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Evolutionäre Wirtschaftsgeographie - Zeitschrift für ...

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<strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> Jg. 56 (2012) Heft 3, S.121-128<br />

<strong>Evolutionäre</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

Eine kurze Einführung in den Diskussionsstand<br />

<strong>Evolutionäre</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> (EWG)<br />

oder „evolutionary economic geography“<br />

(EEG) wurde im vergangenen halben Jahrzehnt<br />

so viel diskutiert, dass die Frage von<br />

GRABHER (2009) „yet another turn ?“ durchaus<br />

berechtigt ist. Die wichtigsten internationalen<br />

Fachzeitschriften widmeten ihr ganze Themenhefte:<br />

Journal of Economic Geography<br />

2007 (7)5, Economic Geography 2009 (85)2.<br />

In Progress in Human Geography erschien im<br />

vergangenen Jahr eine neue kritische Literaturübersicht<br />

(COE 2011), und im Jahr 2010<br />

veröffentlichten Ron Boschma und Ron Martin<br />

ihr Handbook of Evolutionary Economic Geography.<br />

In deutscher Sprache steht die evolutionäre<br />

Perspektive noch ganz an ihrem Anfang,<br />

doch mehren sich die Zeichen einer beginnenden<br />

Evolution der EWG auch hier (zuletzt<br />

SCHRÖDER 2010; KINDER/RADWAN 2010).<br />

Allerdings hat ESSLETZBICHLER die EWG<br />

schon 2002 genauer vorgestellt; von anderen<br />

Autoren wurde sie eher kurz in Büchern skizziert<br />

(SCHAMP 2000; BATHELT/GLÜCKLER 2002,<br />

in der jüngsten Auflage von 2012 wesentlich<br />

umfangreicher). Dieses Themenheft will einen<br />

Beitrag dazu leisten, auch in der deutschen<br />

<strong>Wirtschaftsgeographie</strong> mehr Aufmerksamkeit<br />

auf die Perspektive der Evolution von Standortmustern<br />

und Wirtschaftsräumen zu lenken.<br />

Daher werden ebenso Publikationen in deutscher<br />

Sprache genannt, obwohl die Diskussion<br />

natürlich international, das heißt anglophon<br />

geführt wird – wie könnte es anders sein?<br />

EWG will einen anderen Beitrag zur Erklärung<br />

von wirtschaftsräumlichem Wandel leisten<br />

als die bislang herrschenden Ansätze in der<br />

<strong>Wirtschaftsgeographie</strong>. Die Wirtschaft wird als<br />

ein komplexes und dynamisches System verstanden,<br />

das sich aufgrund von endogen hervorgebrachten<br />

Neuerungen, Anpassungshandlungen<br />

und Vielfalt selbst-referentiell verändert<br />

(so WITT 2003, 2006, zitiert nach BOSCH-<br />

MA/MARTIN2010, 5; SILVA/TEIXEIRA 2009, 608).<br />

Die EWG nimmt eine geschichtliche Perspektive<br />

ein („history matters“), was eine Betonung<br />

der Kontingenz von räumlichen Entwicklungspfaden<br />

impliziert. Sie analysiert darin, der<br />

Zeittypologie von Braudel entsprechend, irreversible<br />

Prozesse in konjunktureller Zeit.<br />

Doch es geht nicht um individuelle Geschichtsschreibung,<br />

sondern um die Suche<br />

nach allgemeinen Prinzipien des wirtschaftsräumlichen<br />

Wandels. In der Anwendung der<br />

biologischen Evolutionslehre auf sozialwissenschaftliche<br />

Forschungsgegenstände folgt<br />

die EWG theoretischen Anstößen aus der <strong>Evolutionäre</strong>n<br />

Wirtschaftswissenschaft (mit deren<br />

zentralen <strong>Zeitschrift</strong>en Journal of Evolutionary<br />

Economics und Industrial and Corporate<br />

Change). Auch wenn biologische Analogien<br />

bereits im ausgehenden 19. und beginnenden<br />

20. Jahrhundert in den Wirtschafts-und Sozialwissenschaften<br />

diskutiert wurden (HODGSON<br />

1993), nimmt die aktuelle <strong>Evolutionäre</strong> Wirtschaftswissenschaft<br />

im Wesentlichen ihren<br />

neuen Ausgang von dem viel zitierten Buch<br />

von NELSON/WINTER „An Evolutionary Theory<br />

of Economic Change“ (1982), das auch <strong>für</strong><br />

die EWG bedeutsam wurde. SILVA/TEIXEIRA<br />

(2009) erkennen in ihrer umfassenden Literatursynopse<br />

ein Übergewicht an Arbeiten zur<br />

Wissenschaftsgeschichte und -methodologie<br />

sowie zu spieltheoretischen Fragen, vermissen<br />

jedoch empirische Arbeiten in größerer Zahl.<br />

Oft wird auf einem hohen Abstraktionsniveau<br />

um die Verwendung evolutionstheoretischer<br />

Begriffe als Metapher oder als theoretische<br />

Basis eines „allgemeinen Darwinismus“ <strong>für</strong><br />

sozialwissenschaftlich zu analysierende Prozesse<br />

gerungen (siehe auch Essletzbichler in<br />

diesem Heft). Mit einer diversifizierenden Terminologie,<br />

nicht einheitlichem Theorieverständnis,<br />

starker theoretischer Debatte und<br />

schwachen empirischen Erkenntnissen kann<br />

man die gegenwärtige Verfasstheit der Evolutionary<br />

Economics ebenso wie der EWG als<br />

Projekte „in the making“ charakterisieren. Es


122 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

Heft 3 / 2012<br />

besteht früher wie heute der Eindruck, die<br />

EWG befinde sich noch „in den Kinderschuhen“<br />

(SCHAMP 2002) oder sei „very much a<br />

work in progress“ (BOSCHMA/MARTIN 2010,<br />

30).<br />

Die EWG knüpft ebenso wie die Evolutionary<br />

Economics an viele Stränge früherer Diskussionen<br />

um Konzepte der Dynamik des Wirtschaftsgeschehens<br />

an – wie kumulative Verursachung,<br />

Pfadabhängigkeit, lock-in, Produktbzw.<br />

Branchenlebenszyklen – und fußt auf den<br />

Erkenntnissen der Innovationstheorien und regionalen<br />

Lerntheorien (GRABHER 2009; COE<br />

2011). Schließlich geht es im Kern der EWG<br />

um wirtschaftlichen Wandel durch Neuerungen<br />

(Innovationen), Information und Wissen.<br />

Dadurch verschwimmen allerdings oft die<br />

Grenzen der EWG zu früheren Ansätzen.<br />

EWG gehört daher zu den (noch) „fuzzy concepts“<br />

im Sinne von MARKUSEN (1999).<br />

Nach BOSCHMA/MARTIN (2010, 3) ist die EWG<br />

vor allem ein europäisches Unterfangen; COE<br />

(2011) spricht von etwa zehn Personen, die die<br />

Debatte bestimmen; darunter sehe ich vor allem<br />

Ron Boschma, Utrecht, und Koen Frenken,<br />

Eindhoven, in den Niederlanden und Ron<br />

Martin, Cambridge, sowie Jürgen Essletzbichler,<br />

London, in Großbritannien. Während Ron<br />

Martin sich in jüngster Zeit vor allem der<br />

theoretischen Reflexion über der EWG nahe<br />

Konzepte widmet (Pfadabhängigkeit, Resilienz,<br />

Theorie komplexer Systeme), kann man<br />

fast von einer niederländischen Schule um<br />

Ron Boschma und Koen Frenken sprechen, die<br />

sich der empirischen Anwendung der evolutionären<br />

Branchenforschung verschrieben hat<br />

(siehe auch Papers in Evolutionary Economic<br />

Geography, Utrecht).<br />

Vor dem Hintergrund der Vielfalt an konzeptionellen<br />

und methodischen Ansätzen in der<br />

EWG, aber auch des einführenden Charakters<br />

dieses Beitrags, sollen im Folgenden einige<br />

Grundlinien der EWG skizziert werden. Der<br />

Versuch einer recht vereinfachenden Ordnung<br />

<strong>für</strong> die aktuelle EWG greift die in den Wirtschaftswissenschaften<br />

übliche Teilung in eine<br />

mikroanalytisch bestimmte und eine mesound<br />

makroanalytisch bestimmte Sicht auf. Auf<br />

der Mikroebene des Individuums oder des einzelnen<br />

Unternehmens wird die Evolution einer<br />

Population und möglicherweise deren Ko-<br />

Evolution mit einer anderen Population betrachtet:<br />

Im Weiteren wird dies als die popula-<br />

tionsorientierte Perspektive bezeichnet. Auf der<br />

Makroebene wird die Evolution des Gesamtsystems<br />

Wirtschaft analysiert, also wird eine<br />

systemtheoretische Perspektive angelegt. Es<br />

bleibt das Problem der Mesoebene, das etwa<br />

DOPFER (2011) <strong>für</strong> die Wirtschaftswissenschaften<br />

mit einer Branche (also einer Population<br />

von Unternehmen) gleichsetzt, in der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

aber auch mit Stadt und Region<br />

verbunden werden kann. Übersetzt in die<br />

Sprache der Geographen unterscheidet folglich<br />

ESSLETZBICHLER (2002) eine „Evolution in Regionen“<br />

von einer „Evolution der Regionen“.<br />

Eine mikroanalytische Grundlegung<br />

der EWG<br />

Zunächst erscheint es notwendig, in aller Kürze<br />

einen Blick auf die wichtigsten Grundbegriffe<br />

des Evolutionsgedankens in der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

zu lenken. Denn in deren<br />

Behandlung entfaltet sich bereits die Vielfalt<br />

der Perspektiven der EWG, die auch gelegentlich<br />

zu Unklarheiten und Unsicherheiten führt.<br />

Übrigens steht auch darin die EWG kaum der<br />

<strong>Evolutionäre</strong>n Wirtschaftswissenschaft nach.<br />

Am Anfang steht die simple Frage, was wird<br />

eigentlich untersucht (MALERBA 2006)? Unbestritten<br />

geht es beim wirtschaftlichen Wandel<br />

um solche Neuerungen, die sich unter der<br />

großen Vielfalt an gleichzeitig bestehenden<br />

Neuerungen auch über eine längere Frist<br />

durchsetzen bzw. durchgesetzt werden. In sozialen<br />

Systemen bestimmt nicht allein die Umwelt,<br />

sondern auch die Kreativität der Menschen<br />

die Art der Neuerungen (variety, mutation),<br />

aus denen eine Selektion erfolgt (selection),<br />

deren Ergebnis wiederum durch Wiederholung<br />

(replication) festgehalten wird (retention)<br />

– was letztlich zu neuer Mutation führen<br />

kann. Bis heute sind die Begrifflichkeiten und<br />

Zuordnungen im Wirtschaftlichen umstritten.<br />

NELSON /WINTER (1982) haben Routinen als<br />

„Gene“ verstanden, die in Unternehmen geschaffen<br />

werden und sich durch Unternehmen<br />

verbreiten – womit sie letztlich zum wirschaftlichen<br />

Wandel beitragen. Routinen äußern sich<br />

nicht allein in neuen organisatorischen Formen,<br />

sondern in neuen Regeln des spezifisch<br />

ökonomischen Alltagshandelns. Firmenroutinen<br />

(nach NELSON/WINTER 1982) werden oft<br />

als Genotypen verstanden, die unternehmensspezifische<br />

Informationen über „wie macht<br />

man es hier?“ bewahren und damit die Handlungsweisen<br />

der Unternehmen (genauer: ihrer


Mitarbeiter) in einer sich ändernden Umwelt<br />

beeinflussen; deren Änderungen aber auch<br />

Neuerungen sein können, die das Unternehmen<br />

besser an die Umwelt anpassen. In dieser<br />

Sichtweise ist das Unternehmen der Träger der<br />

Gene (Routinen), die es am Markt überlebensfähig<br />

machen (Phänotyp). Eine aktuelle Kontroverse<br />

unter den Ökonomen HODGSON/<br />

KNUDSEN (2012) auf der einen Seite und PELI-<br />

KAN (2011) auf der anderen dreht sich nicht allein<br />

um unterschiedliche Begriffe – ist der<br />

Phänotyp ein interactor mit der Umwelt oder<br />

agent als Träger der Routinen? Ist der Genotyp<br />

ein replicator, also der Bewahrer des Bestands<br />

an Routinen, oder ein instructor, also<br />

ein Repertoire <strong>für</strong> Handlungsanweisungen? –,<br />

sondern um deren Anwendungsfähigkeit <strong>für</strong><br />

die empirische Analyse von ökonomischen<br />

Prozessen. Agenten können darin Individuen<br />

sein (bei Pelikan basic agents genannt), werden<br />

aber oft als Organisationen (vor allem Unternehmen)<br />

verstanden (bei Pelikan complex<br />

agents genannt). Diese Diskussion wird hier<br />

angesprochen, weil sie erstens einen Blick auf<br />

das anhaltende Ringen um das theoretische<br />

Verständnis in den Wirtschaftswissenschaften<br />

erlaubt (vgl. auch die Kritik daran bei LEVIT et<br />

al. 2011) und zweitens von Essletzbichler (in<br />

diesem Heft) <strong>für</strong> die Debatte in der EWG aufgenommen<br />

wird.<br />

Eine auf Populationen von Unternehmen<br />

ausgerichtete Perspektive der EWG<br />

In der <strong>Evolutionäre</strong>n Wirtschaftswissenschaft<br />

dient diese Diskussion der stetigen Debatte um<br />

die Verknüpfung von ökonomischem Handeln<br />

auf der Mikroebene und seiner Bedeutung <strong>für</strong><br />

die Makroebene. In der EWG scheinen gegenwärtig<br />

Differenzierungen dieser Art bestenfalls<br />

von heuristischem Wert. Zumindest <strong>für</strong> die<br />

EWG um Ron Boschma stehen komplexe Einheiten<br />

oder Agenten im Sinne Pelikans im<br />

Vordergrund: „Evolutionary Economic Geography<br />

(EEG) explains the spatial evolution of<br />

firms, industries, networks, cities and regions<br />

from elementary processes of the entry,<br />

growth, decline and exit of firms, and their locational<br />

behaviour“ (BOSCHMA/FRENKEN 2011,<br />

295). Entsprechende empirische Arbeiten wenden<br />

sich unmittelbar der Ebene des Unternehmens<br />

zu, sehen es als zugehörig zu einer bestimmten<br />

Population, der jeweiligen Branche,<br />

und studieren das Aufkommen, die Lokalisierung<br />

und das Wachstum neuer Branchen.<br />

Editorial 123<br />

Diese Perspektive kann man als die „dynamische<br />

populationsorientierte“ Interpretation<br />

von Evolution in der EWG verstehen (BOSCH-<br />

MA/MARTIN 2010, 7). Hiermit kann die EWG<br />

ausgezeichnet an frühere und aktuelle Forschungsfragen<br />

der Wirtschafts- und insbesondere<br />

der Industriegeographie anknüpfen, etwa<br />

an die Geographie des Unternehmens, die Produktlebenszyklustheorien<br />

als Standorttheorien,<br />

die Gründungsforschung oder die Clusterforschung.<br />

Das wird besonders deutlich an den<br />

empirischen Arbeiten der niederländischen Arbeitsgruppen.<br />

Der erste Fokus der jungen EWG lag auf Studien<br />

der langfristigen, räumlichen Evolution<br />

von Industriebranchen wie etwa der Autoindustrie<br />

(z.B. BOSCHMA/WENTIG 2007, vgl. die<br />

Übersicht bei BOSCHMA/FRENKEN 2011, 297).<br />

Hier konnte man an das von STORPER/WALKER<br />

(1989) vorgelegte deskriptive Modell der räumlichen<br />

Ausbreitung einer Branche anknüpfen.<br />

Nicht von ungefähr besteht mit vielen populationsorientierten<br />

Arbeiten der EWG eine Affinität<br />

zur dynamischen Industrieökonomik, die<br />

sich ebenfalls mit der Gründung (entry) und<br />

dem Überleben (survival) von Unternehmen<br />

einer Branche (d.h. einer Population) befasst<br />

und oft dem Konzept des Branchenlebenszyklus<br />

folgt (vgl. den Überblick von FRENKEN et<br />

al. 2011); übrigens auch methodisch, zum Beispiel<br />

in der Anwendung quantitativer Verfahren<br />

der statistischen Trend- und Regressionsanalyse.<br />

Der Gedanke eines evolutionären Entwicklungspfades<br />

einer Branche, die sich durch<br />

eine gemeinsame technologische Basis auszeichnet,<br />

führt zu Fragen an die Art und Mechanismen<br />

der Pfadabhängigkeit (MARTIN<br />

2006; MARTIN/SUNLEY 2010a), zu der sich eine<br />

lebhafte allgemeine Debatte und Kritik an<br />

der Zwangsläufigkeit von Entwicklungspfaden<br />

entwickelte (z.B. auch STRAMBACH 2010). Dem<br />

Grundgedanken der EWG, ökonomisch-räumlichen<br />

Wandel durch Neuerungen zu erklären,<br />

ist es wohl geschuldet, dass wesentlich mehr<br />

Aufmerksamkeit dem Beginn neuer Branchen<br />

als dem Ende alter Branchen zugewendet wurde.<br />

GRABHERs (1993) Typologie von lock-ins<br />

in verfestigten, alten Technologiepfaden folgend,<br />

wurden diese vor allem von HASSINK<br />

(2010) am Beispiel des Schiffbaus und der<br />

Textilwirtschaft diskutiert (vgl. auch SCHAMP<br />

2005).<br />

Bereits aus den frühen Branchenstudien ergaben<br />

sich Anhaltspunkte, dass der räumliche


124 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

Heft 3 / 2012<br />

Entwicklungspfad einer Branche von Eigenschaften<br />

der Standorte mitbestimmt wird. Daraus<br />

entwickelte sich – besonders um die Arbeitsgruppe<br />

in Utrecht – das Konzept der technologischen<br />

Verbundenheit einer jungen Branche<br />

zu bestehenden Branchen mit der Begrifflichkeit<br />

der related variety und der related<br />

industries (NEFFKE et al. 2011): Unternehmen<br />

einer neuen Branche – etwa der Autoherstellung<br />

– finden dort eine günstigere standörtliche<br />

Umwelt, wo schon Wissen um verbundene<br />

Technologien vorhanden ist – etwa in der Kutschenherstellung.<br />

Dieser Gedanke entspricht<br />

sowohl dem Konzepten der Vielfalt (variety),<br />

der Wiederholung (replication) als auch der<br />

Bewahrung (retention) in der Evolutionstheorie.<br />

Die Selektion im Evolutionsprozess der<br />

Branche bezieht sich damit auf die Standorte,<br />

denn Unternehmen haben eine größere Überlebenswahrscheinlichkeit<br />

dort, wo related industries<br />

bestehen bzw. bestanden (BOSCHMA/<br />

MARTIN 2010, 28 f.). Empirisch ist die Vorstellung,<br />

dass neue Industrien auf der Basis alter<br />

technologischer Fertigkeiten entstehen, nicht<br />

neu; man denke nur an frühere Studien zur Industriesukzession.<br />

In dieselbe Richtung der<br />

Vererbbarkeit (inheritance) von technologischem<br />

Wissen und der Entstehung von Vielfalt<br />

im Vererbungsprozess weisen etwa Untersuchungen<br />

über das Entstehen eines Clusters aus<br />

einem Inkubatorunternehmen durch Spin-offs<br />

(vgl. MOSSIG 2000). Die Untersuchung von<br />

Prozessen technologischer Vererbbarkeit leitet<br />

in jüngster Zeit zu der Frage, auf welche Weise<br />

gegenwärtig aus einer bestehenden Branche<br />

eine neue Branche entsteht. Das ist das Problem<br />

des branching, das mit einer Verfestigung<br />

einer neuen Technologie in der Organisationsform<br />

des selbständigen Unternehmens<br />

gleichzusetzen ist (FRENKEN/BOSCHMA 2007).<br />

Empirisch ist der Vorgang seit langem bekannt,<br />

etwa in der Industriegeschichte der Textilindustrie<br />

und der späteren Auslagerung des<br />

Textilmaschinenbaus, später mit vielen Formen<br />

des outsourcing im Zeitalter der Globalisierung.<br />

Die Evolutionstheorie aber sucht nach<br />

der Erklärung der Verfestigung, denn transaktionskostentheoretische<br />

Überlegungen legen<br />

nahe, dass der Prozess der Auslagerung (und<br />

des branching) auf der Ebene eines bestehenden<br />

Unternehmens nicht immer Bestand haben<br />

muss (JACOBIDES/WINTER 2005). Verschiedene<br />

Disziplinen arbeiten an diesem Problem aus<br />

der populationsorientierten Perspektive, neben<br />

der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> (z.B. van Grunsven/Witte<br />

in diesem Heft) auch die Wirt-<br />

schaftswissenschaft und ganz besonders die<br />

dynamische Industrieökonomie (Bünstorf et al.<br />

in diesem Heft, allgemeiner FRENKEN et al.<br />

2011). Obwohl auf der Mikroanalyse des Unternehmenshandelns<br />

fußend, hat die populationsorientierte<br />

Perspektive eigentlich eine mesoökonomische<br />

Analysebene der Entwicklung<br />

einer Branche zum Ziel. Schon STORPER/WAL-<br />

KER (1989) hoben die Rolle von räumlichen<br />

Clustern im dynamischen Branchenprozess<br />

hervor. Die empirische EWG hat folglich vor<br />

allem auch die Entwicklung von Unternehmen<br />

in Clustern und letztlich die Evolution einer<br />

Population von Clustern analysiert (BRENNER<br />

2004).<br />

Eine auf Territorien ausgerichtete<br />

Perspektive der EWG<br />

In der ökonomischen Debatte bezeichnet eine<br />

Branche bereits die Mesoebene der Betrachtung.<br />

Erst recht trifft dies auf die bald erfolgte<br />

Ausweitung der EWG auf die wirtschaftsgeographische<br />

Clusterforschung zu, insbesondere<br />

dort, wo sich die EWG den evolutionären Prozessen<br />

innerhalb von Clustern zuwendet (FOR-<br />

NAHL et al. 2010). Komplexe Einheiten wie<br />

Cluster werden zu Trägern von Neuerungen.<br />

Auch wenn wiederum eine Mikroperspektive<br />

des Unternehmens als Akteur notwendig erscheint<br />

(BOSCHMA/FORNAHL 2011; BOSCHMA/<br />

FRENKEN 2011), wendet sich der Blick in der<br />

<strong>Wirtschaftsgeographie</strong> auf ‚übergeordnete’ Untersuchungseinheiten.<br />

ESSLETZBICHLER (2002)<br />

spricht hier von der „Evolution in der Region“<br />

(vgl. auch ESSLETZBICHLER/RIGBY 2007). Diese<br />

Fragestellung verbindet traditionelle Konzepte<br />

der kumulativen Agglomerationswirkungen<br />

sowohl vom Typ Marshall-Arrow-Romer<br />

als auch vom Typ Jacobs (BOSCHMA/FRENKEN<br />

2011) mit der Emergenz von Clustern in Städten<br />

und Regionen. Diese Sicht erlaubt es beispielsweise,<br />

die Evolution des Finanzplatzes<br />

Frankfurt am Main nach dem 2. Weltkrieg als<br />

einen Prozess der zunehmenden und zugleich<br />

veränderlichen Pfadabhängigkeiten zu analysieren<br />

(GROTE 2003).<br />

Möglicherweise beflügelt von der Debatte um<br />

den „new regionalism“ (JONAS 2012) kommen<br />

einige Autoren zurück zu einem klassischen<br />

Gegenstand der Human- und <strong>Wirtschaftsgeographie</strong>:<br />

der Stadt und der Region als einer sozialen<br />

Individualkonstruktion mit eigener Geschichte,<br />

eigener Pfadabhängigkeit und Merk-


malen einer eigenen Evolution. „Evolution<br />

von Regionen“ (ESSLETZBICHLER 2002; ESS-<br />

LETZBICHLER/RIGBY 2007) fasst den dynamischen<br />

Prozess mehrerer Branchenpopulationen<br />

einer Region zusammen. Ihre Analyse unter<br />

evolutionärer Perspektive benötigt einen anderen<br />

Abstraktionsgrad als der populationsorientierte<br />

Ansatz sowie die Übersetzung darwinistischer<br />

Begriffe in andere Kategorien der<br />

sozialen Analyse. Diese Debatte ist gegenwärtig<br />

noch sehr offen. In mehrfacher Hinsicht<br />

benötigt die systemische Sicht der Evolution<br />

in der EWG die Einbindung von teils bereits<br />

seit langem diskutierten Ansätzen der <strong>Wirtschaftsgeographie</strong>,<br />

was gegenwärtig allerdings<br />

noch mehr einer Forderung als Realität der<br />

empirischen Arbeit in der EWG entspricht.<br />

Erstens wird mit der Frage nach der Evolution<br />

von Städten und Regionen eine systemorientierte<br />

Sicht der EWG angesprochen, die an andere<br />

Versuche der Integration von Systemtheorie<br />

in die <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> anknüpfen<br />

kann. Zum Beispiel hatte DYBE (2003) versucht,<br />

die systemtheoretische Sicht der Evolution<br />

mit der Luhmannschen Systemtheorie zu<br />

verbinden, jedoch ohne auf Resonanz in der<br />

deutschen <strong>Wirtschaftsgeographie</strong> zu stoßen.<br />

Gegenwärtig wird sowohl in den Wirtschaftswissenschaften<br />

(DOPFER 2011) als auch der<br />

EWG (MARTIN/SUNLEY 2010b) die Komplexitätstheorie<br />

als benachbarte Theorie und Methodologie<br />

diskutiert. Die Widerstandsfähigkeit<br />

(resilience) von Regionen gegenüber Krisen<br />

bezeichnet aktuell ein Problem, das möglicherweise<br />

mit der systemischen Sicht der<br />

EWG beantwortet werden kann (vgl. das Themenheft<br />

in Cambridge Journal of Regions,<br />

Economy and Society 2010, 3; MARTIN 2012).<br />

Derartige neue Ansätze erweitern zum einen<br />

die Möglichkeiten der empirischen Analyse im<br />

Sinne der EWG, stoßen aber auch auf den Einwand,<br />

dass sie gut und gerne ohne die evolutionäre<br />

Perspektive gedacht und angewendet<br />

werden können. Folglich nehmen sowohl die<br />

Vielfalt der evolutionären Dimensionen als<br />

auch die Öffnung des theoretischen Konzepts<br />

weiter zu.<br />

Zweitens wird mit der Ausweitung der Evolutionsperspektive<br />

auf Cluster eine Debatte wiederbelebt,<br />

die früher schon in der Technologieund<br />

Innovationsforschung eine Rolle spielte:<br />

Können sich neue Technologien, von diesen<br />

bestimmte neue Branchen und letztlich neue<br />

Cluster nur dann durchsetzen, wenn zugleich<br />

Editorial 125<br />

neue Regeln und neue Formen der Organisation<br />

– also neue Institutionen – gefunden werden?<br />

Nun entwickelt sich verstärkt die Forderung,<br />

die EWG um die Dimension der Institutionen<br />

zu erweitern (RAFIQUI 2009; MCKINNON<br />

et al. 2009). Letztere haben darauf an demselben<br />

Publikationsort Zustimmung und Kritik<br />

von Essletzbichler, Hodgson und Boschma/<br />

Frenken gefunden. Während im deutschen<br />

Sprachraum SCHAMP (2002) noch recht allgemein<br />

auf die Bedeutung der Schaffung von regionalen<br />

Institutionen bei der Verfestigung eines<br />

bestimmten regionalen Entwicklungspfads<br />

verwies, wird gegenwärtig das gemeinsame<br />

Aufkommen einer neuen Branche mit den sie<br />

unterstützenden Institutionen in populationsorientierter<br />

Weise als Ko-Evolution diskutiert<br />

(SCHAMP 2010). Ein überzeugendes Beispiel<br />

<strong>für</strong> die Ko-Evolution von Institutionen und<br />

Branchen hat der Wirtschaftshistoriker MUR-<br />

MANN (2003) mit dem Vergleich des Wettbewerbs<br />

zwischen den Farbenindustrien von drei<br />

Nationen im 19. Jahrhundert vorgelegt. Sie<br />

zeigt, wie in Deutschland neue Regelsysteme<br />

und unterstützende Organisationen absichtsvoll<br />

geschaffen wurden und gemeinsam mit<br />

der Farbenindustrie heranwuchsen – was letztlich<br />

zu ihrer weltweiten Führungsposition<br />

führte. Die Einbindung der institutionellen Dimension<br />

in Analysen der Evolution öffnet die<br />

EWG zu einer politisch-ökonomischen Perspektive,<br />

welche gegenwärtig zunehmend eingefordert<br />

wird (ESSLETZBICHLER 2009; MCKIN-<br />

NON et al. 2009).<br />

Zu den Beiträgen des vorliegenden<br />

Heftes<br />

Angesichts der Kakophonie der Stimmen zur<br />

<strong>Evolutionäre</strong>n Wirtschaftswissenschaft und<br />

EWG, des Fehlens eines allgemein anerkannten<br />

theoretischen Referenzrahmens und zugleich<br />

einer noch geringen Zahl an empirischen<br />

Analysen, zumindest in der EWG, kann<br />

dieses Themenheft nur ein beschränktes Ziel<br />

verfolgen: nämlich einige Aspekte der aktuellen<br />

Debatte der evolutionären <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

vorzustellen.<br />

Den Anfang macht Jürgen Essletzbichler mit<br />

einem Beitrag über die meta-theoretischen<br />

Grundlagen der EWG und ihrer Konzipierung<br />

<strong>für</strong> empirisches Vorgehen. Beim Ansatz des<br />

Generalized Darwinism, also der Verallgemeinerung<br />

darwinistischer Begriffe und Prinzipien


126 <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsgeographie</strong><br />

Heft 3 / 2012<br />

aus dem biologischen Leben auf Prozesse im<br />

soziokulturellen Bereich, stellen sich grundsätzliche<br />

Probleme der Unterschiedlichkeit und<br />

doch Vereinbarkeit. Der Autor folgt hier einer<br />

sehr aktuellen Debatte, die führend vom Wirtschaftswissenschaftler<br />

Hodgson bestimmt wird.<br />

Jürgen Essletzbichler verbindet eine Debatte<br />

auf hohem Abstraktionsniveau über die darwinistischen<br />

Basiskonzepte der Variation, Selektion<br />

und der Vererbung (replication, inheritance)<br />

mit den Problemfeldern und Theorien<br />

‚mittlerer Reichweite’, die weitgehend die empirische<br />

Seite der EWG ausmachen. Den darwinistischen<br />

Prinzipien können komplexe Populationssysteme<br />

unterworfen werden. Damit<br />

geht Essletzbichler über die aktuelle Berücksichtigung<br />

von Organisationen (Unternehmen)<br />

hinaus und umfasst mit dem Konzept der<br />

Gruppenselektion Evolutionsprozesse auf der<br />

Ebene von sozialen Gruppen und territorialen<br />

Einheiten wie Stadt, Region oder Staat. Zugleich<br />

werden soziokulturelle Dimensionen,<br />

deren Vernachlässigung oft der Evolutionsökonomie<br />

vorgeworfen wird, nun als Gruppen definierend<br />

einbezogen. Der Autor diskutiert anschließend<br />

die Vielfalt an Fragestellungen innerhalb<br />

der aktuellen anglophonen EWG. Dieser<br />

Transfer erscheint als der Schlüssel zu einer<br />

Debatte um den Generalized Darwinism,<br />

die anhaltend in den Wirtschaftswissenschaften<br />

geführt wird (LEVIT et al. 2011; PELIKAN<br />

2011; HODGSON/KNUDSEN 2012).<br />

Die folgenden Beiträge sind demgegenüber<br />

theoriegeleitete empirische Studien über das<br />

Aufkommen junger Branchen wie der Lasersystemherstellung<br />

und der Automatisierungsindustrie<br />

sowie den Umbau einer alten Branche<br />

(Heilkunde-Medikamente) als Ergebnis von<br />

Prozessen, die mehrere Jahrzehnte umfassen.<br />

Ganz im Sinne der populationsorientierten<br />

Perspektive der EWG stellen Guido Bünstorf,<br />

Michael Fritsch und Luis F. Medrano die Frage<br />

nach der Bedeutung regionaler Unterschiede<br />

<strong>für</strong> die räumliche Ausbreitung einer neuen<br />

Branche. Mit ihrer modellbasierten Analyse<br />

des Aufkommens der Lasersystemindustrie in<br />

Westdeutschland in den vergangenen 30 Jahren<br />

ist ihr Blick auf den Beginn eines Branchenzyklus,<br />

auf die Rolle der technologischen Verbundenheit<br />

(relatedness) und letztlich einer spezifischen<br />

räumlichen Pfadabhängigkeit durch<br />

vorhandenes, verbundenes Wissen gerichtet. In<br />

der wirtschaftsgeographischen Forschung wird<br />

oft dem Eintritt neuer Unternehmen durch Spinoffs<br />

aus Unternehmen – und eingeschränkter<br />

aus Forschungseinheiten – eine große Bedeutung<br />

zugemessen. Die Autoren lenken in dieser<br />

Studie aber den Blick auf ein weiteres bedeutendes<br />

Phänomen <strong>für</strong> die Evolution einer Technologie<br />

und letztlich einer Branche, das der Diversifizierung<br />

bestehender Unternehmen, die ihr vorhandenes<br />

Wissen in einer gegebenen Technologie<br />

weiterentwickeln. Die Studie lehrt, dass sowohl<br />

die Quellen der technologischen Verbundenheit<br />

als auch die Formen der lokalen technologischen<br />

Fortentwicklung sehr unterschiedlich<br />

sein können – und zusammen die räumliche<br />

Evolution einer neuen Branche bestimmen.<br />

Es wird oft übersehen, dass das gesamtgesellschaftliche<br />

Umfeld ein wesentlicher Teil der<br />

Umwelt <strong>für</strong> die Evolution von Branchen ist.<br />

Jürgen Essletzbichler verweist in seinem Beitrag<br />

explizit darauf, dass sich die meisten,<br />

wenn nicht alle Studien der EWG auf das Handeln<br />

von Unternehmen im Kapitalismus beziehen.<br />

Doch viele Sozialwissenschaftler haben<br />

auf die Vielfalt von Kapitalismusformen hingewiesen<br />

und daraus eine Begründung <strong>für</strong> die<br />

ungleiche regionale Entwicklung auf der Welt<br />

abgeleitet. Folglich kann man recht spezifische<br />

Entwicklungspfade von Industriebranchen an<br />

verschiedenen Orten erwarten, die unter anderem<br />

von unterschiedlichen Institutionensystemen<br />

und deren Wandel beeinflusst werden.<br />

Die beiden folgenden Beiträge wenden sich<br />

Asien zu, einer Weltregion, die in den vergangenen<br />

Jahrzehnten durch extremen wirtschaftlichen<br />

und gesellschaftlichen Wandel gekennzeichnet<br />

ist. Leo van Grunsven und Inge Witte<br />

wählen ein ähnliches Problem wie Bünstorf et<br />

al., das der Emergenz einer neuen aus einer bestehenden<br />

Branche (branching), finden aber<br />

mit einem spätindustrialisierten Land eine<br />

gänzlich anders geartete Umwelt vor. Sie diskutieren<br />

das Aufkommen einer lokalen Industrie<br />

<strong>für</strong> Automatisierung, vor allem <strong>für</strong> die<br />

schon seit langem bestehende Halbleiterindustrie<br />

auf Penang. Letztlich zeigen sie, wie<br />

die Emergenz einer Branchenpopulation in einer<br />

spezifischen Umwelt schon früh zum Erliegen<br />

kommen beziehungsweise abreißen<br />

kann. Die Autoren geben zu bedenken, dass<br />

erst eine angemessene systemische Koordination<br />

durch Institutionen und Politik das Umfeld<br />

<strong>für</strong> eine erfolgreiche Branchenemergenz<br />

möglich macht. Branching stieß hier schon<br />

früh auf verschiedene Barrieren (lock-ins), der<br />

Branching-Prozess teilte sich in einen stagnierenden<br />

und – in geringerem Umfang – einen<br />

erfolgreichen Teil; branching kennzeichnet al-


so nicht selbstverständlich einen positiven regionalen<br />

Wachstumspfad, wie man aus manchen<br />

Evolutionsstudien (in den alten Industrieländern)<br />

vermuten könnte.<br />

Der abschließende Beitrag von Zhi-gao Liu<br />

und Michael Dunford bringt zwei ganz anders<br />

geartete Perspektiven in die Debatte der EWG,<br />

nämlich die Emergenz eines Clusters einer alten<br />

Technologie in einem neuen gesellschaftlichem<br />

Kontext, der postkommunistischen<br />

Transformation in China. Die Traditionelle<br />

Chinesische Medizin (TCM) hat ebenso wie<br />

deren Herstellung in Tonghua eine lange Geschichte.<br />

Die Autoren nutzen den Aufstieg des<br />

Clusters von Tonghua als Brennglas, um die<br />

erneuerte Emergenz der TCM im Transformationsprozess<br />

der chinesischen Gesellschaft zu<br />

begreifen. Sie verstehen den Wandel der Institutionen,<br />

neue Politiken des Staates und die<br />

Transformation der Gesellschaft in eine semikapitalistische<br />

Gesellschaft („large scale driver“)<br />

als ein Spezifikum Chinas, das als Kontext<br />

in der EWG eine größere Rolle spielen<br />

sollte, und stellen fest, dass die Erneuerung eines<br />

Clusters in diesem Kontext nicht allein als<br />

veränderte lokale Umwelt verstanden werden<br />

dürfe. In diesem Beitrag wird die Notwendigkeit,<br />

Evolution gemeinsam mit einer Analyse<br />

von Institutionen zu verbinden, besonders klar.<br />

Denn die Art und das Handeln der (neuen) Unternehmen<br />

werden als abhängig von der herrschenden<br />

sozialen Ordnung hervorgehoben.<br />

Das ist mehr als üblicherweise mit embeddedness<br />

in Studien angesprochen wird, weil es<br />

vor allem organisatorische Innovationen anspricht.<br />

Der Beitrag zeichnet die phasenweise<br />

Entwicklung des Unternehmertums im Bereich<br />

der TCM in Tonghua als Folge eines Mixes<br />

von nationalen Chancen durch Transformation,<br />

der Einbettung in lokale Institutionen und<br />

Interessen sowie persönlicher Unternehmerentscheidungen<br />

(agency) und letztlich als Ergebnis<br />

der Verfügbarkeit von verbundenen Aktivitäten<br />

nach. Erst durch diese vierfache Bedingtheit<br />

erklären die Autoren die vollständige<br />

Erneuerung des TCM Clusters in Tonghua. Die<br />

Erneuerung eines alten Clusters lässt sich nach<br />

den Autoren nur durch eine mehrere geographische<br />

Skalen verbindende und die Institutionen<br />

einbindende Analyse verstehen.<br />

Dass damit in diesem Themenheft Autoren aus<br />

dem anglophonen Sprachraum und/oder aus<br />

den wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen<br />

zu Wort kommen, erscheint dem Gastheraus-<br />

Editorial 127<br />

geber kein Zufall: Noch ist die <strong>Evolutionäre</strong><br />

<strong>Wirtschaftsgeographie</strong> (EWG) kein weit verbreitetes<br />

Forschungsprogramm in Deutschland.<br />

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Eike W. Schamp, Frankfurt am Main

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