neunerNEWS Nr. 19, Juni 2012 - neunerHAUS
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„Unstet und flüchtig sollst du sein!“<br />
… sprach der Herr zu Kain, der seinen Bruder erschlagen<br />
hatte. Ruhelos umher irren zu müssen, ist eine<br />
der bittersten Strafen. Heute werden Gewalttäter weggesperrt.<br />
Sie sind von der Gesellschaft ausgeschlossen.<br />
Aber sie haben ein Dach über dem Kopf.<br />
Umso bestürzter sind wir, völlig unschuldige Menschen<br />
um uns zu wissen, die auf der Straße sitzen.<br />
2010 wurden in Österreich 37.000 Wohnungslose gezählt.<br />
Selbst wenn nur die Hälfte davon tatsächlich<br />
kein Dach über dem Kopf hat, ist das alarmierend<br />
genug. Denn das heißt, dass Tausende dieser armen<br />
Teufel täglich um einen Schlafplatz kämpfen müssen.<br />
Im Winter übernachten sie in WC-Anlagen. Sie nisten<br />
in Kellergeschoßen der Rohbauten. Sie werden aus U-<br />
Bahnstationen verjagt. Sie verkriechen sich in Containern.<br />
Einen warmen Unterschlupf zu finden ist, manchen<br />
sogar wichtiger als ihre Freiheit. Ich hörte von einem<br />
Obdachlosen, der vor Winterbeginn immer ein Strafdelikt<br />
beging, um inhaftiert zu werden. Er wusste über<br />
Strafausmaße genau Bescheid. Seine Delikte waren<br />
gerade so bemessen, dass er die kälteste Zeit über<br />
eine warme Zelle und ein Essen hatte.<br />
Doch mit den meisten Betroffenen verhält es sich<br />
ganz anders. Sie sind, wie man so sagt, normale Menschen.<br />
Unglückliche Lebensumstände haben sie aus<br />
der Bahn geworfen. Es genügt schon, den Job zu verlieren.<br />
Die Miete kann nicht mehr bezahlt werden. Was<br />
folgt, ist die Delogierung.<br />
Gott sei Dank gibt es bei uns karitative Einrichtungen.<br />
Zum Beispiel das <strong>neunerHAUS</strong>. Ein Teil der Betroffenen<br />
wird aufgefangen und von SozialarbeiterInnen<br />
betreut. Doch die Verzweiflung sitzt unvorstellbar<br />
tief.<br />
Frauen fliehen vor ihren gewalttätigen Ehemännern.<br />
Ein Zurückkehren ist meist ausgeschlossen. Die dafür<br />
eingerichteten Frauenhäuser sollen das Ärgste abwenden.<br />
Aber die Zahl verarmter, obdachloser Männer<br />
ist ungleich größer. Sie verkraften die Scheidung nicht.<br />
Ohne Perspektive tut der Alkohol sein übriges.<br />
Ich gehe durch die Stadt. Das kleine Buchgeschäft<br />
hat zugesperrt. Die Leute beziehen ihre Schmöker<br />
lieber aus dem Internet. Die Blumenhandlung gibt es<br />
auch nicht mehr. Blumen bekommt man im Baumarkt<br />
zu Schleuderpreisen. Der Obststand, die Fleischhauerei<br />
– verschwunden, die Papierhandlung pleite. Abverkauf.<br />
Dahinter stehen Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt<br />
verloren haben. Der Supermarkt hat sie<br />
verschlungen. Grausamkeiten, die still und leise vor<br />
sich gehen.<br />
Extremschrammel Roland Neuwirth bei einem Benefizabend für das <strong>neunerHAUS</strong><br />
Wo früher der Greißler war, hat ein Türke aufgemacht.<br />
Er überlebt, weil man bei ihm auch am Wochenende<br />
einkaufen kann. Anlaufstelle für arbeitslose<br />
Biertrinker. Die totgeschlagene Zeit, finanziert von der<br />
monatlichen Stütze, liegt in leeren Dosen am Gehsteig.<br />
Ein paar Betrunkene sitzen mitten auf der Fahrbahn.<br />
Jugendliche, eigentlich noch Kinder, sturzbesoffen. Sie<br />
randalieren, schlagen auf vorbeifahrende Autos. Sie<br />
hätten ein Zuhause. Die Frage ist nur, welches. Denn<br />
ein Zuhause ist mehr, als bloß ein „Dach über dem<br />
Kopf“. Es bedeutet ebenso, „festen Boden unter sich“<br />
zu wissen. Nicht nur zu existieren, sondern wirklich zu<br />
leben. Seinen Mittelpunkt gefunden zu haben.<br />
Wenn wir den Armen „Obdach“ geben, schenken wir<br />
ihnen zumindest eine Atempause. Nicht „unstet und<br />
flüchtig“ sein zu müssen, heißt, an ein Morgen denken<br />
zu können. Dass aus dem Obdachfinden ein Nachhausefinden<br />
werden kann.<br />
Roland Neuwirth, Musiker