<strong>Frühe</strong> <strong>Bildung</strong>
«Familienergänzende Kindertagesbetreuung» Beim Thema «familienergänzende Kinderbetreuung» treffen verschiedene, sich teilweise widersprechende Ansprüche aufeinander: das Ziel des schnellen zahlenmässigen Ausbaus zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf auf der einen und bildungs- und sozialpolitische Ziele auf der anderen Seite. Eine sinnvolle Tagesbetreuung muss beiden Seiten gerecht werden. Fakt ist im Augenblick jedoch, dass die qualitativen Ziele zugunsten der quantitativen zurückgesetzt werden. Christine Flitner, Zentralsekretärin <strong>vpod</strong> Der zügige Ausbau der Tagesbetreuung wird heute bis weit in bürgerliche Kreise gefordert, die pädagogische und sozialpolitische Diskussion zum Thema findet aber exklusiv unter Fachleuten statt und hat kaum Auswirkungen auf die Politik. Die verheerenden Folgen dieser Ignoranz gegenüber den pädagogischen Aspekten der Tagesbetreuung lassen sich am Beispiel der deutschen Stadt Hamburg ablesen. Der gut gemeinte zügige Ausbau der Kindertagesstätten seit 2003 ging dort voll und ganz auf Kosten der Qualität; Betreuungs- und Arbeitsbedingungen haben sich massiv verschlechtert, und man muss in der Folge von einem echten Zweiklassensystem in der Kinderbetreuung reden, wie der detaillierte Evaluationsbericht vom April 2007 zeigt. «Die akribischen Analysen mahnen nachdrücklich eine Umsteuerung im Sinne einer <strong>Bildung</strong>s-Sozialpolitik an, bei der <strong>Bildung</strong>srechte, <strong>Bildung</strong>sbedarf und die Perspektive der Kinder im Vordergrund stehen Kinderbetreuung fair finanzieren – so wichtig zugleich das Ziel der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleibt.» 1 In welchem pädagogischen, gesellschaftlichen und sozialpolitischen Umfeld bewegt sich die familienbegleitende Kindertagesbetreuung? Zahlreiche Themen kreuzen sich hier, und es gibt zur Zeit viele ungelöste Fragen, die sich direkt oder indirekt auf die Qualität der Betreuung auswirken. Integration Die <strong>Bildung</strong>schancen von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz hängen in erheblichem Mass von ihrem Elternhaus ab; der Schule gelingt es nicht wirklich, einen Ausgleich zu schaffen. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern und Kinder mit Migrationshintergrund haben sehr viel schlechtere Chancen, die Schule erfolgreich zu durchlaufen und schliessen ihre Ausbildung sehr viel häufiger ohne einen Abschluss der Sekundarstufe II ab. Insbesondere Jugendliche aus Ländern der zweiten Einwanderungswelle (Slowenien, Die notorische Unterfinanzierung der Kindertagesbetreuung führt dazu, dass Qualität und Arbeitsbedingungen leiden. Der <strong>vpod</strong> lanciert daher eine Petition für eine faire Finanzierung der Kinderbetreuung durch Bund, Kantone und Gemeinden. Mit der Petition wird der Bundesrat aufgefordert, für eine ausreichende und faire Finanzierung der ausserfamiliären Kinderbetreuung zu sorgen. Dafür ist jährlich mindestens 1 % des Bruttoinlandproduktes BIP in Form von öffentlichen Geldmitteln zur Verfügung zu stellen, gemäss den Empfehlungen der OECD und den Forderungen des Netzwerks Kinderbetreuung der EU. Damit soll sichergestellt werden, dass > genügend qualitativ gute Plätze in Kindertagesstätten angeboten werden > die Kinder gut betreut und altersgerecht gefördert werden > genügend gut ausgebildetes und fair entlöhntes Personal zur Verfügung steht > die Kosten für alle Familien erschwinglich sind und der Elternanteil an den Vollkosten höchstens ein Drittel ausmacht. Der Bund soll sich dabei dauerhaft finanziell engagieren und die Beteiligung der Kantone und Gemeinden verbindlich regeln. Die Petition kann auf der Website www.kitas-fair-finanzieren.ch unterzeichnet werden. Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien- Montenegro, Mazedonien, Türkei, Portugal), weisen auf der Sekundarstufe II eine vergleichsweise tiefe Beteiligungsquote auf (50 %; Schweizer: 74 %). Verschiedene Studien kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass die Tagesbetreuung vor der Schule und während der Schulzeit dazu beitragen kann, diese Misserfolgsrate zu senken. Andrea Lanfranchi hat gezeigt, dass Kinder aus Immigrantenfamilien, die im Vorschulalter familienergänzend betreut werden, den Übergang zur Schule besser bewältigen als Kinder, die sich ohne diese Unterstützung behaupten müssen. 2 Und auch eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland hat gezeigt, dass der Besuch einer Kinderkrippe einen hohen Einfluss auf den späteren <strong>Bildung</strong>serfolg hat, gerade bei Kindern, die zu Hause wenig Förderung erhalten. 3 Allerdings kann das nur gelingen, wenn die Betreuungseinrichtungen auf der Grundlage von pädagogischen Konzepten arbeiten und der Betreuungsschlüssel ausreichend ist. Faktisch wird die integrative Wirkung von den Kantonen und Gemeinden durch die notorische Unterfinanzierung der Einrichtungen und durch prohibitive Elternbeiträge hintertrieben. Segregation Die einkommensabhängige finanzielle Beteiligung der Eltern an den Kosten der Tagesbetreuung führt in den meisten Kantonen heute dazu, dass Mittelstandseltern und Besserverdienende mit privaten Lösungen günstiger fahren, insbesondere wenn sie mehr als ein Kind haben. Ausserdem lohnt sich für viele Paare die doppelte Berufstätigkeit nicht wirklich, weil der Zweitverdienst vollständig von den Kosten für die Kinderbetreuung aufgefressen 1 A. Hilger, J. Kastner, P. Strehmel (2006), S. 4 2 A. Lanfranchi (2002) 3 T. Fritschi und T. Oesch (2008) <strong>vpod</strong>-<strong>bildungspolitik</strong> 161/09 5