Fachtag mit Birgit Lattschar und Karin Mohr - fobi:aktiv
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Wurzeln zum Wachsen<br />
Biografiearbeit<br />
in der Jugendhilfe<br />
www.birgit-lattschar.de<br />
Wer die Vergangenheit nicht ehrt,<br />
verliert die Zukunft –<br />
wer seine Wurzeln vernichtet, kann<br />
nicht wachsen.<br />
Friedensreich H<strong>und</strong>ertwasser<br />
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1
• Was ist Biografiearbeit?<br />
• Aufgaben <strong>und</strong> Funktionen<br />
• Kontext<br />
• Relevanz in der Jugendhilfe<br />
• Exkurs Identität <strong>und</strong> Loyalität<br />
• Exkurs "Wieviel Wahrheit braucht mein Kind?"<br />
• Wie sieht Biografiearbeit <strong>mit</strong> Kindern aus?<br />
• Ziele<br />
• Zentrale Fragen von Kindern<br />
• Voraussetzungen<br />
• Grenzen<br />
• Methoden<br />
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Inhalt<br />
Was ist Biografiearbeit?<br />
• Biografie (griech.)= Lebensbeschreibung<br />
• Biografie ≠ Lebenslauf, sondern subjektiv<br />
bewertetes Leben<br />
• Lebenslauf: „Außenseite“ <strong>mit</strong> historischen Daten,<br />
chronologisch, wahrheitsgetreu<br />
• Biografie: „Innenseite“<br />
Eigene Lebensbeschreibung <strong>und</strong> –bewertung<br />
• Häufig retrospektiv, als Bilanz, an Wendepunkten,<br />
als biografische Selbstreflexion<br />
Das Ereignis ist nicht das, was passiert.<br />
Das Ereignis ist das, was erzählt werden kann.<br />
Henry James<br />
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2
Definition<br />
„Ausgehend von einem ganzheitlichen Menschenbild<br />
ist Biografiearbeit eine strukturierte Form der<br />
Selbstreflexion in einem professionellen Setting, in<br />
dem an <strong>und</strong> <strong>mit</strong> der Biografie gearbeitet wird. Die<br />
angeleitete Reflexion der Vergangenheit dient dazu,<br />
Gegenwart zu verstehen <strong>und</strong> Zukunft zu gestalten.<br />
Durch eine Einbettung der individuellen<br />
Lebensgeschichte in den gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />
historischen Zusammenhang sollen neue Perspektiven<br />
eröffnet <strong>und</strong> Handlungspotenziale erweitert werden.“<br />
(Miethe 2011, 24)<br />
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Aufgaben <strong>und</strong> Funktionen der Biografiearbeit<br />
Klingenberger, 1996, 126<br />
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3
Kontext<br />
• Fremdunterbringung (Adoptiv- <strong>und</strong> Pflegekinder,<br />
Erziehungshilfe)<br />
• Beim Verlust einer Bezugsperson durch Tod<br />
• Bei Trennung/Scheidung der Eltern<br />
• Bei lebensbedrohlicher Erkrankung<br />
• Migration, Flucht, anderer kultureller Hintergr<strong>und</strong><br />
• …..<br />
Zur Unterstützung schwieriger Lebensereignisse,<br />
die das Kind bewältigen muss.<br />
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Relevanz der Biografiearbeit in der Jugendhilfe<br />
• Recht des Kindes auf Information über seine<br />
Herkunft<br />
• Wissen um eigene Geschichte/Herkunft stiftet<br />
Identität, hilft bei Annahme der eigenen Person<br />
• Loyalitätskonflikte erschweren oder verhindern,<br />
das ein Kind sich binden kann<br />
• Viele Kinder haben wenige oder widersprüchliche<br />
Informationen über ihre Lebensgeschichte<br />
• Widersprüchliche oder fehlende Infos binden<br />
Energien, belasten, verunsichern oder führen zu<br />
Phantasien<br />
Die Verantwortung für "schwierige Themen"<br />
liegt beim Erwachsenen!<br />
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4
Exkurs Identität<br />
• Lat. Idem=„Selbigkeit“, „derselbe“<br />
• Unverwechselbarkeit <strong>und</strong> Einmaligkeit einer<br />
Person, die von ihr als ihre spezifische Art <strong>und</strong><br />
Weise des Verhaltens, Denkens <strong>und</strong> Erlebens<br />
durch alle persönlichen Veränderungen hindurch<br />
erfahren wird.<br />
• Wer bin ich, wem gleiche ich,<br />
warum bin ich nicht wie die<br />
anderen?<br />
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Exkurs Loyalität<br />
• Kinder definieren sich als Teil ihrer Eltern<br />
• Leben <strong>mit</strong> „doppelter Elternschaft“ nicht „normal“<br />
• Loyalitätskonflikt: Entscheidung für die einen oder<br />
die anderen<br />
• Angst, Zuwendung zu verlieren, Gefühl der<br />
Dankbarkeit<br />
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5
Exkurs Loyalität<br />
Schlussfolgerungen<br />
Existenz beider Eltern in Einklang bringen<br />
Herkunft des Kindes muss Platz haben in der<br />
Familie/Einrichtung<br />
Wertschätzung der Eltern bedeutet auch<br />
Wertschätzung des Kindes<br />
Erlaubnis, die leiblichen Eltern zu lieben/schätzen<br />
Erlaubnis, sich in neuer Familie zu binden<br />
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Relevanz der Biografiearbeit in der Jugendhilfe<br />
• Recht des Kindes auf Information über seine<br />
Herkunft<br />
• Wissen um eigene Geschichte/Herkunft stiftet<br />
Identität, hilft bei Annahme der eigenen Person<br />
• Loyalitätskonflikte erschweren oder verhindern,<br />
das ein Kind sich binden kann<br />
• Viele Kinder haben wenige oder widersprüchliche<br />
Informationen über ihre Lebensgeschichte<br />
• Widersprüchliche oder fehlende Infos binden<br />
Energien, belasten, verunsichern oder führen zu<br />
Phantasien<br />
Die Verantwortung für "schwierige Themen"<br />
liegt beim Erwachsenen!<br />
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6
Exkurs: Wieviel Wahrheit braucht mein Kind?<br />
• Kinder "spüren" Lügen <strong>und</strong> Geheimnisse – es<br />
fördert Phantasien <strong>und</strong> Ängste, wenn sie sich nicht<br />
zu fragen trauen<br />
• Zurückhalten der Wahrheit riskiert Vertrauensbruch,<br />
das Mittragen eines Geheimnisses macht<br />
"<strong>mit</strong>schuldig"<br />
• "Sala<strong>mit</strong>aktik" verunsichert (Was kommt noch?)<br />
• Kinder können auch schwere Realitäten verkraften,<br />
entscheidend ist der Beistand der Erwachsenen<br />
• Kleine Kinder urteilen noch nicht "moralisch",<br />
nehmen ihre Geschichte als "normal" hin<br />
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„Was diese jungen Menschen oft <strong>und</strong> lange<br />
besonders belastet <strong>und</strong> dann gleichgültig<br />
<strong>und</strong> mutlos macht, ist vor allem die<br />
Unsicherheit, die sie in sich herumtragen.<br />
Die Wahrheit ist leichter zu ertragen, auch<br />
wenn sie hart ist. Es ist die Wahrheit. Man<br />
weiß Bescheid <strong>und</strong> kann weiterleben.<br />
Wahrheit schadet nicht, sie ist immer der<br />
Ausgangspunkt.“<br />
(Andreas Mehringer 1992, 49).<br />
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Relevanz der Biografiearbeit in der Jugendhilfe<br />
• Bietet Fachkräften anderen, kreativen Zugang zur<br />
Lebensgeschichte des Kindes<br />
• Ver<strong>mit</strong>telt dem Kind neue <strong>und</strong> andere<br />
Informationen, füllt Lücken<br />
• Stellt einen "Raum" dar, in dem Fragen gestellt<br />
werden dürfen<br />
• Ist Wertschätzend<br />
• Trägt bei zur Entlastung von Schuldgefühlen,<br />
Klärung <strong>und</strong> Einordnung<br />
• Spaß<br />
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Wie sieht Biografiearbeit <strong>mit</strong> Kindern aus?<br />
• Weite Definition vs. enge<br />
• Unterschiedliche Methoden, Formen, Techniken<br />
(Lebensbuch anlegen, Basteln, Ausflüge, Spielen,<br />
Lebensbriefe schreiben, Film drehen...)<br />
• Dokumentation/Produkt (Lebensbuch, Film, ...)<br />
unvergänglich, verbindlich, nachschlagbar<br />
• Regelmäßig Prozess<br />
• Leitfragen: Wer bin ich? Wie bin ich? Wo komme<br />
ich her?<br />
• Auch als Gruppenarbeit möglich<br />
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8
Ziele<br />
• Mit dem Kind ins Gespräch kommen<br />
• Gefühle des Kindes erfahren<br />
• Verständnis der Sichtweise des Kindes über seine<br />
Situation<br />
• Dinge benennen <strong>und</strong> klären<br />
• „Coverstory“ entwickeln<br />
• ggf. überbrückende Arbeit<br />
„Ziel der Biografiearbeit ist es, <strong>mit</strong> Kindern/<br />
Jugendlichen an einem wahrheitsgemäßen,<br />
realistischen <strong>und</strong> verstehbaren Bild ihrer<br />
Lebensgeschichte zu arbeiten. Dieses Bild soll<br />
ihnen helfen, sich selbst zu verstehen.“<br />
Kay-Uwe Fock, 2002<br />
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Zentrale Fragen von Kindern in Jugendhilfe<br />
• Wo komme ich her, wer sind meine Eltern?<br />
• Warum lebe ich hier?<br />
• Was ist wann <strong>und</strong> warum passiert?<br />
• Zu wem gehöre ich?<br />
• Bin ich meinen Eltern ähnlich? Was habe ich<br />
von meinen Eltern geerbt?<br />
• Ist meine Mutter/mein Vater ein schlechter<br />
Mensch? Bin ich deswegen auch schlecht?<br />
• Warum haben meine Eltern den Kontakt zu mir<br />
abgebrochen?<br />
• Warum lebt mein Geschwister zuhause?<br />
• ……<br />
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9
Voraussetzungen für die Biografiearbeit<br />
Beim Kind: Interesse<br />
Beim Erwachsenen:<br />
• Zuverlässigkeit<br />
• Tempo des Kindes berücksichtigen<br />
• Ehrlichkeit <strong>und</strong> Offenheit<br />
• Respektvolle innere Haltung gegenüber den Eltern<br />
• Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> Authentizität<br />
• Auseinandersetzung <strong>mit</strong> eigenen Gefühlen<br />
• Unterstützung/Hilfe/Supervision<br />
Biografiearbeit ist keine Therapie! Sie kann <strong>und</strong> sollte<br />
von der Bezugsperson des Kindes unternommen<br />
werden.<br />
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Kommunikation <strong>mit</strong> Kindern<br />
• So konkret wie möglich<br />
• Beispiele <strong>und</strong> Geschichten nutzen<br />
• Bilder malen lassen (von sich selbst, den<br />
Dingen, die das Kind mag oder nicht mag)<br />
• Wahrnehmung des Kindes aufgreifen <strong>und</strong><br />
bestätigen<br />
• Im Tempo des Kindes vorgehen<br />
• Keine eigenen Deutungen, statt dessen Gefühle<br />
spiegeln („ich glaube, da wäre ich wütend<br />
geworden...“)<br />
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10
Grenzen<br />
• Kein Therapieersatz!<br />
• Belastete Beziehung/Konflikte <strong>mit</strong> dem Kind<br />
Bei Jugendlichen häufig Gruppenarbeit<br />
außerhalb sinnvoll<br />
• Eigene Blockaden<br />
• Akute Konflikte <strong>mit</strong> leiblichen Eltern/Jugendamt<br />
• Verweigerung des Kindes<br />
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Lebensbücher nach Vorlagen<br />
Methoden der Biografiearbeit<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Lebensbücher selbstgestaltet<br />
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Inhalte eines Lebensbuches<br />
• Das bin ich<br />
• Meine leibliche Familie<br />
• Die Einrichtung, in der ich lebe/meine<br />
Pflegefamilie/meine Adoptivfamilie<br />
• Meine Geschichte<br />
• Gefühle<br />
• (Das Land, aus dem ich komme)<br />
• Meine Gegenwart<br />
• Meine Zukunft<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Lebensverlauf darstellen - Lebensspirale<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
leibliche<br />
Eltern<br />
soziale<br />
Eltern<br />
Kind<br />
rechtliche<br />
Eltern<br />
zahlende<br />
Eltern<br />
Rollen <strong>und</strong> Verantwortung klären – Vier-Eltern-Modell<br />
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13
Methoden der Biografiearbeit<br />
Beziehungen darstellen - Genogramm<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Reisen,<br />
Besuche von<br />
Orten der<br />
Vergangenheit<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Lebenskette<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Gefühle<br />
benennen<br />
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Aus: <strong>Lattschar</strong>/Wiemann 2007<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Selbstvertrauen<br />
stärken<br />
Die 100 Punkte<br />
Liste<br />
25 Talente <strong>und</strong><br />
Fähigkeiten<br />
25 positive<br />
Eigenschaften<br />
50 positive<br />
Erlebnisse in meinem<br />
Leben<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Coverstory<br />
entwickeln<br />
Geschichte <strong>und</strong> Coverstory<br />
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16
Methoden der Biografiearbeit<br />
Lücken füllen - Unbekannter Vater<br />
• „Du bestehst wie alle Menschen aus Mutter <strong>und</strong><br />
Vater. Du bist der beste Beweis dafür, dass es<br />
deinen Vater gibt oder einmal gab. Folgende<br />
Eigenschaften könntest du von deinem Vater<br />
haben: Dass du so gut Musik machen kannst, dass<br />
du so gerne turnst <strong>und</strong> dich bewegst. In deinem<br />
Lachen gleichst du vielleicht auch deinem Vater.“<br />
• So stelle ich mir meinen Vater vor…<br />
• Wenn ich meinen Vater nicht kennen würde….<br />
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Methoden der Biografiearbeit<br />
Worte finden – Sachverhalte erklären<br />
Deine Mama ist krank. Das ist keine Krankheit, wie du oder<br />
ich sie manchmal haben <strong>mit</strong> Fieber <strong>und</strong> Kopfweh. Das ist<br />
eine Krankheit, die niemand sehen kann. Wir nennen das<br />
psychisch krank. Sie fühlt, denkt <strong>und</strong> sagt manchmal<br />
Dinge, die es nicht wirklich gibt. Sie hört Stimmen, die ihr<br />
etwas befehlen. Diese Stimmen kommen nicht von außen,<br />
sondern aus ihrem eigenen Kopf. Manchmal kann sie<br />
nachts nicht schlafen. Sie ist <strong>mit</strong> ihren Gefühlen <strong>und</strong><br />
Gedanken manchmal so durcheinander, dass sie auf ein<br />
kleines Kind nicht aufpassen kann. Es gibt Krankenhäuser<br />
<strong>und</strong> Ärzte, die der Mama helfen. Oft geht es ihr eine Zeit<br />
lang gut <strong>und</strong> dann kommt die Krankheit wieder. Und dann<br />
muss sie wieder ins Krankenhaus. Es gibt immer ein Hin<br />
<strong>und</strong> ein Her. Deshalb wollte sie, dass du lieber in einer<br />
Pflegefamilie lebst. <strong>Lattschar</strong>/Wiemann, 2007, S.202<br />
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Häufige Fragen von Pflegeeltern, Fachkräften<br />
…<br />
• Wann fange ich <strong>mit</strong> Biografiearbeit an?<br />
• Was kann ich tun, wenn mein Kind sich nicht dafür<br />
interessiert?<br />
• Woher bekomme ich Informationen?<br />
• Wie gehe ich <strong>mit</strong> Lücken in der Lebensgeschichte<br />
um?<br />
• Wie spreche ich <strong>mit</strong> dem Kind über seine Herkunft?<br />
• Sollte man dem Kind die ganze Wahrheit sagen,<br />
auch wenn sie schlimm ist? Wie kann man das tun?<br />
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„Wir müssen dem Kind helfen, dass<br />
es seine Situation selbst auch ganz<br />
begreift, das Vergangene, das<br />
Gegenwärtige <strong>und</strong> das Mögliche in<br />
der Zukunft. [...]<br />
Da muss jemand sein, der<br />
aufarbeiten hilft.“<br />
Andreas Mehringer (1911-2004)<br />
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