Es<br />

steht fest, dass Christus am Kreuz starb. Welchen Beweis haben wir, dass er auferstan<strong>de</strong>n ist?"<br />

Alle schwiegen. Vasilescu zupfte an seinem buschigen Schnurrbart „Ich bin ein einfacher Bauer,<br />

aber ich glaube es, weil mein Vater und meine Mutter, <strong>de</strong>r Vater meines Vaters und alle unsere<br />

Priester und Lehrer es mir so beigebracht haben. Ich glaube es, weil ich sehe, wie die Natur je<strong>de</strong>s<br />

Jahr zu neuem Leen erwacht. <strong>Wenn</strong> die Er<strong>de</strong> mit Schnee be<strong>de</strong>ckt ist, kann man beim besten<br />

Willen nicht glauben, dass im Frühjahr die grüne Saat auf <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn stehen wird. Aber die<br />

47


Bäume sprießen, die Luft wird warm und das Gras wird grün. <strong>Wenn</strong> die Er<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r lebendig<br />

wer<strong>de</strong>n kann, so kann es Christus auch."<br />

„Eine gute Antwort", sagte Miron. „Aber in einer Welt, wo je<strong>de</strong> christliche Behauptung<br />

angefochten wird, ist das nicht genug", sagte Gaston.<br />

„Das meine ich auch, wir brauchen die stärksten Beweisgrün<strong>de</strong>", sagte ich, „und sie sind<br />

da. Mommsen, <strong>de</strong>r große Historiker <strong>de</strong>s römischen Reiches, nennt die Auferstehung das am besten<br />

belegte Ereignis in <strong>de</strong>r römischen Geschichte. Glaubt ihr, dass die klassischen Historiker sich<br />

immer an die Wahrheit gehalten haben?"<br />

Niemand äußerte eine Meinung.<br />

„Nun, sie gehörten gewöhnlich zum Hofe eines Königs und waren Männer, die ihm<br />

schmeichelten und alles lobten um <strong>de</strong>s Gewinns willen, o<strong>de</strong>r um ihren mächtigen Gönnern zu<br />

gefallen. Wie viel mehr sollten wir Paulus, Petrus, Matthäus und Andreas Glauben schenken,<br />

<strong>de</strong>n Aposteln, die für die Verbreitung <strong>de</strong>r Wahrheit in <strong>de</strong>n Märtyrertod gegangen sind!"<br />

Ich fragte Major Braileanu. „Als Sie <strong>de</strong>m Kriegsgericht vorstan<strong>de</strong>n, haben Sie da beim<br />

Urteil <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>s Zeugen genauso berücksichtigt wie seine Aussage?"<br />

„Natürlich", sagte er, „bei sich wi<strong>de</strong>r<strong>sprechen</strong><strong>de</strong>n Zeugenaussagen ist es von höchster<br />

Wichtigkeit."<br />

„Von dieser Sicht her müssen wir <strong>de</strong>n Aposteln Vertrauen schenken, <strong>de</strong>nn sie verbrachten<br />

ihr Leben damit, dass sie Gutes taten und Gutes predigten."<br />

„Es sind die Wun<strong>de</strong>r wie die Speisung <strong>de</strong>r 5000 mit fünf Fischen, die meinen Glauben<br />

überfor<strong>de</strong>rn", sagte <strong>de</strong>r Major.<br />

„Was ist ein Wun<strong>de</strong>r?" fragte ich. „Afrikamissionare erzählen, man habe sie zuerst als<br />

Wun<strong>de</strong>rtäter empfangen. Der Primitive ist verblüfft, wenn er sieht, wie ein Streichholz angezün<strong>de</strong>t<br />

wird. Pearl S. Bück erzählte <strong>de</strong>n Frauen in einem entlegenen Teil Chinas, dass in ihrem eigenen<br />

Land die Wagen ohne Pfer<strong>de</strong> führen. , Welch eine Lügnerin', flüsterten sie. Ein Wun<strong>de</strong>r ist<br />

also etwas, was ein höherstehen<strong>de</strong>s Wesen tun kann, und Jesus war ein Mann mit außergewöhnlichen<br />

Fähigkeiten."<br />

Gaston wandte ein: „Ein primitiver Mensch kann solche Erklärung vielleicht akzeptieren,<br />

für einen Rationalisten ist und bleibt es schwer."<br />

„Aber es ist vernünftig, zu glauben, dass Christus von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n ist, <strong>de</strong>nn<br />

sonst müssen wir das Unmögliche annehmen, nämlich, dass die Kirche, die 2000 Jahre Angriffe<br />

von außen und Korruption von innen überlebt hat, auf einer Lüge aufgebaut ist. Be<strong>de</strong>nkt nur,<br />

dass Jesus zu seinen Lebezeiten we<strong>de</strong>r eine Kirche organisiert noch Bücher geschrieben hat. Er<br />

hat eine Handvoll mittelloser Nachfolger gehabt, von <strong>de</strong>nen einer ihn für Geld verriet und die<br />

übrigen entwe<strong>de</strong>r flohen o<strong>de</strong>r ihn verleugneten, als es hart auf hart ging. Er starb am Kreuz mit<br />

<strong>de</strong>m Schrei, Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen'. Sein Grab wur<strong>de</strong> mit einem<br />

riesigen Stein verschlossen."<br />

„Das war kein beson<strong>de</strong>rs hoffnungsvoller Anfang", sage Braileanu.<br />

„Womit können Sie es dann also erklären, dass daraus eine Weltreligion entstan<strong>de</strong>n ist?"<br />

„Die Jünger kamen wie<strong>de</strong>r zusammen", sagte Gaston unentschie<strong>de</strong>n.<br />

„Aber was hat ihnen die Kraft gegeben, zu predigen und für ihren Glauben zu sterben?"<br />

„Ich nehme an, dass sie nach einiger Zeit ihre Angst überwun<strong>de</strong>n haben."<br />

„Genau, und sie berichten auch, wie sie es fertiggebracht haben: Am dritten Tag erschien<br />

ihnen nämlich Jesus persönlich und machte ihnen Mut. Petrus, <strong>de</strong>r sich vor einer Magd gefürchtet<br />

hatte, stand da und erklärte vor ganz Jerusalem, er und seine Glaubensbrü<strong>de</strong>r hätten Jesus gesehen<br />

und gesprochen, er sei tatsächlich auferstan<strong>de</strong>n. Petrus sagte, sie <strong>könnten</strong> ihn töten, ehe er<br />

dies wi<strong>de</strong>rriefe - was die Römer später ja auch taten.<br />

Ist es <strong>de</strong>nn vernünftig zu glauben, dass Petrus und die an<strong>de</strong>ren Jünger sich um eines Lügners<br />

willen kreuzigen ließen? Seine erste Predigt über die Auferstehung hielt Petrus 500 Meter<br />

von <strong>de</strong>m leeren Grab entfernt. Er wusste, dass diese Tatsache nicht wi<strong>de</strong>rlegt wer<strong>de</strong>n konnte, und<br />

keiner unter Jesu Fein<strong>de</strong>n hat es auch nur versucht. O<strong>de</strong>r warum kam Saulus von Tarsus so<br />

leicht zum Glauben, als Jesus ihm auf <strong>de</strong>r Straße nach Damaskus erschien und ihn zurechtwies?<br />

Saulus war doch zu <strong>de</strong>r Zeit die Geißel <strong>de</strong>r Christen", sagte ich.<br />

48


„Es war vielleicht eine Halluzination, <strong>de</strong>r seine Augen und Ohren erlegen waren", meinte<br />

Braileanu.<br />

„Paulus verstand etwas von diesen Dingen. Eine Erscheinung wäre für ihn noch lange<br />

kein Beweis gewesen. Seine Hingabe war <strong>de</strong>shalb so rasch und so vollständig, weil er als Mitglied<br />

<strong>de</strong>s hohen Rates um das große Geheimnis -nämlich, wusste dass das Grab leer war!"<br />

Während wir miteinan<strong>de</strong>r sprachen, saß Archimandrit Miron dabei und nähte sich einen<br />

Flicken auf die Hose. Er blickte Gaston mit seinen hell leuchten<strong>de</strong>n Augen an und sagte: „Vor<br />

Jahren bekam ich von meinem Bru<strong>de</strong>r eine Postkarte aus New York. Er war dort auf <strong>de</strong>r Spitze<br />

<strong>de</strong>s Empire-State-Building gewesen. Er hat nicht erst das Fundament untersucht, Pastor Gaston.<br />

Die Tatsache, dass das Gebäu<strong>de</strong> schon 30 Jahre alt war, lieferte ihm <strong>de</strong>n Beweis, dass die Fundamente<br />

in Ordnung waren. Das gleiche trifft auch auf die Kirche zu, die schon seit 2000 Jahren<br />

auf <strong>de</strong>m Grund <strong>de</strong>r Wahrheit besteht."<br />

Unsere Argumente beeindruckten Gaston. Sein Schmerz nahm etwas ab, und sein Glaube<br />

vertiefte sich. Der Wunsch, sich selbst zu töten, ließ im Laufe <strong>de</strong>r Wochen nach. Aber immer<br />

noch schien er die Last irgen<strong>de</strong>iner Schuld mit sich herumzutragen.<br />

Der Sommer brachte einen neuen Zustrom von Häftlingen mit sich. Wir wur<strong>de</strong>n in verschie<strong>de</strong>ne<br />

Zellen verteilt, und ich verlor ihn aus <strong>de</strong>n Augen.<br />

Der Sieg <strong>de</strong>r Liebe<br />

Monate vergingen. Ich predigte und arbeitete in einem Dutzend verschie<strong>de</strong>ner Zellen in<br />

Gherla. Oft wur<strong>de</strong> ich bestraft, und gera<strong>de</strong> eine Auspeitschung führte dazu, dass ich Gaston wie<strong>de</strong>rsah.<br />

Es ergab sich folgermaßen: Wir spielten in <strong>de</strong>r Zelle Schach mit Figuren aus Brot. Dorabantu,<br />

<strong>de</strong>r noch die Gänge durchstreifte, platzte unvermutet herein. „Ich dul<strong>de</strong> keine Glücksspiele!"<br />

brüllte er.<br />

Ich bemerkte, dass Schach ein Geschicklichkeits- und kein Glücksspiel sei.<br />

Der Kommandant warf sich in die Brust: „Ha, das ist ja lächerlich! Ob man Geschicklichkeit<br />

hat, ist auch Glückssache!"<br />

Zufrie<strong>de</strong>n mit seiner Antwort stolzierte er hinaus.<br />

Als er weg war, brachen die Häftlinge in Gelächter aus und fingen an, seine Stimme<br />

nachzuahmen.<br />

Die Tür wur<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r aufgerissen. Dorabantu hatte gelauscht. „Wurmbrand, raus!" An<strong>de</strong>re<br />

wur<strong>de</strong>n mit mir zusammen nach draußen gerufen.<br />

„Ihr könnt jetzt mit eurer Kehrseite lachen!" schrie <strong>de</strong>r Kommandant.<br />

Je<strong>de</strong>r von uns bekam 25 Peitschenhiebe und wur<strong>de</strong> in eine Isolierzelle verfrachtet. Dort<br />

fand ich Gaston vor, allein auf einer Pritsche mit <strong>de</strong>m Gesicht nach unten liegend. Auch er war<br />

geschlagen wor<strong>de</strong>n. Sein Rücken war eine einzige bluten<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong>. Wir legten ihm ein in Wasser<br />

getauchtes Hemd auf <strong>de</strong>n Rücken und versuchten so, die Schmerzen zu lin<strong>de</strong>rn. Als das<br />

Schlimmste vorbei war, suchte ich das offene Fleisch nach Holzsplittern ab. Sein Körper bebte<br />

wie im Fieber. Zuerst konnte er noch nicht viel <strong>sprechen</strong>, aber langsam erklärte er in abgebrochenen<br />

Sätzen, dass man ihn wegen Predigens bestraft hätte. Ein Häftling hatte ihn angezeigt.<br />

Dann sage er: „Ich möchte Ihnen etwas sagen..."<br />

„Sie dürfen jetzt nicht <strong>sprechen</strong>."<br />

„Jetzt o<strong>de</strong>r nie. Über Professor Popp - und <strong>de</strong>n Pfarrer <strong>de</strong>r ihn verraten hat..." Er stockte,<br />

seine Lippen zitterten.<br />

„Sie brauchen es mir nicht zu sagen", begann ich.<br />

„Ich konnte <strong>de</strong>m Druck nicht standhalten! Ich habe so gelitten. Als er starb..." Er fing an<br />

zu schluchzen. Wir beteten zusammen. Er sagte, er wür<strong>de</strong> sich selbst nie vergeben können.<br />

„Der Professor hat mir nicht vergeben; wie sollte es auch einer können?" sagte er.<br />

„Aber gewiss kann man das, auch Popp hätte Ihnen vergeben, wenn er alles gewusst hätte.<br />

Ich will Ihnen von einem Mann erzählen, <strong>de</strong>r viel schlimmer war als Sie. Es wird uns helfen,<br />

die Nacht durchzustehen. Es han<strong>de</strong>lt sich um <strong>de</strong>n Menschen, <strong>de</strong>r die ganze Familie meiner Frau<br />

49


hingemor<strong>de</strong>t hat. Meine Frau hat ihm vergeben, und er wur<strong>de</strong> einer unserer engsten Freun<strong>de</strong>. Es<br />

gibt nur zwei Männer, die meine Frau küsst: ihren Gatten und <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r ihre Familie ermor<strong>de</strong>t<br />

hat." Und ich erzählte Gaston, wie sich das zugetragen hatte.<br />

Als Rumänien auf Deutschlands Seite in <strong>de</strong>n Krieg eintrat, begann ein Pogrom, in <strong>de</strong>m<br />

viele Tausen<strong>de</strong> von Ju<strong>de</strong>n umgebracht und <strong>de</strong>portiert wur<strong>de</strong>n. Allein in Jassy wur<strong>de</strong>n elftausend<br />

an einem Tag nie<strong>de</strong>rgemetzelt.<br />

Meine Frau, die meinen christlichen Glauben teilt, ist auch jüdischer Herkunft. Wir wohnten<br />

in Bukarest, von wo keine Ju<strong>de</strong>n <strong>de</strong>portiert wur<strong>de</strong>n. Aber ihre Eltern, einer ihrer Brü<strong>de</strong>r, drei<br />

Schwestern und noch an<strong>de</strong>re Verwandte die in <strong>de</strong>r Bukowina (einer Landschaft <strong>de</strong>r Ostkarpaten)<br />

lebten, wur<strong>de</strong>n nach Transnistrien, einem noch wenig erschlossenen Grenzterritorium, das Rumänien<br />

von Russland erobert hatte, abtransportiert. Ju<strong>de</strong>n, die am En<strong>de</strong> dieser Reise nicht umgebracht<br />

wur<strong>de</strong>n, ließ man einfach verhungern. Dort starb Sabines Familie.<br />

Ich musste ihr diese Nachricht überbringen. Als sie sich wie<strong>de</strong>r gefasst hatte, sagte sie:<br />

„Ich will nicht weinen. Du hast ein Anrecht auf eine fröhliche Frau, Mihai auf eine fröhliche<br />

Mutter und unsere Gemein<strong>de</strong> auf eine Mutige Dienerin." Ich weiß nicht, ob sie im Stillen noch<br />

Tränen vergoss, ich je<strong>de</strong>nfalls habe von diesem Tage an Sabine nie wie<strong>de</strong>r weinen sehen.<br />

Einige Zeit danach erzählte mir unser Hauswirt, ein guter Christ, voller Bedauern von einem<br />

Mann, <strong>de</strong>r während seines Fronturlaubs bei uns im Hause wohnte. „Ich habe ihn vor <strong>de</strong>m<br />

Krieg gekannt", sagte unser Hauswirt, „aber er hat sich völlig verän<strong>de</strong>rt. Er ist zu einer Bestie gewor<strong>de</strong>n<br />

und prahlt gern damit, dass er sich in Transnistrien freiwillig für die Ju<strong>de</strong>nausrottung zur<br />

Verfügung gestellt und Hun<strong>de</strong>rte von ihnen mit eigenen Hän<strong>de</strong>n umgebracht hätte."<br />

Ich war zutiefst bekümmert und beschloss, die Nacht im Gebet zu verbringen. Um Sabine<br />

nicht zu stören, <strong>de</strong>r es nicht gut ging, die aber trotz<strong>de</strong>m gern mit mir zusammen gewacht hätte,<br />

ging ich nach <strong>de</strong>m Abendbrot zu <strong>de</strong>r Wohnung unseres Hauswirtes, um mit ihm zu beten. In einem<br />

Sessel hingestreckt saß dort ein Riese von Mann, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Hauswirt mir als Borila vorstellte.<br />

Das war also <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>nmör<strong>de</strong>r von Transnistrien. Als er aufstand, war er sogar noch größer als<br />

ich, und er verbreitete eine Atmosphäre <strong>de</strong>s Grauens um sich, die wie Blutgeruch wirkte. Bald erzählte<br />

er uns von seinen Kriegsabenteuern und von <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n, die er erschlagen hatte.<br />

„Das ist ja eine Angst erregen<strong>de</strong> Geschichte", sagte ich. „Aber ich sorge mich nicht um<br />

die Ju<strong>de</strong>n, Gott wird sie für ihr Lei<strong>de</strong>n entschädigen. Ich frage mich vielmehr mit großer Angst,<br />

was mit ihren Mör<strong>de</strong>rn geschehen wird, wenn sie einmal vor <strong>de</strong>m Richterstuhl Gottes stehen."<br />

Unser Hauswirt verhin<strong>de</strong>rte eine unangenehme Szene. Er sagte, wir seien bei<strong>de</strong> seine Gäste<br />

und lenkte das Gespräch auf ein neutrales Thema. Es zeigte sich, dass <strong>de</strong>r Mör<strong>de</strong>r nicht nur ein<br />

Mör<strong>de</strong>r war. Er erwies sich als ein angenehmer Gesprächspartner, und schließlich stellte es sich<br />

heraus, dass er eine große Liebe zur Musik hatte. Er erwähnte, dass er während seines Dienstes in<br />

<strong>de</strong>r Ukraine von <strong>de</strong>n ukrainischen Volkslie<strong>de</strong>rn ganz bezaubert gewesen wäre. „Ich wünschte,<br />

ich könnte sie einmal Wie<strong>de</strong>rhören", sagte er. Ich kannte einige von diesen alten Lie<strong>de</strong>rn. Ich sah<br />

Borila an und dachte bei mir selbst: „Der Fisch ist mir ins Netz gegangen!"<br />

„<strong>Wenn</strong> Sie einige hören möchten", sagte ich zu ihm, „dann kommen Sie mit zu mir. Ich in<br />

zwar kein Pianist, aber ich kann ein paar ukrainische Melodien spielen."<br />

Der Hauswirt, seine Frau und seine Tochter gingen mit uns. Meine Frau war bereits im<br />

Bett. Sie war daran gewöhnt, dass ich nachts oft leise spielte und wachte nicht auf. Ich spielte die<br />

Volkslie<strong>de</strong>r, die voll tiefer Emotionen sind, und konnte sehen, dass Borila stark bewegt war. Ich<br />

musste daran <strong>de</strong>nken, wie <strong>de</strong>r junge David <strong>de</strong>m König Saul auf <strong>de</strong>r Harfe vorspielte, während<br />

<strong>de</strong>r König von einem bösen Geist gequält wur<strong>de</strong>.<br />

Ich unterbrach mein Spiel und wandte mich zu Borila: „Ich habe Ihnen etwas sehr wichtiges<br />

zu sagen."<br />

„Bitte re<strong>de</strong>n Sie", sagte er.<br />

„<strong>Wenn</strong> Sie hinter diesen Vorhang schauen, können Sie im an<strong>de</strong>ren Zimmer jeman<strong>de</strong>n<br />

schlafen sehen. Es ist meine Frau Sabine. Ihre Eltern, ihre Schwestern und ihr zwölfjähriger<br />

Bru<strong>de</strong>r sind zusammen mit <strong>de</strong>n übrigen Familienglie<strong>de</strong>rn umgebracht wor<strong>de</strong>n. Sie haben mir<br />

erzählt, dass Sie in <strong>de</strong>r Nähe von Golta Hun<strong>de</strong>rte von Ju<strong>de</strong>n getötet haben. Man hatte die Familie<br />

meiner Frau dorthin gebracht." Ich sah ihm fest in die Augen und fügte hinzu: „Sie selbst wissen<br />

50


nicht, wen Sie erschlagen haben. Wir können also annehmen, dass Sie <strong>de</strong>r Mör<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Familie<br />

meiner Frau sind."<br />

Er sprang in die Höhe, seine Augen lo<strong>de</strong>rten. Er sah aus, als wollte er mir an die Kehle<br />

springen.<br />

Ich hob meine Hand und sagte: „Jetzt wollen wir ein Experiment machen. Ich wer<strong>de</strong> meine<br />

Frau wecken und ihr sagen, wer Sie sind, und was Sie getan haben. Ich will Ihnen sagen, was<br />

dann geschieht. Meine Frau wird Ihnen keinen einzigen Vorwurf machen. Sie wird Sie umarmen,<br />

als wären Sie ihr Bru<strong>de</strong>r und Ihnen aus <strong>de</strong>m Besten, was sie im Hause hat, ein Abendbrot bereiten.<br />

<strong>Wenn</strong> nun meine Frau, die auch ein sündiger Mensch ist wie wir alle, in dieser Weise vergeben<br />

und lieben kann, dann stellen Sie sich vor, wie Jesus, <strong>de</strong>r selbst vollkommene Liebe ist,<br />

Ihnen vergeben und Sie lieben kann. Kommen Sie nur zu ihm zurück und alles, was Sie getan<br />

haben, wird vergeben sein."<br />

Borila war nicht ohne Herz. Sein Inneres wur<strong>de</strong> von Schuld und Verzweiflung über das,<br />

was er getan hatte, verzehrt. Er hatte ein brutales Gere<strong>de</strong> uns entgegengehalten wie eine Krabbe<br />

ihre Scheren. Man brachte seine schwache Stelle nur mit einem Finger anzutippen, und schon<br />

brach sein Wi<strong>de</strong>rstand zusammen. Die Musik hatte bereits ein Herz bewegt, und nun kamen anstatt<br />

<strong>de</strong>r Beschuldigung, die er erwartete, die Worte <strong>de</strong>r Vergebung. Seine Reaktion war erstaunlich.<br />

Er sprang auf und zerrte mit bei<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n an seinem Kragen, so dass sein Hemd zerriss.<br />

„O Gott, was soll ich tun, was soll ich nur tun?" rief er. Er barg seinen Kopf in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n und<br />

schluchzte laut, sich hin und her werfend „Ich bin ein Mör<strong>de</strong>r, ich bin mit Blut getränkt, was soll<br />

ich nur tun?" Tränen liefen ihm die Wangen herunter.<br />

Ich rief aus: „In <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>s Herrn Jesu Christi gebiete ich <strong>de</strong>m Teufel <strong>de</strong>s Hasses, aus<br />

<strong>de</strong>iner Seele auszufahren!"<br />

Borila fiel zitternd auf die Knie, und wir fingen an, laut zu beten. Er kannte keine Gebete.<br />

Er bat einfach immer und immer wie<strong>de</strong>r um Vergebung und sagte, er hoffe und wisse, dass sie<br />

ihm gewährt wird. Eine ganze Zeit lagen wir zusammen auf <strong>de</strong>n Knien. Dann stan<strong>de</strong>n wir auf und<br />

umarmten uns. Ich sagte: „Ich habe versprochen, ein Experiment zu machen. Ich wer<strong>de</strong> mein<br />

Wort halten."<br />

Ich ging in das an<strong>de</strong>re Zimmer und fand meine Frau immer noch sanft schlafend. Sie war<br />

zu dieser Zeit sehr schwach und erschöpft. Ich weckte sie vorsichtig und sagte: „Hier ist ein<br />

Mann, <strong>de</strong>n du kennenlernen musst. Wir glauben, dass er <strong>de</strong>ine Familie ermor<strong>de</strong>t hat, aber er hat<br />

es bereut und ist jetzt unser Bru<strong>de</strong>r."<br />

In ihrem Morgenrock kam sie heraus und streckte ihre Arme aus, um ihn zu umarmen.<br />

Dann fingen die bei<strong>de</strong>n an zu weinen und einan<strong>de</strong>r immer und immer wie<strong>de</strong>r zu küssen.<br />

Nie habe ich ein Brautpaar sich mit solcher Liebe, Innigkeit und Reinheit küssen sehen<br />

wie diesen Mör<strong>de</strong>r und die Überleben<strong>de</strong> seiner Opfer. Dann, wie ich vorausgesagt hatte, ging<br />

Sabine in die Küche, um ihm etwas zu essen zu holen.<br />

Während sie weg war, kam mir <strong>de</strong>r Gedanke, Borilas Verbrechen seien so furchtbar gewesen,<br />

dass noch eine weitere Lektion erfor<strong>de</strong>rlich wäre. Ich ging ins an<strong>de</strong>re Zimmer und kam<br />

zurück mit meinem damals zweijährigen Sohn Mihai. Er schlief weiter in meinen Armen. Erst<br />

vor einigen Stun<strong>de</strong>n hatte Borila damit geprahlt, dass er jüdische Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Armen ihrer Eltern<br />

erschlagen hatte. Jetzt war er außer sich vor Entsetzen. Der Anblick war ihm eine unerträgliche<br />

Anklage. Er dachte, ich wollte ihn beschuldigen. Doch ich sagte: „Sehen Sie, wie ruhig er<br />

schläft? Sie sind auch ein neugeborenes Kind, das in <strong>de</strong>n Armen seines Vaters ruhen kann. Das<br />

Blut, das Jesus vergossen hat, hat Sie rein gemacht."<br />

Borilas Freu<strong>de</strong> war herzbewegend. Er blieb bei uns über Nacht, und als er am nächsten<br />

Morgen erwachte, sagte er: „Es ist schon lange her, seit ich so gut geschlafen habe." Augustinus<br />

sagte: „Anima humana naturaliter christiana est" - die menschliche Seele ist von Natur aus christlich.<br />

Verbrechen sind gegen die eigene Natur. Sie sind das Ergebnis <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Umstän<strong>de</strong><br />

o<strong>de</strong>r können auch viele an<strong>de</strong>re Ursachen haben. Welch eine Befreiung ist es aber, sie abzuwerfen<br />

wie Borila es getan hatte.<br />

An jenem Morgen wollte Borila gern unsere jüdischen Freun<strong>de</strong> kennenlernen, und ich<br />

51


nahm ihn mit zu vielen jüdisch-christlichen Familien. Überall erzählte er seine Geschichte und<br />

wur<strong>de</strong> wie <strong>de</strong>r heimgekehrte verlorene Sohn aufgenommen. Mit einem Neuen Testament versehen,<br />

das ich ihm gegeben hatte, ging er in eine an<strong>de</strong>re Stadt, um sich seinem Regiment wie<strong>de</strong>r<br />

anzuschließen.<br />

Später kam Borila wie<strong>de</strong>r zu uns und teilte mit, dass seine Einheit an die Front geschickt<br />

wür<strong>de</strong>. „Was soll ich nun machen", fragte er, „ich muss wie<strong>de</strong>r anfangen zu töten."<br />

Ich sagte ihm: „Nein, Sie haben bereits mehr Menschen getötet als einem Soldaten zugemutet<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Ich bin nicht <strong>de</strong>r Meinung, dass ein Christ sein Land nicht verteidigen soll,<br />

wenn es angegriffen wird. Aber Sie persönlich sollten nicht mehr töten. Lassen Sie es lieber zu,<br />

dass an<strong>de</strong>re Sie töten. Das verbietet die Bibel nicht."<br />

Während ich diese Geschichte erzählte, wur<strong>de</strong> Gaston zusehends ruhiger. Zum Schluss lächelte<br />

er, griff nach meiner Hand und drückte sie fest. So fiel er in einen ruhigen Schlaf.<br />

Als <strong>de</strong>r Morgen kam, wur<strong>de</strong>n wir zusammen in eine an<strong>de</strong>re Zelle zurückgebracht. Unter<br />

<strong>de</strong>n Gefangenen ent<strong>de</strong>ckte ich Grigore, <strong>de</strong>r auch ein Kriegsverbrecher und für <strong>de</strong>n Massenmord<br />

an Ju<strong>de</strong>n verantwortlich war. Er kannte Borila.<br />

Ich sagte Gaston: „Zu <strong>de</strong>r Geschichte von <strong>de</strong>m Mann, <strong>de</strong>r die Familie meiner Frau umgebracht<br />

hat, gibt es noch einen Epilog. Dieser Mann kann Ihnen davon erzählen."<br />

Grigore berichtete, wie er zusammen mit Borila in Transnistrien seinen Dienst getan hatte.<br />

Dort hatten sie die Ju<strong>de</strong>n zu Hun<strong>de</strong>rten abgeschlachtet. „Als wir wie<strong>de</strong>r nach Russland gingen,<br />

war er ein völlig an<strong>de</strong>rer Mensch. Wir konnten es nicht begreifen. Er gebrauchte seine Waffen<br />

nicht mehr. Anstatt Leben zu vernichten, bemühte er sich, es zu retten. Er mel<strong>de</strong>te sich freiwillig<br />

zur Rettung <strong>de</strong>r Verwun<strong>de</strong>ten, die unter Beschuss lagen. Schließlich rettete er seinem Offizier<br />

das Leben."<br />

Wie Gehirnwäsche aussieht<br />

Im Laufe <strong>de</strong>r weiteren Schulungsvorträge machte ich folgen<strong>de</strong> Feststellung: <strong>Wenn</strong> sie<br />

auch <strong>de</strong>m Inhalt nach kindisch waren, so steckte doch ein raffinierter Plan dahinter. Die Redner<br />

verließen das Thema Politik und appellierten direkt an die vergnügungssüchtige verantwortungslose<br />

Seite in uns allen, die von <strong>de</strong>n Anhängern Freuds das, Id’ genannt wird. Sie hielten uns vor<br />

Augen, wie viel wir im Leben versäumten. Sie re<strong>de</strong>ten über Essen, Trinken, Sex - alles Themen,<br />

mit <strong>de</strong>nen die Redner besser vertraut waren als mit <strong>de</strong>r marxistischen Dialektik. Aber auch diese<br />

wur<strong>de</strong> nicht vergessen. Eine Ansprache brachte uns einmal wie<strong>de</strong>r auf das Thema <strong>de</strong>r Darwinschen<br />

Affen. Ein junger Politoffizier arbeitete sich durch die kurze Zusammenfassung <strong>de</strong>r Entwicklungstheorie<br />

hindurch. Dann führte er uns mit Hilfe von verstümmelten Zitaten von Marx,<br />

Lenin und Darwin über <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rspruch zwischen <strong>de</strong>r Wissenschaft und <strong>de</strong>m Christentum zu<br />

<strong>de</strong>ssen traurigen Folgeerscheinungen in Amerika, wo gegenwärtig Millionen von Menschen<br />

„verhungerten".<br />

Anfangs ermunterte man uns zu diskutieren. Als einer <strong>de</strong>r Redner sagte, nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong><br />

bliebe vom Körper nur eine Handvoll chemischer Stoffe übrig, stellte ich eine Frage: „<strong>Wenn</strong> es<br />

sich so verhält, warum haben dann einige Kommunisten für ihre I<strong>de</strong>e ihr Leben gelassen? <strong>Wenn</strong><br />

ein Christ sich selbst opfert, mag dies weise erscheinen. <strong>Wenn</strong> man die vergänglichen Dinge<br />

aufgibt, um eine Ewigkeit zu gewinnen, so ist es, als wenn man fünfzig Mark investiert, um damit<br />

fünf Millionen Mark Gewinn zu machen. Aber weshalb sollte ein Kommunist sein Leben<br />

opfern - es sei <strong>de</strong>nn, auch er kann etwas für sich persönlich gewinnen?"<br />

Der Politoffizier konnte darauf keine Antwort fin<strong>de</strong>n. Deshalb wies ich ihn daraufhin, die<br />

Antwort sei schon von Augustinus gegeben wor<strong>de</strong>n, als er sagte, Die Seele ist von Natur aus<br />

christlich'.<br />

„Der Atheismus ist nur eine Maske für Ihre wahren Empfindungen. In <strong>de</strong>r Tiefe Ihres<br />

Herzens, welche nur erreicht wird, wenn man meditiert o<strong>de</strong>r betet, glauben auch Sie, dass es einen<br />

Lohn gibt, wenn man für eine I<strong>de</strong>e lebt. Tief in Ihrem Herzen glauben auch Sie an Gott."<br />

„Wir wollen sehen, was Lenin dazu sagt", meinte <strong>de</strong>r Redner und las aus einem kleinen,<br />

abgegriffenen Büchlein vor, aus <strong>de</strong>m er schon oft seine Inspirationen geschöpft hatte: „Selbst<br />

52


das Liebäugeln mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e eines Gottes ist eine unaussprechliche Wi<strong>de</strong>rwärtigkeit, eine Verseuchung<br />

abscheulichster Art. Alle Unflätigkeiten, Gewaltakte und physische Seuchen sind bei<br />

weitem weniger gefährlich." Er grinste. „Noch eine Frage?"<br />

„Haben Sie ein Kind?" fragte ich.<br />

„Ich habe eine Tochter, die bei <strong>de</strong>n jungen Pionieren ist."<br />

„Wür<strong>de</strong>n Sie es <strong>de</strong>nn vorziehen, dass sie von einer schrecklichen Krankheit befallen<br />

wird, als dass sie an ihren Schöpfer glauben wird? Das ist doch, was Lenin sagt: Krebs ist besser<br />

als <strong>de</strong>r christliche Glaube."<br />

Der Politoffizier ließ mich aufstehen und schlug mir ins Gesicht.<br />

In diesem Ansturm <strong>de</strong>r Umschulung erschien eine Ohrfeige nur ein geringer Preis dafür,<br />

dass man seine Glaubensüberzeugung offen bekennen durfte. Es war jedoch offensichtlich, dass<br />

uns noch mehr bevorstand. Wir hatten das Gefühl, ständig bespitzelt zu wer<strong>de</strong>n und wun<strong>de</strong>rten<br />

uns über die stummen Lautsprecher.<br />

Bis vor kurzem noch ließ man uns hungern, wir wur<strong>de</strong>n geschlagen und beschimpft, aber<br />

kein Mensch fragte nach <strong>de</strong>m, was wir dachten: „Erfin<strong>de</strong>t in euren Zellen nur so viele neue Regierungen,<br />

wie ihr Lust habt, ihr Banditen. Unsere ist in Bukarest", pflegte Kommandant Dorabantu<br />

zu sagen. Aber er war nicht mehr da. Man hatte ihn wegen Kontenfälschungen entlassen.<br />

Die Vorträge zeigten, wie sehr sich die Haltung ent<strong>sprechen</strong>d <strong>de</strong>r neuen Politik <strong>de</strong>s rumänischen<br />

Diktators Gheorghiu-Dej geän<strong>de</strong>rt hatte. Dej bemühte sich, <strong>de</strong>n Druck <strong>de</strong>s Kreml zu<br />

lockern und mit <strong>de</strong>m Westen Han<strong>de</strong>lsbeziehungen aufzunehmen. Zu diesem Zweck musste er<br />

eine etwas „<strong>de</strong>mokratischere" Fassa<strong>de</strong> zeigen. Das zahllose Heer <strong>de</strong>r politischen Gefangenen,<br />

die in Rumänien in Haft gehalten wur<strong>de</strong>n, war ihm auf diesem Wege ein Hin<strong>de</strong>rnis. Aber er<br />

wollte uns nicht einfach freilassen aus Angst, wir wür<strong>de</strong>n unsere „konterrevolutionären" I<strong>de</strong>en<br />

weiterverbreiten. Vorher musste unsere Denkweise mittels einer Massengehirnwäsche geän<strong>de</strong>rt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Für die Häftlinge in Gherla war dies 1962 nur eine Theorie unter vielen. Nur wenige<br />

hielten sie für wahr. Es herrschte Ungewissheit darüber, was bei <strong>de</strong>r Gehirnwäsche eigentlich<br />

vor sich ging. Radu Ghinda, ein bekannter Autor und christlicher Schriftsteller, <strong>de</strong>r seit kurzem<br />

in unserer Zelle war, fasste unsere Empfindungen in Worte zusammen:<br />

„<strong>Wenn</strong> sie mich in fünfzehn Jahren nicht geän<strong>de</strong>rt haben, wie wollen sie es jetzt noch<br />

fertig bringen?"<br />

Als wir gera<strong>de</strong> darüber sprachen, wur<strong>de</strong> die Zellentür geöffnet, um Neuankömmlinge hereinzulassen.<br />

Unter ihnen befand sich eine große Gestalt mit kriecherischer Haltung, die zögernd<br />

einige Schritte von einer Seite zur an<strong>de</strong>ren machte, als wolle sie <strong>de</strong>n Blicken <strong>de</strong>r Gefangenen<br />

entfliehen.<br />

Radu Ghinda war <strong>de</strong>r erste, <strong>de</strong>r ihn erkannte: „Daianu!" rief er.<br />

Der Mann torkelte hinüber, um seinen Freund zu umarmen. Nichifor Daianu war früher<br />

eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Persönlichkeit in Rumänien gewesen. Dieser Dichter und Professor für mystische<br />

Theologie, Leiter <strong>de</strong>s antisemitischen national-christlichen Verteidigungsban<strong>de</strong>s, kam jetzt<br />

von <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong> in Aiud nach Gherla, um seine fünfundzwanzig Jahre weiter abzusitzen.<br />

Zuerst hatte ich diesen Mann kaum erkannt. Sein dicker Bauch war verschwun<strong>de</strong>n, die<br />

Haut hing ihm am Kinn in Falten wie bei einem Truthahn. Der Bonvivant und Herzensbrecher,<br />

<strong>de</strong>n man einmal in einem Bukarester Restaurant geohrfeigt hatte war jetzt ein zittriger, spin<strong>de</strong>ldürrer<br />

Greis.<br />

Mitgefangene aus Aiud erzählten uns, was dort geschehen war. Daianu, <strong>de</strong>r gewöhnt<br />

war, viel zu essen, hatte versucht, von <strong>de</strong>n Köchen eine Extraportion Graupensuppe zu bekommen.<br />

Der <strong>Gefängnis</strong>kommandant wies ihn ab. Am darauffolgen<strong>de</strong>n Tag war <strong>de</strong>r Kommandant<br />

wie<strong>de</strong>r da: „Halt", sagte er, „dieser Mann ist zu dick, lasst ihn bis morgen warten." Am nächsten<br />

Tag sagte <strong>de</strong>r Kommandant: „Sag mal, Daianu, gibt es einen Gott?" De Koch hielt die Kelle in<br />

die Höhe. Daianu murmelte etwas in seinen Bart. „Sprich lauter, damit wir alle hören können!"<br />

Daianu sagte: „Es gibt keinen Gott!" „Lauter", sagte <strong>de</strong>r Kommandant. „Es gibt keinen Gott!"<br />

schrie Daianu.<br />

Der Kommandant nickte, damit Daianu sein Essen bekam. Daianu schlang die Suppe<br />

53


herunter. Diese Vorstellung hat <strong>de</strong>m Kommandanten so gut gefallen, dass er sie in <strong>de</strong>r nächsten<br />

Woche je<strong>de</strong>n Tag wie<strong>de</strong>rholte. Die Geschichte wur<strong>de</strong> in ganz Rumänien weiterzählt und gelangte<br />

später auch ins Ausland.<br />

Aber Daianus Gabe, religiöse Gedichte zu schreiben war ihm geblieben. Freun<strong>de</strong> aus seiner<br />

nazistischen Ära ermunterten ihn, einige von <strong>de</strong>n Versen, die er in Aiud gedichtet hatte, vorzutragen.<br />

Es waren Gesänge <strong>de</strong>s Schmerzes und <strong>de</strong>r Reue, schöner als alles, was er je gedichtet<br />

hatte. Wie auch sein Freund Radu Ghinda hatte er seinen Antisemitismus beibehalten. Ihre Anhänger<br />

unter <strong>de</strong>n ehemaligen Leuten <strong>de</strong>r Eisernen Garce schmuggelten für sie Essensreste und<br />

sogar Zigaretten in die Priesterzelle. Der Antisemitismus hat ein sehr zähes Leben, und die bei<strong>de</strong>n<br />

waren ihm zum Opfer gefallen.<br />

Als wir an einem Abend die Theorien über die Gehirnwäsche besprachen, spottete Ghinda darüber:<br />

„Unsinn! Pawlow hatte <strong>de</strong>n Unfug mit <strong>de</strong>n bedingten Reflexen <strong>de</strong>r Fun<strong>de</strong> in die Welt gesetzt,<br />

und die Kommunisten in Korea griffen einige seiner I<strong>de</strong>en auf, um amerikanische Kriegsgefangene<br />

zu beeinflussen, auf ihre Seite überzuwechseln. Aber solche Metho<strong>de</strong>n funktionieren<br />

nicht bei Menschen mit Bildung Wir sind keine Amis."<br />

und Intelligenz , Und auch keine Hun<strong>de</strong>", sagte Daianu.<br />

Darüber• war niemand an<strong>de</strong>rer Meinung.<br />

Es haben mich schon viele Christen gefragt, wie wir <strong>de</strong>r Gehirnwäsche wi<strong>de</strong>rstehen konnten. Es<br />

gibt nur eine Metho<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r Gehirnwäsche zu wi<strong>de</strong>rstehen: sie heißt „Herzwäsche". <strong>Wenn</strong> das<br />

Herz gereinigt ist durch die Liebe Jesu Christi und <strong>de</strong>in Herz dann ihn liebt, kannst du allen Folterungen<br />

wi<strong>de</strong>rstehen. Was wür<strong>de</strong> eine lieben<strong>de</strong> Braut nicht tun für ihren Bräutigam, <strong>de</strong>n sie liebt?<br />

Was wür<strong>de</strong> eine lieben<strong>de</strong> Mutter nicht für ihr Kind tun? <strong>Wenn</strong> du Christus liebst, wie Maria es<br />

tat, die Jesus schon als kleines Kind in <strong>de</strong>n Armen hielt, wenn du Jesus Christus lieb hast wie eine<br />

Braut ihren Verlobten, dann kannst du solchen Folterungen wi<strong>de</strong>rstehen.<br />

Gott wird uns einmal nicht danach beurteilen, wie viel wir erdul<strong>de</strong>t haben, son<strong>de</strong>rn wie<br />

viel Liebe wir aufgebracht haben. Ich bin für die Christen in kommunistischen <strong>Gefängnis</strong>sen<br />

Zeuge, das sie wirklich lieben konnten. Sie konnten Gott lieben und auch ihre Mitmenschen.<br />

Die Folterungen hielten in ihrer Brutalität ohne Unterbrechung an. <strong>Wenn</strong> ich zuweilen<br />

das Bewusstsein verlor o<strong>de</strong>r gar zu benommen war, um <strong>de</strong>n Peinigern noch irgendwelche Hoffnung<br />

auf Geständnisse zu machen, wur<strong>de</strong> ich gewöhnlich wie<strong>de</strong>r in meine Zelle zurück verfrachtet.<br />

Dort lag ich dann halbtot, aber doch unbeaufsichtigt und sammelte wie<strong>de</strong>r etwas Kräfte, damit<br />

sie mich von neuem bearbeiten konnten. In diesem Stadium <strong>de</strong>r Folter starben viele. Aber irgendwie<br />

kehrten meine Kräfte immer wie<strong>de</strong>r zurück. Im Laufe <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Jahre brachen sie<br />

mir in verschie<strong>de</strong>nen <strong>Gefängnis</strong>sen vier Rückenwirbel und mehrere Knochen im Körper. An<br />

zwölf Stellen kerbten sie mir tiefe Wundmale ein. Sie brannten und schnitten mir insgesamt<br />

achtzehn Löcher in <strong>de</strong>n Körper. Ärzte in Oslo, die all das gesehen haben und dazu die Vernarbungen<br />

von einer Lungentuberkulose, die ich in jener Zeit durchgemacht habe, erklärten, es sei<br />

ein reines Wun<strong>de</strong>r, dass ich überhaupt noch am Leben sei. Nach <strong>de</strong>m Stand <strong>de</strong>r Wissenschaft in<br />

ihren medizinischen Lehrbüchern hätte ich schon einige Jahre tot sein müssen. Ich selber weiß<br />

nur zu gut, dass es ein Wun<strong>de</strong>r ist. Gott ist ein Gott <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>r.<br />

Kurze Freiheit - neue Verhaftung<br />

Das Jahr 1956 kam heran. Ich hatte achteinhalb Jahre im <strong>Gefängnis</strong> zugebracht. Ich hatte<br />

viel an Gewicht verloren, hatte böse Narben erworben, war brutal nie<strong>de</strong>rgeschlagen wor<strong>de</strong>n und<br />

getreten, was verspottet, wor<strong>de</strong>n, vor Hunger fast umgekommen, unter seelischen Druck gesetzt,<br />

bis zum Erbrechen verhört, bedroht und dann links liegen gelassen. Keins von allen diesen Mitteln<br />

hatte das Ergebnis gezeigt, auf das meine Zwingherren aus waren. So ließen sie mich<br />

schließlich voller Enttäuschung frei. Außer<strong>de</strong>m gingen bei ihnen ständig Proteste ein wegen meiner<br />

Inhaftierung.<br />

Man erlaubte mir, in meine alte Stelle zurückzukehren - aber nur für eine Woche. Ich<br />

hielt ganze zwei Predigten. Dann riefen sie mich zu sich und teilten mir mit, ich dürfte nicht<br />

54


mehr predigen noch mich in irgen<strong>de</strong>iner religiösen Arbeit weiterhin betätigen. Was hatte ich gesagt?<br />

Ich hatte meinen Gemein<strong>de</strong>glie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Rat gegeben, „Geduld, Geduld und nochmals Geduld"<br />

zu üben. „Das be<strong>de</strong>utet, Sie sagen ihnen nur geduldig abzuwarten, und die Amerikaner wer<strong>de</strong>n<br />

doch einmal kommen und sie befreien!", schrie mir <strong>de</strong>r Polizist entgegen. Ich hatte auch gesagt,<br />

dass sich das Rad <strong>de</strong>r Geschichte weiterdreht und die Zeiten sich än<strong>de</strong>rn. „Sie wollen ihnen<br />

damit sagen, dass <strong>de</strong>r Kommunismus nicht immer regieren wird! Das sind konterrevolutionäre<br />

Lügen!", schrien sie. Das war das En<strong>de</strong> meines öffentlichen Pfarramtes.<br />

Wahrscheinlich glaubten die Behör<strong>de</strong>n, nun hätte ich doch Angst, sie noch weiter zu hintergehen<br />

und wie<strong>de</strong>r wie früher meine Untergrundmission zu betreiben.<br />

Darin hatten sie sich jedoch geirrt. Unauffällig kehrte ich zu meiner Arbeit zurück. Meine Familie<br />

stand hinter mir.<br />

Ich richtete ein ganzes Netz von Evangelisten ein, die in <strong>de</strong>m Gebiet Hand in Hand arbeiteten<br />

und das Evangelium unter <strong>de</strong>n durch Gottes Fügung blin<strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Kommunisten ausbreiteten.<br />

Schließlich zahlte sich aber das pausenlose Interesse <strong>de</strong>r Geheimpolizei für meine Tätigkeit<br />

und meine Aufenthaltsorte aus. Ich wur<strong>de</strong> ent<strong>de</strong>ckt und wie<strong>de</strong>r eingekerkert. Aus irgen<strong>de</strong>inem<br />

Grund steckten sie meine Familie diesmal nicht ins <strong>Gefängnis</strong>, vielleicht wegen <strong>de</strong>s starken<br />

Wi<strong>de</strong>rhalls, <strong>de</strong>n ich in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit gefun<strong>de</strong>n hatte. Achteinhalb Jahre <strong>Gefängnis</strong> hatte ich<br />

hinter mir und drei Jahre verhältnismäßiger Freiheit. Nun sollte ich weitere fünfeinhalb Jahre<br />

hinter <strong>Gefängnis</strong>mauern verbringen.<br />

Meine zweite Inhaftierung war in mehrfacher Hinsicht schlimmer als die erste. Ich wusste<br />

zu genau, was meiner wartete. Mein körperlicher Zustand verschlechterte sich daher mit einem<br />

Schlage. Dennoch setzten wir die Untergrundarbeit <strong>de</strong>r Untergrundkirche fort, auch im Untergrund<br />

kommunistischer <strong>Gefängnis</strong>se.<br />

Ein Abkommen: wir predigten - sie schlugen<br />

Es war mir streng verboten, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Häftlingen Gottes Wort zu sagen. Es war ein<br />

ungeschriebenes Gesetzt, dass <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r dabei ertappt wur<strong>de</strong>, eine schwere Prügelstrafe erhielt.<br />

Eine Anzahl von uns war willens, ihre Bedingungen anzunehmen und <strong>de</strong>n Preis zu zahlen<br />

für das Vorrecht, Christus zu predigen. Es war eine Art Abkommen: wir predigten, sie waren<br />

glücklich, uns zu schlagen; so war je<strong>de</strong>r glücklich. Der folgen<strong>de</strong> Fall ereignete sich öfter, als dass<br />

ich mich an alle einzelnen noch erinnern könnte: Ein Glaubensbru<strong>de</strong>r war gera<strong>de</strong> dabei, <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

Gefangenen zu predigen, als die Wächter plötzlich hereinstürzten und ihn mitten im Satz<br />

überraschten. Sie zerrten ihn <strong>de</strong>n langen Gang entlang zum „Prügelzimmer". Nach schier endlosen<br />

Schlägen schleiften sie ihn zurück - blutüberströmt und zerschun<strong>de</strong>n - und warfen ihn auf<br />

<strong>de</strong>n <strong>Gefängnis</strong>bo<strong>de</strong>n. Langsam richtete er seine zerschlagenen Glie<strong>de</strong>r auf, ordnete seine Klei<strong>de</strong>r<br />

und sagte: „Nun, Brü<strong>de</strong>r, wo war ich stehengeblieben, als ich unterbrochen wur<strong>de</strong>?" und er fuhr<br />

fort mit seiner Botschaft von Christus. Das waren wun<strong>de</strong>rbare Erlebnisse.<br />

Manchmal waren die Prediger einfache Laien. Schlichte Leute, aber erfüllt vom Heiligen<br />

Geist, die das Wort Gottes mit Vollmacht verkündigten. Ihr ganzes Herz lag in ihren Worten,<br />

<strong>de</strong>nn unter solchen Strafandrohungen zu predigen war keine Kleinigkeit. Irgendwann kamen<br />

nämlich die Wächter, holten <strong>de</strong>n Prediger heraus und schlugen ihn halbtot.<br />

Im <strong>Gefängnis</strong> von Gherla war ein Christ namens Grecu zum To<strong>de</strong> durch Schläge verurteilt<br />

wor<strong>de</strong>n. Die Prozedur zog sich über einige Wochen in. In größeren Zeitabstän<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>n<br />

ihm die Schläge verabreicht. Zunächst wur<strong>de</strong> er einmal mit <strong>de</strong>m Gummiknüppel auf die Fußsohlen<br />

geschlagen, dann ließ man von ihm ab. Einige Minuten danach traf ihn ein neuer Schlag,<br />

wenige Minuten später wie<strong>de</strong>r einer. Plötzlich wur<strong>de</strong> er auf die Ho<strong>de</strong>n geschlagen. Dann kam<br />

ein Arzt und gab ihm eine Spritze. Er kam wie<strong>de</strong>r zu sich, man gab ihm sehr gutes Essen, um<br />

seine Kräfte wie<strong>de</strong>rherzustellen, und dann wur<strong>de</strong> er von neuem geschlagen - geschlagen, bis er<br />

unter diesen langsamen, ständig wie<strong>de</strong>rholten Schlägen endlich starb. Einer, <strong>de</strong>r die Folterung<br />

leitete, war Mitglied <strong>de</strong>s Zentralkomitees <strong>de</strong>r kommunistischen Partei und hieß Reck.<br />

55


Zu einem bestimmten Zeitpunkt pflegte dann Reck eine beson<strong>de</strong>re Mitteilung zu machen,<br />

die die Kommunisten <strong>de</strong>n eingekerkerten Christen gern unterbreiteten: „Jetzt weißt du es - ich<br />

bin Gott. Ich habe Macht über Leben und Tod dir gegenüber. Der da im Himmel ist, kann nicht<br />

entschei<strong>de</strong>n, ob du am Leben bleibst. Das hängt allein von mir ab. <strong>Wenn</strong> ich es will, bleibst du<br />

am Leben. Und wenn ich es an<strong>de</strong>rs will, wirst du getötet. Ich bin also Gott!" So verspottete er die<br />

Christen.<br />

Bru<strong>de</strong>r Grecu gab in seiner furchtbaren Lagen diesem Reck eine sehr interessante Antwort,<br />

die ich später von Reck selber gehört habe: „Du weißt gar nicht, was für ein tiefgründiges<br />

Wort du gesagt hast. Du bist wirklich ein Gott. Je<strong>de</strong> Raupe ist ja in Wirklichkeit ein Schmetterling,<br />

wenn sie sich richtig entwickelt. Du bist nämlich nicht dazu geschaffen, um ein Folterer zu<br />

sein, ein Mensch, <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re tötet. Du bist geschaffen, um ein gottähnliches Wesen zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Jesus sagte zu <strong>de</strong>n Ju<strong>de</strong>n seiner Zeit, Ihr seid Götter. Auch in euch schlummert das Leben <strong>de</strong>r<br />

Gottheit. Viele, die genauso waren wie ihr, Verfolger wie <strong>de</strong>r Apostel Paulus, haben zu einem<br />

bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens ent<strong>de</strong>ckt, dass es <strong>de</strong>n Menschen schän<strong>de</strong>t, Grausamkeiten zu<br />

begehen, da er ja weit Besseres tun könnte.' Durch diese Erkenntnis sind sie <strong>de</strong>r göttlichen Natur<br />

teilhaftig gewor<strong>de</strong>n. Glauben Sie mir, Herr Reck, ihre wirkliche Berufung ist, ein Kind Gottes zu<br />

sein, von göttlicher Art - kein Folterer."<br />

In diesem Augenblick achtete Reck nicht beson<strong>de</strong>rs auf die Worte seines Opfers, sowenig<br />

wie Saulus von Tarsus <strong>de</strong>m herrlichen Zeugnis <strong>de</strong>s Stephanus Beachtung schenkte, <strong>de</strong>r in<br />

seinem Beisein getötet wur<strong>de</strong>. Dennoch wirkten jene Worte in seinem Herzen weiter. Und auch<br />

Reck hat später noch begriffen dass dies seine wahre Berufung gewesen ist.<br />

Aus all <strong>de</strong>n Prügeleien, Folterungen und Metzeleien stieg uns eine tiefe Erkenntnis auf:<br />

dass <strong>de</strong>r Geist Herr über <strong>de</strong>n Körper ist. Gar oft, wenn wir gefoltert wur<strong>de</strong>n, fühlten wir wohl die<br />

Folter, aber doch wie im Abstand von uns und weit entfernt von unserem Geist, <strong>de</strong>r in die Herrlichkeit<br />

Christi und seine lebendige Gegenwart eingetaucht war.<br />

In <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong> von Tirgu-Ocna befand sich ein sehr junger Häftling namens Matchevici.<br />

Er war mit achtzehn Jahren ins <strong>Gefängnis</strong> gekommen. Nach schweren Folterungen war er tuberkulosekrank<br />

gewor<strong>de</strong>n. Seine Familie fand irgendwie heraus, dass sein Gesundheitszustand<br />

be<strong>de</strong>nklich war und schickte ihm einhun<strong>de</strong>rt Ampullen Streptomyzin, das über Leben und Tod<br />

entschei<strong>de</strong>n konnte. Der politische Offizier ließ ihn rufen, zeigte ihm das Päckchen und sagte:<br />

„Hier ist die Medizin, die <strong>de</strong>in Leben retten kann. Aber es ist dir nicht gestattet, Päckchen von<br />

<strong>de</strong>iner Familie zu empfangen. Ich persönlich möchte dir gerne helfen. Du bist noch jung. Ich<br />

möchte nicht, dass du im <strong>Gefängnis</strong> stirbst. Hilf mir, damit ich dir helfen kann! Gib mir Informationen<br />

über <strong>de</strong>ine Mitgefangenen. Das versetzt mich in die Lage, es vor meinen Vorgesetzten zu<br />

rechtfertigen, dass ich dir die Medizin aushändige." Matchevici antwortete ohne Zögern: „Ich<br />

möchte nicht am Leben bleiben und mich vor mir selber schämen müssen, wenn ich in <strong>de</strong>n Spiegel<br />

Blicke, weil mich das Gesicht eines Verräters daraus anblickt. Solch eine Bedingung kann<br />

ich nicht annehmen. Dann will ich lieber sterben." Der Beamte <strong>de</strong>r Geheimpolizei gab ihm die<br />

Hand und sagte: „Ich kann dich nur beglückwünschen. Ich habe keine an<strong>de</strong>re Antwort von dir<br />

erwartet. Ich möchte dir aber gern einen an<strong>de</strong>ren Vorschlag machen. Unter <strong>de</strong>n Häftlingen hier<br />

sind einige unsere Spitzel gewor<strong>de</strong>n. Sie geben vor, Kommunisten zu sein, und sie <strong>de</strong>nunzieren<br />

euch. Sie spielen eine Doppelrolle. Wir haben kein Vertrauen in sie. Wir möchten gern wissen,<br />

wieweit sie aufrichtig sind. Euch gegenüber sind sie je<strong>de</strong>nfalls Verräter. Sie tun euch viel Böses<br />

an, in<strong>de</strong>m sie uns über eure Gespräche und Handlungen unterrichten. Ich kann verstehen, dass du<br />

<strong>de</strong>ine Kamera<strong>de</strong>n nicht verraten willst. Aber gib uns doch Nachrichten über diejenigen, die gegen<br />

euch sind, dann kannst du <strong>de</strong>in Leben retten!"<br />

Matchevici antwortete ebenso unverzüglich wie das erste Mal: „Ich bin ein Jünger Jesu<br />

Christi, und er hat mich gelehrt, auch unsere Fein<strong>de</strong> zu lieben. Diese Leute, die uns verraten, tun<br />

uns zwar viel Leid an, aber ich kann nicht Böses mit Bösem vergelten. Selbst gegen sie kann ich<br />

nicht irgendwelche Aussagen machen. Sie tun mir leid, ich bete für sie, aber mit Kommunisten<br />

möchte ich nicht in irgen<strong>de</strong>iner Verbindung stehen." Matchevici kam von <strong>de</strong>r Unterredung mit<br />

<strong>de</strong>m Polit-Offizier zurück und stark in <strong>de</strong>rselben Zelle, in <strong>de</strong>r ich war. Ich sah, wie er starb - er<br />

lobte Gott. De Liebe hatte bei ihm sogar <strong>de</strong>n kreatürlichen Lebenshunger besiegt.<br />

56


Was mit meiner Frau und meinem Sohn geschah<br />

Nach meiner Verhaftung war ich von meiner Frau getrennt wor<strong>de</strong>n. Ich wusste nicht, was<br />

aus ihr danach gewor<strong>de</strong>n war. Erst viele Jahre später hörte ich, dass auch sie ins <strong>Gefängnis</strong> geworfen<br />

wur<strong>de</strong>.<br />

Frauen haben als Christen im <strong>Gefängnis</strong> viel mehr zu lei<strong>de</strong>n als Männer. Junge Mädchen<br />

vor allem wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Wachmannschaften brutal vergewaltigt. Ihr Spott, ihre unzüchtige<br />

Gemeinheit waren einfach abscheulich.<br />

Die inhaftierten Frauen wur<strong>de</strong>n gezwungen, bei einem Kanalbau harte Arbeit zu verrichten,<br />

und sie hatten dieselbe Arbeitslast zu erfüllen wie die Männer. Im Winter mussten sie Er<strong>de</strong><br />

schaufeln. Prostituierte wur<strong>de</strong>n zu ihren Aufseherinnen gemacht und überboten sich gegenseitig<br />

im Quälen <strong>de</strong>r Gläubigen. Meine Frau hat damals Gras gegessen wie das Vieh, nur um am Leben<br />

zu bleiben. Ratten und Schlangen wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n ausgehungerten Gefangenen an diesem<br />

Kanal verzehrt.<br />

Eine <strong>de</strong>r Hauptbelustigungen <strong>de</strong>r Wachmannschaften war an Sonntagen, Frauen in die<br />

Donau zu werfen und sie dann wie<strong>de</strong>r herauszufischen, sie <strong>de</strong>m allgemeinen Gelächter preiszugeben<br />

und zu verspotten, wenn sie an ihren nassen Körpern heruntersahen, sie dann wie<strong>de</strong>r<br />

zurückzustoßen ins Wasser und von neuem Herauszufischen. Auf diese grausame Art ist auch<br />

meine Frau in die Donau geworfen wor<strong>de</strong>n.<br />

Mein Sohn war auf die Straße gesetzt wor<strong>de</strong>n, als seine Mutter und sein Vater ihm entrissen<br />

wur<strong>de</strong>n. Mihai war von Kindheit an sehr religiös und immer sehr interessiert gewesen an<br />

Glaubensdingen. Später, mit neun Jahr6n, als ihm Vater und Mutter weggenommen waren,<br />

machte er in seinem Christenleben eine Krise durch. Er war verbittert wor<strong>de</strong>n und stellte nun alle<br />

seine religiösen Anschauungen in Frage. In diesem Alter hatte er Probleme, die Kin<strong>de</strong>r normalerweise<br />

noch nicht haben. Er musste sich ja auch schon Gedanken machen, wie er seinen Lebensunterhalt<br />

bestritt.<br />

Es war nämlich ein Verbrechen, <strong>de</strong>n Familien verfolgter und verurteilter Christen zu helfen.<br />

Zwei Frauen, die sich Mihais angenommen hatten, wur<strong>de</strong>n hinterher verhaftet und so arg<br />

geschlagen, dass sie noch heute Krüppel sind - fünfzehn Jahre danach. Eine Frau, die damit ihr<br />

Leben wagte, dass sie Mihai in ihr Haus aufnahm, wur<strong>de</strong> zu acht Jahren <strong>Gefängnis</strong> verurteilt<br />

wegen <strong>de</strong>s Verbrechens, einem Kind aus einer Familie von politischen Gefangenen geholfen zu<br />

haben. Ihr wur<strong>de</strong>n alle Zähne im <strong>Gefängnis</strong> ausgeschlagen. Man fügte ihr mehrere Knochenbrüche<br />

zu. Sie wird nie mehr arbeiten können. Auch sie wird zeitlebens ein Krüppel bleiben.<br />

„Mihai, glaube an Jesus!"<br />

Vom elften Lebensjahr an verdiente Mihai seinen Lebensunterhalt als gewöhnlicher Arbeiter<br />

selber. Das Leid, das er schon in jungen Jahren erfuhr, hatte eine Erschütterung in seinem<br />

Glauben hervorgerufen. Nach<strong>de</strong>m zwei Jahre von <strong>de</strong>r Haftzeit meiner Frau verstrichen waren,<br />

erlaubte man ihm einen kurzen Besuch. Er kam in das kommunistische <strong>Gefängnis</strong> und sah seine<br />

Mutter hinter Eisengittern. Sie war schmutzig, abgemagert, hatte schrundige Hän<strong>de</strong> und trug die<br />

schäbige Sträflingskluft. Er erkannte sie kaum wie<strong>de</strong>r. Ihre ersten Worte waren: „Mihai, glaube<br />

an Jesus!" In wil<strong>de</strong>r Wut zerrten sie die Wachen von Mihai weg und führten sie ab. Mihai weinte,<br />

als er mit ansah, wie seine Mutter fortgestoßen wur<strong>de</strong>.<br />

Dies wur<strong>de</strong> die Stun<strong>de</strong> seiner Bekehrung. <strong>Wenn</strong> jemand unter solchen Umstän<strong>de</strong>n Christus<br />

noch lieben konnte, dann war Er sicherlich - so viel erkannte er jetzt - <strong>de</strong>r wahre Erretter.<br />

Später äußerte er: „<strong>Wenn</strong> das Christentum keine an<strong>de</strong>ren Argumente zu seinen Gunsten hätte als<br />

allein die Tatsache, dass meine Mutter daran glaubt, dann ist das für mich genug." An jenem Tag<br />

nahm er Christus ganz an.<br />

In <strong>de</strong>r Schule hatte er einen ständigen Kampf um seine Selbstbehauptung zu führen. Er<br />

war ein guter Schüler, und als Belohnung wur<strong>de</strong> ihm ein rotes Halstuch geschenkt - als Zeichen<br />

seiner Mitgliedschaft bei <strong>de</strong>n jungen Pionieren <strong>de</strong>r Kommunisten. Da sagte mein Sohn: „Ich<br />

wer<strong>de</strong> niemals das Halstuch von <strong>de</strong>nen tragen, die meinen Vater und meine Mutter ins Gefäng-<br />

57


nis geworfen haben." Dafür wur<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>r Schule verwiesen. Nach<strong>de</strong>m er ein Jahr verloren<br />

hatte, trat er in eine an<strong>de</strong>re Schule ein, verbarg aber diesmal, dass er <strong>de</strong>r Sohn inhaftierter Christen<br />

war.<br />

Dort sollte er einige Zeit später ein Streitgespräch gegen die Bibel abfassen. In dieser Abhandlung<br />

schreib er: „Die Argumente gegen die Bibel sind schwach, und die angeführten Zitate<br />

gegen die Bibel sind unwahr. Ganz sicher hat <strong>de</strong>r Professor die Bibel nicht gelesen. Die Bibel ist<br />

durchaus im Einklang mit <strong>de</strong>r Wissenschaft."<br />

Wie<strong>de</strong>r flog er von <strong>de</strong>r Schule. Diesmal musste er zwei Schuljahre einbüßen.<br />

Schließlich durfte er doch noch im Theologischen Seminar studieren. Hier lehrte man ihn<br />

„Marxistische Theologie". Alles wur<strong>de</strong> hier nach <strong>de</strong>m Muster von Karl Marx erklärt. Mihai protestierte<br />

öffentlich in <strong>de</strong>r Klasse. An<strong>de</strong>re Stu<strong>de</strong>nten schlössen sich ihm an. Das Ergebnis war,<br />

dass er auch von hier abgewiesen wur<strong>de</strong> und seine theologischen Studien nicht abschließen<br />

konnte.<br />

Als in <strong>de</strong>r Schule einmal ein Professor eine atheistische Re<strong>de</strong> hielt, erhob sich mein Sohn<br />

Mihai, wi<strong>de</strong>rsprach <strong>de</strong>m Professor und sagte ihm, was er für eine Verantwortung trage, wenn er<br />

so viele junge Menschen irreführe. Die ganze Klasse ergriff für ihn Partei. Es hatte nur <strong>de</strong>s Anstoßes<br />

bedurft, dass einer <strong>de</strong>n Mut hatte und es als erster aussprach. Dann waren die an<strong>de</strong>ren<br />

schon auf seiner Seite. An<strong>de</strong>rerseits, wenn er eine abgeschlossene Ausbildung haben wollte,<br />

musste er ständig die Tatsache verbergen, dass er <strong>de</strong>r Sohn von Wurmbrand, <strong>de</strong>m inhaftierten<br />

Pfarrer, war. Allzu häufig wur<strong>de</strong> es aber ent<strong>de</strong>ckt, und dann folgte die schon vertraute Szene,<br />

dass er in das Direktorzimmer gerufen und von <strong>de</strong>r Schule verwiesen wur<strong>de</strong>.<br />

Mihai litt in <strong>de</strong>r ganzen Zeit großen Hunger. In atheistischen Län<strong>de</strong>rn gehen die Angehörigen<br />

eingekerkerter Christen fast immer am Hunger zugrun<strong>de</strong>. Denn es gilt als großes Verbrechen,<br />

ihnen zu helfen.<br />

Gib's auf<br />

Ich wur<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r sehr krank. Im Jahre 1963 wur<strong>de</strong> ich ins <strong>Gefängnis</strong>krankenhaus verlegt. Ich<br />

hatte dort gera<strong>de</strong> eine Woche gelegen, als alle Patienten <strong>de</strong>n Befehl bekamen aufzustehen. Manche<br />

konnten kaum gehen, aber wir halfen uns gegenseitig, in <strong>de</strong>n großen Hof hinauszukommen,<br />

wo man das ganze <strong>Gefängnis</strong> versammelt hatte. Stehend wohnten wir einem einstündigen Schauspiel<br />

bei, das von <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs dazu bestimmten Häftlingen vorgeführt wur<strong>de</strong>. Das Spiel verspottete<br />

<strong>de</strong>n christlichen Glauben. <strong>Wenn</strong> die Offiziere, die um <strong>de</strong>n Kommandanten herumstan<strong>de</strong>n,<br />

klatschten o<strong>de</strong>r lachten, taten die übrigen Zuschauer das gleiche.<br />

Als das Spiel zu En<strong>de</strong> war, hob Alexandrescu seine raue Stimme und fragte nach positiver<br />

o<strong>de</strong>r negativer Stellungnahme. Es sei nicht genug, seine Zustimmung zu zeigen, man solle<br />

auch die Grün<strong>de</strong> angeben. Daianu machte <strong>de</strong>n Anfang. Ghinda folgte ihm. Ein Mann nach <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>ren stand auf und wie<strong>de</strong>rholte die Schlagworte gegen die Religion. Als sie wie<strong>de</strong>r in ihre<br />

Reihe zurückkehrten, umarmten mich einige mit Tränen in <strong>de</strong>n Augen und sagten: „Wir müssen<br />

so <strong>sprechen</strong>, bis dieses Theater zu En<strong>de</strong> ist!"<br />

Als <strong>de</strong>r Kommandant mich aufrief, kamen mir die Worte meiner Frau ins Gedächtnis, die<br />

sie mir vor vielen Jahren auf <strong>de</strong>m Religionskongress sagte: „Geh und wasche diese Schan<strong>de</strong> vom<br />

Antlitz Christi!"<br />

Dadurch, dass ich schon in sehr vielen Zellen gewesen war, war ich in Gherla gut bekannt.<br />

Hun<strong>de</strong>rte von Augen waren auf mich gerichtet. Sie alle schienen nur eine Frage zu stellen:<br />

„Wird auch er ein Loblied auf <strong>de</strong>n Kommunismus anstimmen?"<br />

Major Alexandrescu rief: „Los! Re<strong>de</strong>n Sie schon!" Er fürchtete keine Opposition. <strong>Wenn</strong><br />

ein Hartnäckiger zusammenbrach - und das war nach seiner Meinung nur eine Frage <strong>de</strong>r Zeit -,<br />

so war es ein Beweis für die Macht <strong>de</strong>r Partei.<br />

Ich begann vorsichtig: „Es ist Sonntagmorgen, und unsere Frauen, Mütter und Kin<strong>de</strong>r beten<br />

für uns, entwe<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Kirch o<strong>de</strong>r zu Hause. Wir hätten auch gerne für sei gebetet. Statt<strong>de</strong>ssen<br />

haben wir uns dieses Schauspiel angesehen."<br />

58


Tränen kamen <strong>de</strong>n Häftlingen in die Augen, als ich von ihren Familien sprach. Ich fuhr<br />

fort: „Viele haben hier gegen Jesus gesprochen. Aber was habt ihr eigentlich gegen ihn? Ihr<br />

sprecht von Proletariat, aber war Jesus nicht ein Zimmermann? Ihr sagt, wer nicht arbeitet, <strong>de</strong>r soll<br />

auch nicht essen. Aber das hat <strong>de</strong>r Apostel Paulus schon vor langer Zeit in seinem Brief an die<br />

Thessalonicher gesagt. Ihr seid gegen die Reichen, aber Jesus hat die Wechsler mit <strong>de</strong>r Peitsche<br />

aus <strong>de</strong>m Tempel herausgejagt. Ihr wollt <strong>de</strong>n Kommunismus; aber vergesst nicht, dass die ersten<br />

Christen in einer Gemeinschaft lebten und alles, was sie besaßen, miteinan<strong>de</strong>r teilten! Ihr möchtet<br />

die Armen erheben, aber das Magnifikat - <strong>de</strong>r Lobgesang <strong>de</strong>r Jungfrau Maria - sagt bereits,<br />

dass Gott die Armen über die Reichen erheben wird. Alles, was am Kommunismus gut ist,<br />

kommt von <strong>de</strong>n Christen."<br />

„Nun hat Marx gesagt, dass alle Proletarier sich vereinigen müssen", sprach ich weiter,<br />

„aber einige sind Kommunisten, und die an<strong>de</strong>ren sind Sozialisten, und wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re sind Christen,<br />

und wenn sie übereinan<strong>de</strong>r spotten, können sie sich nicht vereinigen. Ich wür<strong>de</strong> niemals einen<br />

Atheisten verspotten. Das Verspotten ist sogar vom marxistischen Standpunkt aus verkehrt,<br />

<strong>de</strong>nn damit bringt man Spaltungen unter das Proletariat."<br />

Ich führte ihnen viele Zitate von ihren eigenen Autoren an. Major Alexandrescu rutschte<br />

auf seinem Stuhl hin und her und trat <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r Spitze seines Stiefels, aber er unterbrach<br />

mich nicht.<br />

Die Häftlinge waren auch still, und als ich sah, dass sie innerlich bewegt waren, vergaß<br />

ich, wo ich mich befand und begann frei über Jesus und über das, was er für uns getan hat und<br />

was er uns be<strong>de</strong>utet, zu predigen. Ich sagte: „Habt ihr schon jemals von einer Ausbildung ohne<br />

Prüfungen gehört? O<strong>de</strong>r von einer Fabrik, wo die Erzeugnisse nicht genau auf ihre Qualität hin<br />

geprüft wer<strong>de</strong>n? Genauso wer<strong>de</strong>n wir alle geprüft, gerichtet von uns selbst, von unseren Mitmenschen<br />

und von Gott." Ich sah <strong>de</strong>n Kommandanten an und sagte: „Auch Sie wer<strong>de</strong>n gerichtet,<br />

Major Alexandrescu."<br />

Er ließ es wie<strong>de</strong>r durchgehen, und ich sprach davon, dass" Jesus Liebe lehrt und das ewige<br />

Leben gibt. Als ich mit meiner Re<strong>de</strong> zu En<strong>de</strong> war, brachen die Häftlinge plötzlich in Beifallsrufe<br />

aus.<br />

Als ich auf meine Platz zurückgekehrt war, sagte Miron: „Sie haben ihre ganze Arbeit<br />

zunichte gemacht!" Aber ich wusste, dass das nicht zutraf. Gaston flüsterte: „Haben Sie <strong>de</strong>n<br />

Beifall gehört?" Ich antwortete: „Das galt <strong>de</strong>m, was sie mit ihrem eigenen Herzen ent<strong>de</strong>ckt haben,<br />

und nicht mir."<br />

Bis jetzt hatte nur eine Min<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Priester <strong>de</strong>m Einfluss <strong>de</strong>r Gehirnwäsche nachgegeben<br />

und machten viel Lärm um sich. Wir, die wir uns offen dagegenstellten, waren auch nur wenige.<br />

Aber wir hatten viele Gleichgesinnte, wenn ihnen auch <strong>de</strong>r Mut o<strong>de</strong>r die Fähigkeit fehlte,<br />

sich selbst zur Wehr zu setzen.<br />

Es war auch nicht so einfach. Als Ergebnis meiner Ansprache verlor ich meine Zufluchtsstätte<br />

im <strong>Gefängnis</strong>krankenhaus und wur<strong>de</strong> in die Priesterzelle zurückgeschickt.<br />

Der Politoffizier erzählte uns, dass Daianu und Radu Ghinda in ihren Privatzellen sich freiwillig<br />

erboten hätten, über die Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Volksrepublik zu sehreiben- die keiner von ihnen seit zwölf<br />

Jahren mit einem einzigen Blick gesehen hatte. Man gab ihnen Papier und Bleistift und stellte<br />

ihnen sämtliche Parteiliteratur und Propagandamaterial für Touristen zur Verfügung, die sie dazu<br />

benötigen <strong>könnten</strong>. Die bei<strong>de</strong>n Männer ergriffen diese Gelegenheit, ihre neuen Überzeugungen<br />

unter Beweis zu stellen, mit bei<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n. Einige Wochen später wur<strong>de</strong>n sie entlassen. Das<br />

war ein mächtiger Schlag gegen unsere Wi<strong>de</strong>rstandskraft. Sie waren die ersten, die unter <strong>de</strong>m<br />

neuen System befreit wur<strong>de</strong>n, und wir konnten nicht ahnen, dass sie auch die letzten sein sollten.<br />

Der Politoffizier, Leutnant Konya, brachte eine Zeitung in die Priesterzelle und rief Vater<br />

Andricu.<br />

„Lesen Sie das mal laut vor", sagte er, „damit je<strong>de</strong>r hören kann." Andricu las die Schlagzeile:<br />

„EIN LAND, DAS LACHT, UND HERZEN, DIE SINGEN." Es war ein Artikel von Radu<br />

Ghinda mit einer Fotografie von ihm, auf <strong>de</strong>r er lachte. Das Bild stammte noch aus <strong>de</strong>r Zeit vor<br />

seiner Verhaftung. Leutnant Konya sagte: „Wir möchten, dass Sie sich im klaren sind, dass je<strong>de</strong>r<br />

59


von Ihnen die gleiche Chance hat, in Freiheit zu leben und zu arbeiten. Dies geschieht in <strong>de</strong>mselben<br />

Augenblick, wo Sie Ihre unsinnigen und altmodischen Überzeugungen aufgeben und sich<br />

<strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>s neuen Rumäniens anschließen!" Herzen, die singen! Je<strong>de</strong>r hatte Ghinda nur<br />

so, wie er war, in Erinnerung: Haut und Knochen. Wir wussten, dass seine Familie in großer Not<br />

lebte, und dass sein Kind von <strong>de</strong>r Schulbildung ausgeschlossen war.<br />

Auch Daianu hatte seinen Namen zur Verherrlichung <strong>de</strong>r Freiheit im sozialistischen Rumänien<br />

hergegeben. Aber genauso wie die französischen Medizinstu<strong>de</strong>nten, die ihre Arbeitshefte mit<br />

Tinte bekleckst hatte, als „bon pour l'Orient" - (gut für <strong>de</strong>n Osten) - bezeichnet wor<strong>de</strong>n sind, so<br />

konnte man die Zeugnisse von Daianu und Ghinda nur für <strong>de</strong>n Westen gebrauchen. Dort konnten<br />

sie mit <strong>de</strong>r Unwissenheit <strong>de</strong>r Leute rechnen, die Rumänien nicht kannten. Ihre Artikel erschienen<br />

in Son<strong>de</strong>rausgaben von Zeitungen und Zeitschriften, die man an Tausen<strong>de</strong> von Rumänen<br />

im Ausland verschickte. Aber in Rumänien selbst waren sie für nieman<strong>de</strong>n erhältlich. Die<br />

Entlassung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Männer hatte je<strong>de</strong>rmann in Aufregung versetzt. Viele Männer, die jahrelang<br />

Grausamkeiten und Demütigungen erdul<strong>de</strong>t hatten, ohne nachzugeben, wur<strong>de</strong>n jetzt<br />

schwankend. Doch solche, die sich nun ergaben, mussten erst ihren Gesinnungswan<strong>de</strong>l beweisen,<br />

um freigelassen zu wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m sie sich für 14- bis 16stündige Arbeit freiwillig mel<strong>de</strong>ten.<br />

<strong>Wenn</strong> sie danach in ihre Zellen zurückkehrten, mussten sie entwe<strong>de</strong>r Schulungen beiwohnen<br />

o<strong>de</strong>r selbst Vorträge halten. Sie mussten die „Fieberkurve <strong>de</strong>r politischen Gesundheit" führen.<br />

Das be<strong>de</strong>utete, dass je<strong>de</strong>r über die Einstellung seines Nachbarn zum Kommunismus Notizen<br />

machen musste: ob dieser lau, kalt o<strong>de</strong>r sogar feindlich gesinnt sei. Über mich schien die Verwaltung<br />

keine guten Berichte erhalten zu haben. Leutnant Konya kam, um mir zwei Neuigkeiten<br />

mitzuteilen. Ersten sagte er mir, dass meine Frau im <strong>Gefängnis</strong> ei, und zwar schon seit längerer<br />

Zeit. Zweitens sollte ich um zehn Uhr abends ausgepeitscht wer<strong>de</strong>n für meine wie<strong>de</strong>rholte Wi<strong>de</strong>rspenstigkeit<br />

und Frechheit, die in meiner Re<strong>de</strong> nach <strong>de</strong>m „Schauspiel" ihren Höhepunkt erreicht<br />

hätte. Die Nachricht über Sabine war für mich ein schwerer Schlag. Mein Schmerz darüber<br />

kam noch zu <strong>de</strong>r Angst vor <strong>de</strong>r bevorstehen<strong>de</strong>n Auspeitschung. Uns allen graute es immer<br />

vor <strong>de</strong>r Wartezeit. Die Stun<strong>de</strong>n krochen im Schneckentempo dahin, um in sich zusammenzuschrumpfen,<br />

als ich die näherkommen<strong>de</strong>n Schritte im Gang hörte. Das Getrampel <strong>de</strong>r Stiefel<br />

ging an unserer Zelle vorbei. Jemand wur<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Nachbarzelle geholt. Gleich darauf hörte ich<br />

die Schläge und Schreie aus <strong>de</strong>m Raum am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Korridors. Niemand kam an diesem Abend,<br />

um mich zu holen. Am nächsten Morgen bekam ich wie<strong>de</strong>r eine Verwarnung. Sechs Tage lang<br />

wur<strong>de</strong> die Spannung aufrecht erhalten. Dann führte man mich <strong>de</strong>n Korridor entlang. Je<strong>de</strong>r Schlag<br />

brannte wie Feuer. Als es vorüber war, schrie Leutnant Konya, <strong>de</strong>r das ganze beaufsichtigte:<br />

„Gib ihm noch ein paar Hiebe!" Dann brauchte ich zu lange, um auf die Beine zu kommen.<br />

„Noch zehn!" sagte Konya. Ich wur<strong>de</strong> zurück in die Zelle geschleppt, wo die Lautsprecher plärrten:<br />

Christentum ist dumm,<br />

Christentum ist dumm,<br />

Christentum ist dumm.<br />

Gib es doch auf,<br />

gib es doch auf,<br />

gib es doch auf,<br />

Christentum ist dumm,<br />

Christentum ist dumm,<br />

Christentum ist dumm.<br />

Gib es doch auf.<br />

Manchmal wur<strong>de</strong>n die Schläge wegen „geringfügiger Unregelmäßigkeiten" von <strong>de</strong>n Wärtern in<br />

<strong>de</strong>r Zelle vorgenommen.<br />

„Hosen herunter! Es gibt Schläge!" Wir ließen die Hosen herunter.<br />

„Auf <strong>de</strong>n Bauch legen!"<br />

Wir legten uns auf <strong>de</strong>n Bauch.<br />

„Auf <strong>de</strong>n Rücken drehen und Beine hochhalten."<br />

Wir drehten uns auf <strong>de</strong>n Rücken.<br />

60


Trotz<strong>de</strong>m versuchten wir weiterzubeten. Manchmal sagte ein Priester: „Ich rufe unseren Vater'<br />

an. Aber welcher Vater, welcher Gott ist es, <strong>de</strong>r mich in dieser Weise meinen Fein<strong>de</strong>n ausliefert?"<br />

Aber wir baten ihn eindringlich: „Gib nicht nach. Bete weiter ‚Vater-unser'. Sei hartnäckig,<br />

durch Wi<strong>de</strong>rstand wirst du <strong>de</strong>inen Glauben erneuern." Und er konnte unseren Worten Gehör<br />

schenken, weil wir seine Lei<strong>de</strong>n teilten. <strong>Wenn</strong> die Wächter es leid waren, selbst zu schlagen,<br />

griffen sie sich zwei Häftlinge heraus. „Los", sagten sie, „schlag <strong>de</strong>inem Freund ins Gesicht!"<br />

<strong>Wenn</strong> <strong>de</strong>r Betreffen<strong>de</strong> sich weigerte, sagten sie: „Du hast <strong>de</strong>ine Gelegenheit verpasst!" und befahlen<br />

<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>n ersten zu schlagen. Er schlug blindlings zu. „Jetzt knall ihm aber eine zurück!"<br />

Sie ohrfeigten sich gegenseitig solange, bis Blut floss. Die Wächter schrieen vor Lachen.<br />

Eines Abends befahl mir Leutnant Konya, meine Sachen zu packen. Da die Behandlung bei<br />

mir nicht angeschlagen hatte, dachte man, dass ein kleiner Aufenthalt in <strong>de</strong>r „Son<strong>de</strong>rabteilung"<br />

mir vielleicht „gut tun" wür<strong>de</strong>. Es gab viele Gerüchte über diese Abteilung <strong>de</strong>s <strong>Gefängnis</strong>ses.<br />

Nur wenige kehrten von dort zurück. Entwe<strong>de</strong>r starben sie, o<strong>de</strong>r sie erlagen <strong>de</strong>r Gehirnwäsche<br />

und kamen woan<strong>de</strong>rs hin. Einige schlössen sich <strong>de</strong>m Schulungspersonal an und lernten, bei an<strong>de</strong>ren<br />

die Gehirnwäsche durchzuführen. Wir überquerten <strong>de</strong>n Hof, gingen mehrere Male um die<br />

Ecke und blieben vor einer Reihe von Türen stehen. Eine davon wur<strong>de</strong> geöffnet. Ich trat ein, und<br />

hinter mir wur<strong>de</strong> zweimal abgeschlossen. Ich befand mich allein in einer Zelle mit weißgekachelten<br />

Wän<strong>de</strong>n. Die Decke reflektierte grelles weißes Licht, das von versteckten Lampen strahlte.<br />

Es war Hochsommer, aber die Zentralheizung, die sonst nirgends in Gherla funktionierte, lief auf<br />

Hochtouren. Konya hatte mich mit Handschellen zurückgelassen, so dass ich nur entwe<strong>de</strong>r auf<br />

<strong>de</strong>m Rücken o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Seite liegen konnte. Ich tropfte vor Schweiß. Das Guckloch klickte<br />

auf. Der Wächter draußen wieherte: „Stimmt etwas mit <strong>de</strong>r Heizung nicht?" Ich hatte Magenschmerzen.<br />

Das Essen hatte einen son<strong>de</strong>rbaren Geschmack gehabt, und ich dachte, dass man ihm<br />

wie<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>in Mittel beigemischt hatte. Der Lautsprecher in diesem Raum hatte eine neue Botschaft<br />

zu verkün<strong>de</strong>n:<br />

Niemand mehr glaubt jetzt an Christus, niemand mehr glaubt jetzt an Christus,<br />

niemand mehr glaubt jetzt an Christus.<br />

keiner geht in die Kirche,<br />

keiner geht in die Kirche,<br />

gib's auf,<br />

gib's auf,<br />

gib's auf.<br />

Niemand mehr glaubt jetzt an Christus.<br />

Konya erschien am Morgen wie<strong>de</strong>r und ließ kühle Luft durch die geöffnete Tür einströmen. Ich<br />

streckte meine steifen Arme und gehorchte seinem Befehl, ihm <strong>de</strong>n Korridor entlang zu folgen.<br />

Eine neue Zelle und frische Kleidung warteten auf mich. Hier gab es ein überzogenes<br />

Bett. Auf <strong>de</strong>m Tisch waren eine Tisch<strong>de</strong>cke und eine Vase mit Blumen. Das war zuviel für mich.<br />

Ich setzte mich hin und fing an zu weinen. Als Konya gegangen war, fasste ich mich wie<strong>de</strong>r. Ich<br />

sah mir die Zeitung an, die auf <strong>de</strong>m Tisch lag. ES war die erste, die ich in all <strong>de</strong>n Jahren meiner<br />

Inhaftierung sah. Ich suchte drin nach <strong>de</strong>r Nachricht, dass die 6. Kriegsflotte <strong>de</strong>r US-Streitkräfte<br />

ins Schwarze Meer eingelaufen war, um freie Wahlen in besetzten Län<strong>de</strong>rn zu for<strong>de</strong>rn. Dieses<br />

Gerücht ging gera<strong>de</strong> in Gherla um. Doch statt<strong>de</strong>ssen fand ich einen kurzen Artikel über einen<br />

kommunistischen Diktator, <strong>de</strong>r in Kuba die Macht an sich gerissen hatte und Amerika direkt vor<br />

seiner eigenen Tür Schwierigkeiten machte.<br />

Der erste, <strong>de</strong>r mich aufsuchte, war Kommandant Alexandrescu. Er sagte, meine neue<br />

Umgebung sei eine Kostprobe von <strong>de</strong>m angenehmen Leben, das mir offen stün<strong>de</strong>. Er begann,<br />

<strong>de</strong>n christlichen Glauben anzugreifen. Christus, sagte er, sei nur eine Erfindung <strong>de</strong>r Apostel<br />

gewesen, um die Sklaven mit <strong>de</strong>r Hoffnung auf die Freiheit im Paradies irrezuführen.<br />

Ich griff nach <strong>de</strong>r Zeitung und reichte sie ihm. „Diese Zeitung ist auf <strong>de</strong>n Druckerpressen<br />

<strong>de</strong>r Partei gedruckt", sagte ich, „sie trägt das Datum vom Juli 1963, das be<strong>de</strong>utet 1963<br />

Jahre seit <strong>de</strong>r Geburt von jemand, <strong>de</strong>r - wie sie es eben gesagt haben - nie gelebt hat. Sie glauben<br />

nicht an Christus, aber Sie akzeptieren ihn als <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>r unserer Zivilisation." Alexandrescu<br />

61


zuckte mit <strong>de</strong>r Achsel. „Das hat gar nichts zu be<strong>de</strong>uten, diese Zeitrechnung ist einfach eine<br />

Sitte."<br />

„Aber wenn Jesus niemals auf die Welt gekommen ist, wie ist diese Sitte entstan<strong>de</strong>n?"<br />

fragte ich.<br />

„Einige Lügner haben es in die Welt gesetzt."<br />

Ich sagte: „Angenommen, Sie erzählen mir, dass die Russen auf <strong>de</strong>m Mars gelan<strong>de</strong>t sind. Ich<br />

brauche Ihnen nicht zu glauben. <strong>Wenn</strong> ich aber <strong>de</strong>n Radioknopf drehe und aus New York höre,<br />

dass die Amerikaner ihnen Glückwünsche sen<strong>de</strong>n, dann weiß ich, dass es wahr sein muss. In<br />

gleicher Weise müssen wir die Existenz Christi als eine historische Tatsache anerkennen, wenn<br />

sie im Talmud von seinen schlimmsten Fein<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Pharisäern, anerkannt wird. Dort wer<strong>de</strong>n<br />

ebenfalls die Namen seiner Mutter und einiger seiner Apostel wie<strong>de</strong>rgegeben. Und wie<strong>de</strong>rum<br />

muss es uns beeindrucken, dass die Pharisäer Christus Wun<strong>de</strong>r zuschreiben, in<strong>de</strong>m sie behaupten,<br />

Jesus habe diese Wun<strong>de</strong>r mittels schwarzer Magie bewerkstelligt. Viele heidnische Schreibe<br />

bestätigen ihn ebenfalls. Nur die Kommunisten leugnen diese klare, geschichtliche Tatsache,<br />

und zwar einfach <strong>de</strong>shalb, weil sie nicht in ihre Theorie passt."<br />

Alexandrescu führte die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung nicht weiter. Statt<strong>de</strong>ssen schickte er mir ein Buch.<br />

Es war herrlich, nach all <strong>de</strong>n Jahren wie<strong>de</strong>r ein Buch in Hän<strong>de</strong>n zu halten, selbst wenn es nur <strong>de</strong>r<br />

„Führer für Atheisten" war. Dieses im Westen unbekannte Handbuch ist eine sehr wichtige Lektüre<br />

für alle, die hinter <strong>de</strong>m Eisernen Vorhang Karriere machen wollen.<br />

Mein Exemplar hatte einen schönen Einband, war illustriert und mit sorgfältiger Beweisführung<br />

versehen. Es fing an mit <strong>de</strong>m Entstehen <strong>de</strong>r Religion und behan<strong>de</strong>lte <strong>de</strong>n Hinduismus, <strong>de</strong>n<br />

Buddhismus, <strong>de</strong>n Konfuzianismus und <strong>de</strong>n Islam. Dann kam das Christentum an die Reihe mit je<br />

einem Kapitel für je<strong>de</strong> Konfession. Der Katholizismus schnitt sehr schlecht ab. Der Protestantismus<br />

erschien schon in einem besseren Licht (Luther hatte <strong>de</strong>m Papst die Stirn geboten), aber alle<br />

wur<strong>de</strong>n als Schwin<strong>de</strong>l hingestellt. Die Wissenschaft hatte dies beweisen, und aus diesem Grun<strong>de</strong><br />

habe die Kirche immer die Wissenschaftler verfolgt. Ein ganzes Kapitel schil<strong>de</strong>rte die Kirche als<br />

ein Werkzeug <strong>de</strong>s Kapitalismus durch alle Jahrhun<strong>de</strong>rte. Die Ermahnung Christi, unsere Fein<strong>de</strong><br />

zu lieben, be<strong>de</strong>utete nichts an<strong>de</strong>res, als sich unter <strong>de</strong>n Ausbeuter zu beugen. Ein beson<strong>de</strong>rer Abschnitt<br />

war <strong>de</strong>r korrupten Haltung <strong>de</strong>r russischen Priesterschaft gewidmet (das Buch war offensichtlich<br />

aus <strong>de</strong>m Russischen übersetzt wor<strong>de</strong>n). Eine Illustration nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wur<strong>de</strong> in<br />

irreführen<strong>de</strong>r Weise gebraucht, um zu zeigen, dass christliche Bräuche im heidnischen Aberglauben<br />

ihren Ursprung hätten. Das letzte Kapitel analysierte „Formen <strong>de</strong>r atheistischen Propaganda"<br />

und schloss mit einem Verzeichnis sowjetischer antireligiöser Dekrete ab. Darüber schlief ich<br />

ein.<br />

Mein Gethsemane<br />

Ich wur<strong>de</strong> mit einem zweiten Aufenthalt in <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rabteilung bestraft. Dort befand ich<br />

mich, als Alexandrescu mich eigens zu <strong>de</strong>m Zwecke aufsuchte, mir mitzuteilen, dass <strong>de</strong>r amerikanische<br />

Präsi<strong>de</strong>nt ermor<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n sei.<br />

„Was <strong>de</strong>nken Sie darüber?" erkundigte er sich.<br />

Ich sagte: „Ich kann es nicht glauben."<br />

Er zeigte mir eine Zeitung, in <strong>de</strong>r ein einziger Absatz über <strong>de</strong>n Tod von John F. Kennedy<br />

berichtete.<br />

„Nun?" drang er wie<strong>de</strong>r auf mich ein. Beharrliche Fragen dieser Art gehörten zu <strong>de</strong>r<br />

Technik, die angewandt wur<strong>de</strong>, um herauszufin<strong>de</strong>n, in welchen Bahnen sich die Gedanken <strong>de</strong>r<br />

Häftlinge bewegten.<br />

„<strong>Wenn</strong> Kennedy ein Christ war, dann ist er jetzt glücklich und im Himmel", gab ich zur<br />

Antwort. Daraufhin ging Alexandrescu wie<strong>de</strong>r hinaus.<br />

Später war ich mit Vater Andricu zusammen in einer Zelle, als die Wächter kamen, um<br />

uns abzuholen. Bevor man uns hinausführte, wur<strong>de</strong>n uns die Augen verbun<strong>de</strong>n und Handschellen<br />

angelegt. Es war wie ein Gang zur Hinrichtung.<br />

Die Wächter sagte: „Nach rechts hier. Und jetzt nach links."<br />

62


In einem abseits gelegenen Teil <strong>de</strong>s <strong>Gefängnis</strong>ses nahm man uns die Augenbin<strong>de</strong> ab. Wir<br />

befan<strong>de</strong>n uns vor einer Reihe sauberer, geheizter Büroräume. Man führte Andriuc zu einem an<strong>de</strong>ren<br />

Teil dieser Abteilung, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Zentralverwaltung sein muss.<br />

Ich blieb mit einem Wächter draußen vor <strong>de</strong>r Tür. Er hatte früher häufig zugehört, wenn ich leise<br />

von Jesus erzählt hatte.<br />

Er flüsterte: „Mein armer Freund. Sie haben es jetzt sehr schwer, aber halten Sie in Gottes<br />

Namen durch."<br />

Er ging einige Schritte von mir weg, sein Gesicht war völlig ausdruckslos, aber seine Worte<br />

hatten mir gut getan.<br />

Als die Tür sich öffnete, wur<strong>de</strong> ich vor einen Mann in einer Generalsuniform geführt. Es<br />

war Negrea, <strong>de</strong>r stellvertreten<strong>de</strong> Innenminister. Seine Intelligenz wur<strong>de</strong> durch <strong>de</strong>n energischen<br />

Ausdruck seines markanten Zigeunergesichtes noch unterstrichen. Der Politoffizier und einige<br />

Funktionäre aus Bukarest saßen neben ihm.<br />

Negrea sagte höflich: „Ich habe gera<strong>de</strong> Ihren Fall studiert, Herr Wurmbrand. Ich halte<br />

nichts von Ihren Ansichten. Aber ein Mann, <strong>de</strong>r so fest bleibt, gefällt mir. Wir Kommunisten<br />

sind auch hartnäckig. Ich selbst war auch oft im <strong>Gefängnis</strong> gewesen. Man hatte eine Menge unternommen,<br />

meine Gedanken zu än<strong>de</strong>rn. Aber ich blieb fest.<br />

Ich glaube, es ist jetzt an <strong>de</strong>r Zeit, dass wir uns auf halbem Wege entgegenkommen.<br />

<strong>Wenn</strong> Sie bereit sind, das, was Sie erlitten haben zu vergessen, wer<strong>de</strong>n wir das, was Sie gegen<br />

uns unternommen haben, aus <strong>de</strong>m Gedächtnis streichen. Wir wen<strong>de</strong>n einfach das Blatt um und<br />

wer<strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong> anstatt Fein<strong>de</strong>. Weit davon entfernt, gegen Ihre Überzeugung zu han<strong>de</strong>ln, können<br />

Sie weiterhin sich selbst treu bleiben und <strong>de</strong>nnoch in eine Phase <strong>de</strong>r fruchtbaren Zusammenarbeit<br />

mit uns eintreten."<br />

Er hatte eine offene Akte vor sich liegen. „Ich habe sogar Ihre Predigten gelesen. Sie erklären<br />

die Bibel auf eine sehr schöne Art. Sie müssen aber be<strong>de</strong>nken, dass wir in einem Zeitalter<br />

<strong>de</strong>r Wissenschaft leben."<br />

„Was wird jetzt kommen?" fragte ich mich, als Negrea anfing, mit einen parteiwissenschaftlichen<br />

Vortrag zu halten. Hätte ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Staatsmann lediglich zu diesem Zweck<br />

eine 320 km weite Reise unternommen?<br />

Wie die Donau, die sich in vielen Schlingen und Kurven durch das Flachland win<strong>de</strong>t und<br />

schließlich doch das Meer erreicht, kam auch seine Re<strong>de</strong> zum entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Punkt.<br />

„Wir brauchen solche Männer wie Sie! Wir wollen nicht, dass die Leute nur aus Opportunismus<br />

zu uns kommen, son<strong>de</strong>rn weil sie eingesehen haben, dass ihre frühere Art zu <strong>de</strong>nken<br />

falsch war. <strong>Wenn</strong> Sie bereit sind, uns in unserem Kampf gegen <strong>de</strong>n Aberglauben zu unterstützen,<br />

können Sie sofort ein neues Leben beginnen. Sie wer<strong>de</strong>n eine hoch bezahlte Stellung bekommen,<br />

und Ihre Familie wird mit Ihnen in Wohlstand und Sicherheit vereint sein. Was sagen Sie dazu?"<br />

Ich sagte, ich hätte bereits Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>m Leben, das ich jetzt führe. Aber was meine Hilfe<br />

für die Partei beträfe, hätte ich erwogen, was ich nach meiner Entlassung tun könnte.<br />

Der Politoffizier richtete sich auf. Negrea sagte: „Meinen Sie damit, dass Sie für uns arbeiten<br />

wollen?"<br />

„Ich schlage vor, dass Sie mich zusammen mit Ihrem besten marxistischen I<strong>de</strong>ologen von<br />

Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf reisen lassen. Zuerst wer<strong>de</strong> ich meine Unwissenheit und die<br />

Dummheit meines rückständigen christlichen Glaubens darlegen, dann kann Ihr Marxist seine<br />

Theorien erläutern, und die Leute wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Lage sein, selbst zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n zu wählen."<br />

Negrea blickte mich lange an: „Sie wollen uns herausfor<strong>de</strong>rn, Herr Wurmbrand. Gera<strong>de</strong><br />

das gefällt mir an Ihnen. Genauso haben wir Kommunisten <strong>de</strong>n Ausbeutern in <strong>de</strong>n alten Tagen<br />

geantwortet. Wir wollen uns also nicht streiten. Ich will Ihnen einen noch besseren Vorschlag<br />

machen. Niemand will aus Ihnen einen atheistischen Propagandisten machen. <strong>Wenn</strong> Sie tatsächlich<br />

so sehr an Ihrem veralteten Glauben hängen - obwohl ich nicht verstehen kann, wie ein intelligenter<br />

Mensch solch einen Unsinn akzeptieren kann -, dann bleiben Sie dabei. Aber <strong>de</strong>nken<br />

Sie daran, dass die Macht in unserer Hand ist. Der Kommunismus hat ein Drittel <strong>de</strong>r Welt erobert.<br />

Die Kirche muss zusehen, dass sie mit uns han<strong>de</strong>lseinig wird.<br />

63


Wir wollen einmal die Karten auf <strong>de</strong>n Tisch legen. Offen gesagt, sind wir <strong>de</strong>r Kirchenführer<br />

überdrüssig, die alles tun, was wir sagen, und manchmal noch darüber hinaus. Sie haben sich<br />

selbst in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Volkes kompromittiert. Sie haben keinen Kontakt mehr mit <strong>de</strong>m wirklichen<br />

Geschehen."<br />

Negrea nannte die Namen <strong>de</strong>r Bischöfe, die noch übriggeblieben waren. Sie seien alle<br />

machtlos, sagte er, o<strong>de</strong>r Verbindungsmänner <strong>de</strong>r Partei, und alle wüssten das.<br />

„<strong>Wenn</strong> nun aber ein Mann wie Sie Bischof wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, so <strong>könnten</strong> Sie Ihrem Glauben<br />

beibehalten und <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>r Regierung treu sein. Ihre Bibel sagt, dass Sie <strong>de</strong>r Obrigkeit Untertan<br />

sein sollen, weil sie von Gott eingesetzt ist. Warum sollten Sie es mit unserer Regierung nicht<br />

auch so halten?"<br />

Ich sagte nichts. Negrea bat die an<strong>de</strong>ren Funktionäre, uns für einen Augenblick allein zu<br />

lassen. Er war überzeugt, dass ich sein Angebot annehmen wür<strong>de</strong>, und wollte mir etwas anvertrauen,<br />

was nicht für die Ohren <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren bestimmt war.<br />

„Die Partei machte einen Fehler", begann er, „als sie Ihren Weltkirchenrat angriff. Anfangs<br />

war es zwar ein Spionagering, aber die beteiligten Pfarrer sind zum größten Teil proletarischer<br />

Herkunft. Sie sind sozusagen keine Inhaber, son<strong>de</strong>rn Angestellte in gehobener Stellung.<br />

Anstatt solche Männer zu bekämpfen, sollten wir sie auf unsere Seite ziehen, so dass die ganze<br />

Organisation zu unserem Werkzeug wird."<br />

Er lehnte sich über <strong>de</strong>n Schreibtisch: „Herr Wurmbrand, dies ist es, womit Sie uns helfen<br />

könne. Sie haben für <strong>de</strong>n Weltkirchenrat gearbeitet. Sie sind im Ausland weithin bekannt - wir<br />

bekommen immer noch viele Anfragen über Sie. <strong>Wenn</strong> Sie Bischof wer<strong>de</strong>n, können Sie unseren<br />

an<strong>de</strong>ren Verbün<strong>de</strong>ten aus <strong>de</strong>m Weltkirchenrat helfen, ein Bollwerk für uns zu bauen, nicht für<br />

<strong>de</strong>n Atheismus, son<strong>de</strong>rn für <strong>de</strong>n Sozialismus und für <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n. Sie erkennen doch sicherlich<br />

<strong>de</strong>n weltumfassen<strong>de</strong>n, menschlichen I<strong>de</strong>alismus an, <strong>de</strong>r hinter unseren Frie<strong>de</strong>nskampagnen und<br />

unsere Bemühungen um <strong>de</strong>n Atomsperrvertrag steht. Sie wer<strong>de</strong>n dabei in <strong>de</strong>r Lage sein, Gott<br />

nach Herzenslust anzubeten. In diesen Bereich wer<strong>de</strong>n wir uns nicht einmischen."<br />

Ich dachte einen Augenblick nach.<br />

„Wie weit wird diese Zusammenarbeit gehen? Bischöfe, die früher für Sie gearbeitet haben,<br />

mussten ihre eigenen Priester bespitzeln. Wird dasselbe auch von mir erwartet?"<br />

Negrea fing an zu lachen: „Ihr Amt wir für Sie keine beson<strong>de</strong>ren Verpflichtungen mit<br />

sich bringen", sagte er. „Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r von einer Tat weiß, die <strong>de</strong>n Staat schädigen kann, ist gesetzlich<br />

verpflichtet, <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>r diese Tat begeht, anzuzeigen. Als Bischof wer<strong>de</strong>n Sie gewiss<br />

solche Dinge zu hören bekommen.<br />

Der gegenwärtige lutherische Bischof von Rumänien ist sehr alt. Sie wür<strong>de</strong>n also <strong>de</strong>r zukünftige<br />

Bischof und von Anfang an schon das eigentliche Oberhaupt Ihrer Kirche in Rumänien<br />

sein."<br />

Ich erbat mir Be<strong>de</strong>nkzeit. Negrea war einverstan<strong>de</strong>n. „Wir wer<strong>de</strong>n uns noch einmal treffen,<br />

bevor ich wie<strong>de</strong>r nach Bukarest fahre, um Ihre Entlassungspapiere in Ordnung zu bringen",<br />

sagte er.<br />

Man führte mich wie<strong>de</strong>r in eine Isolierzelle. Dort lag ich viele Stun<strong>de</strong>n und dacht nach.<br />

Ich erinnerte mich an die alte jüdische Geschichte von einem an<strong>de</strong>ren Mann, <strong>de</strong>r um Be<strong>de</strong>nkzeit<br />

gebeten hatte. Es war ein Rabbiner, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Inquisition aufgefor<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>, seinen Glauben<br />

zu verleugnen. Am nächsten Morgen sagte <strong>de</strong>r Rabbiner: „Ich will nicht Katholik wer<strong>de</strong>n. Aber<br />

ich habe noch eine letzte Bitte. Bevor ich auf <strong>de</strong>m Scheiterhaufen verbrannt wer<strong>de</strong>, soll ich meine<br />

Zunge herausgeschnitten wer<strong>de</strong>n, weil ich meine Antwort nicht sofort gegeben habe. Denn auf<br />

solche eine Frage gibt es nur eine Antwort, und die heißt, Nein\"<br />

Aber dies war nur die eine Seite. Ich wusste an<strong>de</strong>rerseits, dass die offizielle Kirche in einem<br />

kommunistischen Land nur dann bestehen kann, wenn sie in einem gewissen Maß zu Zugeständnissen<br />

bereit ist. Auch das Zahlen von Steuern an einen atheistischen Staat ist für einen<br />

Christen schon ein Kompromiss. Es war leicht zu sagen, die Kirche könnte „untertauchen". Es ist<br />

jedoch so, dass eine Untergrundkirche für ihre Arbeit eine Deckorganisation braucht. <strong>Wenn</strong> diese<br />

fehlt, haben Millionen von Menschen keinen Raum, wo sie ihre Gottesdienste halten könne, keinen<br />

Pfarrer, <strong>de</strong>r ihnen die Predigt hält, niemand, <strong>de</strong>r sie tauft, traut und ihre Toten beerdigt - eine<br />

64


unvorstellbare Alternative, wenn man daran <strong>de</strong>nkt, dass es in meiner Hand lag, sie zu vermei<strong>de</strong>n.<br />

Ich brauchte nur gelegentlich einige Worte zugunsten <strong>de</strong>r Kollektivierung und <strong>de</strong>s sogenannten<br />

„Kampfes für <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n" zu sagen.<br />

Außer<strong>de</strong>m hatte ich meine Frau und meinen Sohn schon jahrelang nicht mehr gesehen.<br />

Ich wusste nicht, ob sie überhaupt noch am Leben waren. Der Politoffizier hatte gesagt, dass<br />

Sabine im <strong>Gefängnis</strong> war. Was wür<strong>de</strong> aus ihr und Mihai wer<strong>de</strong>n, wenn ich dieses Angebot ausschlug?<br />

Ich brauchte Kraft von oben, um Nein zu sagen. Denn das be<strong>de</strong>utete elf weitere Jahre im<br />

<strong>Gefängnis</strong>, verbun<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>m Opferweg meiner Familie und <strong>de</strong>m fast sicheren Tod unter entsetzlichen<br />

Umstän<strong>de</strong>n. Aber in diesem : Augenblick war das Antlitz Gottes verhüllt, und mein<br />

Glaube verließ mich. Mit meinen geistigen Augen sah ich die riesenhafte Gestalt <strong>de</strong>s Kommunismus,<br />

die schon einen so großen Teil <strong>de</strong>r Welt im Griff hatte und auch <strong>de</strong>n Rest zu schlucken<br />

drohte. Ich wur<strong>de</strong> innerlich erdrückt von <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sgefahr, von <strong>de</strong>r Aussicht, immer und immer<br />

wie<strong>de</strong>r geschlagen zu wer<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>m drohen<strong>de</strong>n Hunger und <strong>de</strong>n Entbehrungen, zu <strong>de</strong>nen ich<br />

meine Frau und meinen Sohn verurteilte. Meine Seele glich einem Schiff, das von einer Seite auf<br />

die an<strong>de</strong>re geschleu<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>, ein Spielball eines gewaltigen Sturmes. Sie stürzte in einem Augenblick<br />

in die tiefste Tiefe und wur<strong>de</strong> im nächsten Augenblick in <strong>de</strong>n Himmel hoch getragen.<br />

Während dieser Stun<strong>de</strong>n habe ich <strong>de</strong>n Kelch Christi getrunken. Es war mein Gethsemane. Und<br />

wie Jesus warf ich mich mit <strong>de</strong>m Gesicht auf die Er<strong>de</strong>, betete in gebrochenen Schreien und bat<br />

Gott, mir zu helfen, diese entsetzliche Versuchung zu überwin<strong>de</strong>n.<br />

Nach <strong>de</strong>m Gebet wur<strong>de</strong> ich etwas ruhiger, aber immer noch sah ich Nichifor Daianu, Radu<br />

Ghinda und noch viele an<strong>de</strong>re, die <strong>de</strong>r Sache Jesu Scha<strong>de</strong>n zugefügt hatte, einschließlich <strong>de</strong>s<br />

Patriarchen. Es gab Tausen<strong>de</strong> von ihnen, und jetzt war auch ich kleingläubig gewor<strong>de</strong>n. Der<br />

Kommunismus wür<strong>de</strong> auch mich, wie sie alle, wegen meiner fleischlichen Schwachheit verschlingen.<br />

Ich fing an, all die Gelegenheiten sorgfältig zu rekonstruieren, bei welchen ich die<br />

Wahrheit <strong>de</strong>s christlichen Glaubens verfochten hatte. Ich wie<strong>de</strong>rholte mir selbst die einfachsten<br />

Fragen: Ist <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>r Liebe besser als <strong>de</strong>r Weg <strong>de</strong>s Hasses? Hat Christus mich von <strong>de</strong>n Bür<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Zweifels befreit? Ist er <strong>de</strong>r Erlöser? Schließlich fiel es mir nicht mehr<br />

schwer, diese Fragen mit einem Ja zu beantworten. Nach<strong>de</strong>m ich das getan hatte, war mir, als ob<br />

mir eine zentnerschwere Last von <strong>de</strong>r Seele genommen wur<strong>de</strong>.<br />

Eine Stun<strong>de</strong> lang lag ich auf meinem Bett und sagte zu mir selbst: „Ich wer<strong>de</strong> jetzt versuchen,<br />

nicht an Jesus zu <strong>de</strong>nken." Aber es war umsonst. Ich konnte an nichts an<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>nken.<br />

Ohne <strong>de</strong>n Glauben an Christus war mein Herz leer. Zum letzten Mal ließ ich mir Negreas Angebot<br />

durch <strong>de</strong>n Kopf gehen. Ich dachte an die Tyrannen, angefangen von Nebukadnezar, <strong>de</strong>r einen<br />

König über die Ju<strong>de</strong>n setzte, bis zu Hitler, <strong>de</strong>r seinen Marionetten in ganz Europa Schlüsselstellungen<br />

gab. Auf meiner Visitenkarte wür<strong>de</strong> stehen: „Richard Wurmbrand, <strong>de</strong>r lutherische Bischof<br />

von Rumänien, eingesetzt durch die Geheimpolizei." Ich wür<strong>de</strong> nicht ein Bischof Christi in<br />

einem heiligen Amt sein, son<strong>de</strong>rn ein Polizeispitzel einer staatlichen Institution.<br />

Dann betete ich wie<strong>de</strong>r und fühlte danach, wie <strong>de</strong>r Frie<strong>de</strong> in meine Seele zurückkehrte.<br />

Am nächsten Tag wur<strong>de</strong> ich wie<strong>de</strong>r gerufen. Unter mehreren an<strong>de</strong>ren um Negrea befand<br />

sich auch Kommandant Alexandrescu. Als ich sagte, ich könnte das Angebot nicht annehmen,<br />

wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r ganze Fragenkomplex noch einmal diskutiert. Doch als wir auf das Thema <strong>de</strong>s Weltkirchenrates<br />

kamen, bat Negrea die an<strong>de</strong>ren wie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n Raum zu verlassen. Dann bat er mich<br />

dringend, meine Entscheidung nochmals zu überprüfen.<br />

Ich sagte: „Ich halte mich nicht für würdig, Bischof zu wer<strong>de</strong>n. Ich war es nicht wert, ein<br />

Pfarrer zu sein. Sogar <strong>de</strong>r Stand eines einfachen Christen war eine Überfor<strong>de</strong>rung für mich. Die<br />

ersten Christen gingen in <strong>de</strong>n Tod mit <strong>de</strong>n Worten:Christianus sum!' - Ich bin ein Christ -, und<br />

ich habe dies nicht getan. Statt<strong>de</strong>ssen habe ich Ihr schmachvolles Angebot in Erwägung gezogen.<br />

Aber ich kann es nicht annehmen."<br />

„Wir wer<strong>de</strong>n einen an<strong>de</strong>ren fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r es tun wird", drohte er.<br />

Ich antwortete: „<strong>Wenn</strong> Sie glauben, mir beweisen zu können, dass mein Han<strong>de</strong>ln falsch<br />

ist, dann nennen Sie mir Ihre atheistischen Argumente. Ich weiß, worauf sich mein Glaube<br />

grün<strong>de</strong>t, und ich suche nur die Wahrheit."<br />

65


Er fragte: „Sie wissen natürlich, welche Folgen dies für Ihre Zukunft haben wird?"<br />

„Ich habe es mir gut überlegt und die gefahren erwogen, und ich freue mich, für etwas<br />

lei<strong>de</strong>n zu können, was nach meiner festen Überzeugung die einzige und endgültige Wahrheit<br />

ist."<br />

Negrea sah mich mit <strong>de</strong>m Blick eines Mannes an, <strong>de</strong>m es bewusst wird, seine Zeit vergeu<strong>de</strong>t<br />

zu haben.<br />

Bis zuletzt höflich, nickte er mir zu, schloss seine Aktentasche, stand auf und ging zum<br />

Fenster. Dort stand er und schaute hinaus, während die Wächter mir Handschellen anlegten und<br />

mich hinausführten.<br />

„Christentum ist tot"<br />

Lange Zeit blieb ich in <strong>de</strong>r „Son<strong>de</strong>rabteilung"; wie lange, kann ich nicht mit Bestimmtheit<br />

sagen. Im Laufe <strong>de</strong>r Zeit schmolzen gewissen Abschnitte meines <strong>Gefängnis</strong>daseins zu einem<br />

einigen ungeheuren Tag zusammen. Die Gehirnwäsche nahm an Intensität zu, än<strong>de</strong>rte aber<br />

nur wenig an <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n. Aus <strong>de</strong>n Lautsprechern tönte es jetzt:<br />

Christentum ist tot,<br />

Christentum ist tot,<br />

Christentum ist to.<br />

An einen Tag kann ich mich <strong>de</strong>utlich erinnern. Man hatte uns Postkarte gegeben, mit <strong>de</strong>nen<br />

wir unsere Familien einla<strong>de</strong>n und sie bitten sollten, uns Pakte zu bringen. Als <strong>de</strong>r genannte<br />

Tag kam, wur<strong>de</strong> ich rasiert, gewaschen und bekam ein sauberes Oberhemd. Stun<strong>de</strong>n vergingen.<br />

Ich saß in <strong>de</strong>r Zelle und starrte die weiß glitzern<strong>de</strong>n Kacheln an, aber niemand kam. Am Abend<br />

wur<strong>de</strong> die Wachmannschaft abgelöst. Ich konnte damals nicht wissen, dass meine Postkarte<br />

niemals abgeschickt wor<strong>de</strong>n war. Den gleichen Trick spielten sie auch mit an<strong>de</strong>ren hartnäckigen<br />

Häftlingen. Der Lautsprecher sagte:<br />

Jetzt hat dich niemand mehr lieb,<br />

jetzt hat dich niemand mehr lieb,<br />

jetzt hat dich niemand mehr lieb,<br />

jetzt hat dich niemand mehr lieb.<br />

Ich fing an zu weinen. Der Lautsprecher verkün<strong>de</strong>te:<br />

Man will nichts mehr von dir wissen,<br />

man will nichts mehr von dir wissen,<br />

man will nichts mehr von dir wissen.<br />

Ich konnte diese Worte nicht ertragen und konnte ihnen nicht entfliehen.<br />

Der nächste Tag brachte eine brutale „Kampfversammlung" mit sich, an <strong>de</strong>r nur die enttäuschten<br />

Männer teilnahmen.<br />

Viele an<strong>de</strong>re Frauen seien gekommen, sagte <strong>de</strong>r Redner, nur wir seien die Dummen, man<br />

hätte uns abgeschrieben. Unsere Frauen lägen mit an<strong>de</strong>ren Männern im Bett -jetzt in diesem Augenblick.<br />

Mit aller Unanständigkeit, die ihm zu Gebote stand, schil<strong>de</strong>rte er uns, was zwischen<br />

ihnen vorging. Und wo seinen unsere Kin<strong>de</strong>r? Auf <strong>de</strong>r Straße, je<strong>de</strong>s einzelne von ihnen ein<br />

Atheist. Sie hätten keinen Wunsch, ihre Väter wie<strong>de</strong>rzusehen. Wie dumm wir doch seien!<br />

In <strong>de</strong>r Son<strong>de</strong>rabteilung hörte ich tagaus, tagein <strong>de</strong>n Lautsprecher:<br />

Christentum ist tot,<br />

Christentum ist tot,<br />

Christentum ist tot.<br />

Und mit <strong>de</strong>r Zeit fing ich an zu glauben, was man uns in all diesen Monaten eingere<strong>de</strong>t<br />

hatte. Das Christentum war tot. Die Bibel sagte einen großen Abfall vom Glauben voraus. Ich<br />

glaubte, diese Zeit sei gekommen.<br />

Da dachte ich an Maria Magdalena, und vielleicht gera<strong>de</strong> dieser Gedanke rettete mich<br />

vor <strong>de</strong>m Seelen töten<strong>de</strong>n Gift <strong>de</strong>s letzten und schwersten Stadiums <strong>de</strong>r Gehirnwäsche.<br />

Ich erinnerte mich, wie sie Jesus treu war, selbst als er am Kreuz ausrief: „Mein Gott,<br />

warum hast du mich verlassen?" Und als sein Leichnam im Grabe lag, stand sie weinend in <strong>de</strong>r<br />

66


Nähe und wartete, bis er auferstan<strong>de</strong>n war. <strong>Wenn</strong> ich auch schließlich glaubte, dass das Christentum<br />

tot sei, dachte ich, ich will trotz<strong>de</strong>m daran glauben und will an seinem Grabe weinen, bis er<br />

wie<strong>de</strong>r aufersteht, und das wird er ganz gewiss.<br />

Der Totgesagte lebt<br />

Im Juni 1964 versammelte man alle Häftlinge in <strong>de</strong>r Haupthalle. Der Kommandant, von<br />

seinen Offizieren begleitet, trat ein, und wir stellten uns auf ein neues Stadium <strong>de</strong>r „Kampfversammlungen"<br />

ein.<br />

Statt <strong>de</strong>ssen gab Major Alexandrescu bekannt, dass~ unter <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Regierung erlassenen,<br />

allgemeinen Amnestie sämtliche politische Häftlinge freigelassen wer<strong>de</strong>n sollten.<br />

Ich konnte es nicht glauben. Als ich mich umschaute, sah ich lauter ausruckslose Gesichter.<br />

Dann gab <strong>de</strong>r Kommandant ein Zeichen, und <strong>de</strong>r ganze Saal brach in Beifallsrufe aus. Hätte<br />

er ihnen gesagt: „Morgen wer<strong>de</strong>t ihr alle erschossen", sie hätten auch dann applaudiert und gerufen:<br />

„Recht so, wir sind nicht wert zu leben!"<br />

Doch diese Bekanntmachung war kein neuer Trick, wie wir zuerst vermuteten. Im Sommer<br />

dieses Jahres wur<strong>de</strong>n viele Tausen<strong>de</strong> von Häftlingen freigelassen. Das hatten wir einem erneuten<br />

sogenannten „Tauwetter" zwischen Ost und West zu verdanken und ebenfalls - obwohl<br />

ich es damals nicht wusste - einer echten Sinnesän<strong>de</strong>rung unseres Ministerpräsi<strong>de</strong>nten Gheorghiu-Dej.<br />

Nach Jahren <strong>de</strong>s Zweifels an <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>s Kommunismus kehrte er zu <strong>de</strong>m<br />

Glauben zurück, in <strong>de</strong>m seine Mutter ihn erzogen hatte, und <strong>de</strong>m sie selbst ihr ganzes Leben<br />

lang treu geblieben war. Dej kam zum Glauben durch ein Dienstmädchen in seinem Haus und<br />

durch <strong>de</strong>ssen Onkel, einem gutherzigen alten Mann, <strong>de</strong>r oft mit ihm über die Bibel sprach. Der<br />

Glaube an Christus, obwohl er ihn nicht öffentlich bekannte, gab ihm die Kraft, seinen sowjetischen<br />

Gebietern Wi<strong>de</strong>rstand zu leisten. Er achtete nicht auf ihre Drohungen und knüpfte neue<br />

Beziehungen mit <strong>de</strong>m Westen an. Damit setzte er <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren unterdrückten Län<strong>de</strong>rn ein Beispiel.<br />

Unglücklicherweise starb er einige Monate später. Man sagt, dass sein Tod von sowjetischen<br />

Agenten beschleunigt wor<strong>de</strong>n war.<br />

Ich kam an die Reihe. Ich gehörte zu einer <strong>de</strong>r letzten Gruppen von etwa hun<strong>de</strong>rt Männern,<br />

die in einer großen Halle versammelt wur<strong>de</strong>n. Wir waren fast die letzten Häftlinge, die<br />

noch in Gherla waren. Eine ungewohnte Stille herrschte in <strong>de</strong>n Korridoren. Uns wur<strong>de</strong>n die Haare<br />

geschnitten, und wir bekamen getragene, aber saubere Kleidung.<br />

Während ich überlegte, was wohl aus <strong>de</strong>m ursprünglichen Besitzer meines Anzugs gewor<strong>de</strong>n<br />

sein mochte, hörte ich einen Mann rufen: „Bru<strong>de</strong>r Wurmbrand!" ER kam auf mich zu<br />

und sagte, er stamme von Sibiu. Ich nahm an, dass er ein Mitglied unserer dortigen Gemein<strong>de</strong><br />

war.<br />

„Ihr Sohn hat mir so viel von Ihnen erzählt", fügte er hinzu. „Wir waren zusammen in einer<br />

Zelle."<br />

Ich sagte: „Mein Sohn im <strong>Gefängnis</strong>? Nein, nein, es muss ein Irrtum sein!"<br />

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie es nicht wussten?" fuhr <strong>de</strong>r Mann fort. „Er ist jetzt seit<br />

sechs Jahren im <strong>Gefängnis</strong>."<br />

Ich wandte mich ab, und er ging weg. Dieser Schlag war fast mehr, als ich ertragen konnte.<br />

Mihai hatte eine schwache Gesundheit; sie konnte niemals <strong>de</strong>n Strapazen einer längeren Inhaftierung<br />

standhalten.<br />

Ich war innerlich immer noch ganz starr vor Schreck, als <strong>de</strong>r Kommandant Alexandrescu<br />

auf mich zukam: „Nun, Wurmbrand", fragte er neugierig, „wohin wer<strong>de</strong>n Sie jetzt gehen, nach<strong>de</strong>m<br />

Sie frei sind?"<br />

Ich sagte: „Ich weiß es nicht. Mir ist offiziell mitgeteilt wor<strong>de</strong>n, dass meine Frau im <strong>Gefängnis</strong><br />

ist, und eben habe ich gehört, dass mein einziger Sohn auch verhaftet wor<strong>de</strong>n ist. Ich<br />

habe sonst nieman<strong>de</strong>n."<br />

Alexandrescu zuckte mit <strong>de</strong>n Achseln: „Was, <strong>de</strong>r Junge auch? Was sagen Sie dazu, einen<br />

Galgenvogel als Sohn zu haben?"<br />

„Ich bin sicher, dass er nicht wegen Diebstahls o<strong>de</strong>r eines an<strong>de</strong>ren Verbrechens im Ge-<br />

67


fängnis ist. Und wenn er um Christi willen dort ist, dann bin ich stolz auf ihn."<br />

„Was?" schrie er, „wir geben jahrelang all das viele Geld für Sie aus, und Sie meinen<br />

noch, darauf stolz sein zu können, wenn Ihre Familie wegen solcher Dinge im <strong>Gefängnis</strong> sitzt?"<br />

„Es war nicht mein Wunsch, dass Sie irgen<strong>de</strong>twas für mich ausgeben", sagte ich.<br />

So gingen wir auseinan<strong>de</strong>r. Ich verließ das <strong>Gefängnis</strong> in <strong>de</strong>r Kleidung eines an<strong>de</strong>ren<br />

Mannes. Auf <strong>de</strong>n Straßen von Gherla kam ich mir wie geblen<strong>de</strong>t vor. Wagen rasten vorbei, und<br />

etwas ängstlich machte ich mich auf <strong>de</strong>n Weg. Die Farben eines Damenmantels, ein Blumenstrauß<br />

waren für meine Augen fast ein Schock. Radiomusik, die aus einem offenen Fenster kam,<br />

wirkte auf mich wie zu stark gesüßter Kaffee. Die Luft roch rein und frisch, als ob man hinter<br />

<strong>de</strong>n Grenzen <strong>de</strong>r kleinen Stadt das Heu mähte. Doch all das wur<strong>de</strong> überschattet von <strong>de</strong>m Gedanken,<br />

dass meine Frau und mein Sohn im <strong>Gefängnis</strong> waren.<br />

Mit <strong>de</strong>m Bus fuhr ich in die nahegelegene Stadt Klausenburg, wo ich Freu<strong>de</strong> hatte. Aber<br />

sie waren umgezogen. In <strong>de</strong>r drücken<strong>de</strong>n Hitze <strong>de</strong>s Hochsommers stapfte ich von einem Haus<br />

zum an<strong>de</strong>ren, bis ich sie schließlich fand. Sie setzten mir Kuchen, Obst und alle möglichen an<strong>de</strong>ren<br />

guten Dinge vor. Aber ich sah auf <strong>de</strong>m Tisch eine schöne, brauen Zwiebel, und das war es,<br />

was ich haben wollte. Mich hatte es oft nach einer Zwiebel verlangt, um <strong>de</strong>n Geschmack <strong>de</strong>r <strong>Gefängnis</strong>kost<br />

loszuwer<strong>de</strong>n. Aber jetzt wollte ich nicht gern darum bitten.<br />

Ich rief einen von unseren Nachbarn in Bukarest an. Die Stimme, die antwortete, gehörte<br />

Sabine.<br />

„Hier ist Richard", sagte ich, „ich dachte, du wärest im <strong>Gefängnis</strong>."<br />

Ich hörte ein Gewirr von Geräuschen. Mihai nahm <strong>de</strong>n Hörer auf. „Mutter ist ohnmächtig<br />

gewor<strong>de</strong>n, bleibe am Apparat!" Es gab noch mehr eigenartige Laute. Dann sagte Mihai: „Sie<br />

kommt wie<strong>de</strong>r zu sich. Wir dachten, dass du tot seiest!"<br />

Mihai war nie im <strong>Gefängnis</strong> gewesen. Die Lügennachricht, die ich bekommen hatte, war<br />

das Tüpfelchen auf <strong>de</strong>m i, das meine Reaktion auf die Gehirnwäsche prüfen sollte.<br />

Ich nahm einen Zug nach Bukarest. Als er in <strong>de</strong>n Bahnhof einfuhr, sah ich einen Menschenauflauf:<br />

Männer, Frauen und Kin<strong>de</strong>r. Sie hatten Arme voller wil<strong>de</strong>r Blumen, und ich fragte<br />

mich, wer wohl <strong>de</strong>r Glückliche sei, <strong>de</strong>m solch ein Empfang bereitet wur<strong>de</strong>. Dann sah ich bekannte<br />

Gesichter und lehnte mich aus <strong>de</strong>m Wagenfenster, um zu winken. Als ich aus <strong>de</strong>m Zug<br />

ausstieg, sah es so aus, als ob alle Leute aus unserer Kirche mir entgegenliefen, um mich zu begrüßen.<br />

Und dann umarmte ich meine Frau und meinen Sohn.<br />

An diesem Abend erzählte mir Sabine, dass man ihr schon vor Jahren eine Mitteilung<br />

von meinem Tod gemacht hatte. Sie weigerte sich, es zu glauben, selbst wenn Frem<strong>de</strong>, die sich<br />

für ehemalige Häftlinge ausgaben, sie besuchten und behaupteten, bei meiner Beerdigung dabei<br />

gewesen zu sein.<br />

„Ich will auf ihn warten", hatte sie gesagt.<br />

Jahre vergingen ohne ein einziges Lebenszeichen von mir, bis mein Telefonanruf kam.<br />

Für sie war es, als sei ich von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n.<br />

Mein letzter Unterricht in <strong>de</strong>r Heimat<br />

An einem Sonntag, Monate nach meiner Entlassung, machte ich mit einer Gruppe Schulkin<strong>de</strong>r<br />

eine kleine Wan<strong>de</strong>rung. Anfangs folgte uns die Geheimpolizei auf <strong>de</strong>n Fersen. Aber als<br />

sie sahen, dass wir in <strong>de</strong>n Zoo gingen, ließen sie uns zufrie<strong>de</strong>n. Ich führte die Kin<strong>de</strong>r zu einem<br />

Löwenkäfig und versammelte sie alle um mich herum, so dass ich leise <strong>sprechen</strong> konnte.<br />

Ich sagte zu ihnen: „Eure Vorväter im Glauben an Jesus Christus wur<strong>de</strong>n solchen wil<strong>de</strong>n<br />

Tieren vorgeworfen. Sie gingen mit Freu<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Tod, weil sie an Jesus glaubten. Die Zeit<br />

kann kommen, wo auch ihr ins <strong>Gefängnis</strong> gehen und lei<strong>de</strong>n müsst, weil ihr Christen seid. Ihr<br />

müsst euch jetzt entschei<strong>de</strong>n, ob ihr bereit seid, diesem Tag zu begegnen."<br />

Mit Tränen in <strong>de</strong>n Augen sagte einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren: „Ja". Ich stellte ihnen keine weiteren<br />

Fragen. Dies war <strong>de</strong>r letzte Konfirman<strong>de</strong>nunterricht, <strong>de</strong>n ich hielt, bevor ich meine Heimat<br />

verließ.<br />

68


Unsagbare Folterungen<br />

Schon oft hatte ich wissen wollen, was Menschenraub, <strong>de</strong>r auch in <strong>de</strong>r Bibel mehrmals erwähnt<br />

wird, für <strong>de</strong>n Betroffenen be<strong>de</strong>utet. Der Kommunismus hat es uns begreifen gelehrt.<br />

Viele wur<strong>de</strong>n damals auf diese Art entführt. Ein geschlossener Wagen <strong>de</strong>r Geheimpolizei hielt<br />

unmittelbar vor mir an, vier Männer sprangen heraus und stießen mich in <strong>de</strong>n Wagen hinein. Ich<br />

blieb jahrelang verschwun<strong>de</strong>n. Über acht Jahre lang wußte niemand, ob ich noch am Leben o<strong>de</strong>r<br />

schon tot war. Meine Frau wur<strong>de</strong> von Geheimpolizisten, die sich als entlassene Mitgefangene<br />

ausgaben, teilnehmend aufgesucht. Sie erzählten ihr, sie wären bei meiner Beerdigung dabei gewesen.<br />

Ihr brach das Herz.<br />

Tausen<strong>de</strong> aus Kirchen und an<strong>de</strong>ren Religionsgemeinschaften kamen zu jener Zeit ins <strong>Gefängnis</strong>.<br />

Nicht nur Geistliche wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Kerker geworfen, auch ganz einfache Bauern, junge Burschen<br />

und Mädchen, die für ihren Glauben eintraten. Die <strong>Gefängnis</strong>se waren überfüllt, und in<br />

Rumänien, wie überhaupt in kommunistischen Län<strong>de</strong>rn, be<strong>de</strong>utet im <strong>Gefängnis</strong> zu sein, vielfach<br />

auch, zu lei<strong>de</strong>n.<br />

Die Folterungen waren oft sehr hart.<br />

Ein Pfarrer mit Namen Florescu wur<strong>de</strong> mit glühen<strong>de</strong>n Schürhaken und mit Messern gefoltert. Er<br />

wur<strong>de</strong> arg zusammengehauen. Dann wur<strong>de</strong>n ausgehungerte Ratten durch ein Rohr in seine Zelle<br />

hineingetrieben. Er konnte nicht schlafen, son<strong>de</strong>rn hatte nur damit zu tun, sich die ganze Zeit<br />

über zu verteidigen.<br />

<strong>Wenn</strong> er nur einen Augenblick ausruhte, griffen ihn die Ratten sofort wie<strong>de</strong>r an.<br />

Er musste zwei Wochen lang, Tag und Nacht, stehen. Die Kommunisten wollten ihn<br />

zwingen, seine Glaubensbrü<strong>de</strong>r zu verraten. Aber er blieb standhaft. Schließlich brachten sie<br />

seinen vierzehn Jahre alten Sohn herbei und begannen, <strong>de</strong>n Jungen vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Vaters zu<br />

peitschen, und drohten, ihn so lange zu schlagen, bis <strong>de</strong>r Pfarrer aussagen wür<strong>de</strong>, was sie von<br />

ihm hören wollten. Der arme Mann war halb von Sinnen. Er hielt aus, solange seine Kraft reichte.<br />

Als er es nicht mehr ertragen konnte, rief er seinem Sohn zu: „Alexan<strong>de</strong>r, ich muss jetzt aussagen,<br />

was sie wissen wollen. Ich kann nicht länger ertragen, wie sie dich schlagen!“ Der Junge<br />

antwortete: „Vater, tu mir das nicht an, dass ich einen Verräter zum Vater habe. Bleib’ standhaft<br />

gegen sie! <strong>Wenn</strong> sie mich töten, wer<strong>de</strong> ich sterben mit <strong>de</strong>n Worten ‚Jesus und mein Vaterland’.“<br />

Voller Wut fielen die Kommunisten über das Kind her und schlugen es zu To<strong>de</strong> – die Zellenwän<strong>de</strong><br />

waren übersät mit Blutspritzern. Noch im Sterben pries er seinen Gott. Unser Bru<strong>de</strong>r Florescu<br />

aber war nach diesem Erleben nicht mehr <strong>de</strong>rselbe wie vorher.<br />

Die Handfesseln, die uns um die Handgelenke gelegt wur<strong>de</strong>n, hatten auf <strong>de</strong>n Innenseiten<br />

scharfe Spitzen. <strong>Wenn</strong> wir uns vollkommen bewegungslos verhielten, stachen sie wenig. Aber in<br />

<strong>de</strong>n bitterkalten Zellen wur<strong>de</strong>n unsere Handgelenke, da wir uns vor Kälte schüttelten, von <strong>de</strong>n<br />

scharfen Eisenspitzen aufgerissen.<br />

Einige Christen wur<strong>de</strong>n an Tauen mit <strong>de</strong>m Kopf nach unten aufgehängt und dann so heftig<br />

geschlagen, dass ihre Körper unter <strong>de</strong>n Schlägen vor- und zurückschwangen.<br />

An<strong>de</strong>re wur<strong>de</strong>n in Kühlfächer vor Eisschränken gesteckt, in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Frost das Eis<br />

schon an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n hatte nie<strong>de</strong>rschlagen lassen. Ich selber wur<strong>de</strong> in eine solche Eiszelle gesperrt<br />

mit kaum Bekleidung auf <strong>de</strong>m Leibe. <strong>Gefängnis</strong>ärzte überwachten uns durch eine Öffnung,<br />

bis sie die ersten Symptome tödlicher Starre bemerkten, gaben dann ein Warnzeichen,<br />

worauf Wachen herbeieilten, um uns in Empfang zu nehmen und wie<strong>de</strong>r aufzuwärmen. Hatte<br />

sich <strong>de</strong>r Körper dann wie<strong>de</strong>r etwas erwärmt, wur<strong>de</strong>n wir von neuem in die Gefrierfächer gesteckt<br />

– und das immer wie<strong>de</strong>r! Auftauen, dann abkühlen bis knapp ein, zwei Minuten vor Eintreten<br />

<strong>de</strong>s Erfrierungsto<strong>de</strong>s, und wie<strong>de</strong>rum auftauen. Das setzte sich schier endlos fort. Manchmal kann<br />

ich es selbst heute nicht ertragen, einen Kühlschrank zu öffnen.<br />

Wir Christen wur<strong>de</strong>n auch in Holzverschläge gesteckt, die kaum größer waren als wir<br />

selber. Sie erlaubten keine Bewegungsfreiheit. Dutzen<strong>de</strong> spitzer Nägel waren in die Seitenwän<strong>de</strong><br />

getrieben und ragten mit ihren scharfkantigen En<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Verschlag hinein. Solange wir ganz<br />

stillstan<strong>de</strong>n war es noch erträglich. Wir mussten in diesen Verschlägen aber Stun<strong>de</strong>n um Stun<strong>de</strong>n<br />

69


stehen. Wur<strong>de</strong>n wir matt und schwankten vor Ermüdung, bohrten sich die Nägel in unsere Körper.<br />

Schon wenn wir uns bloß bewegten o<strong>de</strong>r mit einem Muskel zuckten – sofort waren die quälen<strong>de</strong>n<br />

Nägel da.<br />

Was die Kommunisten <strong>de</strong>n Christen angetan haben, übersteigt alle menschliche Vorstellungskraft.<br />

Ich habe gesehen, wie Christen gefoltert wur<strong>de</strong>n, und die Gesichter <strong>de</strong>r Folterer verzerrten<br />

sich dabei in hämischer Freu<strong>de</strong>. Während sie ihre Opfer folterten, schrien sie ihnen zu: „Wir<br />

sind <strong>de</strong>r Teufel!“<br />

Wir kämpfen nämlich nicht gegen Fleisch und Blut, son<strong>de</strong>rn gegen Repräsentanten und<br />

Gewalten <strong>de</strong>s Bösen selber. Uns ist es ganz <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n, dass dieses System nicht von<br />

Menschen stammt, son<strong>de</strong>rn vom Prinzip <strong>de</strong>s Bösen, <strong>de</strong>m Teufel. Es stellt eine geistige Gewalt<br />

dar, eine Macht <strong>de</strong>s Bösen, und kann folglich nur durch eine größere geistige Macht, <strong>de</strong>n Geist<br />

Gottes, überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n.<br />

Oft fragte ich die Folterer: „Habt ihr tatsächlich kein Mitleid in euren Herzen?“ Gewöhnlich<br />

antworteten sie mit einem Zitat von Lenin: „Man kann keine Omelettes machen, ohne die<br />

Schale <strong>de</strong>r Eier zu zerbrechen, und man kann kein Holz spalten, ohne dass Späne fliegen.“ Ich<br />

entgegnete: „Ich kenne dieses Zitat von Lenin. Aber da besteht doch ein Unterschied. <strong>Wenn</strong> ein<br />

Stück Holz gespalten wird, fühlt es nichts. Hier aber habt ihr es mit menschlichen Wesen zu tun.<br />

Je<strong>de</strong>r Schlag verursacht Schmerzen, und es gibt auch noch Mütter, die weinen.“ Es war alles<br />

umsonst. Sie sind Materialisten. Für sie existiert nichts als Materie, und ein Mensch ist für sie<br />

wie ein Stück Holz, wie eine Eierschale. Mit solchem Glauben sinken sie in unvorstellbare Tiefen<br />

<strong>de</strong>r Grausamkeit. Für uns ist die Grausamkeit <strong>de</strong>s Atheismus kaum zu fassen. <strong>Wenn</strong> aber ein<br />

Mensch nicht an eine Belohnung <strong>de</strong>s Guten und eine Bestrafung <strong>de</strong>s Bösen glaubt, dann gibt es<br />

auch keinen Grund mehr, menschlich zu sein. Da gibt es keine Zurückhaltung mehr vor <strong>de</strong>n Abgrün<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>s Bösen, die im Menschen verborgen sind. Die kommunistischen Folterknechte sagten<br />

oft: „Es gibt keinen Gott, kein Hernach, keine Bestrafung <strong>de</strong>s Bösen. Wir können machen,<br />

was wir wollen.“ Einen dieser Peiniger habe ich sogar sagen hören: „Ich danke Gott, an <strong>de</strong>n ich<br />

nicht glaube, dass ich diese Stun<strong>de</strong> erlebt habe, wo ich allem Bösen in meinem Herzen freien<br />

Lauf lassen konnte.“ Er brachte das auch in unglaublicher Brutalität und unmenschlicher Folter,<br />

die er <strong>de</strong>n Häftlingen antat, zum Ausdruck.<br />

Ich habe vor <strong>de</strong>m Unterausschuss für Innere Sicherheit <strong>de</strong>s amerikanischen Senats meine<br />

Aussage gemacht. Dort habe ich über solche furchtbaren Dinge berichtet, wie Christen vier Tage<br />

und Nächte lang an Kreuze gefesselt waren. Die Kreuze wur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gelegt, und Hun<strong>de</strong>rte<br />

von Häftlingen mussten nun ihre leibliche Notdurft über <strong>de</strong>n Gesichtern und Leibern <strong>de</strong>r<br />

Gekreuzigten verrichten. Dann wur<strong>de</strong>n die Kreuze wie<strong>de</strong>r aufgerichtet, und die Kommunisten<br />

frohlockten und spotteten: „Betrachtet euren Christus! Wie schön er ist! Was für einen Duft<br />

bringt er von Himmel mit!“ Ich habe geschil<strong>de</strong>rt, wie ein Priester, nach<strong>de</strong>m er durch das Foltern<br />

fast in <strong>de</strong>n Wahnsinn getrieben wor<strong>de</strong>n war, gezwungen wur<strong>de</strong>, menschlichen Kot und Urin zu<br />

weihen und in dieser Form <strong>de</strong>n Christen die Heilige Kommunion zu spen<strong>de</strong>n. Das hat sich in<br />

<strong>de</strong>m rumänischen <strong>Gefängnis</strong> von Pitesti ereignet. Ich habe <strong>de</strong>n Priester später gefragt, warum er<br />

nicht lieber gestorben sei, als an dieser Verhöhnung teilzuhaben. Er hat geantwortet: „Bitte, maßen<br />

Sie sich kein Urteil über mich an. Ich habe zuviel gelitten.“ Alle die aus <strong>de</strong>r Bibel bekannte<br />

Darstellungen <strong>de</strong>r Hölle und auch die Qualen <strong>de</strong>s Danteschen Infernos sind nichts im Vergleich<br />

zu <strong>de</strong>n Folterungen in kommunistischen <strong>Gefängnis</strong>sen.<br />

Das hier Geschil<strong>de</strong>rte ist nur ein kleiner Ausschnitt von <strong>de</strong>m, was sich an einem Sonntag<br />

und an vielen an<strong>de</strong>ren Sonntagen in <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong> von Pitesti zugetragen hat. Es geschahen<br />

dort Dinge, für die sich einfach keine Worte fin<strong>de</strong>n. Ich fürchte, mein Herz wür<strong>de</strong> aussetzen,<br />

sollte ich sie immer von neuem beschreiben. Sie sind zu grauenhaft und zu obszön, um hier nie<strong>de</strong>rgeschrieben<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Aber eure Brü<strong>de</strong>r in Christus haben sie durchlebt und müssen sie<br />

noch heute durchstehen!<br />

Einer <strong>de</strong>r wahrhaft Großen im Glauben war Pfarrer Milan Haimovici.<br />

Die <strong>Gefängnis</strong>se waren überfüllt, und die Wächter kannten uns nicht mit Namen. Sie riefen<br />

gera<strong>de</strong> diejenigen auf, die zu fünfundzwanzig Peitschenhieben verurteilt wor<strong>de</strong>n waren, weil<br />

70


sie gegen irgen<strong>de</strong>inen Paragraphen <strong>de</strong>r <strong>Gefängnis</strong>ordnung verstoßen hatten. Unzählige Male trat<br />

Pfarrer Milan Haimovici vor, um die Auspeitschung an Stelle eines an<strong>de</strong>ren zu empfangen. Dadurch<br />

gewann er die Achtung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Häftlinge nicht nur für sich, son<strong>de</strong>rn auch für Christus,<br />

<strong>de</strong>ssen Botschafter er war.<br />

<strong>Wenn</strong> ich fortfahren müsste, alle Gräueltaten <strong>de</strong>r Atheisten und alle Selbstaufopferung<br />

<strong>de</strong>r Christen darzustellen, käme ich zu keinem En<strong>de</strong>. Denn nicht nur die Folterungen wur<strong>de</strong>n<br />

bekannt. Auch das hel<strong>de</strong>nhafte Verhalten kam ans Licht. Und dieses hel<strong>de</strong>nhafte Beispiel <strong>de</strong>rer<br />

im <strong>Gefängnis</strong> beflügelte die Brü<strong>de</strong>r, die noch <strong>de</strong>r Verhaftung entgangen waren, zum Zeugendienst.<br />

Unter unseren Mitarbeitern war auch ein junges Mädchen aus <strong>de</strong>r Untergrundkirche. Die<br />

Polizei hatte herausgefun<strong>de</strong>n, dass sie im geheimen Evangelien verteilte und Kin<strong>de</strong>r über Christus<br />

unterwies. Ihre Verhaftung war sicher. Um sie aber noch peinigen<strong>de</strong>r und so qualvoll wie nur<br />

möglich zu machen, hatten sie wohl beschlossen, ihre Verhaftung noch einige Wochen aufzuschieben<br />

bis genau zu <strong>de</strong>m Tag, an welchem sie ihre Hochzeit festgesetzt hatte. Der Tag kam<br />

heran, das Mädchen war als Braut geschmückt – <strong>de</strong>r herrlichste, freudigste Tag im Leben eines<br />

Mädchens! Plötzlich wur<strong>de</strong> die Tür aufgestoßen, und Geheimpolizisten stürzten herein. Als die<br />

Braut die Geheimpolizisten sah, heilt sie ihnen ihre Arme entgegen, um sich wi<strong>de</strong>rstandslos fesseln<br />

zu lassen. Roh legten sie ihr die Handschellen um die Handgelenke. Sie blickte nach ihrem<br />

Geliebten, küsste dann die Ketten und sagte: „Ich danke meinem himmlischen Bräutigam für das<br />

Geschmei<strong>de</strong>, das er mir zu meinem Hochzeitstag geschenkt hat. Ich danke ihm, dass ich würdig<br />

bin, für ihn zu lei<strong>de</strong>n.“ Sie wur<strong>de</strong> fortgezerrt unter <strong>de</strong>m Weinen <strong>de</strong>r Christen und <strong>de</strong>n Tränen <strong>de</strong>s<br />

zurückgelassenen Bräutigams. Sie wussten, was jungen Mädchen, die Christus bekannten, in <strong>de</strong>n<br />

Hän<strong>de</strong>n kommunistischer Wachmannschaften zustößt. Nach fünf Jahren wur<strong>de</strong> sie entlassen –<br />

eine zerstörte, gebrochene Frau, die dreißig Jahre älter aussah. Ihr Verlobter hatte auf sie gewartet.<br />

Sie sagte, es sei das Geringste gewesen, das sie für ihren Christus habe tun können. Solche<br />

ihrem Herrn ähnliche Christen sind in <strong>de</strong>r Untergrundkirche.<br />

Nach <strong>de</strong>r Entlassung<br />

Volle vierzehn Jahre hinter <strong>Gefängnis</strong>mauern sind über mich hinweggegangen. Während<br />

dieser Zeit habe ich niemals eine Bibel o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>in Buch gesehen. Ich hatte fast das Schreiben<br />

verlernt. Unter <strong>de</strong>m ständig quälen<strong>de</strong>n Hunger, <strong>de</strong>r geistigen Schwäche und <strong>de</strong>n Folterungen<br />

konnte ich sogar die Heilige Schrift nicht mehr im Gedächtnis behalten. Aber an <strong>de</strong>m Tage, an<br />

<strong>de</strong>m ich die vierzehn Jahre Kerker voll gemacht hatte, stieg aus <strong>de</strong>r Vergessenheit meines Geistes<br />

<strong>de</strong>r eine Vers in mein Bewusstsein: „Jakob arbeitete um Rahel vierzehn Jahre, und es schien<br />

ihm eine kleine Zeit, <strong>de</strong>nn er liebte sie.“<br />

Bald danach wur<strong>de</strong> ich auf Grund einer allgemeinen Amnestie, die in unserem Land erlassen<br />

wor<strong>de</strong>n war, freigelassen, nicht zuletzt auch durch <strong>de</strong>n wachsen<strong>de</strong>n Einfluss <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Meinung in Amerika.<br />

Ich sah meine Frau wie<strong>de</strong>r. Sie hatte über vierzehn Jahre treu auf mich gewartet.<br />

Wir fingen unser Leben noch einmal von vorne an, in größter Armut, weil einem, <strong>de</strong>r im<br />

<strong>Gefängnis</strong> sitzt, vom Staat einfach alles weggenommen wird.<br />

Die Priester und Pfarrer, die entlassen wur<strong>de</strong>, konnten wie<strong>de</strong>r kleine Kirchen erhalten.<br />

Mir teilte man eine Kirche in <strong>de</strong>r Stadt Orsova zu. Das kommunistische Referat für Religion sagte<br />

mir, es gebe fünfunddreißig Mitglie<strong>de</strong>r dort und wies warnend darauf hin, es dürften niemals<br />

sechsunddreißig sein! Man teilte mir weiterhin mit, dass ich ihr Agent sein müsse und über je<strong>de</strong>s<br />

Mitglied dieser Kirche <strong>de</strong>r Geheimpolizei zu berichten hätte und vor allem alle Jugendlichen<br />

fernhalten müsse. Das ist die Metho<strong>de</strong>, wie die Kommunisten die Kirche als Kontrollorgan benutzen.<br />

Ich wusste, dass viele kommen wür<strong>de</strong>n, wenn ich predigte. Deshalb versuchte ich erst gar<br />

nicht, in <strong>de</strong>r offiziellen Kirche meinen Dienst zu beginnen. So arbeitete ich wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Untergrundkirche<br />

und teilte alle Freu<strong>de</strong>n und Gefahren dieser Arbeit. Während <strong>de</strong>r Jahre, die ich im<br />

<strong>Gefängnis</strong> war, hatte Gott sein Werk wun<strong>de</strong>rbar geför<strong>de</strong>rt. Die Untergrundkirche war jetzt nicht<br />

71


mehr so verloren und verlassen. Christen aus Amerika und an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn hatten angefangen,<br />

uns zu unterstützen und für uns zu beten.<br />

Eines Nachmittags ruhte ich ein wenig im Hause eines Bru<strong>de</strong>rs in einer Provinzstadt.<br />

Plötzlich weckte er mich auf und rief: „Brü<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Ausland sind gekommen.“ Es gab also<br />

noch Christen im Westen, die uns nicht vergessen und abgeschrieben hatten.<br />

Mitglie<strong>de</strong>r aus verschie<strong>de</strong>nen christlichen Kirchen hatten ein geheimes Hilfswerk in die<br />

Wege geleitet für Familien verfolgter Christen und für die Einschleusung christlicher Literatur<br />

und praktischer Hilfe.<br />

Wegen meiner erneut aufgenommenen Arbeit in <strong>de</strong>r Untergrundkirche stand ich in größter<br />

Gefahr einer abermaligen Verhaftung. In diesem kritischen Zeitpunkt unternahmen es zwei<br />

christliche Organisationen, die Norwegische Mission an Ju<strong>de</strong>n und die Jüdisch-Christliche Allianz,<br />

ein Lösegeld von zweitausendfünfhun<strong>de</strong>rt englischen Pfund (ca. 29000 DM 1965) für mich<br />

zu zahlen. Jetzt konnte ich Rumänien verlassen.<br />

Warum ich das kommunistische Rumänien verließ<br />

Ich hätte Rumänien, trotz aller Gefahren, nicht verlassen, wenn die Leiter <strong>de</strong>r Untergrundkirche<br />

mich nicht beauftragt hätten, diese Gelegenheit zum Verlassen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s zu benutzen,<br />

um dadurch gleichsam die „Stimme“ <strong>de</strong>r Untergrundkirche in <strong>de</strong>r freien Welt zu wer<strong>de</strong>n. Es<br />

war ihr Wunsch, dass ich zu euch in <strong>de</strong>r westlichen Welt in ihrem Namen über ihre Lei<strong>de</strong>n und<br />

ihre Nöte <strong>sprechen</strong> sollte. So kam ich in <strong>de</strong>n Westen, aber mein Herz blieb bei ihnen. Hätte ich<br />

nicht die dringen<strong>de</strong> Notwendigkeit, dass auch ihr vom Lei<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r unerschrockenen Arbeit<br />

<strong>de</strong>r Untergrundkirche erfahrt, so <strong>de</strong>utlich gesehen, ich hätte nie Rumänien verlassen. Dies ist<br />

mein einziger Auftrag.<br />

Bevor ich aber Rumänien verließ, wur<strong>de</strong> ich zweimal von <strong>de</strong>r Geheimpolizei bestellt.<br />

Zunächst bestätigten sie mir, dass das Geld für mich eingegangen war. (Rumänien verkauft seine<br />

Bürger für Geld wegen <strong>de</strong>r schweren Wirtschaftskrise, in die <strong>de</strong>r Kommunismus unser Land gestürzt<br />

hat.) Dann sagten sie mir: „Gehe nun in <strong>de</strong>n Westen und predige Christus, soviel du willst,<br />

aber lass uns aus <strong>de</strong>m Spiel! Sprich ja kein Wort gegen uns! Wir sagen dir offen, was wir mit dir<br />

im Sinne haben, wenn du etwas ausplau<strong>de</strong>rst, was hier geschehen ist. In je<strong>de</strong>m Fall <strong>könnten</strong> wir<br />

für fünftausend Mark einen Kriminellen anwerben, <strong>de</strong>r dich liquidiert. Wir können dich aber<br />

auch entführen.“ (Ich selber bin in <strong>de</strong>rselben Zelle mit <strong>de</strong>m orthodoxen Bischof Vasile Leul zusammengewesen,<br />

<strong>de</strong>r in Österreich geraubt und nach Rumänien entführt wor<strong>de</strong>n ist. Alle seiner<br />

Fingernägel waren herausgerissen. Ich bin auch mit solchen zusammengetroffen, die aus Berlin<br />

entführt wor<strong>de</strong>n waren. Und erst kürzlich sind Rumänen aus Italien und Paris entführt wor<strong>de</strong>n.)<br />

Weiterhin sagten mir die Beamten: „Wir können dich auch moralisch erledigen, in<strong>de</strong>m wir irgen<strong>de</strong>ine<br />

Geschichte über dich in die Welt setzen, etwa eine Sache mit einer Frau, eine Diebstahl<br />

o<strong>de</strong>r irgendwelche Verfehlungen aus <strong>de</strong>iner Jugend. Die Leute im Westen, beson<strong>de</strong>rs die Amerikaner,<br />

lassen sich sehr leicht täuschen und hinters Licht führen.“<br />

Nach<strong>de</strong>m sie mich so bedroht hatten, erlaubten sie mir, in <strong>de</strong>n Westen zu gehen. Sie haben<br />

ein erstaunliches Vertrauen in ihre Gehirnwäsche gesetzt, durch die ich hindurchgegangen<br />

bin. Im Westen sind zurzeit noch viele, die dasselbe durchgemacht haben wie ich – aber sie sind<br />

stumm. Einige von ihnen preisen sogar <strong>de</strong>n Kommunismus, nach<strong>de</strong>m sie durch seine Leute gefoltert<br />

wor<strong>de</strong>n sind. Die Kommunisten waren daher ganz sicher, dass auch ich schweigen wür<strong>de</strong>.<br />

Dadurch konnte ich im Dezember 1965 mit meiner Familie Rumänien verlassen. Meine letzte<br />

Handlung vor <strong>de</strong>r Ausreise war, an das Grab jenes Obersten zu gehen, <strong>de</strong>r Befehl zu meiner Verhaftung<br />

gegeben und mir Jahre <strong>de</strong>r Folterung verschafft hatte. Ich legte eine Blume auf sein<br />

Grab. Während ich das tat, gelobte ich meinem Herzen, die Freu<strong>de</strong> über die Errettung durch<br />

Christus, die ich selber habe, auch <strong>de</strong>n Kommunisten zu bringen, die geistlich so völlig leer sind.<br />

Ich hasse das kommunistische System, aber ich liebe die Kommunisten. Das sei auch hier<br />

wie<strong>de</strong>r gesagt. Ich hasse die Sün<strong>de</strong>, aber ich liebe die Sün<strong>de</strong>r. Ja, ich liebe die Kommunisten von<br />

ganzem Herzen.<br />

72


Ich habe Christen in <strong>de</strong>n <strong>Gefängnis</strong>sen gesehen mit fünfzig Pfund Ketten an ihren Füßen,<br />

gefoltert mit glühen<strong>de</strong>n Feuerhaken, in ihren Kehlen gewaltsam mit Löffeln eingeflößtes Salz<br />

ohne <strong>de</strong>n geringsten Zusatz von Wasser, ausgehungert, durchgepeitscht, vor Kälte zitternd – und<br />

<strong>de</strong>nnoch aus tiefem Herzen betend für die Kommunisten. Menschlich ist das nicht zu erklären!<br />

Das ist nur aus <strong>de</strong>r Liebe Christi möglich, die in ihr Herz ausgegossen ist.<br />

Was ich vorfand, als ich freigelassen wur<strong>de</strong><br />

Als ich nach meiner Entlassung aus <strong>de</strong>m <strong>Gefängnis</strong> wie<strong>de</strong>r bei meiner Frau war, fragte<br />

sie mich, wie ich mir unsere Zukunft vorstelle. Da antwortete ich: „Das I<strong>de</strong>al, das mir vorschwebt,<br />

ist ein zurückgezogenes Leben in geistiger Betrachtung.“ Meine Frau bemerkte dazu,<br />

sie habe <strong>de</strong>nselben Gedanken gehabt.<br />

Ich wollte keine Kämpfe mehr ausfechten, auch keine gerechten. Ich wollte lieber lebendige<br />

Tempel zur Ehre Christi bauen. Mit dieser Hoffnung auf ruhige Jahre <strong>de</strong>r inneren Betrachtung<br />

vor Augen verließ ich das <strong>Gefängnis</strong>.<br />

Aber schon vom ersten Tag meiner Entlassung an sah ich mich neuen Praktiken <strong>de</strong>s<br />

Kommunismus gegenübergestellt. Einer um <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>n ich von <strong>de</strong>n bekannten Predigern<br />

und Pfarrern <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Kirchen traf, selbst Bischöfe nicht ausgeschlossen, bekannten<br />

mir in tiefem Kummer, aber ohne Beschönigung, dass sie Mittelsmänner <strong>de</strong>r Geheimpolizei gegen<br />

ihre eigene Her<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>n seien. Ich fragte sie, ob sie bereit wären, ihre Spitzeltätigkeit<br />

aufzugeben, auch auf die Gefahr hin, selber eingekerkert zu wer<strong>de</strong>n. Alle antworteten „nein“ und<br />

erklärten mir, es sei nicht die Furcht um ihre eigene Person, die sie davon zurückhielte. Sie berichteten<br />

mir von ganz neuen Entwicklungen im Bereich <strong>de</strong>r Kirche, von Dingen, die vor meiner<br />

Verhaftung noch nicht bestan<strong>de</strong>n hatten – dass nämlich die Weigerung, Verbindungsdienste zu<br />

leisten, die Schließung <strong>de</strong>r Kirchen be<strong>de</strong>uten konnte.<br />

Ich habe Geständnisse von Kin<strong>de</strong>rn aus Familien von Verfolgten gehört, die man erpresst<br />

hatte, Auskünfte über diejenigen Familien zu geben, in die sei nach <strong>de</strong>r Verhaftung ihrer Eltern<br />

aus Barmherzigkeit aufgenommen wor<strong>de</strong>n waren. Im Weigerungsfalle drohte man ihnen, dass<br />

sie ihr Studium nicht fortsetzten <strong>könnten</strong>.<br />

Ich habe es erlebt, wie Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche mit <strong>de</strong>m Atheismus vergiftet wur<strong>de</strong>n, und<br />

die offiziellen Kirchen haben nicht die geringste Möglichkeit, dagegen anzugehen. In keiner Kirche<br />

in unserer Hauptstadt Bukarest gibt es noch eine Jugendversammlung o<strong>de</strong>r einen Kin<strong>de</strong>rgottesdienst.<br />

Als ich dies alles sah, konnte ich nicht an<strong>de</strong>rs, als meinen Kampf wie<strong>de</strong>r neu aufzurichten.<br />

Im Westen aber habe ich so viel Gleichgültigkeit angetroffen. Schriftsteller <strong>de</strong>r ganzen<br />

Welt haben protestiert, als zwei kommunistische Schriftsteller – Siniavski und Daniel – von ihren<br />

eigenen kommunistischen Genossen zu <strong>Gefängnis</strong>strafen verurteilt wur<strong>de</strong>n.<br />

Aber nicht einmal die Kirchen protestieren hier, wenn Christen um ihres Glaubens willen<br />

ins <strong>Gefängnis</strong> geworfen wer<strong>de</strong>n.<br />

Es gibt hier im Westen führen<strong>de</strong> Männer <strong>de</strong>r Kirche, die nicht nach <strong>de</strong>n Verfolgten fragen.<br />

Die Namen dieser Verfolgten stehen nicht auf ihren Gebetslisten. Während sie dort gefoltert<br />

und zu schweren Strafen verurteilt wur<strong>de</strong>n, sind die offiziellen Vertreter <strong>de</strong>r russischen Baptisten<br />

und <strong>de</strong>r orthodoxen Kirche, die sie <strong>de</strong>nunziert und verraten haben, in Neu Delhi, in Genf und auf<br />

an<strong>de</strong>ren Konferenzen mit großen Ehren empfangen wor<strong>de</strong>n. Dort versicherten sie dann je<strong>de</strong>rmann,<br />

dass in Russland völlige Religionsfreiheit besteht.<br />

Einer <strong>de</strong>r Präsi<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>s Weltkirchenrates küsste <strong>de</strong>n Erzbischof Nikodim, als er diese<br />

Erklärung abgab. Dann hatten sie ein gemeinsames Festessen in <strong>de</strong>m so imposanten Namen <strong>de</strong>s<br />

Weltkirchenrates, während die Christen in <strong>de</strong>n <strong>Gefängnis</strong>sen Kohlsuppe mit ungewaschenen<br />

Innereien aßen, weil ich sie jahrelang um Jesu willen gegessen habe.<br />

Dieser Zustand konnte auf die Dauer nicht hingenommen wer<strong>de</strong>n. Deshalb entschied die<br />

Leitung <strong>de</strong>r Untergrundkirche, dass ich, wenn sich die Gelegenheit böte, mein Land verlassen<br />

und euch Christen hier über die wirklichen Geschehnisse informieren sollte.<br />

73


Warum ich im Westen lei<strong>de</strong><br />

Ich lei<strong>de</strong> im Westen mehr, als ich in kommunistischen Län<strong>de</strong>rn gelitten habe. Mein Lei<strong>de</strong>n<br />

besteht vor allem in <strong>de</strong>r Sehnsucht nach <strong>de</strong>r unaussprechlichen Schönheit <strong>de</strong>r unterdrückten<br />

Kirche – <strong>de</strong>r Kirche, die <strong>de</strong>n alten lateinischen Wahlspruch wahr gemacht hat: „Nudis nudum<br />

Christi sequi“ (Dieweil wir nackt sind, sind wir Nachfolger <strong>de</strong>r Nacktheit Christi).<br />

Die Untergrundkirche ist eine arme und lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kirche, aber sie hat keine lauen Glie<strong>de</strong>r.<br />

Ein Gottesdienst in <strong>de</strong>r Untergrundkirche gleicht jenen Versammlungen in <strong>de</strong>r frühchristlichen<br />

Kirche vor neunzehnhun<strong>de</strong>rt Jahren. Der Prediger kennt keine ausgearbeitete theologische<br />

Exegese. Er weiß auch nichts vom „Kanzelstil“, sowenig Petrus davon wusste. Je<strong>de</strong>r Theologieprofessor<br />

hätte Petrus eine schlechte Note für seine Pfingstpredigt erteilt. Die Verse <strong>de</strong>r Bibel<br />

sind in kommunistischen Län<strong>de</strong>rn nicht so allgemein bekannt, weil dort Bibeln selten sind. Und<br />

außer<strong>de</strong>m hat <strong>de</strong>r Prediger höchstwahrscheinlich jahrelang im <strong>Gefängnis</strong> gesessen ohne Bibel.<br />

<strong>Wenn</strong> sie dort ihren Glauben an einen Vater im Himmel bekun<strong>de</strong>n, so be<strong>de</strong>utet das sehr<br />

viel, <strong>de</strong>nn hinter dieser Versicherung stehen erschüttern<strong>de</strong> Erlebnisse. Im <strong>Gefängnis</strong> haben sie<br />

nämlich diesen allmächtigen Vater täglich um Brot gebeten – und haben statt<strong>de</strong>ssen Kohl mit<br />

unbeschreiblichem Schmutz empfangen. Dennoch glauben sie, dass Gott ihr lieben<strong>de</strong>r Vater ist.<br />

Sie sind wie Hiob, <strong>de</strong>r sagte, er wür<strong>de</strong> Gott vertrauen, selbst wenn Gott ihn schlüge. Sie sind wie<br />

Jesus, <strong>de</strong>r Gott seinen Vater nannte, selbst als er dort am Kreuz allem Anschein nach verlassen<br />

war.<br />

Wer einmal die geistliche Schönheit <strong>de</strong>r Untergrundkirche kennengelernt hat, <strong>de</strong>r kann<br />

sich mit <strong>de</strong>r Leere so mancher Kirchen hier im Westen nicht mehr zufrie<strong>de</strong>n geben.<br />

Ich muss es noch einmal <strong>de</strong>utlich sagen: Ich lei<strong>de</strong> hier im Westen mehr, als ich je im<br />

Kerker gelitten habe, weil ich hier mit eigenen Augen die westliche Kultur sterben sehe.<br />

Oswald Sprengler schrieb in seinem „Untergang <strong>de</strong>s Abendlan<strong>de</strong>s“: „Ihr liegt im Sterben.<br />

Ich sehe an euch allen die charakteristischen Merkmale <strong>de</strong>s Zerfalls. Ich kann euch nachweisen,<br />

dass euer großer Reichtum und eure große Armut, euer Kapitalismus und euer Sozialismus, eure<br />

Kriege und eure Revolutionen, euer Atheismus und Pessimismus und auch euer Zynismus, eure<br />

Lasterhaftigkeit, eure zerrütteten Ehe, eure Geburtenkontrolle, die euch von <strong>de</strong>r Substanz her<br />

ausblutet und auch von eurer geistigen Höhe stürzt – ich kann es euch beweisen, dass dies die<br />

Wahrzeichen <strong>de</strong>r Sterbeepoche <strong>de</strong>r antiken Staaten waren: Griechenlands und Alexandrias und<br />

<strong>de</strong>s neurotischen Roms.“<br />

Das ist 1926 geschrieben wor<strong>de</strong>n. Seit<strong>de</strong>m sind schon in <strong>de</strong>r ersten Hälfte Europas Demokratie<br />

und abendländische Kultur gestorben und uns ebenso fern gewor<strong>de</strong>n wie Kuba. Und<br />

<strong>de</strong>r übrige Teil <strong>de</strong>s Westens schläft.<br />

Seit ich hier im Westen bin, habe ich viele theologische Seminare besucht. Ich habe dort<br />

Vorlesungen gehört über die Geschichte <strong>de</strong>r Kirchenglocken sowie über die Geschichte liturgischer<br />

Gesänge, über kanonisches Recht, das schon lange außer Kraft ist, über Kirchenzucht, die<br />

längst nicht mehr geübt wird. Ich war Zeuge, wie Stu<strong>de</strong>nten <strong>de</strong>r Theologie lernten, dass <strong>de</strong>r<br />

Schöpfungsbericht nicht wahr sei, noch <strong>de</strong>r vom Sün<strong>de</strong>nfall, noch <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Sintflut, und auch<br />

nicht die Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Mose; dass die Prophezeiungen <strong>de</strong>r Bibel nie<strong>de</strong>rgeschrieben wor<strong>de</strong>n sind<br />

nach ihrer Erfüllung; dass die Jungfrauengeburt ein Mythos sei; ebenso die Auferstehung Jesu;<br />

dass seine Gebeine irgendwo in einem Grab geblieben seien, dass die Briefe <strong>de</strong>s Neuen Testaments<br />

nicht echt seien; dass die Offenbarung das Buch eines Schwärmers sei – aber sonst sei die<br />

Bibel die Heilige Schrift!<br />

Und das ist es, was die heutigen Theologen und Vertreter <strong>de</strong>r Kirche lernten, als sie Stu<strong>de</strong>nten<br />

waren und die theologischen Seminare und Hörsäle füllten. Das ist die eigentliche Atmosphäre,<br />

in <strong>de</strong>r sehr viele von ihnen leben. Warum sollen sie auch einem Herrn vertrauen, über<br />

<strong>de</strong>n solche seltsamen Dinge ausgesagt wer<strong>de</strong>n? Warum sollen die führen<strong>de</strong>n Männer <strong>de</strong>r Kirche<br />

noch einer Kirche vertrauen und auf sie bauen, in <strong>de</strong>r frei und öffentlich gelehrt wer<strong>de</strong>n kann,<br />

dass Gott tot ist?<br />

74


Sie sind Führer <strong>de</strong>r offiziellen Kirche, nicht <strong>de</strong>r Braut Christi. Sie sind Vertreter einer<br />

Kirche, in <strong>de</strong>r seit langem viele schon ihren Herrn verraten haben. <strong>Wenn</strong> sie in einem Vertreter<br />

<strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und verfolgten Kirche im Untergrund begegnen, blicken sie ihn an wie ein frem<strong>de</strong>s<br />

Wesen.<br />

Ich bin mit einem Christen zusammengetroffen, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>n Nazis gelitten hatte. Er<br />

versicherte mir, er stehe ganz auf meiner Seite, solange ich Christus bezeugte, gegen die Kommunisten<br />

aber sollte ich kein Wort sagen. Ich fragte ihn, ob die Christen, die gegen die Hitlertyrannei<br />

in Deutschland gekämpft haben, darin unrecht gehan<strong>de</strong>lt hätten und sich darauf hätten<br />

beschränken sollen, nur die Bibel auszulegen, ohne ein Wort gegen <strong>de</strong>n Tyrannen zu sagen. Seine<br />

Erwi<strong>de</strong>rung war: „Aber Hitler hat sechs Millionen Ju<strong>de</strong>n getötet! Man musste einfach gegen<br />

ihn <strong>sprechen</strong>.“<br />

Ich antwortete ihm: „Die Kommunisten haben dreißig Millionen Russen getötet, dazu<br />

Millionen von Chinesen und Osteuropäern. Ju<strong>de</strong>n haben sie auch umgebracht. Sollen wir nur<br />

protestieren, wenn Ju<strong>de</strong>n ermor<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, und nicht auch wenn Russen ermor<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n?“ Er<br />

gab mir zurück: „Das ist etwas ganz an<strong>de</strong>res.“ Eine Erklärung erhielt ich dazu nicht.<br />

Wie sich die Untergrundkirche mit atheistischer Literatur „ernährt“<br />

Die Untergrundkirche weiß sich jedoch diesen Zustand nutzbar zu machen. In erster Linie<br />

bezieht sie ihre Nahrung aus <strong>de</strong>r atheistischen Literatur, so wie Elia sich von <strong>de</strong>n Raben ernähren<br />

ließ. Denn die Atheisten wen<strong>de</strong>n viel Kunst und Fleiß daran, Bibelverse zu kritisieren<br />

und lächerlich zu machen.<br />

So haben sie Bücher veröffentlicht unter Titeln wie „Die Bibel zum Lachen“ und „Die<br />

Bibel für Gläubige und Ungläubige“. Darin wollen sie zeigen, wie unsinnig die Bibel sei, und<br />

um es zu belegen, führen sie viele Bibelverse an.<br />

Wie sehr freuten wir uns darüber! Die Kritik war nämlich so stupi<strong>de</strong>, dass niemand sie<br />

ernst nahm. Aber das Buch wur<strong>de</strong> in Millionen Exemplaren gedruckt und war voll von Bibelversen,<br />

die unaussprechlich herrlich waren, auch wenn die Kommunisten meinten, sie lächerlich zu<br />

machen.<br />

Schon im Mittelalter wur<strong>de</strong>n die „Ketzer“, die von <strong>de</strong>r Inquisition zum To<strong>de</strong> durch<br />

Verbrennen verurteilt wor<strong>de</strong>n waren, in einer großen Prozession zum Scheiterhaufen geführt,<br />

angetan mit Narrenklei<strong>de</strong>rn, auf <strong>de</strong>nen Höllenflammen und Teufel aufgemalt waren. Und was für<br />

Heilige waren diese Ketzer in Wirklichkeit! Ebenso steht es um <strong>de</strong>n Wert und die Wahrheit <strong>de</strong>r<br />

Bibelverse, auch wenn sie <strong>de</strong>r Teufel zitiert.<br />

Der kommunistische Verlag war beson<strong>de</strong>rs stolz, als er Tausen<strong>de</strong> von Briefen erhielt, die<br />

um weitere Auflagen solcher atheistischer Bücher ersuchten, in <strong>de</strong>nen Bibelverse zum Spott zitiert<br />

wur<strong>de</strong>n. Die Verleger wussten freilich nicht, dass diese Briefe von Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Untergrundkirche<br />

kamen, die keine an<strong>de</strong>re Möglichkeit hatten, um sich Gottes Wort zu verschaffen.<br />

Auch die atheistischen Versammlungen wussten wir uns nutzbar zu machen.<br />

Ein Professor <strong>de</strong>s dialektischen Materialismus versuchte auf einer solchen Versammlung<br />

nachzuweisen, dass Jesus nichts an<strong>de</strong>res als ein Zauberer gewesen sei. Er streute ein Pulver hinein,<br />

und das Wasser wur<strong>de</strong> rot. „Das ist das ganze Wun<strong>de</strong>r“, erläuterte er. „Jesus hatte in seinem<br />

Ärmel ein Pulver versteckt wie dieses her, und dann tat er vor <strong>de</strong>n Leuten so, als habe er auf<br />

wun<strong>de</strong>rbare Weise Wasser in Wein verwan<strong>de</strong>lt.“ Nun streute er ein an<strong>de</strong>rs Pulver in die Flüssigkeit.<br />

Das Wasser wur<strong>de</strong> hell. Darauf noch einmal das vorige Pulver, und es war wie<strong>de</strong>r rot.<br />

Ein Christ erhob sich und sagte: „Sie haben uns, Genosse Professor, mit <strong>de</strong>m, was Sie<br />

hier vorgeführt haben, in Erstaunen versetzt. Wir möchten Sie nur noch um eine Kleinigkeit bitten:<br />

Trinken Sie auch ein wenig von Ihrem Wein!“ Der Professor erwi<strong>de</strong>rte: „Das kann ich nicht<br />

machen. Das Pulver war Gift.“ Der Christ gab ihm zur Antwort: „Das eben ist <strong>de</strong>r ganze Unterschied<br />

zwischen Ihnen und Jesus. Mit seinem Wein hat er uns schon fast zweitausend Jahre lang<br />

Freu<strong>de</strong> bereitet, während Sie mit Ihrem Wein uns vergiften.“<br />

Der Christ wur<strong>de</strong> verhaftet und kam ins <strong>Gefängnis</strong>. Aber die Nachricht von <strong>de</strong>m Zwischenfall<br />

breitete sich weithin aus und stärkte <strong>de</strong>n unterdrückten Brü<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Glauben.<br />

75


Wir sind schwache, kleine Davids. Aber wir sind stärker als <strong>de</strong>r Goliath <strong>de</strong>s Atheismus, weil<br />

Gott auf unserer Seite ist.<br />

Die Wahrheit gehört uns.<br />

Ein Dozent hielt eine Vorlesung über Atheismus. Alle Arbeiter <strong>de</strong>r Fabrik waren zum<br />

Besuch aufgefor<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n, darunter auch viele Christen. Sie saßen still unter <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren und<br />

hörten sich alle Argumente gegen Gott an und auch <strong>de</strong>n Vorwurf <strong>de</strong>r Dummheit, an Christus zu<br />

glauben. Der Dozent war gera<strong>de</strong> dabei zu beweisen, dass es eine geistige Welt nicht gibt, folglich<br />

we<strong>de</strong>r Gott, noch Christus, noch ein Jenseits – <strong>de</strong>r Mensch sei nur Materie ohne Seele. Immer<br />

wie<strong>de</strong>r betonte er, dass das einzige, was existiere, Materie sei.<br />

Ein Christ mel<strong>de</strong>te sich und fragte, ob er etwas sagen dürfe. Er erhielt die Erlaubnis. Er<br />

nahm seinen Klappstuhl und warf ihn auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Darauf hielt er inne und sah sich alles an.<br />

Dann ging er nach vorn und gab <strong>de</strong>m kommunistischen Dozenten eine Ohrfeige. Der Dozent war<br />

wütend. Sein Gesicht wur<strong>de</strong> rot vor Entrüstung. Er schrie seinem Herausfor<strong>de</strong>rer Gemeinheiten<br />

zu und for<strong>de</strong>rte seine kommunistischen Genossen auf, <strong>de</strong>n Christen zu verhaften. Dann stellte er<br />

ihn zur Re<strong>de</strong>: „Wie kommen Sie dazu, mich zu schlagen? Was haben Sie für einen Grund?“<br />

Der Christ antwortete: „Sie haben sich selber jetzt als Lügner entlarvt. Sie sagten gera<strong>de</strong>,<br />

alles sei Materie, sonst nichts. Da hab ich <strong>de</strong>n Stuhl genommen und ihm hingeworfen. Er ist<br />

wirklich Materie. Der Stuhl wur<strong>de</strong> nicht zornig. Er ist reiner Stoff. Als ich Sie aber geschlagen<br />

habe, reagierten Sie nicht wie <strong>de</strong>r Stuhl. Sie reagierten an<strong>de</strong>rs. Materie wird nicht wütend o<strong>de</strong>r<br />

ärgerlich, aber Sie wur<strong>de</strong>n es. Deshalb, Genosse Professor, haben Sie unrecht. Der Mensch ist<br />

mehr als Materie. Wir sind geistige Wesen!“<br />

Wir sind getrost und können getrost die Entwicklung <strong>de</strong>r Ereignisse abwarten. Dagegen sind die<br />

Kommunisten voller Unruhe und müssen immer neue antireligiöse Kampagnen auslösen. Damit<br />

bestätigen sie, was Augustin in <strong>de</strong>m Satz ausdrücke: „Unser Herz ist unruhig, bis es ruht, Gott, in<br />

dir.“<br />

Warum auch Kommunisten noch gewonnen wer<strong>de</strong>n können<br />

<strong>Wenn</strong> einzelne Kommunisten uns versichern wollten, die Materie sei das Letzte, wir seien<br />

bloß eine Handvoll chemischer Stoffe, nach einer bestimmten Formel zusammengefügt, und<br />

nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> wür<strong>de</strong>n wir wie<strong>de</strong>r Salze und Minerale, dann brauchten wir sie nur zu fragen:<br />

„Wie kommt es, dass in so vielen Län<strong>de</strong>rn die Kommunisten ihr Leben für ihr I<strong>de</strong>al hingegeben<br />

haben? Kann <strong>de</strong>nn eine ‚Handvoll chemischer Stoffe’ I<strong>de</strong>ale haben? Können sich ‚Minerale’<br />

zum Wohl an<strong>de</strong>rer Menschen opfern?“ Darauf haben sie keine Antwort.<br />

In <strong>de</strong>m ungeheuren Ansteigen <strong>de</strong>r Trunksucht in <strong>de</strong>n kommunistischen Län<strong>de</strong>rn zeigt<br />

sich <strong>de</strong>nnoch etwas Positives an. Es kommt darin die Sehnsucht nach einem weiteren, freieren<br />

Leben zum Ausdruck, das die atheistische Weltanschauung <strong>de</strong>n Menschen nicht geben kann. Der<br />

einfache Russe ist ein tief veranlagter, großmütiger und gütiger Mensch. Der Kommunismus<br />

dagegen ist oberflächlich und schal. Der russische Mensch sucht jedoch im Leben Tiefe, und da<br />

er sie nirgends mehr fin<strong>de</strong>t, sucht er sie im Alkohol. Selbst in seinem Alkoholismus bekun<strong>de</strong>t er<br />

noch seinen Abscheu vor einem brutalen, einer Täuschung hingegebenen Leben, das ihm aufgezwungen<br />

wird. Der Alkohol verschafft ihm für ein paar Augenblicke Befreiung davon, wogegen<br />

die christliche Wahrheit ihn für immer frei machte, wenn er sie kennenlernte.<br />

Während <strong>de</strong>r russischen Besetzung von Bukarest empfand ich einmal einen unwi<strong>de</strong>rstehlichen<br />

Drang, in eine Gastwirtschaft zu gehen. Ich bat meine Frau, mitzugehen. Als ich hineinkam,<br />

sah ich einen russischen Hauptmann mit einer Maschinenpistole, <strong>de</strong>r alle bedrohte, wenn er<br />

nichts mehr zu trinken bekomme. Man hatte es ihm verweigert weil er schon sehr betrunken war.<br />

Die Menschen gerieten in Panik. Ich ging zu <strong>de</strong>m Besitzer, <strong>de</strong>n ich kannte und bat ihn, <strong>de</strong>m<br />

Hauptmann weiter zu trinken zu geben, wobei ich versprach, bei ihm sitzen zu bleiben und darauf<br />

zu achten, dass er sich ruhig verhielt.<br />

Eine Flasche Wein nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren reichte man uns. Auf <strong>de</strong>m Tisch stan<strong>de</strong>n drei Gläser.<br />

Der Hauptmann füllte alle drei immer höflich... und trank alle drei. Meine Frau und ich tranken<br />

nicht mit.<br />

76


Obgleich er stark betrunken war, arbeitete sein Geist noch. Er war an Alkohol gewöhnt.<br />

Ich sprach mit ihm über Christus, und er hörte mit unerwarteter Aufmerksamkeit zu.<br />

Am En<strong>de</strong> sagte er: „Jetzt haben Sie mir erzählt, wer Sie sind. Nun will ich Ihnen auch<br />

erzählen, wer ich bin. Ich bin ein orthodoxer Priester, <strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>n ersten war, die ihren Glauben<br />

verleugneten, als die große Verfolgung unter Stalin einsetzte. Ich zog damals von Dorf zu Dorf<br />

und hielt Vorträge, in <strong>de</strong>nen ich erklärte, dass es keinen Gott gebe und dass ich als Priester ein<br />

Schwindler gewesen sei. ‚Ich bin ein Betrüger, und auch alle die an<strong>de</strong>ren Priester sind es’, sagte<br />

ich zu ihnen.<br />

Viele Kommunisten begehen Selbstmord. Essenin und Majakowski, ihre be<strong>de</strong>utendsten<br />

Dichter, haben so geen<strong>de</strong>t, ebenso ihr großer Schriftsteller Fa<strong>de</strong>jew. Er hatte seinen Roman<br />

„Glück“ been<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>m er ausführt, dass Glück drin besteht, rastlos für <strong>de</strong>n Kommunismus zu<br />

arbeiten. Er selbst war so „glücklich“ darüber dass er sich erschoss, als er <strong>de</strong>n Roman abgeschlossen<br />

hatte. Es fiel ihm einfach zu schwer, eine solche Lüge länger zu ertragen.<br />

Joffe und Tomkin, zwei be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Vorkämpfer <strong>de</strong>s Kommunismus in <strong>de</strong>r Zarenzeit,<br />

konnten nach <strong>de</strong>r Revolution nicht mehr mit ansehen, wie <strong>de</strong>r Kommunismus sich in Wirklichkeit<br />

darbot. Sie en<strong>de</strong>ten durch Selbstmord.<br />

Kommunisten sind unglücklich. Selbst ihre allmächtigen Diktatoren sind es. Wie unglücklich<br />

war Stalin! Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r beinahe alle seine Genossen von früher umgebracht hatte,<br />

war er immer noch ständig in Furcht, vergiftet o<strong>de</strong>r ermor<strong>de</strong>t zu wer<strong>de</strong>n. Er hatte acht Schlafzimmer,<br />

die wie Tresore einer Bank verschlossen wer<strong>de</strong>n konnten. Niemand wusste genau, in<br />

welchem dieser Gemächer er jeweils schlief. Er fing nie an zu essen, ohne vorher <strong>de</strong>n Koch die<br />

Speisen in seiner Gegenwart kosten zu lassen.<br />

Der Kommunismus macht nieman<strong>de</strong>n glücklich, nicht einmal seine Machthaber. Sie<br />

brauchen alle Christus.<br />

Ein Pfarrer, <strong>de</strong>r sich hinter <strong>de</strong>m Namen „Georg“ verbirgt, berichtet in seinem Buch „Gottes<br />

Untergrund“ folgen<strong>de</strong> Begebenheit:<br />

Ein Hauptmann <strong>de</strong>r russischen Armee kam zu einem Pfarrer in Ungarn und bat, ihn allein<br />

<strong>sprechen</strong> zu dürfen. Der Bursche war noch sehr jung und ungehobelt und sich vor allem seiner<br />

Rolle als Eroberer bewusst. Nach<strong>de</strong>m er in ein kleines Sprechzimmer geführt wor<strong>de</strong>n und die<br />

Tür geschlossen war, nickte er zu <strong>de</strong>m Kreuze hin, das an <strong>de</strong>r Wand hing.<br />

„Sie wissen, dass das Ding da eine Lüge ist“, sagte er zu <strong>de</strong>m Pfarrer. „Es ist so ein Stück<br />

Betrug, mit <strong>de</strong>m ihr Pfarrer die armen Leute zu fangen pflegt, um es <strong>de</strong>n Reichen zu erleichtern,<br />

sie in Ungewissheit zu halten. Nun <strong>de</strong>nn! Wir sind allein! Geben Sie mir gegenüber jetzt zu, dass<br />

Sie noch nie wirklich geglaubt haben, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist!“<br />

Der Pfarrer lächelte freundlich: „Aber mein lieber junger Freund, selbstverständlich<br />

glaube ich es. Es ist wahr.“<br />

„Ich dul<strong>de</strong> es nicht, solche Mätzchen mit mir zu machen!“, schrie <strong>de</strong>r Hauptmann. „Es ist<br />

mir bitter ernst. Lachen Sie nicht noch über mich!“ Er zog seinen Revolver heraus und hielt ihn<br />

<strong>de</strong>m Pfarrer vor die Brust.<br />

„<strong>Wenn</strong> Sie jetzt nicht zugeben, dass alles Lüge ist, wer<strong>de</strong> ich abdrücken!“<br />

„Ich kann es nicht zugeben, <strong>de</strong>nn es ist nicht wahr. Unser Herr Jesus Christus ist wirklich<br />

und wahrhaftig <strong>de</strong>r Sohn Gottes“, sagte <strong>de</strong>r Pfarrer.<br />

Der Hauptmann schleu<strong>de</strong>rte seinen Revolver auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n und umarmte <strong>de</strong>n Mann Gottes.<br />

Tränen traten ihm in die Augen. „Es ist doch wahr!“, schrie er. „Es ist wahr! Auch ich glaube<br />

es, aber ich war mir nicht sicher, ob Menschen für diesen Glauben auch sterben wür<strong>de</strong>n bis ich<br />

es jetzt selber erlebt habe. Oh, ich danke Ihnen! Sie haben meinen Glauben wie<strong>de</strong>r aufgerichtet.<br />

Auch ich kann jetzt für Christus sterben. Sie haben es mir gezeigt.“<br />

Richard Wurmbrand<br />

Aus: „Gefoltert für Christus“ und „In Gottes Untergrund“, Richard Wurmbrand, Litera Print AG, Kreuzlingen<br />

(Schweiz), jetzt: Hilfsaktion Märtyrerkirche (HMK), Uhldingen, 18. Auflage, 1993; mit freundlicher<br />

Genehmigung <strong>de</strong>r HMK und Richard Wurmbrand<br />

77

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!