“Denn sie lieben die Freiheit so sehr …” Evelyn Schulz Das ... - Euxin
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<strong>“Denn</strong> <strong>sie</strong> <strong>lieben</strong> <strong>die</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>so</strong> <strong>sehr</strong> <strong>…”</strong><br />
<strong>Evelyn</strong> <strong>Schulz</strong><br />
<strong>Das</strong> eben<strong>so</strong> plakative wie aussagekräftige Zitat im Titel <strong>die</strong>ses Beitrags stammt aus den<br />
Gesta Frederici, den “Taten Friedrich Barbarossas”. Es bezieht sich auf <strong>die</strong><br />
oberitalienischen, speziell <strong>die</strong> lombardischen Städte und darauf, wie <strong>sie</strong> sich dem<br />
künftigen Kaiser und dem Reichsheer auf deren expeditio Romana, al<strong>so</strong> dem Romzug zur<br />
Erlangung der Kaiserkrone (1154/55), präsentierten. Der Verfasser jener wohl<br />
berühmtesten Chronik des 12. Jahrhunderts ist Otto von Freising, der nicht nur als<br />
Geschichtsschreiber und aufgrund seiner Gelehrsamkeit einen herausragenden Namen<br />
erlangt hat, <strong>so</strong>ndern auch als Reichsbischof und Mitglied der kaiserlichen Familie eine<br />
bedeutende politische Rolle spielte. Neben der guten Beobachtungsgabe und dem<br />
Erzähltalent besaß er eine bemerkenswerte analytische Fähigkeit.<br />
So zeichnet er jenes berühmt gewordene Bild vom oberitalienischen Bürgertum: "Denn<br />
<strong>sie</strong> <strong>lieben</strong> <strong>die</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>so</strong> <strong>sehr</strong>, daß <strong>sie</strong> sich jedem Übergriff der Gewalt entziehen und<br />
lieber von Konsuln als von Herrschern regieren lassen. Da es bekanntlich bei ihnen drei<br />
Stände gibt, nämlich Capitane, Valvas<strong>so</strong>ren und Bürger, werden, um keinen Hochmut<br />
aufkommen zu lassen, <strong>die</strong>se Konsuln nicht aus einem, <strong>so</strong>ndern aus allen Ständen gewählt,<br />
und damit <strong>sie</strong> sich nicht zur Herrschsucht verleiten lassen, werden <strong>sie</strong> fast jedes Jahr<br />
ausgetauscht. So kommt es, daß das Land fast vollständig unter Stadtstaaten aufgeteilt ist,<br />
und daß jeder derselben <strong>die</strong> Bewohner seines Gebietes mit ihnen zusammenzuleben<br />
zwingt, daß man ferner kaum einen Edlen oder Großen von noch <strong>so</strong> großem Ehrgeiz<br />
findet, der sich nicht trotzdem der Herrschaft seines [Stadt-]Staates beugte. Aufgrund<br />
<strong>die</strong>ser Gewalt des Zusammentreibens pflegen <strong>sie</strong> ihre Territorien ‘Comitate’ zu nennen.<br />
Damit <strong>sie</strong> nicht der Mittel entraten, auch <strong>die</strong> Nachbarn zu unterdrücken, halten <strong>sie</strong> es<br />
nicht für unter ihrer Würde, junge Leute der unteren Stände und auch Handwerker, <strong>die</strong><br />
irgendein verachtetes mechanisches Gewerbe betreiben, zum Rittergürtel und zu höheren<br />
Würden zuzulassen, während <strong>die</strong> übrigen Völker <strong>so</strong>lche wie <strong>die</strong> Pest von den<br />
ehrenvolleren und freieren Beschäftigungen ausschließen. So kommt es, daß <strong>sie</strong> an<br />
Reichtum und Macht <strong>die</strong> übrigen Städte der Welt übertreffen”. An <strong>die</strong>se pointierte<br />
Bemerkung und weitreichende Einsicht schließt Otto von Freising eine Erklärung über<br />
<strong>die</strong> Bedingungen und Konsequenzen <strong>die</strong>ser Entwicklung an, wenn er fortfährt:<br />
“Förderlich war ihnen dabei nicht nur, wie gesagt, ihr tatkräftiger Charakter, <strong>so</strong>ndern<br />
auch <strong>die</strong> Abwesenheit der Herrscher (der deutschen Könige und Kaiser), <strong>die</strong> sich<br />
angewöhnt haben, im transalpinischen Gebiet zu bleiben.” (Otto von Freising 1965, S.<br />
308/09 f.)<br />
Die scharfsichtigen Beobachtungen, <strong>die</strong> Otto von Freising vorträgt, zeigen zugleich sein<br />
Gespür für den gesellschaftlichen und politischen Umbruch, der sich hier vollzieht,<br />
allerdings nicht ohne Distanz und Kritik. Grundsätzlich tadelt er <strong>die</strong> verfehlte<br />
Reichspolitik, <strong>die</strong> in den letzten Jahrzehnten <strong>die</strong> Wahrnehmung der Herrschaftsrechte in<br />
Italien versäumt und damit zur politischen Verselbständigung Oberitaliens beigetragen<br />
habe. Fremd bleibt ihm <strong>die</strong> Maßlosigkeit des <strong>Freiheit</strong>sgedankens und <strong>die</strong> Zurückweisung<br />
des nach seiner Ansicht letztlich göttlich begründeten kaiserlichen Herrschaftsanspruchs,<br />
an dessen Stelle der Wahlgedanke bei Nivellierung der Unterschiede zwischen den<br />
Ständen mit einem ihm fremden Gleichheitsprinzip getreten ist. Auf der anderen Seite
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spürt man bei ihm den Respekt vor dem “tatkräftigen Charakter” der Bürger, ihrer<br />
Energie, ihrer Wirtschaftskraft und militärischen Stärke. Er begreift, daß <strong>die</strong> Entwicklung<br />
nicht rückgängig zu machen ist, und strebt stattdessen eine Korrektur im Sinne der<br />
Wiederherstellung kaiserlicher Gewalt als übergeordneter Autorität an. In den Worten<br />
Ottos von Freising glaubt man den Kaiser selbst sprechen zu hören, der auf den<br />
Reichstagen von Roncaglia (1154 und 1158) <strong>die</strong>se Absicht programmatisch verfolgte.<br />
Aber <strong>die</strong> Gegensätze zu <strong>die</strong>ser neuen bürgerlichen Welt sind <strong>so</strong> groß, daß es zu einem<br />
mehr als zwanzigjährigen Konflikt kommt, der mit folgenden drei Stichworten zu<br />
charakteri<strong>sie</strong>ren ist: 1162 Niederringung und Zerstörung Mailands durch das kaiserliche<br />
Heer, 1167 Begründung und machtvoller Aufstieg der Lega Lombarda (Lombardischer<br />
Städtebund) und 1176/77 Niederlage des Kaisers bei Legnano und Waffenstillstand von<br />
Venedig.<br />
In der Konsequenz bedeutet <strong>die</strong>ser Vertrag <strong>die</strong> Behauptung der Autonomie und<br />
Ratsverfassung der oberitalienischen Städte, wie <strong>sie</strong> sich seit dem Investiturstreit (um<br />
1100) ausgebildet hatte, d.h. gewählte Konsuln vertreten <strong>die</strong> Stadtgemeinde<br />
(communitas), ursprünglich konstituiert als Bürgerversammlung (parlamentum), seit der<br />
Mitte des 12. Jahrhunderts z.T. ergänzt durch das Herrschaftsinstitut des Podestâ zur<br />
Neutrali<strong>sie</strong>rung und Überbrückung innerer Spannungen.<br />
Wie war zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt (um 1150) der Entwicklungsstand des Bürgertums in<br />
Deutschland ? Kommunale Erhebungen und Selbständigkeitsbestrebungen hatte es auch<br />
hier schon im Investiturstreit gegeben (1073/77, 1105/06, 1112/14). Zu einer erheblichen<br />
Steigerung und Zuspitzung kam es in den rheinischen Bischofsstädten parallel zu der<br />
Konfrontation in Oberitalien zwischen Kaiser und Kommunen um 1150/60: in Köln<br />
nämlich wurde auf der Grundlage des älteren Schöffenkollegs ein Senat nach antikrömischem<br />
Vorbild errichtet, in Trier erfolgte <strong>die</strong> Bildung einer coniuratio genannten<br />
Schwureinung der Bürgergemeinde, <strong>die</strong> ein Verbot durch <strong>die</strong> Reichsfürsten und den<br />
Kaiser zur Folge hatte, und in Mainz erhoben sich <strong>die</strong> Bürger gegen ihren Erzbischof als<br />
Stadtherrn, der im Zuge <strong>die</strong>ser heftigen Auseinandersetzung getötet wurde. <strong>Das</strong> Konsulat<br />
als entscheidendes Kriterium für <strong>die</strong> unabhängige, sich durch einen Stadtrat selbst<br />
bestimmende Stadtgemeinde gelangte in deutschen Städten frühestens seit ca. 1200 zum<br />
Durchbruch. Dabei profitierten <strong>die</strong> am weitesten entwickelten Bürgergemeinden von dem<br />
Thronstreit (1198-1214), dem Kampf der Staufer und Welfen um <strong>die</strong> Vorherrschaft im<br />
Reich und um <strong>die</strong> Kaiserwürde, an dessen Ende wiederum von den Reichsfürsten<br />
geforderte und vom Kaiser verkündete Verbote gegen Stadträte und kommunale<br />
Neuerungen ergingen. 1231 wurde noch einmal ein Reichsgesetz erlassen, nach dem alle<br />
nicht genehmigten “communiones, constitutiones, colligationes seu coniurationes” als<br />
widerrechtlich aufzulösen und in Zukunft zu verhindern seien. Dies geschah wohl nicht<br />
in der Hoffnung, <strong>die</strong> kommunale Entwicklung damit rückgängig zu machen, aber man<br />
glaubte wohl, <strong>die</strong> bürgerliche Verselbständigung wieder unter Kontrolle bringen zu<br />
können. Auch <strong>die</strong>s gelang nur in den seltensten Fällen, denn spätestens im Interregnum<br />
(1254/57-1273) setzten sich <strong>die</strong> neue Stadtverfassung und <strong>die</strong> Stadträte auf breiter Front<br />
durch.<br />
I. Bewertung der Kommunebildung und der Entstehung des europäischen Bürgertums
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Begriffen schon <strong>die</strong> Zeitgenossen <strong>die</strong>sen Prozeß als einschneidend, <strong>so</strong> hat auch <strong>die</strong><br />
moderne Stadtgeschichtsforschung <strong>die</strong> entscheidende Periodi<strong>sie</strong>rung an der Grenzlinie<br />
zwischen der präkommunalen und der kommunalen Epoche vorgenommen. Max Weber,<br />
der gern als Kronzeuge herangezogen wird, hat in <strong>die</strong>sem Vorgang einen revolutionären<br />
Umbruch, und zwar singulären Charakters gesehen, ohne den unsere heutige<br />
Gesellschaftsform, Kultur und Denkweise nicht begreifbar wären. Denn große Städte mit<br />
einem pul<strong>sie</strong>renden Wirtschaftsleben habe es in vielen Ländern und Epochen gegeben,<br />
aber ein Bürgertum, das sich in Gestalt einer Kommune weitgehend selbst bestimmte, sei<br />
auf den mittel- und westeuropäischen Raum des Hoch- und Spätmittelalters beschränkt<br />
geb<strong>lieben</strong>.<br />
Gegenüber <strong>die</strong>ser stärkeren Betonung von markanten Veränderungen und Neuerungen in<br />
der städtisch-bürgerlichen Welt ist in der Forschung der letzten Jahrzehnte eher Distanz<br />
geübt worden. Es wurde <strong>so</strong>gar betont, daß es sich bei der kommunalen Bewegung und<br />
später bei der Beteiligung der Zünfte an dem politischen Geschehen nicht um einen<br />
Prozeß hin zur Demokratie gehandelt habe. Diese engagierte Zurückweisung einer nicht<br />
vorhandenen Behauptung (= Demokratie) hat nicht gerade zum Verständnis der<br />
Vorgänge beigetragen. Denn <strong>die</strong> Verbindungen, <strong>die</strong> von der mittelalterlichen Stadt und<br />
ihrem Bürgertum in der neuen Gestalt bis in <strong>die</strong> Gegenwart hineinreichen, woran ich<br />
nicht zweifle, sind anderer, indirekterer Art, als daß man <strong>sie</strong> über den nur als Vorwurf<br />
benutzten Demokratie-Begriff zurückweisen oder herstellen könnte. Es sind eher<br />
Grundgegebenheiten oder lang wirksame Verhaltensmuster wie bürgerliches<br />
Selbstverständnis und Kulturbewußtsein, Eigenverantwortlichkeit und Eigeninitiative,<br />
politisches Denken und Handeln in Gruppen und als Gemeinschaft, an <strong>die</strong> man dabei<br />
denken <strong>so</strong>llte.<br />
II. Voraussetzungen der kommunalen Entwicklung und Erklärungsmodelle<br />
Was waren <strong>die</strong> Voraussetzungen für den Prozeß der Kommunebewegung ? Warum ist es<br />
überhaupt im 11./12. Jahrhundert zu <strong>so</strong>lchen markanten Veränderungen in den Städten<br />
gekommen ? Wie konnte in einer bis dahin <strong>so</strong> stark herrschaftlich geprägten Gesellschaft<br />
wie der des Mittelalters ein Gedanke zum Durchbruch gelangen, der auf der Gemeinde<br />
aufbauend und einem neuen Verständnis von gesellschaftlicher <strong>Freiheit</strong> und politischer<br />
Mit- bzw. Selbstbestimmung zum Durchbruch verhalf ? Denn <strong>die</strong>se beiden Elemente sind<br />
es vorrangig, <strong>die</strong> <strong>die</strong> kommunale Bewegung prägten. Die als typisch geltende Form, in<br />
der sich <strong>die</strong>ser Vorgang vollzog, war <strong>die</strong> coniuratio, <strong>die</strong> man mit dem Begriff der<br />
Schwurgemeinschaft oder der geschworenen Einung wiedergibt. Was geschah dabei im<br />
Verständnis der Beteiligten ? Bei der gemeinsamen Eidesleistung erfolgte <strong>die</strong><br />
Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe <strong>so</strong>wie zur Sicherung von Frieden und Recht. Aus<br />
der Sicht der Herren erschienen <strong>so</strong>lche Zusammenschlüsse häufig als conspirationes,<br />
Verschwörungen oder Rebellionen, <strong>die</strong> auf eine Verletzung der Herrschaftsrechte<br />
abzielten. Gewann <strong>die</strong> coniuratio über den Kreis der Hauptbeteiligten hinaus eine <strong>so</strong>lide<br />
<strong>so</strong>ziale Basis <strong>so</strong>wie eine gewisse Kontinuität und Stabilität, <strong>so</strong> wurde <strong>sie</strong> zu einer<br />
communio, al<strong>so</strong> zu einer Stadtgemeinde im Rechtssinne. Von <strong>die</strong>ser Bewegung wurden<br />
zwar auch viele Landgemeinden erfaßt, <strong>die</strong> hier jedoch nicht mitberücksichtigt werden
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können und auch nur in den Grundelementen vergleichbar sind. Wir konzentrieren<br />
unseren Blick auf den Prozeß der Urbani<strong>sie</strong>rung und der Ausbildung des Bürgertums.<br />
Zu den Ursachen, <strong>die</strong> für das Verständnis der Zusammenhänge wesentlich sind, gehören<br />
zweifellos <strong>die</strong> starke Bevölkerungszunahme seit dem 10. Jahrhundert, nicht zuletzt<br />
infolge einer klimabedingten Verbesserung der Ernährungsgrundlage, das Entstehen<br />
neuer Märkte und städtischer Siedlungen, der Ausbau von Handelsbeziehungen und <strong>die</strong><br />
Zunahme des Geldverkehrs, <strong>die</strong> Differenzierung von Handwerk und Gewerbe bei<br />
zunehmender Lösung aus grundherrschaftlichen Bindungen und verstärkter<br />
Marktorientierung, um nur <strong>die</strong> wichtigsten Stichworte allgemeineren Charakters zu<br />
nennen. An Beobachtungen <strong>die</strong>ser Art knüpfen <strong>die</strong> Entstehungstheorien der Stadt in ihrer<br />
sich verändernden Gestalt an, von denen <strong>die</strong> für unseren Zusammenhang wichtigsten hier<br />
kurz genannt seien:<br />
1. Gildetheorie: Gilden im Sinne freier Einungen wandernder Fernkaufleute wurden von<br />
Otto von Gierke, Henri Pirenne und Hans Planitz als bestimmender Faktor und Indiz<br />
für das Fortwirken des genossenschaftlichen gegenüber dem stärker werdenden<br />
herrschaftlichen Element seit der Karolingerzeit und für den Stadtwerdungsprozeß im<br />
11. und 12. Jahrhundert gewertet. Die daran geäusserte Kritik von Walter<br />
Schlesinger, Edith Ennen und Karl Kroeschell betont, daß <strong>die</strong> Kaufmannsgilde dem<br />
Zweck der Handelsfahrten ge<strong>die</strong>nt, aber keine Ortsgemeinde gebildet habe.<br />
Außerdem sind Quellennachweise für Gilden <strong>die</strong>ser Art nur im Nordwesten Europas<br />
anzutreffen, <strong>so</strong> daß <strong>die</strong> Gildetheorie als generelles Erklärungsmodell für <strong>die</strong><br />
Entwicklung hin zur “Bürgerstadt” ungeeignet erscheint. Mein zusätzlicher<br />
Kritikpunkt richtet sich darauf, daß <strong>die</strong>se Theorie keine Erklärung für <strong>die</strong> Erlangung<br />
persönlicher <strong>Freiheit</strong>srechte der großen Zahl einfacher Stadtbewohner bietet. Denn<br />
selbst wenn <strong>die</strong> in der Gilde vereinigten Fernkaufleute, wie es <strong>die</strong>se Theorie<br />
unterstellt, grundsätzlich persönlich frei gewesen wären, ist damit noch nichts über<br />
den persönlichen Status der anderen Bewohner der Städte ausgesagt. Im übrigen<br />
wissen wir heute viel mehr über <strong>die</strong> Rolle und Bedeutung herrschaftlich abhängiger<br />
und organi<strong>sie</strong>rter Fernkaufleute der frühen Entwicklungsstufe, wie <strong>sie</strong> vor allem in<br />
Verbindung mit den großen Klöstern und Bischofskirchen in Erscheinung traten.<br />
Ein verbindender Ansatzpunkt für Gilde und Gemeinde war aber möglicherweise das<br />
Marktrecht der Ottonen- und frühen Salierzeit, das zur Heranbildung einer<br />
Marktgemeinde mit der Aufsicht über Maße und Gewichte <strong>so</strong>wie der Sicherung des<br />
Marktfriedens beigetragen hat.<br />
2. Gottesfriedenstheorie: Sowohl <strong>die</strong> ältere französische Gottesfriedensbewegung als<br />
auch <strong>die</strong> jüngere städtische Kommunebewegung sind nach Albert Vermeesch<br />
geschworene Einungen gegen Unrecht, herrschaftliche Willkür und Übergriffe<br />
gewesen. Sie hätten nicht den politischen Umsturz, <strong>so</strong>ndern den Frieden im Sinne des<br />
rechtlich abgesicherten Kompromisses angestrebt, wobei <strong>die</strong> gemeinsame<br />
Interessenlage von bischöflichem Stadtherr und Bürgergemeinde postuliert wird.<br />
Schon <strong>die</strong> Vielzahl blutiger Auseinandersetzungen zwischen den angeblichen<br />
Partnern läßt vermuten, daß <strong>die</strong>se Sichtweise recht einseitig ist. Vor allem versäumt<br />
es <strong>die</strong>ser Interpretationsansatz, zu erklären, wie und vor allem warum es zu dem<br />
entscheidenden Umschlag von der kirchlich-herrschaftlich getragenen<br />
Gottesfriedensbewegung auf der Ebene von Diözesen oder kirchlicher
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Zuständigkeiten zu der kommunalen Selbstbestimmungsforderung kam, <strong>die</strong> zwar <strong>die</strong><br />
zentralen Begriffe pax und communio übernahm, aber mit ganz neuem Inhalt füllte.<br />
3. Die dritte große Forschungsrichtung, <strong>die</strong> sich in vier Ansätze gliedern läßt, versucht<br />
<strong>die</strong> Kommune aus älteren Gemeindebildungen herzuleiten. Der eine, nach wie vor<br />
wichtige Ansatz ist dabei <strong>die</strong> schon erwähnte Marktgemeinde, wie <strong>sie</strong> sich seit dem<br />
10./11. Jahrhundert herausgebildet hat. Eben<strong>so</strong> bedeutsam dürfte in vielen Fällen <strong>die</strong><br />
Gerichtsgemeinde gewesen sein, <strong>die</strong> bei aller rechtlichen Zersplitterung innerhalb der<br />
alten Städte oft seit dem späten 10. Jahrhundert in Fällen der Hochgerichtsbarkeit alle<br />
Einwohner eines <strong>so</strong>lchen Gemeinwesens als Gerichtsumstand zusammenrief und<br />
rechtlich zusammenfaßte. Drittens <strong>die</strong> Wehr- oder Verteidigungsgemeinschaft, <strong>die</strong><br />
sich aus den Notwendigkeiten von Mauerbau, Bewachung und<br />
Verteidigungsmaßnahmen ergab. Viertens schließlich <strong>die</strong> Markgenossenschaft oder<br />
Landgemeinde (Nachbarschaft), <strong>die</strong> über Allmendebesitz innerhalb der Stadt<br />
(öffentliche Plätze, Wege und Gebäude) wie außerhalb (Wiesen, Weide und Wälder)<br />
verfügte, deren Nutzung man gemeinschaftlich organi<strong>sie</strong>ren mußte. Die älteren<br />
gemeindlichen Formen wurden und werden z.T. als <strong>so</strong> prägend angesehen, daß <strong>die</strong><br />
kommunale Bewegung des Hochmittelalters nur eine kontinuierliche Fortentwicklung<br />
derselben dargestellt habe. Zweifellos kann man auf einschlägige Beispiele von<br />
Kontinuität verweisen, aber <strong>die</strong> Tatsache, daß sich das abendländische Städtewesen<br />
vom 11. zum 12. Jahrhundert <strong>so</strong> entscheidend verändern und das Bürgertum sich als<br />
eine neben Adel und Kirche neue und selbständige Kraft herausbilden konnte, bleibt<br />
damit ohne Erklärung. Gegenüber einem <strong>so</strong>lchen Interpretationsansatz <strong>so</strong>llte man<br />
bedenken, wie viele gerade der großen Zeitgenossen, angefangen von Petrus Damiani<br />
über Lampert von Hersfeld, Guibert von Nogent, Suger von Saint-Denis, Bernhard<br />
von Clairvaux, Otto von Freising, Johannes von Salisbury bis hin zu Richard von<br />
Devizes, mit einer Mischung aus Erstaunen, Entsetzen und Abscheu auf <strong>die</strong><br />
kommunalen Erhebungen reagiert und <strong>sie</strong> als tiefgreifenden Umbruch empfunden<br />
haben. Man kann auch <strong>die</strong> zahlreichen Reichstagsbeschlüsse und Reichsgesetze ins<br />
Feld führen, <strong>die</strong> gegen <strong>die</strong> Kommune erlassen worden sind, oder auf <strong>die</strong> langen und<br />
blutigen Kämpfe verweisen, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>ser Sache be<strong>so</strong>nders in Oberitalien,<br />
Nordfrankreich und Flandern geführt wurden. Aber in jüngerer Zeitist nun einmal das<br />
Pendel in Richtung Fortentwicklungsdeutung umgeschlagen. Hier besteht nun<br />
umgekehrt <strong>die</strong> Gefahr, daß der entscheidende Neuansatz und <strong>die</strong> wesentliche<br />
stadtgeschichtliche Trendwende zugedeckt und als <strong>so</strong>lche gar nicht mehr adäquat<br />
begriffen werden. Zwar ist <strong>die</strong> Vorstellung von einem revolutionären Umsturz zu<br />
Recht kriti<strong>sie</strong>rt worden, weil <strong>die</strong> Stadtwerdung im rechtlichen und politischen Sinne<br />
tatsächlich in einem evolutionären Prozeß von meist einhundert- bis<br />
einhundertfünfzig-jähriger Dauer stattgefunden hat, aber dennoch ist bis in <strong>die</strong><br />
Gegenwart hinein unübersehbar, daß es sich dabei nicht um eine normale oder<br />
gleichsam natürliche Fortentwicklung gehandelt hat, <strong>so</strong>ndern daß ein neues<br />
politisches Selbstverständnis einer stadtbürgerlichen Gesellschaft sich gegen manche<br />
Widerstände Raum und Geltung verschafft hat.<br />
III. Neue Formen und neue Inhalte
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Die neuen Elemente, <strong>die</strong> dabei zum Durchbruch gelangten, <strong>so</strong>llen unter fünf Aspekten<br />
erfaßt werden, ohne damit Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.<br />
1. Öffentlichkeit<br />
Als erster Punkt sei <strong>die</strong> Öffentlichkeit hervorgehoben, in der sich nunmehr <strong>die</strong> politischen<br />
Auseinandersetzungen vollzogen. Während des Investiturstreits war in Oberitalien seit<br />
den 1050er Jahren, in Deutschland seit den 1070er Jahren über <strong>die</strong> Frage der Reform des<br />
Papsttums und der Kirche <strong>so</strong>wie über den Anteil des Laienelementes daran eine<br />
öffentliche Diskussion von <strong>so</strong> großer Polemik und Schärfe ausgebrochen, daß sich keiner<br />
<strong>die</strong>sen Fragen entziehen oder den Parteien gegenüber neutral verhalten konnte. In<br />
Mailand und in einigen anderen oberitalienischen Städten wurden im Zuge der<br />
Kirchenreform heftige Kämpfe um <strong>die</strong> Einhaltung des Zölibats durch den Klerus <strong>so</strong>wie<br />
um <strong>die</strong> Vergabe geistlicher Ämter und Würden ohne Geldzahlungen und ohne<br />
Einflußnahme von Adelsfamilien bzw. des Königtums handgreiflich auf offener Straße,<br />
ja <strong>so</strong>gar in Kirchen ausgetragen. Damit war nicht nur eine Autoritätskrise der bisherigen<br />
Elite, al<strong>so</strong> des hohen Klerus und großer Teile des Stadtadels, verbunden, <strong>so</strong>ndern es<br />
entwickelten sich auch neue Formen der Meinungs- und Willensbildung auf den als<br />
parlamentum bezeichneten Bürgerversammlungen, <strong>die</strong> letztlich zur Entstehung der<br />
Stadtgemeinde als communitas wesentlich beitrugen.<br />
In Deutschland kam es Mitte der 1070er Jahre zu einem schweren Konflikt zwischen<br />
Papsttum und Kaisertum, der mit der vom Papst erhobenen Forderung nach Suprematie<br />
und auch weltlicher Herrschaft rasch einen <strong>so</strong> grundsätzlichen Charakter annahm, daß<br />
nicht nur <strong>die</strong> Reichsfürsten Entscheidungen treffen mußten, <strong>so</strong>ndern <strong>die</strong> durch heftige<br />
Polemik und Emotionalität geprägte Diskussion in der Öffentlichkeit auch <strong>die</strong> Bewohner<br />
wichtiger Bischofs- und Königsstädte zu eigenem Handeln und zu Aufständen<br />
veranlaßte. Zugleich erkannten und nutzten <strong>sie</strong> ihre Chance, sich mit königlicher<br />
Zustimmung selbständig zu organi<strong>sie</strong>ren und erstmals gemeinsam politisch zu handeln,<br />
wie es be<strong>so</strong>nders in den rheinischen Bischofsstädten Worms, Köln und Mainz geschah,<br />
<strong>die</strong> coniurationes gegen den bischöflichen Stadtherrn und für den König abschlossen.<br />
2. Legitimation und Wahlgedanke<br />
Bei <strong>die</strong>sen Auseinandersetzungen rückte immer stärker <strong>die</strong> Frage nach der<br />
Herrschaftslegitimation und damit zugleich <strong>die</strong> Wahlfrage in den Vordergrund. Aus<br />
stadtgeschichtlicher Perspektive war erst einmal <strong>die</strong> Frage der Bischofswahl von größerer<br />
Brisanz. Wer hatte eigentlich das Recht, den bischöflichen Stadtherrn zu wählen, und von<br />
wem empfing <strong>die</strong>ser seine Kompetenzen, <strong>die</strong> ja zugleich geistlicher und weltlicher Natur<br />
waren ? Die im Grundsatz schon bekannte Antwort, daß nämlich Klerus und Volk<br />
gemeinsam dafür zuständig seien, half in der konkreten Entscheidungssituation wenig<br />
weiter, denn zumindest drei Fragen b<strong>lieben</strong> dabei unentschieden. Erstens nämlich: Wie<br />
war <strong>die</strong> Rolle des Königs in <strong>die</strong>sem Zusammenhang, von dem der Bischof zwar nicht<br />
sein geistliches Amt, wohl aber <strong>die</strong> Fülle der Rechtstitel und Besitzungen einschließlich<br />
der Stadtherrschaft erhielt ? Zweitens: Wie weit war der Begriff des Klerus zu fassen ?<br />
Betraf er nur <strong>die</strong> hohe Stiftsgeistlichkeit mit dem Domklerus an der Spitze, oder auch <strong>die</strong><br />
Vertreter der anderen Kirchen und Klöster der Stadt oder gar der Diözese ? Drittens<br />
schließlich: Wer war das Volk, und was war seine Funktion bei der Bischofswahl ? Nur<br />
der Jubel und Applaus bei der Mitteilung des Wahlergebnisses, oder aber <strong>die</strong> Mitwirkung
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bei der Auswahl der Kandidaten oder gar <strong>die</strong> Aushandlung eines gewissen politischen<br />
Programms ? Mochte man <strong>die</strong>se Form der Mitwirkung noch für den Lehnsadel<br />
akzeptieren, der ja schließlich <strong>die</strong> Herrschaft des Bischofs stützen und tragen mußte, <strong>so</strong><br />
galt <strong>die</strong>s schon viel weniger für <strong>die</strong> einfache Vasallität von Rittertum und Ministerialität,<br />
<strong>die</strong> allerdings <strong>die</strong> konkreten herrschaftlichen, wirtschaftlichen und militärischen<br />
Funktionen wahrzunehmen hatten. Stellten <strong>sie</strong> schon einen wichtigen Teil der<br />
Stadtbewohner dar, <strong>so</strong> schien <strong>die</strong> Frage, ob denn <strong>die</strong> einfachen Bewohner der Städte auch<br />
ein Wort mitzureden hätten, erst einmal absurd, erlangte aber bald, wenn auch nicht auf<br />
Dauer, eine nie offiziell bestätigte Normalität. Jedenfalls kam es immer häufiger zu<br />
Bischofswahlen mit turbulentem Geschehnisablauf und offen geübter – oder zumindest<br />
versuchter - Einflußnahme von verschiedenen Seiten. Ob in Mailand oder Cambrai, in<br />
Mainz oder in Trier, Vorgänge <strong>die</strong>ser Art sind seit dem späten 11. Jahrhundert reichlich<br />
zu verzeichnen. Die Wahl des Erzbischofs Albero von Trier im Jahre 1131 ist ein<br />
aufschlußreiches Beispiel für <strong>die</strong> angedeutete Gesamtproblematik. Denn hier spielten<br />
nicht nur <strong>die</strong> hohe Geistlichkeit und der König eine umstrittene Rolle; vielmehr griff<br />
unter der Führung des Burggrafen Ludwig von der Brücke <strong>die</strong> stadtgesessene ritterliche<br />
Ministerialität - gemeinsam mit den nun auch als Bürger bezeichneten und organi<strong>sie</strong>rten<br />
Stadtbewohnern - tatkräftig in <strong>die</strong> Geschehnisse ein und versuchte <strong>die</strong> Entscheidungen,<br />
zumindest was <strong>die</strong> weltlichen Kompetenzen des künftigen Stadtherrn anbelangte, in<br />
ihrem Sinne zu regeln.<br />
Noch spektakulärer und bedeutender ist zweifellos das Auftreten der Städte von Flandern,<br />
be<strong>so</strong>nders der Bürgergemeinden von Brügge und Gent, <strong>die</strong> anläßlich der Erhebung des<br />
neuen Grafen von Flandern durch den König von Frankreich 1127 zu gemeinsam<br />
beschworenen Aktionen zusammenfanden, <strong>die</strong> Legitimationsfrage des künftigen Grafen<br />
aufwarfen und <strong>sie</strong> weitgehend zu ihren Gunsten entschieden. Denn <strong>sie</strong> erklärten nach<br />
dem Bericht des “Reporters” <strong>die</strong>ser Ereignisse, Galbert von Brügge, daß <strong>die</strong> potestas<br />
eligendi, al<strong>so</strong> das Wahlrecht, und <strong>die</strong> libertas sublimandi, al<strong>so</strong> <strong>die</strong> Berechtigung und<br />
<strong>Freiheit</strong> zur Amtserhebung, ausschließlich den Großen des Landes und den Städten (den<br />
Bürgern) – und nicht dem König von Frankreich - zukomme.<br />
Noch weiter gingen <strong>die</strong> Römer, wenn <strong>sie</strong> um 1150 unter Berufung auf antike Vorbilder<br />
und unter Gleichsetzung der Stadtbewohner Roms mit dem populus Romanus <strong>so</strong>gar das<br />
Recht der Kaiserwahl und -krönung für sich beanspruchten: “Von wem denn <strong>so</strong>nst als<br />
vom römischen Volk empfängt der Kaiser seine Krone, Herrschaft und Gewalt ?” – <strong>so</strong><br />
formulierten <strong>sie</strong> provokativ ihren Anspruch.<br />
3. Politische Selbstbestimmung<br />
Seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts ging es den Kommunen immer deutlicher um <strong>die</strong><br />
Erlangung und Sicherung politischer Mitspracherechte durch <strong>die</strong> erstarkten<br />
Bürgergemeinden bzw. deren Vertreter. Für den eigenen städtischen Bereich allerdings<br />
strebten <strong>die</strong> großen Kommunen letzten Endes, wie bereits erwähnt wurde, durchaus <strong>die</strong><br />
autonome Regierung des Gemeinwesens an. Es geht dabei al<strong>so</strong> nicht um städtische<br />
Selbstverwaltung nach dem Muster der Steinschen Städteordnung des 19. Jahrhunderts,<br />
wie es in den meisten stadtgeschichtlichen Darstellungen heißt. Die letztlich angestrebte<br />
politische Selbstbestimmung mit eigener Außenpolitik, Gerichts-, Finanz- und<br />
Wehrhoheit haben viele mittelalterliche Städte allerdings nicht vollständig erreicht, <strong>so</strong>
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daß man jeden Einzelfall näher betrachten und differenzieren muß. Aber <strong>die</strong> großen<br />
Städte und Städteregionen, <strong>die</strong> zu Recht im Vordergrund der Diskussion stehen, haben<br />
sich <strong>die</strong>sem politischen Ideal doch stark angenähert und damit <strong>die</strong> Maßstäbe für ihr<br />
eigenes Handeln und auch für bescheidenere Bemühungen stärker herrschaftlich<br />
geprägter Städteregionen gesetzt. Benachbarte Kommunen haben sich gegenseitig<br />
erkennbar in ihrer Entwicklung angespornt und bei aller Rivalität vielfach auch direkt<br />
oder indirekt gestützt. Wie es be<strong>so</strong>nders <strong>die</strong> Beispiele der Städte Flanderns (1127/28) und<br />
des Lombardischen Städtebundes (1167-1177) zeigen, wurden zumindest bei äußerer<br />
Bedrohung <strong>die</strong> Bemühungen <strong>so</strong> koordiniert, daß ein abgestimmtes Handeln als<br />
Städtebund mit einer gemeinsamen Verfassung zustande kam. Auch andere<br />
Städteregionen lassen ähnliche Entwicklungen erkennen, etwa frühzeitig der Maasraum<br />
mit Lüttich an der Spitze um 1230, oder in Deutschland der große Rheinische Städtebund<br />
(1254/57) und später in gewisser Weise auch <strong>die</strong> Hanse. Aber letztlich blieb doch <strong>die</strong><br />
autonome Einzelstadt das Grundprinzip und das Kernziel der kommunalen Bestrebungen,<br />
<strong>so</strong> daß <strong>die</strong> Konsequenz der I<strong>so</strong>lierung, der Kirchturmpolitik und des Scheiterns<br />
vorgezeichnet war. Jedenfalls vermittelte <strong>die</strong> städtische Entwicklung für sich keine<br />
Perspektiven in Richtung auf ein bürgerliches Staatswesen. (Die bemerkenswerten<br />
Ausnahmen stellen allein <strong>die</strong> Schweiz und <strong>die</strong> Niederlande dar.)<br />
Ausgeübt wurde <strong>die</strong> Stadtregierung durch den Bürgermeister und den Stadtrat, al<strong>so</strong> das<br />
Konsulat, das im Prinzip jährlich neu aus dem Kreise der Bürger zu bestellen war.<br />
Wiederum im Prinzip geschah <strong>die</strong>s durch Wahlen, allerdings nicht unbedingt direkter und<br />
allgemeiner Art. Die Herausbildung einer Führungsschicht und <strong>die</strong> Kooptation des<br />
Stadtrates entsprachen durchaus dem politischen Selbstverständnis. Die Stadtregierung<br />
bezog allerdings ihre Legitimation von der communitas bzw. universitas civium, al<strong>so</strong> der<br />
Bürgergemeinde, in deren Auftrag und in deren Namen <strong>sie</strong> handelte, wie es <strong>die</strong><br />
Ratsurteile, Urkunden und das Stadt<strong>sie</strong>gel immer wieder klar zum Ausdruck bringen.<br />
Selbst dort, wo es vom Stadt- bzw. Landesherrn genehmigte und auf ihn vereidigte<br />
Schultheissen mit auf Lebenszeit bestellten Schöffenkollegien an ihrer Seite gab, ist<br />
tendenziell ein Entwicklungsprozeß hin zur autonomen Stadtregierung zu beobachten.<br />
Auch wenn damit das Spektrum der frühen Formen von bürgerlicher Selbstbestimmung<br />
bei weitem nicht erfaßt ist, <strong>so</strong> wird doch überall der Grundgedanke des<br />
Emanzipatorischen sichtbar.<br />
4. Die persönliche <strong>Freiheit</strong> des Bürgers<br />
Die sich politisch selbst bestimmende Stadt beruhte auf der individuellen <strong>Freiheit</strong> ihrer<br />
Bürger. Nun war <strong>die</strong>se Voraussetzung in vielen Fällen ursprünglich nicht gegeben;<br />
vielmehr hat in einem langgestreckten und komplizierten Prozeß eine in Etappen erfolgte<br />
Lösung aus Bindungen und Abhängigkeiten stattgefunden, <strong>die</strong> allgemeiner bekannt in<br />
dem Rechtssatz gipfelte: “Stadtluft macht frei über Jahr und Tag”. Damit sind <strong>die</strong><br />
grundherrschaftlich abhängigen bäuerlichen Hintersassen gemeint, <strong>die</strong> während des<br />
Urbani<strong>sie</strong>rungsprozesses vor allem im 12./13. Jahrhundert als Zuzügler in <strong>die</strong> Städte<br />
kamen und nach Ablauf einer Frist von 366 Tagen (Jahr und Tag) von dem Herrn, dem<br />
<strong>sie</strong> ursprünglich gehörten, nicht mehr zurückgefordert werden konnten (Verjährungsfrist),<br />
<strong>so</strong>ndern als freie Bürger den Schutz der Stadt genossen. Nun ist mit <strong>die</strong>ser rechtlichen<br />
Regelung nur eine Möglichkeit der Abstreifung von Bindungen angesprochen. Anders<br />
stellt sich <strong>die</strong> Frage für <strong>die</strong> Bewohner der Städte selbst, <strong>die</strong> ebenfalls von kirchlichen oder
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weltlichen Grundherren, bzw. von dem Bischof als Stadtherrn, rechtlich abhängig waren.<br />
Erst im Laufe einer in den letzten dreißig Jahren intensiv geführten Diskussion hat sich in<br />
der Forschung ein Konsens darüber ausgebildet, daß <strong>die</strong> meisten Bewohner der<br />
nordeuropöischen Städte bis weit in das 12., zum Teil <strong>so</strong>gar in das 13. Jahrhundert hinein,<br />
unfrei bzw. hofrechtlich gebunden waren, und daß der stufenweise Ablösungsprozeß ein<br />
wesentliches Element der Stadtwerdung selbst dargestellt habe; mit anderen Worten, in<br />
dem Maße, in dem es den Bewohnern der frühen Städte gelang, persönliche Bindungen<br />
abzustreifen und sich wirtschaftlich und rechtlich selbständiger zu entfalten, erfolgte eine<br />
Entwicklung hin zu einer Bürgergemeinde. Denn der Maßstab wird immer weniger <strong>die</strong><br />
unfreie Geburt bzw. <strong>die</strong> rechtliche Abhängigkeit, <strong>so</strong>ndern immer stärker <strong>die</strong> selbständige<br />
berufliche Tätigkeit und städtische Lebensform, was darauf hinausläuft, daß ein für alle<br />
in gleicher Weise gültiges Stadtrecht verbindlich wird.<br />
Die Etappen, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>sem Weg zurückzulegen waren, lassen sich be<strong>so</strong>nders klar für <strong>die</strong><br />
im Mittelalter bedeutende Stadt Worms nachzeichnen. Mit dem Wormser Hofrecht von<br />
1023/25 werden <strong>die</strong> unterschiedlichen Formen der Abhängigkeit, denen verschiedene<br />
Per<strong>so</strong>nengruppen in der Stadt unterlagen, für uns faßbar. Zeitlich parallel dazu hatte sich<br />
ein <strong>so</strong>genanntes Zensualenrecht ausgebildet, das dem Betroffenen bei Zahlung eines<br />
jährlichen Kopfzinses, von Ehe- und Erbabgaben und bei Beachtung der grundherrlichen<br />
Gerichtszuständigkeit eine wirtschaftlich selbständige Entfaltung ermöglichte. Die um<br />
<strong>die</strong> Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert als immer drückender empfundenen<br />
eherechtlichen und erbrechtlichen Forderungen wurden für Worms durch ein berühmt<br />
gewordenes kaiserliches Privileg 1114 aufgehoben, was letztlich Mitte der 80er Jahre des<br />
12. Jahrhunderts zur Auflösung der letzten zensualischen Abgaben und Bindungen führte.<br />
Dieses Datum ist noch vergleichsweise früh; in anderen Fällen hat sich der<br />
Ablösungsprozeß länger hingezogen, zum Teil bis zum Ende des Ancien Régime.<br />
5. Stadtprivilegien und Stadtrechte<br />
Stabilität, Dauer und Bestand erhielt <strong>die</strong>ses sich neu formierende Gebilde “Stadt” erst<br />
durch <strong>die</strong> Erlangung von Privilegien und Stadtrechten, möglichst von Hoheitsrechten wie<br />
Marktaufsicht, Münze, Zoll und Wehrhoheit, von denen <strong>die</strong> eigene Hochgerichtsbarkeit<br />
<strong>die</strong> höchste, zum Teil nie erlangte Stufe darstellte. Diese Urkunden waren <strong>so</strong>zusagen <strong>die</strong><br />
andere Seite der Legitimation, <strong>die</strong> herrschaftliche Anerkennung und Bestätigung,<br />
möglichst von königlich-kaiserlicher Seite, <strong>die</strong> immer wieder neu errungen und bezahlt<br />
werden mußte. Dabei galt es Krisen- und Spannungszeiten, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> städtischen<br />
Bemühungen vorteilhaft sein konnten, diplomatisch geschickt zu nutzen, wie es mit dem<br />
Hinweis auf den Thronstreit (1198-1214) und das Interregnum (1254-1273) schon<br />
angedeutet wurde. Andere Voraussetzungen bestanden bei den von landesherrlicher Seite<br />
vorgenommenen städtischen Neugründungen, <strong>die</strong> nur bei einer entsprechenden<br />
Rechtsausstattung wirtschaftlich florierende Zentren des Herrschaftsraumes werden<br />
konnten. Jedenfalls haben wir mit dem berühmten Stadtrecht, das <strong>die</strong> Herzöge von<br />
Zähringen der 1120 neu gegründeten Stadt Freiburg im Breisgau verliehen, ein <strong>so</strong>lches<br />
Beispiel, das Schule machte und in abgewandelter Gestalt an Städte des südlichen<br />
Schwarzwalds und der Nordschweiz weitergegeben wurde, was zur Bildung einer<br />
<strong>so</strong>genannten Stadtrechtsfamilie führte. Noch berühmter in <strong>die</strong>ser Hinsicht ist vielleicht<br />
das Lübecker Stadtrecht, das Heinrich der Löwe <strong>die</strong>ser Stadt anläßlich der Neugründung<br />
von 1159 konze<strong>die</strong>rte. Es wurde von den Kaisern Friedrich Barbarossa und Friedrich II.
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in erweiterter Gestalt bestätigt und <strong>die</strong>nte späterhin dem großen Hanseraum als Muster<br />
und Orientierungsmaßstab.<br />
Die Hochschätzung, ja geradezu Verehrung, <strong>die</strong> man <strong>die</strong>sen Urkunden entgegenbrachte,<br />
hat sich in Resten wohl bis in <strong>die</strong> Gegenwart erhalten. <strong>Das</strong> Selbstbewußtsein einer Stadt<br />
und Bürgergemeinde kommt in gewisser Weise auch heute noch in der Sammlung und<br />
Präsentation ihrer alten Stadtrechtsurkunden zum Ausdruck.<br />
Natürlich gibt es auch bedeutende Städte, deren frühe Entwicklung wir nur mühsam<br />
rekonstruieren können, und umgekehrte “blinde” oder weitgehend unwirksame<br />
Stadtrechtsurkunden, <strong>die</strong> mehr eine Absicht als <strong>die</strong> Realität widerspiegeln. Abgesehen<br />
von dem politischen Willen auf beiden Seiten, al<strong>so</strong> des landesherrlichen Stadtgründers<br />
bzw. des stadtherrlichen Förderers einerseits und einer bürgerlichen Führungsgruppe<br />
andererseits, mußten <strong>die</strong> Rahmenbedingungen stimmen, um den Erfolg im Sinne des<br />
Bedeutungszuwachses zu gewährleisten. Erst einmal natürlich der Bevölkerungszustrom,<br />
gegebenenfalls über Anwerbungsmaßnahmen, <strong>so</strong>dann <strong>die</strong> verkehrsgeographische und<br />
handelspolitische Einbindung <strong>so</strong>wie <strong>die</strong> wirtschaftlichen Voraussetzungen, <strong>die</strong> teils vom<br />
Umland her vorgegeben waren, teils planmäßig geschaffen werden mußten, und <strong>die</strong><br />
infrastrukturellen Bedingungen einschließlich der Verteidigungsfähigkeit. Mochte in der<br />
frühen Entwicklungs- bzw. in der Gründungsphase der Städte der Stadt- bzw. Landesherr<br />
noch verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich gewesen sein, <strong>so</strong> übernahmen seit<br />
dem 13. Jahrhundert <strong>die</strong> Bürger selbst immer stärker <strong>die</strong>se Zuständigkeit.<br />
IV. Die politische Führungsschicht und <strong>die</strong> Rolle der Gemeinde<br />
Abschließend drängt sich <strong>die</strong> Frage nach der Herkunft, der Zusammensetzung und dem<br />
Charakter <strong>die</strong>ser städtischen Führungsschicht auf und ist, wie man sich leicht denken<br />
kann, eines der großen, auch kontroversen Themen der mittelalterlichen Sozialgeschichte<br />
überhaupt. <strong>Das</strong> Verständnis für den tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft und<br />
Wirtschaft hängt nicht zuletzt von der Erfassung und Einschätzung <strong>die</strong>ser<br />
Führungsschicht ab. Fragt man nach den Köpfen und Repräsentanten der kommunalen<br />
Bewegung <strong>so</strong>wie der ersten Bürgerausschüsse in den frühen Stadtgemeinden, <strong>so</strong> ist <strong>die</strong><br />
Tatsache bemerkenswert, daß in relativ vielen Städten – auch unterschiedlicher<br />
europäischer Länder und Regionen – anfangs eine Führungsschicht hervortrat, <strong>die</strong> nicht<br />
<strong>so</strong> <strong>sehr</strong> dem lange von der Forschung beschworenen Typ des Fernkaufmanns entsprach<br />
(den es selbstverständlich auch und in wichtiger Funktion gab), <strong>so</strong>ndern zwar einen<br />
bürgerlichen, aber dabei zugleich ritterlichen Charakter aufwies. Für Italien, <strong>so</strong>zusagen<br />
das Mutterland der bürgerlichen Autonomie und <strong>Freiheit</strong>, ist <strong>die</strong>se Vorstellung von einem<br />
bürgerlichen Stadtadel durchaus vertraut. Für Deutschland und Nordfrankreich bis hin<br />
nach England muß man dabei an <strong>die</strong> stadtgesessenen Ministerialen und herrschaftlichen<br />
Amtsträger denken, deren später bürgerliche Führungsrolle darin begründet war, daß <strong>sie</strong><br />
abgesehen von der ritterlich-militärischen Funktion von vornherein in Verbindung zur<br />
Politik, Verwaltung und Gerichtsbarkeit der Stadt und zu deren Geld- und Kreditwesen<br />
stand. Hinzu trat häufig der ihre Stellung mitbestimmende Faktor des Eigentums an<br />
Grund und Boden im zentralen Bereich der Stadt, al<strong>so</strong> der Status als erblicher<br />
Grundbesitzer (vir hereditarius). Es ist ein zum Teil spannender Vorgang, wie <strong>die</strong>se<br />
Führungsschicht, <strong>die</strong> ja häufig von Hause aus herrschaftliche Ämter ausübte und Lehen<br />
innehatte (Dienstlehen), sich in gewisser Weise verselbständigte und an <strong>die</strong> Spitze des
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erst im Entstehen begriffenen Gemeinwesens trat, ja der Entwicklung <strong>die</strong> Richtung wies.<br />
Auch <strong>die</strong> Mitglieder der Kölner Führungsschicht und der bekannten Richerzeche, <strong>die</strong><br />
lange für <strong>die</strong> Theorie der Gilde und <strong>die</strong> Rolle der Fernkaufleute als Paradebeispiel<br />
<strong>die</strong>nten, entsprechen <strong>die</strong>sem bürgerlich-ministerialisch-ritterlichen Typ.<br />
Angesichts der viel schlechteren Quellenvoraussetzungen ist das mittlere Bürgertum der<br />
Handwerker und einfachen Gewerbetreibenden, <strong>die</strong> dem Prozeß der Kommunali<strong>sie</strong>rung<br />
und Stadtwerdung erst <strong>die</strong> Durchschlagskraft und Stabilität verliehen, im Vergleich zu<br />
seiner Bedeutung zu wenig beachtet worden. Gewiß bietet beispielsweise das eingangs<br />
angeführte Zitat von Otto von Freising einen Hinweis auf <strong>die</strong> wichtige Rolle der<br />
Handwerker in den oberitalienischen Städten. Auch treten in urkundlichen und<br />
chronikalischen Zeugnissen vieler Städte Nordeuropas von der Themse über Flandern bis<br />
an den Oberrhein interessante Hinweise auf organi<strong>sie</strong>rte Handwerkergruppen schon aus<br />
dem 12. Jahrhundert entgegen, aber als selbständige gesellschaftliche und politische Kraft<br />
werden <strong>sie</strong> doch meist erst für das späte 13. und für das 14. Jahrhundert themati<strong>sie</strong>rt. Dies<br />
ist, wie gesagt, quellenbedingt auch verständlich, aber, wie erwähnt, auch<br />
ergänzungsbedürftig. Denn <strong>die</strong>se Schicht war zumindest bis zur Mitte des 13.<br />
Jahrhunderts kaum direkt an dem Rat der Stadt beteiligt, aber <strong>sie</strong> stellte <strong>die</strong> Grundlage<br />
dar, auf der bürgerlicher Gemeinsinn und Eigenverantwortlichkeit beruhten.<br />
Gegenüber der Tendenz zur Abschließung der frühen Führungsschicht zu einem<br />
oligarchisch-elitären Kreis von Ratsgeschlechtern kam es schon bald zu mehr oder<br />
weniger heftigen Gegenbewegungen, <strong>die</strong> uns <strong>die</strong> Spannung zwischen den<br />
gesellschaftlichen Gruppierungen innerhalb der Stadt verdeutlichen. Dabei denkt man<br />
häufig erst an <strong>die</strong> spätmittelalterliche Zunftbewegung, aber bei genauerem Hinsehen<br />
lassen sich schon für <strong>die</strong> Zeit um 1200 und 1250 innerstädtische Konflikte nachweisen,<br />
<strong>die</strong> sich auf den kommunalen Gedanken beriefen und entsprechende politische<br />
Korrekturen einforderten. Die Modifikationen, <strong>die</strong> dabei im Wahlverfahren und in den<br />
Kontrollmechanismen gegenüber den Ratsentscheidungen vorgenommen wurden, lassen<br />
zugleich <strong>die</strong> Lebendigkeit der kommunalen Idee erkennen. Dabei erstrebte man vielfach<br />
gar keine gleichberechtigte Vertretung aller wichtigeren Bevölkerungsgruppen, wohl aber<br />
eine Überprüfbarkeit der politischen Entscheidungen und einen gewissen per<strong>so</strong>nellen<br />
Wechsel. Auch hier ist der Hinweis auf <strong>die</strong> nicht vorhandene Demokratie und auf <strong>die</strong><br />
angeblichen mittelalterlichen Defizite, wie in vielen anderen Punkten, völlig<br />
unangemessen. Ob in Köln, Bremen oder Lübeck, in Dortmund, Soest oder Wetzlar, in<br />
Freiburg im Breisgau, Basel oder Regensburg, in all <strong>die</strong>sen Städten wurden um 1250/60<br />
nach Protesten des mittleren Bürgertums Kontrollmechanismen gegenüber der<br />
Verselbständigung des Rates und seiner Entscheidungen eingeführt, deren<br />
Gemeinsamkeit in der erneut betonten Bezugnahme auf <strong>die</strong> Stadtgemeinde bestand. Die<br />
innerstädtischen Konflikte, <strong>die</strong> seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert und im<br />
Laufe des 14. Jahrhunderts ausgetragen wurden und in vielen Städten den Zünften eine<br />
Beteiligung am Stadtregiment verschafften, können hier nur andeutungsweise erwähnt<br />
werden, gehören aber im weiteren Sinne in <strong>die</strong>sen thematischen Zusammenhang.<br />
V. Die Kommunebildung im europäischen Vergleich<br />
Fragen wir schließlich nach der räumlichen und zeitlichen Verbreitung des Bürgertums<br />
im abendländischen Maßstab, wie es im Hochmittelalter entstand. Die Spanne, in der sich
<strong>die</strong>ser Prozeß bis zur Ausbildung der Ratsverfassung vollzog, reichte von etwa 1050 bis<br />
mindestens 1250. Die Vorreiterrolle hatte dabei Italien, genauer gesagt Oberitalien, noch<br />
genauer Mailand/Cremona. Für Mailand sind drei Etappen (von 1035 bis 1050, von 1056<br />
bis 1075 und von 1075 bis 1117) zu unterscheiden, bevor erstmals 1117 Konsuln als<br />
Wortführer und Repräsentanten der Stadt und ansatzweise auch schon ihres Umlandes<br />
hervortraten. Es läßt sich eine grobe Gliederung Italiens in drei Städteregionen<br />
vornehmen, wie <strong>sie</strong> in gewisser Weise auch heute noch zu erkennen ist. Oberitalien trat,<br />
wie gesagt, am frühesten und selbständigsten hervor und demonstrierte 1167 mit der<br />
Lega Lombarda seine inzwischen erlangte Macht und politische Autonomie. Bis heute ist<br />
<strong>die</strong>se Städtelandschaft das Wirtschaftszentrum Italiens geb<strong>lieben</strong>.<br />
Die zweite Region, in der auch frühzeitig eine kommunale Bewegung und vor allem<br />
Privilegierung mit der Gewährung des Konsulats um 1100 zu verzeichnen ist, umfaßt<br />
Mittelitalien von den Apenninen bis Rom. Verzögert, nämlich um 1150, erreicht, wie<br />
erwähnt, <strong>die</strong>ser Prozeß auch Rom, um hier, gekoppelt mit religiöser Radikalkritik eines<br />
Arnold von Brescia, in einen heftigen Grundsatzstreit mit dem Papsttum einzumünden.<br />
Erstmals wird nun auch auf politischer Ebene der Gedanke der Wiedergeburt des antiken<br />
Rom auf <strong>die</strong> Stadt und ihren neuen Senat an der Spitze angewandt. Ihre bedeutendste<br />
Entfaltung hat <strong>die</strong>se heute <strong>so</strong> geschätzte toskanisch-mittelitalienische Städtelandschaft<br />
mit der Wirtschaftsblüte und “Kultur der Renaissance” im 14./15. Jahrhundert erreicht,<br />
wobei <strong>die</strong> politische Gestalt ihrer Stadtstaaten <strong>die</strong> Verfassung von Signorien annahm.<br />
Die dritte Region, <strong>die</strong> nach <strong>die</strong>ser Gliederung südlich von Rom beginnt, war durch das<br />
normannisch-staufisch-angiovinisch-katalanische Königreich Sizilien stärker<br />
herrschaftlich geprägt und kannte <strong>so</strong> gut wie keine Kommunen, was sich in der Gestalt<br />
der Städte und der Wirtschaft <strong>die</strong>ses Raums in gewisser Weise bis heute widerspiegelt.<br />
Zeitlich an zweiter Stelle ist <strong>die</strong> französische Stadtentwicklung zu nennen, mit dem ersten<br />
Höhepunkt der Kommunebewegung in den Jahren von 1070 bis 1120 im Norden.<br />
Ähnlich wie in Italien ist auch hier eine Dreigliederung erkennbar. Erstens <strong>die</strong> zuvor<br />
erwähnte Städtegruppe nördlich und nordöstlich von Paris, <strong>die</strong> durch frühe und heftige<br />
kommunale Auseinandersetzungen geprägt wurde; zweitens <strong>so</strong>dann <strong>die</strong> vom Königtum<br />
bestimmte und privilegierte Städtegruppe der Mitte und schließlich der Süden, <strong>die</strong><br />
Provence und das Languedoc, der sich erst um <strong>die</strong> Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert<br />
kommunal verselbständigte, aber im Zuge der Albigenserkriege letztlich durch Karl von<br />
Anjou bald nach 1250 wieder stärker herrschaftlich eingebunden wurde.<br />
Für Deutschland als dritte Großregion ist eine andere, nämlich chronologische statt<br />
geographische Gliederung naheliegend, obwohl auch hier <strong>die</strong> Geographie eine wichtige,<br />
wenn auch schwerer nachzuzeichnende Rolle spielt. An erster Stelle sind hier <strong>die</strong> alten,<br />
gewachsenen oder <strong>so</strong>g. Mutterstädte mit spätantiken oder spätestens ottonischen<br />
Anfängen zu nennen, vorrangig <strong>die</strong> Bischofsstädte an Rhein und Donau, <strong>die</strong> seit den<br />
1070er Jahren an <strong>die</strong> Spitze der kommunalen Bewegung traten und um 1200 als erste<br />
eine Ratsverfassung erlangten. Die zweite große Gruppe umfaßt <strong>die</strong> frühen städtischen<br />
Neugründungen be<strong>so</strong>nders der Zähringer und Staufer im Südwesten <strong>so</strong>wie der Welfen,<br />
Wettiner und Askanier im Nordosten. Diese Bewegung setzte etwa 1120 ein und<br />
erreichte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Dabei ist <strong>die</strong><br />
Ausstattung mit großzügigen Privilegien, be<strong>so</strong>nders durch <strong>die</strong> Zähringer und Welfen,<br />
hervorzuheben, <strong>die</strong> im Südwesten in <strong>die</strong> Schweiz und im Nordosten in <strong>die</strong> Weite des<br />
Hanseraumes ausstrahlte. Die dritte und wohl größte Gruppe sind jedoch <strong>die</strong><br />
12
13<br />
Territorialstädte, <strong>die</strong> nie ganz aus der herrschaftlichen Bindung entlassen wurden und oft<br />
auch hinsichtlich der persönlichen <strong>Freiheit</strong>srechte weiterhin Beschränkungen unterlagen.<br />
Der vierte städtische Großraum ist der zweigegliederte europäische Nordwesten, d.h. <strong>die</strong><br />
herausragende Städteregion Flanderns (Hennegau, Brabant, Niederlande) <strong>so</strong>wie <strong>die</strong><br />
Städte Südenglands. Flandern, das seit der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert rasch an<br />
Bedeutung gewann, hatte, wie es <strong>die</strong> Konflikte um <strong>die</strong> Nachfolge des ermordeten Grafen<br />
von Flandern 1127/28 zeigten, ein wirtschaftlich <strong>so</strong> starkes und politisch <strong>so</strong><br />
selbstbewußtes Bürgertum hervorgebracht, daß <strong>die</strong>ses auf den Verlauf der Ereignisse und<br />
<strong>die</strong> Entscheidungen einen bestimmenden Einfluß ausübte. Auch wenn sich <strong>die</strong>ser Raum<br />
erst seit der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert endgültig als Städtelandschaft<br />
formierte, <strong>so</strong> ist das Mitwirkungsrecht der Bürger im Rahmen der Grafschaft und nicht<br />
nur einer einzelnen Stadt schon seit dem frühen 12. Jahrhundert faßbar und steigerte sich<br />
seit dem späten 13. Jahrhundert zur Dominanz.<br />
Südengland mit London an der Spitze weist zwar eine ganz ähnliche Chronologie<br />
kommunaler Daten auf, wenn um 1130 der Stadt erste Rechte erteilt wurden, 1190 <strong>die</strong><br />
Kommune zum Durchbruch gelangte und Anerkennung fand und 1215 <strong>die</strong><br />
Repräsentanten Londons bei der Abfassung der Magna Charta mitwirkten. Dennoch<br />
behielt London als Herrschaftssitz und Metropole immer einen Doppelcharakter, wurde<br />
al<strong>so</strong> nie zu einer rein bürgerlich geprägten Kommunität.<br />
Ob oder inwieweit <strong>die</strong> Iberische Halbinsel in den Vorgang der Kommunebildung<br />
einbezogen und mit den anderen großen Städteregionen Mittel- und Westeuropas<br />
verglichen werden kann, bleibt vorerst unentschieden und der weiteren<br />
Forschungsdiskussion vorbehalten, weil in <strong>die</strong>sem Punkt <strong>die</strong> Ansichten deutlich<br />
differieren bzw. <strong>die</strong> vergleichende Betrachung nicht weiter verfolgt worden ist. Für<br />
nordspanische Städte, be<strong>so</strong>nders am Weg nach Santiago, lassen sich manche Parallelen<br />
und Einflüsse nachweisen, wie es das Beispiel Sahagún zeigt.<br />
Noch schwieriger ist auf der anderen Seite der Vergleich mit dem nordosteuropäischen<br />
Raum, wo es mit Nowgorod im 11./12. Jahrhundert zur Ausbildung eines "Stadtstaates“<br />
mit politischer Selbstbestimmung und differenzierten Mitwirkungsrechten der<br />
Stadtgemeinde kam, <strong>so</strong> daß man wenigstens von Ähnlichkeiten oder<br />
verwandtschaftlichen Zügen zur westlichen Kommune sprechen möchte. Mit den<br />
Gründungen der Hansestädte Riga, Reval (Tallinn) und Dorpat rückt der westliche<br />
Stadttyp ohnehin in unmittelbare Nachbarschaft zu der russischen Metropole Nowgorod.<br />
Wie es der Überblick zeigt, war <strong>die</strong> Kommunebildung durchaus kein flächendeckender<br />
Vorgang im europäischen Maßstab. Einige Regionen sind davon weitgehend unberührt<br />
geb<strong>lieben</strong>, manche verheißungsvollen Ansätze kamen nicht zur Entfaltung oder wurden<br />
wiederum herrschaftlich eingebunden. Dennoch erlangte das neue bürgerliche<br />
Selbstverständnis einen allgemeinen Orientierungswert, der nicht ohne Auswirkungen<br />
auch auf <strong>die</strong> nachgeordneten Städte blieb. Als Fazit kann man deshalb festhalten: “Auf<br />
älteren Grundlagen aufbauend bildete sich in einem komplizierten Prozeß vom 11. bis<br />
zum 13. Jahrhundert in weiten Teilen Europas das Bürgertum als eine neue politische und<br />
gesellschaftliche Kraft heraus, <strong>die</strong> bei allen herrschaftsräumlichen und kulturellen<br />
Unterschieden <strong>so</strong> viele Gemeinsamkeiten besaß, daß <strong>sie</strong> als ein <strong>die</strong> abendländische Welt<br />
prägendes Spezifikum angesehen werden kann.” (<strong>Schulz</strong> 1995, S. 275)