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IX. Editionsphilologie - Literaturwissenschaft-online

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Einführung in die <strong>Literaturwissenschaft</strong><br />

1<br />

<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

0. Einleitende Bemerkungen<br />

Bedeutung der <strong>Editionsphilologie</strong>:<br />

Eine zuverlässige Ausgabe eines Textes, die in einem wissenschaftlich überprüfbaren Verfahren<br />

erstellt wurde und wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, ist Voraussetzung für jede<br />

Form wissenschaftlicher Arbeit!<br />

Beispiel für Eingriffe der Herausgeber:<br />

Illustrieren lässt sich die Relevanz der <strong>Editionsphilologie</strong> am Beispiel der folgenden Passage<br />

aus dem IV. Akt von Goethes Faust II, in der Mephisto den Engelssturz beschreibt (V. 10075-<br />

10084):<br />

MEPHISTOPHELES:<br />

»Als Gott der Herr – ich weiß auch wohl, warum –<br />

Uns aus der Luft in tiefste Tiefen bannte,<br />

Da, wo, zentralisch glühend, um und um,<br />

Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte,<br />

Wir fanden uns bei allzu großer Hellung<br />

In sehr gedrängter, unbequemer Stellung.<br />

Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,<br />

Von oben und von unten auszupusten;<br />

Die Hölle schwoll von Schwefelstank und -säure:<br />

Das gab ein Gas! [...]«<br />

So steht es in fast allen Ausgaben (hier in der 1949 bei Artemis besorgten Ausgabe) seit der<br />

Ausgabe letzter Hand von 1833, die von Friedrich Wilhelm Riemer und Johann Peter<br />

Eckermann besorgt wurde und lange Zeit als kanonisch galt.<br />

In Goethes Reinschrift des Faust II indes liest man die Stelle anders:<br />

»Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,<br />

Von oben und von unten aus zu pusten.«<br />

Diese Version erscheint viel sinnvoller (die Teufel ›pusten‹ aus allen Körperöffnungen) als<br />

die bei Eckermann und Riemer dokumentierte (wie beispielsweise sollen die Teufel<br />

gleichzeitig husten und pusten?).<br />

Erklärung: Die Herausgeber haben die Stelle als anstößig empfunden und »die teuflische<br />

Unterleibsdrastik mit einem moralischen Feigenblatt« (FAZ-Rezension von Ernst Osterkamp)<br />

übermalt.<br />

Dieser Texteingriff in die Handschrift ist von fast allen späteren Herausgebern übernommen<br />

worden; nach dem Original gehen lediglich die Weimarer Ausgabe von 1888 und die von<br />

Albrecht Schöne 1994 für den Deutschen Klassiker-Verlag besorgte Ausgabe vor.<br />

Schöne greift für Faust I auf die Taschenausgabe letzter Hand von 1828, für Faust II auf<br />

Goethes Reinschrift zurück. Beide Texte passt er dezent an die moderne Orthografie an (z.B.<br />

> ; > ), belässt aber die ursprüngliche Groß- und Kleinschreibung, Getrenntund<br />

Zusammenschreibung sowie Interpunktion.<br />

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<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

Wahl der Editionsmethode:<br />

Es gibt kein einheitliches Editionsverfahren; die Editionsmethode ist vielmehr abhängig vom<br />

Editionsziel und von den Editionsmöglichkeiten. Dabei dienen folgende Fragen als Leitlinie<br />

für die Wahl der Editionsmethode:<br />

Welches Ziel soll die Edition verfolgen? Was sind die Editionsmöglichkeiten? Unter welchen<br />

Bedingungen und in welcher Weise ist ein Text bezeugt? Gibt es einen einzigen Textzeugen<br />

oder mehrere? Gibt es eine einzige Fassung des Autors oder mehrere? Handelt es sich um eine<br />

autorisierte (= vom Autor gebilligte) Fassung? Oder handelt es sich um eine Abschrift eines<br />

Schreibers? In welcher Qualität ist der zu edierende Text bezeugt?<br />

Zentrales Distinktionsmerkmal: autorisiert/nicht-autorisiert<br />

Autorisierte Ausgaben = a) alle Autographen, d.h. alle vom Autor des Textes selbst<br />

angefertigten Niederschriften, b) die in seinem Auftrag und unter seiner Aufsicht hergestellten<br />

Abschriften, c) die von ihm gebilligten Drucke.<br />

Autorisierte Ausgaben sind erst seit dem 17./18. Jahrhundert die Regel. Daher hat man in der<br />

Altgermanistik und in der Neueren <strong>Literaturwissenschaft</strong> unterschiedliche Editionsmethoden<br />

entwickelt.<br />

1. Die Edition der neueren Literatur<br />

Anders als bei der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit liegen für das 18. bis<br />

20. Jahrhundert in der Regel autorisierte Fassungen vor. Es ergeben sich die folgenden<br />

Probleme:<br />

• Welche der Fassungen soll man edieren, falls mehrere Handschriften oder Drucke<br />

vorliegen?<br />

• Wie soll man die Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte eines Textes präsentieren und<br />

kommentieren?<br />

a) Ausgabe letzter Hand<br />

Die Ausgabe letzter Hand beruht auf dem Text, den der Autor zuletzt autorisiert hat.<br />

Dahinter verbirgt sich ein entwicklungsgeschichtlicher Ansatz, d.h. die Vorstellung, dass die<br />

letzte Textfassung zugleich die beste sei (trotzdem greifen Herausgeber zuweilen in den Text<br />

ein, siehe das obige Beispiel aus Faust II).<br />

Das Prinzip, sich auf die Ausgabe letzter Hand zu stützen, war vom 19. Jahrhundert an bis<br />

weit ins 20. Jahrhundert hinein das dominierende Editionsverfahren. Heute bevorzugt man<br />

eher:<br />

b) Ausgabe früher (erster) Hand<br />

Grundlage der Ausgabe früher (erster) Hand ist der Erstdruck oder – soweit vorhanden – die<br />

originale Druckvorlage.<br />

Beispiel: Goethes eigenhändige Reinschrift des Faust II (vgl. die Ausgabe von A. Schöne).<br />

Innerhalb dieses Ansatzes rückt man von der entwicklungsgeschichtlichen Vorstellung ab und<br />

behandelt die verschiedenen Fassungen als prinzipiell gleichwertig.<br />

c) Mischfassungen<br />

Mischfassungen sind in der deutschen Philologie selten, im angloamerikanischen Raum aber<br />

geläufig. Ziel hierbei: durch Kombination verschiedener Fassungen einen ›Idealtext‹ zu<br />

erstellen.<br />

Beispiel: Weimarer Goethe-Ausgabe<br />

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3<br />

<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

Entscheidender Einwand gegen diese Methode: Sie ist unhistorisch, weil sie einen Text<br />

konstituiert, den es so nie als Autortext gegeben hat.<br />

Grundsätzliches Problem: Umgang mit Fehlern<br />

Wie verfährt man mit autorisierten Fehlern, d.h. mit Fehlern, die der Autor gebilligt oder<br />

überhaupt nicht gemerkt hat? Soll man diese korrigieren oder nicht? Zwei theoretische<br />

Positionen stehen sich gegenüber: a) die Eingriffe werden auf die Korrektur offensichtlicher<br />

Druckfehler begrenzt oder b) stärkere Eingriffe werden vorgenommen.<br />

Alle Texteingriffe müssen im Apparat begründet werden.<br />

Art und Umfang der Textausgabe hängen maßgeblich vom Editionsziel ab. Daraus ergeben<br />

sich verschiedene Ausgabentypen:<br />

1) Historisch-kritische Ausgaben<br />

Historisch-kritische Ausgaben verfolgen zwei Ziele:<br />

• Bereitstellung eines zuverlässigen Textes<br />

• Darstellung der Textgenese (d.h. Textentstehung und -entwicklung)<br />

Dazu gilt es umfangreiche Aufgaben zu erledigen:<br />

1. einen kritischen Text erstellen (unter Umständen mehrere Fassungen berücksichtigen);<br />

2. alle Textzeugen (d.h. alle Handschriften und Drucke, auch die verschollenen) verzeichnen<br />

und beschreiben;<br />

3. alle Fassungen dokumentieren, sodass die Entwicklung eines Textes verständlich wird<br />

(von der Skizze zur Druckvorlage: Entstehungsstufen, Korrekturschichten etc.)<br />

= genetischer Apparat; meistens nicht in vollem Wortlaut, sondern: Variantenapparat;<br />

4. alle Dokumente wiedergeben, die für die Textentstehung und -geschichte einschlägig sind;<br />

5. die zeitgenössische Wirkungsgeschichte (d.h. zu Lebzeiten des Autors) wiedergeben;<br />

6. einen Sachkommentar liefern (d.h. historische, sprachhistorische, literarhistorische,<br />

biografische Informationen).<br />

Erstes Beispiel für eine in diesem Sinne historisch-kritische Ausgabe:<br />

die Schiller-Ausgabe von Karl Goedecke (1867ff.)<br />

Wichtig: Jeder Autor erfordert eigene Methoden!<br />

Beispiel: Hölderlin<br />

Hölderlins in den Jahren 1801-1806 entstandenes fragmentarisches Werk bildet eine<br />

besondere Herausforderung für Editoren. Vgl. hier das Gedicht Hälfte des Lebens.<br />

Das Gedicht ist erstmals in dem bei Friedrich Wilmans in Frankfurt/M. gedruckten<br />

Taschenbuch für das Jahr 1805 erschienen. Hölderlin hat es im Dezember 1803 für den<br />

Druck freigegeben. In der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe von Friedrich Beißner (1943-1985)<br />

stellt sich das Gedicht wie folgt dar:<br />

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Einführung in die <strong>Literaturwissenschaft</strong><br />

4<br />

<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

(In: Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Im Auftrag des Württembergischen Kultusministeriums<br />

herausgegeben von Friedrich Beißner. Bd. 2: Gedichte nach 1800. Stuttgart 1951, S. 117)<br />

Hölderlin hat das Gedicht nicht vom Anfang her geschrieben, sondern ›Spannungszustände‹<br />

zwischen verschiedenen Gedichtteilen, Satzfetzen etc. aufgebaut. So sind ›Wortlandschaften‹<br />

entstanden, deren einzelne Teile teilweise unverbunden nebeneinander stehen.<br />

Beißner hat Hölderlins Vorgehen im Kommentarteil seiner Ausgabe minutiös beschrieben<br />

und im Textteil lediglich das ›fertige‹ Gedicht abgedruckt. Demgegenüber verzichtet Dietrich<br />

Eberhardt Sattler in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe (1975ff.) auf das vermutbar fertige<br />

Gedicht und gibt es nur im Faksimile und der Umschrift wieder (in: Friedrich Hölderlin.<br />

Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe herausgegeben von D.<br />

E. Sattler. Bd. 7: Gesänge. Dokumentarischer Teil herausgegeben von D. E. Sattler.<br />

Frankfurt/M. – Basel 2000, S. 109 (Auszug)):<br />

Vorteil dieses Vorgehens: alle Schritte sind überprüfbar<br />

Nachteil: schwer lesbar<br />

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5<br />

<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

2) Studienausgaben<br />

Im akademischen Alltag benutzt man häufig Studienausgaben, die im Idealfall auf historischkritischen<br />

Ausgaben basieren, aber ohne die textgenetische Dokumentation auskommen.<br />

Auch die Studienausgaben bewahren die Historizität des Textes so genau wie möglich und<br />

behalten deshalb die Zeichensetzung und Rechtschreibung des Originals weitgehend bei.<br />

Auch diesen Ausgaben ist ein Kommentarteil beigefügt (in Schönes Goethe-Ausgabe allein<br />

rd. 1000 Seiten mit Erläuterungen zu Quellen, Anspielungen, Begriffen, Metrik etc.).<br />

3) Leseausgaben<br />

Leseausgaben richten sich an ein nicht-akademisches Publikum. Sie enthalten einen weniger<br />

umfangreichen Kommentar und sind in der Regel an die moderne Orthografie angepasst.<br />

2. Die Edition der älteren Literatur<br />

Die antike und mittelalterliche Literatur ist in der Regel in sehr viel späteren Abschriften<br />

überliefert, d.h., es gibt meistens keine autorisierten Fassungen!<br />

Eine der wenigen Ausnahmen ist Otfrids von Weißenburg Evangelienbuch (spätes 9. Jh.).<br />

Oftmals sind nicht nur die Originale, sondern auch die ersten Abschriften verloren gegangen,<br />

sodass uns bekannte erste Abschriften häufig erst Jahrzehnte nach dem Original entstanden<br />

sind.<br />

Beachte also: Der überlieferte Text ist in der Regel nicht der Autortext!<br />

Der vorliegende Text enthält vielmehr Abschreibefehler, vom Schreiber vorgenommene<br />

Veränderungen etc.<br />

Diese Problematik war den Autoren des Mittelalters bewusst, z.B. dem Theologen und<br />

Seelsorger Thomas Peuntner, der zu Beginn seiner Liebhabung Gottes die zukünftigen<br />

Schreiber zur Sorgfalt bei der Abschrift mahnt:<br />

»Item ist es gar kuntlichen und offenbar, das die abschreiber der pücher zu stunden ettlich<br />

wortter überhüpffen vnd nicht schreiben von eylens wegen oder von vbersehung wegen<br />

vnd besonder von vnfleißigkeit wegen. dorumb beger ich durch gots willen von den, die<br />

diß püchlein werden abschreiben, das sie es fleißiglichen allein oder mit ymant wöllen<br />

vberlesen noch dem vnd sie es haben abgeschriben, dorumb das es nicht gefelscht wird;<br />

vnd wo sie denn etwas zu vil haben geschriben, das sie das selb fein abtilgen, vnd wo sie<br />

etwas außgelassen oder vberhupft oder falsch geschrieben haben, das sie das selb erfüllen<br />

vnd rechtvertigen [...].«<br />

(neuhochdeutsch: »Es ist ganz offenkundig und bekannt, daß die Abschreiber der Bücher<br />

bisweilen das eine oder andere Wort überspringen und nicht schreiben, in der Eile oder<br />

weil sie es übersehen und vor allem weil sie faul sind. Deshalb verlange ich um Gottes<br />

Willen von denen, die dieses Büchlein abschreiben werden, daß sie es allein oder mit<br />

jemand [anderem] sorgfältig Korrektur lesen wollen, nachdem sie es abgeschrieben<br />

haben, [und zwar] darum, daß es nicht verfälscht werde. Und wo sie dann etwas zu viel<br />

geschrieben haben, mögen sie das fein ausradieren, und wo sie etwas ausgelassen oder<br />

übersprungen oder falsch geschrieben haben, mögen sie dieses ergänzen und<br />

richtigstellen.«)<br />

(Aus: Aspekte mittelhochdeutscher Literatur. Teil 1: Quellen. Auswahl und Zusammenstellung<br />

von Hannes Kästner [u.a.]. Freiburg im Breisgau 1980, S. 93)<br />

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<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

Konservativ ediert werden in der Regel sakrosankte Texte (d.h. geistliche Texte). In<br />

Gebrauchsliteratur (z.B. Wörterbücher, Rechtstexte, medizinische Traktate, Kochbücher) und<br />

in die mittelalterliche deutsche Dichtung (Lieder, Heldenepen, Romane) wird hingegen oft<br />

eingegriffen. Dabei handelt es sich entweder um willentliche Änderungen durch den<br />

Redakteur oder Nachlässigkeit des Schreibers.<br />

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich häufig daraus, dass die Sprache des Schreibers nicht<br />

die Sprache des Autors ist.<br />

Beispiel: Das Ambraser Heldenbuch (eine Sammelhandschrift aus dem beginnenden<br />

16. Jahrhundert) enthält u.a. eine Erzählung des Mauricius von Craûn, die vermutlich im<br />

ersten Drittel des 13. Jahrhunderts entstanden ist.<br />

Zur Rekonstruktion des Originals muss der Text aus der frühneuhochdeutschen Fassung der<br />

Überlieferung ins Rheinfränkische (des Originals) rückübersetzt werden.<br />

! vgl. Abbildungen 7-9 in der Bilder-Galerie<br />

Frage: Wie schätzt man die Zuverlässigkeit der Abschrift ein?<br />

Im Falle des Ambraser Heldenbuchs galt dessen Schreiber Hans Ried lange Zeit als<br />

unzuverlässig, er wird heute aber als gewissenhaft eingeschätzt. Der Herausgeber Edward<br />

Schröder hält sich deshalb weitgehend an den überlieferten Text; der Herausgeber Ulrich<br />

Pretzel weicht jedoch davon ab.<br />

! vgl. Abbildungen 7-9 in der Bilder-Galerie<br />

Pretzels Editionsverfahren ist ein Beispiel für die klassische Textkritik:<br />

1) Klassische Textkritik<br />

Ziel: den verlorenen Autortext zu rekonstruieren<br />

Hauptvertreter: Karl Lachmann (1793-1851) (einer der Gründungsväter der Germanistik und<br />

Editionswissenschaft)<br />

Vorbild: Methoden der Altphilologie und Theologie<br />

Methode: aus verschiedenen Abschriften den Archetyp rekonstruieren, d.h. die gemeinsame<br />

Vorlage aller erhaltenen Handschriften<br />

Arbeitsschritte:<br />

1. Sammlung der Textzeugen (Heuristik)<br />

2. Beschreibung der Textzeugen (d.h.: Bestimmung des Alters, der Schreibsprache)<br />

3. Vergleich der Textzeugen, und zwar Wort für Wort (Kollation)<br />

4. Hierarchisierung der Textzeugen (Filiation)<br />

Gruppierung der Textzeugen: welche sind dem Archetyp näher als andere?<br />

unterscheide dabei: welches sind beweiskräftige Fehler, welches ›iterierende‹ Varianten,<br />

d.h. Varianten, die keiner gemeinsamen Quelle zu entstammen brauchen, sondern unabhängig<br />

voneinander auftreten können (z.B. die austauschbaren Varianten ›liebe‹/›minne‹)<br />

graphische Darstellung der Überlieferung: Stemma (= Stammbaum)<br />

Beispiel: Heinrich-von-München-Überlieferung<br />

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<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

5. Texterstellung (Recensio)<br />

Herstellung des Archetyps = der ältesten Textstufe, die aus der Überlieferung erschließbar<br />

ist (Archetyp per definitionem nicht identisch mit Autortext, kommt diesem vermuteten<br />

Text nur am nächsten)<br />

Dabei wird auf der Basis der Leithandschrift vorgegangen, d.h. jener Handschrift, »die<br />

den Text bietet, der von allen überlieferten am ehesten und am weitestgehenden dem<br />

Dichter zuzutrauen ist« (Heinzle).<br />

Grundsatz dabei: die lectio difficilior: = die Lesart, die seltener ist und schwerer zu<br />

erklären ist, wird als die anspruchsvollere und damit als die ursprünglichere Lesart<br />

betrachtet (d.h.: dem Autor traut man die komplizierteste Lesart zu)<br />

Fehler der Leithandschrift werden mit Hilfe anderer Handschriften korrigiert<br />

(Emendation).<br />

Teilweise werden, um dem Autor noch näher zu kommen, ›Fehler‹ korrigiert, die bereits<br />

für den Archetyp anzusetzen sind, d.h. Fehler, die dem Autor nicht zugetraut werden (z.B.<br />

Metrik, Reimtechnik). Diese Eingriffe (Konjektur – von lat. coniectura: ›Mutmaßung‹,<br />

›Vermutung‹) richten sich gegen die gesamte Überlieferung (vs. Emendation: dort ist die<br />

Korrektur durch die Überlieferung gestützt).<br />

Prämissen dieses Verfahrens:<br />

• es habe einen einzigen, einheitlichen, fehlerfreien Ausgangstext gegeben<br />

• die Überlieferung verlaufe immer vertikal (d.h. immer nur aus einer Vorlage)<br />

• die Genealogie lasse sich zweifelsfrei bestimmen<br />

Kritik an diesem Verfahren:<br />

• diese idealen Voraussetzungen hat es selten gegeben<br />

• oft gibt es mehrere Vorlagen für eine Abschrift (Kontamination (= Textmischung))<br />

• die Hierarchisierung ist im Einzelnen sehr schwierig (die Fehler sind schwer<br />

einzuschätzen)<br />

• Autoren schreiben nicht fehlerfrei<br />

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<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

• oft existiert keine verbindliche Originalfassung (bedenke: die Heldenepik ist ursprünglich<br />

mündlich tradiert und erst ab 1200 in verschiedenen Fassungen verschriftet worden)<br />

" Dieses Verfahren wird zunehmend als ›subjektiv‹ und der Entscheidungswillkür des<br />

Herausgebers ausgeliefert kritisiert.<br />

Heute richtet man sich eher nach folgendem Prinzip:<br />

2) Kritische Edition nach dem Leithandschriftenprinzip<br />

Das Vorgehen dieser Editionsmethode ist dasselbe, jedoch ist die Suche nach dem Autortext<br />

nicht das vorherrschende Ziel.<br />

Man vergleicht alle Textzeugen und wählt den ›besten‹ aus (nach der Qualität und dem Alter<br />

der Abschrift). Der Editionstext entsteht auf der Basis der Leithandschrift unter Einbeziehung<br />

der gesamten Überlieferung.<br />

Eingegriffen wird in der Regel nur bei sprachlich-sachlichen Unstimmigkeiten; diese<br />

Eingriffe werden deutlich markiert. Vgl. etwa die Edition Joachim Heinzles von Wolframs<br />

von Eschenbach Willehalm<br />

! vgl. Abbildungen 11 und 12 in der Bilder-Galerie<br />

3) Abdruck des relativ besten Textzeugen<br />

Hier wird der Textzeuge gewählt, der möglichst repräsentativ für die Entstehungszeit und<br />

Schreibsprache des Originals gelten kann.<br />

Editionsziel: keine partielle Rekonstruktion des Autortextes, sondern die Wiedergabe einer<br />

einzelnen historisch beglaubigten Gebrauchsfassung.<br />

Beispiel: viele Textausgaben der Reihe Deutsche Texte des Mittelalters<br />

Zuweilen liegt ein Text lediglich in unikaler Überlieferung vor. Dies betrifft die meisten<br />

frühmhd. und ahd. Texte, von denen man selten mehr als eine Abschrift besitzt.<br />

In diesem Fall bieten sich zwei andere Editionsverfahren an:<br />

4) Bereinigter Abdruck<br />

Beim bereinigten Abdruck wird auf den Anspruch einer Rekonstruktion des Originals<br />

verzichtet; stattdessen werden eine oder mehrere bezeugbare Fassungen repräsentiert, wobei<br />

nur ganz offensichtliche Fehler korrigiert werden.<br />

Beispiel: Walter Haug: Hildebrandlied (um 830-40)<br />

! vgl. Abbildungen 13 und 14 in der Bilder-Galerie<br />

5) Diplomatischer Abdruck<br />

Der diplomatische Abdruck bietet eine buchstaben- und zeichengetreue Umsetzung des<br />

Textes in moderne Buchstaben, einschließlich der Abbreviaturen, Superskripta und<br />

diakritischen Zeichen sowie der Fehler.<br />

Alle bisher vorgestellten Verfahren sind produktionsästhetisch ausgerichtet, d.h. sind auf die<br />

Wiedergewinnung des Autortextes oder zumindest einer Näherungsform gerichtet.<br />

Demgegenüber gibt es in jüngerer Zeit wirkungsästhetische Ansätze:<br />

6) Textgeschichtlich-überlieferungskritische Methode<br />

Diese Methode kombiniert die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, d.h. gibt neben der<br />

Erstfassung die Veränderungen an, die im Laufe der Überlieferung entstanden sind.<br />

Innerhalb dieses Verfahrens werden die verschiedenen Bearbeitungsstufen nicht mehr als<br />

Hindernis, sondern als Wert an sich betrachtet.<br />

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<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

Beispiel: das lateinisch-deutsche Wörterbuch (hier der Artikel »misericors – barmherzig«) der<br />

beiden Straßburger Geistlichen Fritsche Closener und Jakob Twinger von Königshofen:<br />

! vgl. Abbildung 15 in der Bilder-Galerie<br />

7) New Philology<br />

Die New Philology radikalisiert unter dem Einfluss der poststrukturalistischen Debatte über<br />

den Tod des Autors die textgeschichtlich-überlieferungskritische Methode. Sie behandelt alle<br />

Überlieferungszeugen als gleichwertig und lehnt eine Hierarchisierung der Textzeugen ab!<br />

Damit wird zugleich der Frage nach dem Autor(text) eine Absage erteilt.<br />

Prominenter Vertreter: Bernard Cerquiglini: Éloge de la variante: histoire critique de la<br />

philologie. Paris 1989.<br />

Editionstechnische Konsequenz: das gesamte Überlieferungsmaterial (im Computer)<br />

präsentieren<br />

3. Fazit<br />

• Es gibt keine verbindliche Editionsmethode.<br />

• Die Einsicht in die komplizierte Textgenese zwingt uns, den Text- und Werk-Begriff zu<br />

revidieren (sowohl in der Alt- als auch Neugermanistik): Der Text muss als dynamische<br />

Größe verstanden werden.<br />

• Jede Entstehungs- und Überlieferungsstufe hat ihre historische Legitimation. Das Werk ist<br />

die Summe dieser Textgeschichten, umfasst also alle Stufen vom Original bis zur letzten<br />

Abschrift bzw. – bei autorisierten Texten – von der Skizze zur Ausgabe letzter Hand.<br />

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<strong>IX</strong>. <strong>Editionsphilologie</strong><br />

4. Literaturhinweise<br />

Grubmüller, Klaus: Edition. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Von<br />

Johannes Hoops, in Zusammenarbeit mit C. J. Becker [u.a.] herausgegeben von Heinrich<br />

Beck. Bd. 6. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage Berlin – New York<br />

1986, S. 447-452.<br />

Plachta, Bodo: Editionswissenschaft: eine Einführung in Methode und Praxis der Edition<br />

neuerer Texte. Stuttgart 1997.<br />

Weimar, Klaus: Edition. In: Reallexikon der deutschen <strong>Literaturwissenschaft</strong>. Neubearbeitung<br />

des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus<br />

Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar. Bd. 1: A-G. 3., neu<br />

bearbeitete Auflage Berlin – New York 1997, S. 414-418.<br />

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