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96 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> Heft 1-2 / <strong>2013</strong><br />

<strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> Jg. 57 (<strong>2013</strong>) Heft 1-2, S. 96–104<br />

Buchbesprechungen<br />

Buchbesprechungen<br />

Steinrücken, Thorsten: Wirtschaftsförderung<br />

und Standortpolitik. Eine Einführung in<br />

die Ökonomik unternehmensorientierter Wirtschaftspolitik.<br />

Norderstedt: Books on Demand<br />

2011, 328 S., 69,95 €. (Paperback).<br />

Tätigkeiten in der Wirtschaftsförderung, im<br />

Standortmarketing und in der Regionalentwicklung<br />

stellen <strong>für</strong> Geographen beliebte Arbeitsmärkte<br />

dar. Jedoch sind Lehrbücher zur Wirtschaftsförderung<br />

aus (rein) wirtschaftsgeographischer<br />

Perspektive in Deutschland Mangelware.<br />

Aus diesem Grund soll hier ein ökonomisches<br />

Werk vorgestellt werden, das die geographische<br />

Perspektive sinnvoll bereichert. Der Autor richtet<br />

das Buch an alle, die sich in Theorie und Praxis<br />

mit Wirtschaftsförderung und Standortpolitik<br />

beschäftigen. Das Ziel des Buches besteht darin,<br />

einen strukturierten Überblick über Zielsetzungen<br />

und Begründungen <strong>für</strong> staatlich initiierte<br />

Wirtschaftsförderung zu geben. Ein besonderer<br />

Fokus liegt dabei auf den Folgen und Wirkungen<br />

staatlicher Eingriffe. Die theoretische Denkweise<br />

ist in der neoklassischen Ökonomie angesiedelt.<br />

Das Buch gliedert sich in vier Kapitel.<br />

Im ersten Kapitel wird in die Thematik der Wirtschaftsförderung<br />

eingeführt. Neben Begriffsbestimmung,<br />

Begründungen <strong>für</strong> wirtschaftsfördernde<br />

Aktivitäten und deren Prinzipien wird gezeigt,<br />

dass es sich bei Wirtschaftsförderung um<br />

ein Phänomen handelt, dessen erste Ansätze weit<br />

in die Geschichte zurückreichen. Die aktuelle<br />

Notwendigkeit einer Wirtschaftsförderung wird<br />

vor allem mit Bürgerinteresse und Marktversagen<br />

begründet. Diese beiden Konzepte werden in<br />

der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> nur selten so systematisch<br />

betrachtet wie in dem vorliegenden Band.<br />

Ergänzend werden strategische, soziale und verteilungspolitische<br />

Gründe vorgestellt. Darauf<br />

aufbauend werden Prinzipien der Wirtschaftsförderung<br />

erläutert. Auch dieser Themenkomplex<br />

ist bisher kaum Thema in gängigen Lehrbüchern<br />

zur <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> gewesen.<br />

Das zweite Kapitel widmet sich den Standortfaktoren<br />

und dem Standortwettbewerb. Durch<br />

die Beschreibung von Standortfaktoren und<br />

die Darstellung der Erklärungsmodelle <strong>für</strong> die<br />

räumliche Verteilung wirtschaftlicher Aktivitäten<br />

wird eine Brücke in die <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

geschlagen. Anhand der ökonomischen<br />

Ansätze wird gezeigt, dass Gebietskörperschaften<br />

einen gewissen Spielraum haben, um sich<br />

als Stand orte <strong>für</strong> Unternehmen attraktiver zu<br />

machen. Dabei wird dem Wettbewerb zwischen<br />

Standorten besondere Aufmerksamkeit gewidmet.<br />

Räume können in wettbewerblichen Beziehungen<br />

zu einander stehen, und entsprechend<br />

sind räumliche Disparitäten und ihre Erklärung<br />

häufig Untersuchungsgegenstand in der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong>.<br />

Im dritten Kapitel geht der Autor auf einige Instrumente<br />

der Wirtschaftsförderung ein. Dazu wird<br />

eine Systematisierung der verschiedenen Instrumente<br />

vorangestellt und verdeutlicht, dass klare<br />

Abgrenzungen nicht immer möglich sind. Neben<br />

bekannten und populären Instrumenten der Wirtschaftsförderung,<br />

wie beispielsweise staatliche<br />

Bürgschaften, Technologie- und Gründerzentren<br />

oder die Förderung von Forschung und Entwicklung,<br />

werden aber auch weniger verbreitete Instrumente<br />

wie Mietfabriken vorgestellt. Das vierte<br />

Kapitel widmet sich den Wirkungen der Maßnahmen<br />

von Wirtschaftsförderung. Hier wird in<br />

ökonomischer Manier betrachtet, welche mikro-<br />

und makroökonomischen Anreizwirkungen<br />

und Effekte Wirtschaftsförderung theoretisch<br />

haben kann. Es werden aber auch die Gesamtwohlfahrt<br />

sowie die Wettbewerbswirkungen der<br />

Wirtschaftsförderung betrachtet.<br />

Das Buch ist logisch aufgebaut, die Inhalte sind<br />

dank vieler Beispiele leicht nachvollziehbar.<br />

Somit eignet sich diese Einführung auch gut<br />

<strong>für</strong> Studierende der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong>, ohne<br />

dass sie über eine fundierte wirtschaftswissenschaftliche<br />

Ausbildung verfügen müssen.<br />

Die Verständlichkeit des Buches basiert allerdings<br />

vor allem auf dem neoklassischen theoretischen<br />

Rahmen. Die damit einhergehende<br />

Formalisierung ist <strong>für</strong> die Nachvollziehbarkeit<br />

der Inhalte aber nicht zwingend. Die verschiedenen<br />

Maßnahmen und Instrumente werden aus<br />

didaktischen Gründen isoliert voneinander betrachtet.<br />

Auf ihre komplementären Wirkungen<br />

wird häufig hingewiesen, aber es werden keine<br />

praktischen Strategien oder Maßnahmenbündel<br />

in ihrer regionalen Wirkung vorgestellt und untersucht.<br />

Damit dient das Buch vor allem dem<br />

theo retischen Verständnis und eröffnet dem Le-


Buchbesprechungen 97<br />

ser eine neue Perspektive auf Wirtschaftsförderung<br />

und Standortpolitik.<br />

Für Wirtschaftsgeographen spielen üblicherweise<br />

regionale Aspekte und Besonderheiten eine<br />

große Rolle. Auf sie wird in diesem Buch nur<br />

randlich eingegangen. Die Besonderheiten der<br />

ostdeutschen Bundesländer werden an verschiedenen<br />

Stellen thematisiert. Räumlich fokussiert<br />

das Buch auf Deutschland, wobei hier und da<br />

auch Beispiele aus den europäischen Nachbarländern<br />

herangezogen werden. Die Bedeutung<br />

der Europäischen Union <strong>für</strong> die Wirtschafts-,<br />

Regional- und Standortpolitik in Deutschland<br />

wird angerissen, allerdings nicht vertieft, was<br />

auch den Rahmen eines einführenden Lehrbuches<br />

sprengen würde. Zusammenfassend kann<br />

das Buch Wirtschaftsgeographen bzw. Studierenden<br />

der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> nachdrücklich<br />

empfohlen werden. Es verdeutlicht wirtschaftliche<br />

Zusammenhänge und Effekte wirtschaftsfördernder<br />

Aktivitäten durch öffentliche Akteure.<br />

Geographen bietet es neue Einblicke und verlangt<br />

gewissenmaßen nach thematischer Ergänzung<br />

aus wirtschaftsgeographischer Perspektive.<br />

Christian Kluck, Bremen<br />

Fürst, Dietrich / Hirschfeld, Markus /<br />

Jung, Hans-Ulrich / Lammers, Konrad /<br />

Nischwitz, Guido / Salow, Sven-Olaf / Sempell,<br />

Guido / Skubowius, Alexander: Ausgestaltung<br />

der EU-Strukturpolitik der Förderperiode<br />

2007–<strong>2013</strong> in den nordwestdeutschen<br />

Bundesländern. Hannover: Akademie <strong>für</strong> Raumforschung<br />

und Landesplanung 2012, 260 S.,<br />

29,90 €. (ARL-Arbeitsmaterialien, Band 358).<br />

Die Neugestaltung der EU-Strukturpolitik <strong>für</strong> die<br />

Förderperiode 2014 bis 2020 tritt in die entscheidende<br />

Phase, und es ist zu hoffen, dass sich die<br />

Entscheidungen der Politiker an den Erfahrungen<br />

der aktuellen Periode orientieren, an Lerneffekten,<br />

an intendierten und an nichtintendierten<br />

Wirkungen. Die von einem aus Wissenschaftlern,<br />

Politikern und Verwaltungsmitarbeitern zusammengesetzten<br />

Autorenkollektiv vorgelegte<br />

Bilanz der Ausgestaltung der EU-Strukturpolitik<br />

in den nordwestdeutschen Ländern kommt daher<br />

zur rechten Zeit. Diese vier Bundesländer<br />

sind traditionell vergleichsweise stark von EU-<br />

Fördermitteln abhängig, weshalb die vor der<br />

laufenden Förderperiode erfolgte finanzielle, inhaltliche<br />

und räumliche Neuausrichtung der EU-<br />

Strukturpolitik (mehr Wettbewerb, weniger Ausgleichsorientierung)<br />

von erheblicher Relevanz<br />

auch <strong>für</strong> diese Re gion war. Zudem befand sich<br />

das größte der vier betroffenen Bundesländer<br />

zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Bandes<br />

bereits im Landtagswahlkampf, der die zwischen<br />

Regierungspartei und größter Oppositionspartei<br />

doch sehr verschiedenen Auffassungen zur regio<br />

nalen und sektoralen Schwerpunktsetzung<br />

der künftigen EU-Strukturpolitik offenbarte. Die<br />

divergierenden Grundpositionen der beiden großen<br />

Parteien ähneln jenen, die auch die bisherigen<br />

EU-Strukturpolitiken prägten: Lange Zeit<br />

dominierte das Ziel der Disparitätenreduzierung<br />

und die Stärkung der Schwachen (Regionen),<br />

zuletzt aber lag der Fokus auf der Wettbewerbsfähigkeit<br />

der EU insgesamt mit einer Politik der<br />

„Stärken stärken“. Letztere Strategie wird, das<br />

ist bereits absehbar, auch das Credo der neuen<br />

Förderperiode sein, denn sie soll explizit der<br />

Erreichung der wachstumsorientierten Ziele der<br />

neuen EU-„Strategie Europa 2020“ dienen, was<br />

<strong>für</strong> Nordwestdeutschland unter anderem weniger<br />

Geld aus EU-Fördertöpfen bedeuten wird als<br />

bisher. Anlässe also genug, um zu analysieren,<br />

wie die Umsetzung in der aktuellen Förderperiode<br />

in Norddeutschland gelungen ist.<br />

Eine siebenköpfige AG der Landesarbeitsgemeinschaft<br />

Nordwest der ARL hat sich 2008 die<br />

Aufgabe gestellt, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede<br />

der Strategien, Ziele und Instrumente<br />

bei der Umsetzung der EU-Strukturpolitiken<br />

in Nordwestdeutschland zu beschreiben und<br />

zu bewerten. Der in sechs Kapiteln gegliederte<br />

Band beginnt mit einem Überblick über die EU-<br />

Strukturpolitik der auslaufenden Förderperiode,<br />

in dem Konrad Lammers insbesondere den <strong>für</strong><br />

Nordwestdeutschland relevanten institutionellen<br />

Rahmen skizziert, die theoretische Debatte<br />

zwischen Effizienz/Wachstum und Ausgleich<br />

schildert sowie die empirischen Erkenntnisse zu<br />

den bisherigen Effekten der EU-Strukturpolitik<br />

zusammenfasst. Anschließend präsentiert Hans-<br />

Ulrich Jung nach dem Muster der Regionalberichte<br />

des Niedersächsischen Instituts <strong>für</strong> Wirtschaftsforschung<br />

(NIW), dessen Interessen er<br />

zum Zeitpunkt der Manuskriptabfassung noch<br />

vertrat, die ökonomischen Stärken und Schwächen<br />

„Norddeutschlands“ (sic!). Das deutlich<br />

längste Kap. 3 enthält die konkrete Ausgestaltung<br />

der EU-Strukturpolitiken in Schleswig-<br />

Holstein (Markus Hirschfeld / Sven-Olaf Salow,<br />

Niedersachsen (Alexander Skubowius), Bremen<br />

(Guido Nischwitz) sowie Hamburg (Guido<br />

Sempell). Das perspektivisch interessanteste<br />

Kap. 5 erörtert drei neuere bzw. <strong>für</strong> die Unter-


98 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> Heft 1-2 / <strong>2013</strong><br />

suchungsregion besonders relevante Aspekte<br />

des Gesamtthemas, nämlich Politiken <strong>für</strong> ländliche<br />

Räume (Guido Nischwitz), das junge Instrument<br />

der regionalisierten Teilbudgets (nur<br />

in Niedersachsen) (Alexander Skubowius) sowie<br />

Governance-Arrangements in den betreffenden<br />

Bundesländern (Dietrich Fürst). Schließlich<br />

fassen Jung, Nischwitz und Skubowius in einem<br />

Fazitkapitel die zentralen Ergebnisse und Empfehlungen<br />

zusammen.<br />

Die wesentlichen Ergebnisse sind zu interpretieren<br />

mit Blick auf die vergleichsweise großen<br />

intraregionalen Disparitäten in Norddeutschland<br />

mit wachstumsstarken Räumen im urbanen oder<br />

ländlichen Umfeld und zahlreichen wachstumsschwachen<br />

Regionen. Erhebliche Investitionen<br />

in der unternehmensorientierten Infrastruktur<br />

mittels räumlich selektiver Förderung seien Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> einen Abbau regionaler Disparitäten.<br />

Andererseits sei ein Aufholen gegenüber<br />

den süddeutschen Ländern nur möglich, wenn<br />

konsequent innovations- und qualifikationsorientierter<br />

Strukturwandel gefördert würde,<br />

was eine Fokussierung auf die wirtschaftlichen<br />

Zentren notwendig mache. Zudem sei die positive<br />

Korrelation zwischen Wirtschafts- und<br />

Bevölkerungswachstum in der Untersuchungsregion<br />

besonders stark, was bei regionalpolitischen<br />

Entscheidungen zu berücksichtigen sei.<br />

Natürlich mussten die Autoren ihre Empfehlungen<br />

Ende September 2011 unter erheblicher<br />

Unsicherheit formulieren, da die maßgeblichen<br />

Verordnungsvorschläge der EU-Kommission<br />

und die sich daran anschließende Debatte auf<br />

der europäischen (Rat, Parlament), der Bundesund<br />

der Länderebene noch in der Zukunft lagen.<br />

Die Autoren empfehlen insbesondere, neue<br />

Governance-Formen durch die Einbettung regio<br />

naler Entwicklungsstrategien stärker als bisher<br />

zu fördern, denn dies sei eine Schwachstelle<br />

beispielsweise in der niedersächsischen Regionalförderung.<br />

Eine zweite Empfehlung zielt<br />

auf die engere Verzahnung insbesondere der<br />

Wirtschafts- und Landwirtschaftsressorts in den<br />

beiden Flächenländern, auf regionaler Ebene<br />

aber auch auf die stärkere Kopplung von staatlichen<br />

Unterstützungsleistungen an inhaltliche<br />

und organisatorische Qualitätsanforderungen.<br />

Die dritte und wichtigste Empfehlung adressiert<br />

die mangelnde ländergrenzenübergreifende Koordinierung<br />

der Maßnahmen, wodurch erhebliche<br />

Effizienzverluste hervorgerufen worden<br />

seien. Schon in der aktuellen Förderperio de sei<br />

zu wenig voneinander gelernt worden, obwohl<br />

einzelne Bundesländer und Regionen wertvolle<br />

Erfahrungen gemacht hätten, die andere Teilräume<br />

gut hätten nutzen können (z. B. Etablierung<br />

revolvierender Finanzinstrumente, Scoring-Verfahren<br />

zur Verbesserung der Projektqualität, Zusammenbindung<br />

multisektoraler Förderin strumente).<br />

Der Band liefert einen guten Einblick in die<br />

Umsetzungsprobleme, aber auch die Potenziale<br />

eines komplexen und zumindest in Teilen des<br />

ökonomisch peripheren Nordwestdeutschlands<br />

sehr wirkungsmächtigen Politikbereichs wie<br />

der EU-Strukturpolitik. Der Autorenmix aus<br />

Vertretern von Politik, Verwaltung und Wissenschaft<br />

tut dem Band gut, macht er doch die<br />

bisweilen sehr unterschiedlichen Sichtweisen<br />

und Ziele deutlich. Der Berichterstatter hätte<br />

sich aber bisweilen eine etwas kritischere und<br />

pointiertere Bewertung und ebensolche Empfehlungen<br />

gewünscht, denn zumindest die Autoren<br />

der Wissenschaft besitzen doch die da<strong>für</strong><br />

notwendige Unabhängigkeit von politischen<br />

Vorgaben. Nachvollziehbar sind Resultate und<br />

Empfehlungen in ihrer Mehrzahl sehr wohl. Die<br />

Zielgruppe dieses Bandes dürfte eher in den Bereichen<br />

Raumordnungs- und Regionalpolitik,<br />

also in öffentlicher Verwaltung und in Teilen<br />

der politikorientierten Wissenschaft zu suchen<br />

sein als etwa unter Studierenden. Letzteren sei<br />

aber mindestens das Kapitel über die bisherige<br />

empirische Bilanz der EU-Regionalpolitik sowie<br />

– je nach regionalem Interesse – ein Kapitel<br />

zur Ausgestaltung der EU-Regionalpolitik in<br />

den vier Bundesländern zur Lektüre empfohlen,<br />

denn diese Aspekte fehlen leider in vielen (auch<br />

den vielen jüngeren) Lehrbüchern der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong>.<br />

Dies kann auch ein notwendiger<br />

Schritt sein, um der vermeintlichen oder<br />

tatsächlichen Europamüdigkeit oder gar -feindschaft<br />

in Teilen auch der deutschen Gesellschaft<br />

entgegenzutreten. Über die inhaltliche, sektorale<br />

und finanzielle Ausgestaltung der EU-Strukturpolitik<br />

(Wettbewerb vs. Ausgleich) lässt sich<br />

trefflich streiten. Dass sie Wirkung in den Regionen<br />

(auch den nordwestdeutschen) zeigt, ist<br />

dagegen nicht umstritten – ebensowenig wie<br />

die Tatsache, dass diese Wirkungen zumindest<br />

partiell von der Umsetzung und Ausgestaltung<br />

entsprechender Programme und Instrumente abhängen,<br />

dem Gegenstand dieses Bandes. Es täte<br />

nicht nur Studierenden, sondern auch Politikern,<br />

Unternehmern und anderen gesellschaftlichen<br />

Gruppen gut, mehr über diese Themen zu lernen.<br />

Dazu kann der Band beitragen.<br />

Rolf Sternberg, Hannover


Buchbesprechungen 99<br />

Matanle, Peter / Anthony S. Rausch with<br />

the Shrinking Regions Research Group<br />

(Eds.): Ja pan’s shrinking regions in the 21st<br />

century. Contemporaray responses to depopulation<br />

and socioeconomic decline. Amherst / New<br />

York: Cambria Press 2011, 530 p., 130,– €.<br />

Dieses beeindruckende Werk ist weit mehr als<br />

das Resultat eines internationalen Symposiums<br />

vom Juli 2008 an der Universität Sheffield. Die<br />

Herausgeber haben es, in Zusammenarbeit mit<br />

16 weiteren Referenten der Forschungsgruppe<br />

Shrinking Regions, hervorragend verstanden,<br />

eine repräsentative Auswahl detaillierter<br />

Beiträge des Symposiums, die außer Japan<br />

auch Schrumpfungsregionen Schottlands und<br />

Deutschlands beinhalten, in 11 Kapiteln thematisch<br />

sinnvoll miteinander zu verknüpfen, daraus<br />

Ergebnisse zu extrahieren und Handlungsempfehlungen<br />

abzuleiten. Die Zusammenführung<br />

theoretisch und methodisch unterschiedlicher<br />

Präsentationen und Fallbeispiele in Kombination<br />

mit verschiedennen geographischen Maßstabsebenen<br />

(lokal, regional, national, global) mündet<br />

in eine umfassende Analyse der schrumpfenden<br />

Regionen Japans, wo der Grad der Schrumpfung<br />

besonders dramatisch ist und die Reaktion darauf<br />

erhellende Einsichten erwarten lässt. Eine<br />

gut strukturierte Gliederung, aufschlussreiche<br />

Karten, Graphiken und Tabellen sowie ein ausführliches<br />

Sachregister erleichtern dem Leser<br />

das Verständnis komplexer Zusammenhänge.<br />

Gezielte Fragestellungen führen jeweils am Ende<br />

eines Kapitels in die Thematik des folgenden ein.<br />

Der Band ist in zwei Hälften gegliedert. Teil 1<br />

fokussiert auf die Charakteristika, Wirkungen<br />

und Herausforderungen der Schrumpfungs- und<br />

Alterungsprozesse. Er beginnt mit den weltweiten<br />

Erfahrungen regionaler Schrumpfung<br />

in entwickelten Ländern. Eingebettet in diesen<br />

globalen Prozess finden sich in Japan zwei Typen<br />

regionaler Schrumpfung: erstens der beständige,<br />

allmähliche, kaum wahrnehmbare<br />

Niedergang ländlicher Regionen, bedingt durch<br />

zurückgehende Geburtenhäufigkeit und dauerhafte<br />

Abwanderung vor allem junger Menschen<br />

in die Großstädte und Metropolen als Folge ihrer<br />

Suche nach Beschäftigung, Weiterbildung<br />

und gesellschaftlichem Aufstieg und zweitens<br />

der eher abrupte Zusammenbruch peripherer,<br />

monostruktureller Städte nach Verlust ihrer<br />

wirtschaftlichen Basis (v. a. Schwerindustrie<br />

und Bergbau). Beide Prozesse sind zu einem<br />

gewissen Grad Folgen der auf Wachstum und<br />

Wohlstand – und damit auf die Wahrnehmung<br />

von Agglomerationsvorteilen – fixierten nationalen<br />

Wirtschaftspolitik, die einseitig den Metropolregionen<br />

zu Lasten der Peripherie zugute<br />

kam. Schrumpfung in der Peripherie Japans ist<br />

kein einheitlicher Prozess. Während regionale<br />

Zentren aus spezifischen Gründen teilweise ein<br />

kräftiges Wachstum aufweisen (z. B. durch die<br />

Anbindung an eine vorteilhafte Verkehrsinfrastruktur),<br />

hatten selbst benachbarte Gemeinden<br />

unter anhaltendem Bevölkerungsschwund und<br />

wirtschaftlichem Niedergang zu leiden. Für die<br />

Zukunft sehen die Autoren regionale Schrumpfung<br />

in Japan als einen eher uniformen Prozess,<br />

insofern nicht nur Regionalstädte, sondern sogar<br />

Metropolregionen einem langfristig anhaltenden<br />

Schrumpfungsprozess, der lange auf ländliche<br />

Schauplätze begrenzt war, unterliegen.<br />

Teil 2 liefert die Antworten auf die Herausforderungen<br />

durch Schrumpfung auf unterschiedlichen<br />

Maßstabsebenen. Seit den 1950er Jahren<br />

bis in die Gegenwart hat es nicht an Maßnahmen<br />

gefehlt, den anhaltenden Tendenzen unausgewogener<br />

Landesentwicklung durch eine<br />

Vielzahl von Revitalisierungsmaßnahmen entgegenzuwirken.<br />

Dies betrifft insbesondere die<br />

Entwicklung einer regionalen Infrastruktur auf<br />

der Grundlage eines komplexen Systems öffentlicher<br />

Subventionen der Zentralregierung.<br />

Dadurch jedoch verstärken sich die Probleme:<br />

die Abhängigkeit der Schrumpfungsregionen<br />

von der Zentrale sowie der fragwürdige Nutzen<br />

zentralstaatlicher Investitionen, die vor allem<br />

einer privilegierten Baulobby zugute kommen,<br />

einer nachhaltigen Regionalentwicklung jedoch<br />

abträglich sind. Inzwischen fließen staatliche<br />

Zuweisungen an die Regionen nicht mehr so<br />

üppig wie in den Jahrzehnten zuvor. Viele ländliche<br />

Gemeinden sehen daher ihre Lebensgrundlage<br />

im Tourismus, eine Strategie, die anhand<br />

von Fallbeispielen als problematisch diskutiert<br />

wird. Zuwanderungen von außen könnten den<br />

Schrumpfungsgrad erheblich mildern, gelten jedoch<br />

in einem Land, das auf seine Homogenität<br />

großen Wert legt, als zu risikoreich.<br />

Aus den Schlussfolgerungen ergeben sich vier<br />

Handlungsempfehlungen <strong>für</strong> schrumpfende Regionen<br />

(Kap. 11): erstens eine stärkere Vernetzung<br />

politischer und wirtschaftlicher Aktivitäten<br />

unter Einbeziehung lokaler Akteure von Nichtregierungsorganisationen<br />

in Entscheidungsprozesse,<br />

zweitens auf der Ebene der Gemeinden<br />

die Entwicklung professioneller Fähigkeiten hin<br />

zu einer nachhaltigen Vermarktung ihres kulturund<br />

naturlandschaftlichen Erbes (brand-crea-


100 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> Heft 1-2 / <strong>2013</strong><br />

tion, brand-management), drittens die Schaffung<br />

einer internationalen Clearingstelle (eingebracht<br />

durch die UN oder besser die japanische<br />

Regierung), die den Akteuren schrumpfender<br />

Regionen Informationen, Forschungsergebnisse<br />

und Beratungskompetenz zur Verfügung stellt,<br />

viertens schließlich eine stärkere Fokussierung<br />

in der Forschung auf die positiven Potenziale<br />

der Schrumpfung, damit zusammenhängend<br />

das Plädoyer <strong>für</strong> einen Paradigmenwechsel weg<br />

von kontinuierlichem Wirtschaftswachstum hin<br />

zur Verbesserung des Lebensraumes im Sinne<br />

nachhaltiger Entwicklung. Kurz vor Erscheinen<br />

dieses Buches traf das schwere Erdbeben 2011<br />

die periphere Küstenregion Tōhokus und ihre<br />

stark schrumpfende und alternde Bevölkerung.<br />

In einem Epilog („Lessons from Tōhoku“) wird<br />

diese Katastrophe in das Thema Schrumpfungsstrategien<br />

einbezogen.<br />

Im Spannungsfeld zwischen dem Drama zunehmender<br />

Ortswüstungen einerseits und den<br />

Möglichkeiten aktiver Gestaltung regionaler<br />

Schrumpfung andererseits bietet dieser ambitionierte,<br />

problemorientierte Band durch die Verarbeitung<br />

typischer Fallbeispiele nicht nur den<br />

Japan-Experten, sondern all jenen, die an den<br />

Problemen des demographischen Wandels in<br />

seiner Raumwirksamkeit und gesellschaftspolitischen<br />

Brisanz interessiert sind, hervorragende<br />

Informationen und Anregungen. Ein sehr empfehlenswertes<br />

Buch.<br />

Winfried Flüchter, Duisburg-Essen<br />

Lohmann, Carsten: Außerlandwirtschaftliche<br />

Beschäftigung im ländlichen Thailand. Ursachen,<br />

Auswirkungen und Zugangsfaktoren. Baden-Baden:<br />

Nomos Verlag 2009, 268 S., € 39,–.<br />

(Weltwirtschaft und internationale Zusammenarbeit,<br />

Band 6).<br />

Die ländlichen Räume in den Entwicklungs- und<br />

Schwellenländern sind schon lange nicht mehr<br />

rein agrarisch geprägt. Außerlandwirtschaftliche<br />

Tätigkeiten haben in den vergangenen Jahrzehnten<br />

an Bedeutung gewonnen und rücken nun<br />

auch verstärkt in den Blickpunkt der Entwicklungszusammenarbeit.<br />

Insbesondere die Weltbank<br />

scheint in ihnen einen neuen Heilsbringer<br />

zu sehen. Hieraus erwächst ein Forschungsbedarf,<br />

dem sich anglophone Wirtschafts- und<br />

Sozialwissenschaftler bereits angenommen haben,<br />

die geographische Entwicklungsforschung,<br />

insbesondere in Deutschland, bislang aber noch<br />

kaum. Von daher ist die vorliegende Studie<br />

grundsätzlich eine willkommene Bereicherung.<br />

Die als Diss. an der Justus-Liebig-Universität<br />

Gießen im Kontext des DFG-Projekts „Impacts<br />

of shocks on regional economic development<br />

and local capacity building in Thailand and Vietnam“<br />

der an den Universitäten Gießen und Hannover<br />

beheimateten Forschergruppe 756 „The<br />

impacts of shocks on the vulnerability to poverty:<br />

consequences for development of emerging<br />

Southeastern Asian economies“ entstandene<br />

Arbeit beschäftigt sich mit dem Schwellenland<br />

Thailand und könnte noch aus einem weiteren<br />

Grund einen wichtigen Beitrag zur geographischen<br />

Entwicklungsforschung darstellen:<br />

Durch ihren Fokus auf die Provinzen Burinam,<br />

Ubon Ratchathani und Nakhom Phanom im<br />

armen Nordosten Thailands, der kaum vom<br />

Wirtschaftsboom der vergangenen Jahrzehnte<br />

profitiert hat, leistet sie einen Beitrag zur Frage<br />

nach den Entwicklungsprozessen in der „neuen<br />

Peripherie“, wie Fred Scholz in seiner Theorie<br />

der fragmentierenden Entwicklung die Weltregio<br />

nen bezeichnet hat, die nicht Gegenstand des<br />

Interesses internationaler Investoren sind.<br />

Diesen Erwartungen wird die Studie jedoch leider<br />

nicht gerecht, was primär ihrer Methodik<br />

geschuldet ist: Der Verf. arbeitet rein quantitativ<br />

und stützt sich im Wesentlichen auf die Daten<br />

einer im Rahmen des DFG-Projekts durchgeführten<br />

Befragung von 2 186 Haushalten in den<br />

222 Dörfern der drei genannten thailändischen<br />

Nordost-Provinzen. Hierzu ist kritisch anzumerken,<br />

dass lediglich die Haushaltsvorstände, nicht<br />

aber die übrigen erwachsenen Haushaltsmitglieder<br />

befragt wurden. Dadurch wurde die Chance<br />

vergeben, haushaltsinterne Unterschiede (und<br />

evtl. Spannungen) bzgl. der Strategien zur Generierung<br />

von Einkommen untersuchen zu können.<br />

Der verwendete (aber nicht abgedruckte)<br />

Fragebogen wurde nicht auf der Basis einer qualitativen<br />

Vorstudie entwickelt und war vollstandardisiert.<br />

Gegenüber einer Arbeitsweise, die<br />

den Forschungsgegenstand losgelöst von seinem<br />

spezifischen regionalen und kulturellen Kontext<br />

betrachtet, lassen sich erhebliche Bedenken<br />

vorbringen. Eine zeitgemäße wirtschafts- und<br />

sozialwissenschaftliche Entwicklungsforschung<br />

stellt dies jedenfalls nicht dar, und es führt zu unbefriedigenden<br />

Ergebnissen. Im Falle der vorliegenden<br />

Studie kommt erschwerend hinzu, dass<br />

sich dem Leser der Eindruck aufdrängt, dass der<br />

Autor über ungenügende Regionalkenntnisse<br />

verfügt.


Buchbesprechungen 101<br />

Abgesehen von diesen Einwänden ist die vorgelegte<br />

Studie aber ein vorbildliches Beispiel <strong>für</strong><br />

induktive Arbeitsweisen: Nach einer Definition<br />

der zentralen Begriffe (Kap. 2) diskutiert der<br />

Autor theoretische Ansätze zu Verwundbarkeit,<br />

Anreizen und Motiven außerlandwirtschaftlicher<br />

Beschäftigung, stufentheoretische Ansätze<br />

zur Entwicklung des ländlichen außerlandwirtschaftlichen<br />

Sektors sowie das Location-Opportunity-Konzept,<br />

um Interdependenzen zwischen<br />

Verwundbarkeit, außerlandwirtschaftlicher Beschäftigung,<br />

ländlicher Entwicklung und Regionalfaktoren<br />

auszuloten (Kap. 3). Ziel des<br />

Theoriekapitels ist die Identifizierung operationalisierbarer<br />

Bestimmungsfaktoren <strong>für</strong> die Entstehung<br />

und die Aufnahme außerlandwirtschaftlicher<br />

Beschäftigung im ländlichen Raum sowie<br />

die Höhe der Entlohnung der in diesem Sektor<br />

Beschäftigten. Der Verf. entwickelt schließlich<br />

Hypothesen und erkenntnisleitende Fragen<br />

(Kap. 3.5), die im Folgenden konsequent überprüft<br />

werden. In Kap. 4 werden dann die quantitativen<br />

Erhebungsmethoden umrissen, die Methoden<br />

der statistischen Datenanalyse erläutert<br />

sowie die Operationalisierung und Definition<br />

der Variablen vorgenommen.<br />

Kap. 5 widmet sich zunächst anhand von Sekundärliteratur<br />

und der Auswertung nationaler<br />

Statistiken der Wirtschafts- und Armutsentwicklung<br />

Thailands seit dem Zweiten Weltkrieg,<br />

wobei ein Schwerpunkt auf regionale Disparitäten<br />

gelegt wird. Anschließend werden die<br />

drei Untersuchungsprovinzen vorgestellt. Leider<br />

stützt sich der Autor hierbei wiederum nur auf<br />

nationale Statistiken und Weltbank-Studien. Andere<br />

Regionalliteratur wird nicht ausgewertet.<br />

Insgesamt beschränkt sich der Verf. bei seiner<br />

Darstellung des thailändischen Nordostens auf<br />

die sozioökonomischen Rahmenbedingungen<br />

<strong>für</strong> außerlandwirtschaftliche Beschäftigung. Der<br />

Leser erfährt nur sehr wenig über die Situation<br />

der Landwirtschaft in den Untersuchungsprovinzen.<br />

Eine Beschreibung der soziokulturellen<br />

Rahmenbedingungen fehlt völlig.<br />

Die Analyse der im Rahmen der Haushaltsbefragung<br />

erhobenen Daten erfolgt in Kap. 6 und 7.<br />

Dabei werden Schritt <strong>für</strong> Schritt die zuvor aufgestellten<br />

Hypothesen und erkenntnisleitenden<br />

Fragen überprüft. Der Autor stützt sich dabei<br />

auf eine konsequente statistische Datenanalyse,<br />

deren Ergebnisse sowohl textlich als auch<br />

mit Hilfe zahlreicher Tabellen und einzelner<br />

Graphiken dargestellt werden. Die beiden Kapitel<br />

sind solide ausgearbeitet. Störend ist allerdings,<br />

dass der Autor <strong>für</strong> seine Fachtermini<br />

eigene Abkürzungen verwendet (z. B. ALaRB<br />

<strong>für</strong> „Außerlandwirtschaftliche abhängige regionale<br />

Beschäftigung“). Dies erschwert streckenweise<br />

die Lektüre. Untersucht werden zunächst<br />

Bedeutung, Anreize und Auswirkungen außerlandwirtschaftlicher<br />

Beschäftigung. Der Autor<br />

konstatiert, dass alle Bevölkerungsschichten in<br />

Nordostthailand an der außerlandwirtschaftlichen<br />

Beschäftigung partizipieren, das durch sie<br />

erzielte Einkommen sei höher als das agrarische<br />

und stelle so einen wirkungsvollen Beitrag zur<br />

Armutsreduktion dar. Allerdings profitierten<br />

wohlhabendere Haushalte stärker als ärmere<br />

Familien. Insgesamt wiesen Haushalte, deren<br />

Mitglieder einer außerlandwirtschaftlichen Beschäftigung<br />

nachgingen, ein höheres Einkommen,<br />

eine geringe Armut und eine geringere<br />

Verwundbarkeit auf. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />

sei zwar externen Schocks, insbesondere<br />

in der Landwirtschaft, ausgesetzt, diese seien<br />

aber nicht der Hauptgrund <strong>für</strong> die Aufnahme<br />

außerlandwirtschaftlicher Beschäftigung, sondern<br />

vielmehr der Wunsch der ländlichen Haushalte,<br />

zusätzliches Einkommen zu erzielen und<br />

durch Diversifizierung ihre Verwundbarkeit zu<br />

verringern. Letzteres gelinge insofern, als mit<br />

Hilfe des Zusatzeinkommens aus außerlandwirtschaftlicher<br />

Beschäftigung Verluste im Bereich<br />

der Landwirtschaft leichter kompensiert werden<br />

könnten.<br />

In Kap. 7 wird die Frage diskutiert, welchen Einfluss<br />

die Nähe zu den Provinzhauptstädten auf<br />

die regionale außerlandwirtschaftliche Beschäftigung<br />

hat. Dabei kommt der Autor zu dem Ergebnis,<br />

dass sich die Stadtnähe zwar positiv auf<br />

die Partizipation der ländlichen Bevölkerung an<br />

abhängiger außerlandwirtschaftlicher Beschäftigung<br />

auswirke, nicht jedoch auf die Beteiligung<br />

an selbstständiger Beschäftigung in diesem Sektor,<br />

da diese Tätigkeiten primär in den Dörfern<br />

selbst ausgeübt würden. Außerdem wirke sich<br />

die Stadtnähe nur in der Privatwirtschaft auf die<br />

Höhe der Entlohnung abhängiger außerlandwirtschaftlicher<br />

Beschäftigung aus. Im öffentlichen<br />

Sektor würden den Angestellten in den Städten<br />

die gleichen Löhne gezahlt wie in den Dörfern.<br />

Im Bereich der selbstständigen außerlandwirtschaftlichen<br />

Beschäftigung ergäben sich keine<br />

Einkommensunterschiede durch die räumliche<br />

Lage. Stadtnähe wirke sich aber positiv auf die<br />

Höhe des gesamten außerlandwirtschaftlichen<br />

regionalen Einkommens, auf das Pro-Kopf-Einkommen<br />

der Haushalte und auf die Armutsquote<br />

aus.


102 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> Heft 1-2 / <strong>2013</strong><br />

Insgesamt muss der Erkenntnisgewinn der Studie<br />

als recht bescheiden eingeschätzt werden.<br />

Fragen wie die nach Disparitäten zwischen<br />

den einzelnen Haushalten in den Dörfern oder<br />

zwischen den einzelnen Haushaltsmitgliedern<br />

werden ebensowenig behandelt wie die Rückwirkungen<br />

der außerlandwirtschaftlichen Beschäftigung<br />

auf den Agrarsektor. Dies ist der<br />

sowohl inhaltlichen als auch methodischen<br />

Selbstbeschränkung des Autors geschuldet, das<br />

Thema isoliert und ausschließlich mit Hilfe<br />

quantitativer Erhebungs- und Analyseverfahren<br />

zu betrachten. So liest sich die Arbeit denn<br />

auch eher wie eine Weltbank-Studie als wie eine<br />

moderne entwicklungsgeographische Arbeit.<br />

Schade. Die Themen außerlandwirtschaftliche<br />

Beschäftigung und Entwicklungsprozesse in<br />

ländlich-peripheren Regionen im Zeitalter der<br />

Globalisierung bieten sicher mehr Erkenntnispotenzial<br />

<strong>für</strong> eine (wirtschafts-)geographische<br />

Entwicklungsforschung.<br />

Bernhard Martin, Halle (Saale)<br />

Lohmann, Dieter / Podbregar, Nadja: Im<br />

Fokus: Bodenschätze. Auf der Suche nach Rohstoffen.<br />

Berlin: Springer Verlag 2012, 172 S.,<br />

19,95 €. (Naturwissenschaften im Fokus).<br />

Nachdem die Frage des sicheren Zugangs zu<br />

Rohstoffen lange Zeit stiefmütterlich behandelt<br />

wurde, steht das Thema in den letzten Jahren,<br />

nicht zuletzt durch stark steigende Preise, wieder<br />

auf der Agenda von Politik, Wirtschaft und<br />

Wissenschaft. So begeben sich auch die Autoren<br />

des vorliegenden Bandes in der Mehrzahl der 17<br />

Kapitel ihres Werkes auf die Suche nach bisher<br />

unerschlossenen bzw. ungenutzten Rohstoffvorkommen.<br />

Hierbei fokussieren die beiden Autoren<br />

deutlich, jedoch nicht ausschließlich, auf<br />

Energierohstoffe und die Frage nach dem Zugang<br />

zu diesen Rohtoffen <strong>für</strong> die deutsche Wirtschaft.<br />

Als Hauptquellen dienen die Sichtweisen<br />

von deutschen Experten, die auch in zwei Kapiteln<br />

direkt in Interviews zu Wort kommen. Gelungene<br />

Illustrationen, Karten und Grafiken zu<br />

den behandelten Themen finden sich gebündelt,<br />

formal etwas unglücklich, in der Mitte des Werkes<br />

und sind nicht den einzelnen, in sich eigenständigen<br />

Kapiteln zugeordnet.<br />

Einleitend befasst sich das Werk mit der allgemeinen<br />

Verknappung von Rohstoffen auf den<br />

Weltmärkten in den letzten Jahren und stellt<br />

neben der Frage nach der physischen Verknappung<br />

(Stichwort: peak oil) auch die wesentlich<br />

bedeutendere nach der Verfügbarkeit. Harald<br />

Dill von der Bundesanstalt <strong>für</strong> Geowissenschaften<br />

und Rohstoffe (BGR) beantwortet in Kap. 4<br />

die wichtigsten Fragen zur heutigen und künftigen<br />

Rohstoffversorgung <strong>für</strong> Deutschland in<br />

einem Interview und geht dabei auch auf mögliche<br />

neue Quellen durch Recycling ein. Die Kap.<br />

2 und 3 behandeln mit den Seltenen Erden und<br />

dem Konfliktrohstoff Coltan zwei Rohstoffgruppen,<br />

die aufgrund ihrer Bedeutung <strong>für</strong> Hightech-<br />

Produkte in jüngster Zeit in den öffentlichen Fokus<br />

gelangt sind. Die schwierige Versorgungssituation<br />

bei Seltenen Erden durch die hohe<br />

Länderkonzentration der Lagerstätten, die Frage<br />

nach weiteren Vorkommen und die Möglichkeit<br />

des Recyclings werden hier thematisiert. Die<br />

Mitfinanzierung von Kriegsökonomien durch<br />

den Coltan-Bergbau in der DR Kongo wird im<br />

folgenden Kapitel behandelt.<br />

Der Mittelteil des Buches (Kap. 5 bis 11) befasst<br />

sich ausführlich mit Energierohstoffen und<br />

hierbei schwerpunktmäßig mit der Suche nach<br />

bisher nur wenig bzw. ungenutzten Vorkommen.<br />

Trotz der relativen Armut an Vorkommen von<br />

Energierohstoffen in Deutschland zeigen die Autoren<br />

das Potenzial bisher noch unerschlossener<br />

Quellen auf. Über die Suche nach ungenutzten<br />

klassischen Erdgaslagerstätten in Deutschland<br />

kommen die Autoren auf die Potenziale von<br />

Schiefergas und Grubengas, die insbesondere<br />

in den USA schon in größerem Maße gefördert<br />

werden, zu sprechen, und deren Abbau auch in<br />

Europa die Abhängigkeit von Exportländern<br />

verringern könnte. Gleiches gilt <strong>für</strong> Gashydrate,<br />

die unter hohem Druck und bei Kälte abseits<br />

menschlicher Besiedelungen in den Weltmeeren<br />

und in Permafrostböden vorkommen. Auch<br />

wenn Deutschland keinen direkten Zugang zu<br />

diesen Quellen hat, sind durch die Bundesregierung<br />

mitfinanzierte Projekte mit der Erkundung<br />

dieser Vorkommen beschäftigt. Bei aller<br />

Euphorie um mögliche neue Quellen vergessen<br />

die Autoren keineswegs, auch auf die direkten<br />

ökologischen Folgen der Gewinnung von Energierohstoffen<br />

hinzuweisen, wo<strong>für</strong> das Kapitel<br />

zur Katastrophe der Explorations-Ölplattform<br />

Deepwater Horizon im Golf von Mexiko exemplarisch<br />

steht. Die Grundsatzfrage nach der vollständigen<br />

Abkehr von fossilen Energieträgern<br />

wird jedoch nur am Rande gestellt.<br />

Anschließend an das Kapitel zum Potenzial von<br />

Gashydraten wird in Kap. 12 mit Manganknollen<br />

eine unangetastete Quelle <strong>für</strong> wichtige minera-


Buchbesprechungen 103<br />

lische Rohstoffe thematisiert, an deren Erforschung<br />

ebenfalls deutsche Wissenschaftler beteiligt<br />

sind. Diese Rohstoffvorkommen in der Tiefsee,<br />

welche unter anderem Mangan, Kobalt und<br />

Nickel enthalten, werden recht ausführlich auch<br />

im Hinblick auf die politischen und ökologischen<br />

Probleme eines Abbaus analysiert. Die abschließenden<br />

Kap. (13 bis 17) thematisieren in erster<br />

Linie die negativen Folgen durch den Abbau von<br />

Bodenschätzen. Über die bereits populärwissenschaftlich<br />

aufgearbeitete Problematik der afrikanischen<br />

„Blutdiamanten“ gelangen die Autoren<br />

zu den ökologischen Folgen des Abbaus von<br />

Stein- und Braunkohle insbesondere in Deutschland.<br />

Die Konsequenzen des Abbaus von mineralischen<br />

Massenrohstoffen werden am Beispiel<br />

des Kupferbergbaus in Chile kurz angesprochen.<br />

Resümierend lässt sich festhalten, dass die Autoren<br />

einen sehr guten Überblick über ein aktuelles<br />

Thema bieten. Globale geopolitische und<br />

gesellschaftliche Regulationsmechanismen im<br />

Rohstoffsektor zur Herstellung der Versorgungssicherheit<br />

blendet das Buch aber weitgehend<br />

aus, es konzentriert sich in erster Linie auf die<br />

Suche nach unangetasteten Rohstoffquellen aus<br />

eurozentrischer Sicht. Hier bietet das Werk interessante,<br />

gut recherchierte Einblicke und erweitert<br />

den Horizont des Lesers, ohne diesen mit<br />

Detailinformationen zu belasten. Ein deutlicher<br />

Schwerpunkt wird auf Energierohstoffe gelegt,<br />

wohingegen den klassischen mineralischen Massenrohstoffen<br />

wie Bauxit, Eisenerz oder Kupfer<br />

nur wenig Platz eingeräumt wird. Der Problematik<br />

der sogenannten Hightech-Rohstoffe,<br />

die insbesondere in den Industrieländern einen<br />

Bedeutungszuwachs erfahren werden, wird mit<br />

den Kapiteln zu den Seltenen Erden und Coltan<br />

Rechnung getragen. Die in sich geschlossenen,<br />

allerdings in der Zusammenstellung leicht heterogen<br />

angeordneten Kapitel sind logisch aufgebaut<br />

und gehen auf die wichtigsten Aspekte<br />

der einzelnen Bodenschätze wie Bedarf, Vorkommen,<br />

Geologie, Ökonomie und Ökologie<br />

ein. Insgesamt wird dem Leser auf ca. 160 gut<br />

zu lesenden Seiten ein umfassender Einblick<br />

in die Lagerstättenproblematik verschiedener<br />

Rohstoffe gegeben. Weitere wichtige Teilbereiche<br />

der weltweiten Rohstoffproblematik werden<br />

analysiert oder zumindest angesprochen. Das<br />

vorliegende Werk eignet sich daher insbesondere<br />

als Einführung in die Thematik und bietet<br />

da<strong>für</strong> einen exzellenten Überblick über aktuelle<br />

Problemstellungen und zukünftige Perspektiven.<br />

Mark Kruse, Halle (Saale)<br />

Schirmel, Henning: Sedimentierte Unsicherheitsdiskurse.<br />

Die diskursive Konstitution von<br />

Berliner Großwohnsiedlungen als unsichere<br />

Orte und Ziel von Sicherheitspolitiken. Erlangen:<br />

Selbstverlag 2011, 270 S., 14 Abb., 2 Tab.,<br />

29,50 € (Erlanger Geographische Arbeiten, Sonderband<br />

39).<br />

Die Analyse von Verräumlichungen städtischer<br />

Unsicherheitsdiskurse und der darin eingelagerten<br />

Machtverhältnisse ist nicht nur gesellschaftlich<br />

höchst relevant, sondern in den letzten<br />

Jahren auch zu einem intensiv diskutierten Forschungsgegenstand<br />

der geographischen Stadtforschung<br />

avanciert. Daran sowie an die diskurstheoretische<br />

Wende im Kontext der ‚Neuen<br />

Kulturgeographie‘ anknüpfend untersucht der<br />

Autor in seiner Diss., wie erstens Großwohnsiedlungen<br />

in Printmedien als unsichere Orte<br />

entworfen werden und inwiefern sich dieser<br />

Diskurs zweitens in städtischen Organisationen<br />

sedimentiert. Auf die Diskurstheorie von Laclau<br />

und Mouffe zurückgreifend folgt der Autor dabei<br />

deren anti-essenzialistischen Perspektive, wonach<br />

alles Soziale diskursiv hergestellt wird und<br />

die gesellschaftliche Wirklichkeit als grundsätzlich<br />

kontingent zu betrachten ist.<br />

Bezogen auf die erste Fragestellung wird analysiert,<br />

welche hegemonialen Bedeutungszuschreibungen<br />

Großwohnsiedlungen in der Süddeutschen<br />

Zeitung (SZ) im Zeitraum von 1994<br />

bis 2006 erfahren. Methodisch greift er dazu auf<br />

lexikometrische Makroverfahren zurück, welche<br />

hier eindeutig ihre Vorteile entfalten, durch die<br />

quantitative Analyse großer Textkorpora methodisch<br />

abgesicherte Ergebnisse zu liefern und<br />

vorschnelle Fehleinschätzungen zu vermeiden.<br />

Als zentrales Resultat lässt sich festhalten, dass<br />

in der SZ Großwohnsiedlungen als unsichere<br />

und gefährliche Stadträume naturalisiert sowie<br />

als Bedrohung der „nationalen Kultur- und<br />

Wertegemeinschaft“ (241) konstituiert werden.<br />

Denn entlang der Grenzziehungen Arbeit, Demokratie,<br />

Sicherheit, Ethnizität und Nation werden<br />

sie stets als antagonistische Orte markiert,<br />

welche das gesellschaftlich Andere beherbergen<br />

– sei es in Gestalt von Arbeitslosen, Rechtsextremen,<br />

gefährlichen Migranten und bedrohlichen<br />

Jugendlichen. Während die ostdeutsche Großwohnsiedlung<br />

dabei als entleerter, antidemokratischer<br />

Hort des Rechtsextremismus erscheint,<br />

wird ihr westdeutsches Pendant dem Muster<br />

eines Ghetto-Diskurses folgend als Ort sozialer<br />

Marginalisierung und ethnisch-kultureller<br />

Fremdheit konstruiert. Insgesamt kann der Verf.


104 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> Heft 1-2 / <strong>2013</strong><br />

überzeugend aufzeigen, dass Großwohnsiedlungen<br />

diskursiv als negativer Gegenentwurf zum<br />

Ideal der „Europäischen Stadt“ fungieren und<br />

somit die Wir-Identität einer deutschen, sozialgemischten<br />

und demokratisch-pluralistischen<br />

Mehrheitsgesellschaft stützen. Bei der Interpretation<br />

der Ergebnisse hätte man sich jedoch<br />

etwas mehr Vorsicht gewünscht. Denn so plausibel<br />

und aufschlussreich die Auswertung der<br />

Repräsentation von Großwohnsiedlungen in<br />

der SZ auch ist, so lässt sich aus der Analyse<br />

nur einer liberal-bürger lichen Tageszeitung nur<br />

bedingt und nicht automatisch auf „die gesellschaftlich<br />

hegemonialen Bedeutungen“ (55) von<br />

Großwohnsiedlungen schließen. Als Kontrast<br />

wäre ein Vergleich mit Printmedien aufschlussreich<br />

gewesen, welche einer anderen politischen<br />

Ausrichtung folgen oder selbst über eine nennenswerte<br />

Leserschaft in Großwohnsiedlungen<br />

verfügen.<br />

Auf der Medienanalyse aufbauend widmet sich<br />

der zweite empirische Abschnitt am Beispiel der<br />

beiden Berliner Großwohnsiedlungen Gropiusstadt<br />

und Marzahn der Frage, inwiefern sich<br />

der Diskurs um Großwohnsiedlungen als unsichere<br />

Orte auch in Form von institutionellen<br />

Praktiken, Sicherheitspolitiken und lokalen Diskurskoalitionen<br />

sedimentiert und welche sozialen<br />

Effekte damit einhergehen. Qualitativ wurden<br />

dazu 27 Interviews mit SprecherInnen verschiedener<br />

städtischer Organisationen aus den<br />

Bereichen Wohnungswesen, Stadtpolitik, formeller<br />

Sicherheit und Jugendhilfe sowie diverse<br />

weitere Dokumente (u. a.Verordnungen, Protokolle)<br />

präzise ausgewertet. Bemerkenswert an<br />

den Ergebnissen ist hier, dass der Mediendiskurs<br />

auf städtischer Ebene zwar weitgehend reproduziert<br />

wird, so dass von einer stabilen Hegemonie<br />

auszugehen ist, sich aber im Fall von Marzahn<br />

auch Brüche identifizieren lassen, etwa wenn die<br />

Ostberliner Großwohnsiedlung in städtischen<br />

Organisationen weniger als Ort des Rechtsextremismus<br />

erscheint, sondern Unsicherheit überraschenderweise<br />

und in deutlichem Kontrast zur<br />

SZ vielmehr ethnisiert und kulturalisiert wird.<br />

Für beide Fallbeispiele kann der Autor zudem<br />

aufzeigen, dass die Verräumlichung von Unsicherheit<br />

als entpolitisierter „common sense“<br />

(242) auf einer stabilen Hegemonie basiert, sich<br />

in lokalen Diskurskoalitionen einschreibt und<br />

daher nahezu unhinterfragt als Legitimationsfolie<br />

<strong>für</strong> eine Vielzahl verschiedener Politiken<br />

und Maßnahmen dient, welche von Strategien<br />

der baulichen und technischen Prävention<br />

(z. B. Videoüberwachung) über eine repressive<br />

Formalisierung sozialer Kontrolle (z. B. private<br />

Sicherheitsdienste, Kiezstreifen) bis hin zu<br />

Techniken der sozialen und kulturellen Integration<br />

(z. B. Belegungspolitiken, Aktivierung<br />

bürgerschaftlichen Engagements) reichen. Das<br />

somit detailliert herausgearbeitete Verhältnis<br />

zwischen dem Unsicherheitsdiskurs einerseits<br />

und dessen Sedimentierung in institutionellen<br />

Praktiken, Strategien und Diskurskoalitionen<br />

andererseits hätte allerdings noch stärker als<br />

sich gegenseitig verstärkende Wechselbeziehung<br />

in den Blick genommen werden können.<br />

Denn umgekehrt zur Sedimentierungsmetapher<br />

wäre auch die Frage zu problematisieren,<br />

inwiefern sich der hegemoniale Diskurs über<br />

unsichere Großwohnsiedlungen auch aus einem<br />

Geflecht lokaler Praktiken speist. Zudem arbeitet<br />

der Autor zwar die Funktionsweise und<br />

Wirkung diskursiver Ausschlüsse plausibel und<br />

methodisch fundiert heraus, aufgrund der theoretisch-konzeptionellen<br />

Verortung der Studie<br />

bleiben jedoch andere Formen sozial exkludierender<br />

Praktiken unberücksichtigt. Notwendig<br />

wäre dazu eine kritischere Auseinandersetzung<br />

mit den Grundannahmen der Diskurs- und Hegemonietheorie<br />

von Laclau und Mouffe. Ohne<br />

die innovativen Leistungen (z. B. Begriffe wie<br />

Artikulation, Äquivalenzkette und Antagonismus)<br />

zu verkennen, erscheint die diskursive<br />

Ontologie des Sozialen, welche jegliche Form<br />

sozialer Praxis auf diskursive Praktiken reduziert,<br />

dem hier untersuchten Gegenstand<br />

nicht ganz angemessen. Denn polit-ökonomische<br />

Transformationsprozesse, gesellschaftliche<br />

Kräfteverhältnisse und staatstheoretische<br />

Überlegungen werden dadurch bereits im Vorhinein<br />

ausgeblendet, so dass sie nicht in ihrem<br />

spezifischen Wechselverhältnis zu hegemonialen<br />

Diskursen problematisiert werden können.<br />

Grund hier<strong>für</strong> ist sicherlich die pauschale Zurückweisung<br />

marxistischer Gesellschaftstheorie<br />

als klassenreduktionistisch und ökonomistisch.<br />

Statt materialistische Gesellschaftstheorie als<br />

Antagonisten aufzubauen, wären vielmehr die<br />

produktiv zu nutzenden Schnittstellen zu poststrukturalistischen<br />

Diskurstheorien hervorzuheben<br />

– zum Beispiel das gemeinsame Anliegen,<br />

verdinglichte Verhältnisse – wie etwa die Verräumlichung<br />

städtischer Unsicherheit – durch<br />

Kritik als sozial hergestellte Machtbeziehungen<br />

zu verflüssigen. Damit könnte ein Beitrag<br />

zu deren gesellschaftlicher Überwindung und<br />

damit zu einer besseren Einrichtung der Welt<br />

geliefert werden.<br />

Sebastian Schipper, Frankfurt am Main

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