18.11.2013 Aufrufe

Masaryk-Festschrift, Erster Teil - NASEPblog

Masaryk-Festschrift, Erster Teil - NASEPblog

Masaryk-Festschrift, Erster Teil - NASEPblog

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

94 Hugo Fisch~r [20<br />

nischen Geistes steckt in ihm und bestimmt das neue Lebenstempo und den<br />

neuen Lebensrhythmus des europäischen Menschen: .,An die Stelle der einzelnen<br />

Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabriksgebäude<br />

füllen und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast<br />

feierlich gern essene Bewegung seiner Riesengl ieder, im fieberhaft<br />

tollen Wirbeltanz seiner za h 11 osen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht"<br />

(Marx). Eine dämonische Kraft des Europäers, deren tiefstegeschichtliche<br />

und metaphysische Voraussetzung der christliche Glaube an den arbeitenden<br />

Schöpfergott, den Gott der großen Massen, ist und bleibt, breitet sich. über den<br />

Planeten aus. Diese Kraft wirft überall politische, ökonomische, soziale, kulturelle,<br />

religiöse Probleme auf, die nur vom europäischen Boden aus, auf dem sie ursprünglich<br />

entstanden, gründlich gelöst werden können. Nur in Europa haben<br />

sie .,sachlichen" Zusammenhang. An der Lösung nehmen in einem künftigen<br />

europäischen Bunde auch die Osteuropäer, die Slaven, teil, in denen noch etwas<br />

von der urchristlichen Religiosität weiterlebt (vgl. M a s a r y k, a. a. 0.) und die die<br />

alte .,germanisch-romanische Völkerfamilie" nicht nur sprengen, sondern ergänzen<br />

und mit unverbrauchter Kraft befruchten. Europa muß die Religion,<br />

das Naturrecht und das politisch~positive Recht erst entdecken, das dem neuen<br />

Lebensrhythmus zugeordnet ist und ihn .,ideell" bestimmt. Die technisch-ökonomische<br />

und kollektivistische Existenz des modernen Europäers ist und bedeutet<br />

mehr als bloß überall üb ertragbare Zivilisation; sie ist der Vorposten,<br />

auf dem ein neues Lebenstempo ausprobiert wird, das wesentlich auch religiös<br />

beschwingt sein und das auch in den Geist und Stil künftiger Kunst eingehen<br />

wird. In Gestalt der imperialistischen Weltpolitik geht die Expansion der Intensität<br />

voraus. Sein Rechtzurquantitativen Ausbreitung erweist der Europäer<br />

erst, wenn er zu seiner ökonomischen Machtentfaltung die zusammenschließende<br />

rechtliche und politische Form hinzuerfindet Die .,Dinge" sind ausgebreitet<br />

und fixiert, es fehlt noch die .,Ordnung der Dinge". ·<br />

~. Gttundfätzliches über die gefellfdtaftlich-politifche Struktur des nBundes".<br />

Ob der gegenwärtige .,Genfer Völkerbund" als ein vielleicht vielfach ungeschickter<br />

und häßlicher Embryo eines europäischen Staatenbundes angesehen<br />

werden kann, darüber sind die Meinungen geteilt. Briand hob die Entwicklung<br />

eines atmosphärischen Bundesrechts hervor. Im Völkerbund habe sich schon<br />

eine eigene Ueberlieferung, eine bestimmte Atmosphäre, ein gewisses Milieu<br />

herausgebildet. · Die Mitarbeiter werden genötigt, über unmittelbare Egoismen<br />

hinweg sich über bestimmte Fragen auf einem gemeinsamen Boden zu verständigen.<br />

Der bedeutendste gegenwärtige deutsche Staatsrechtsdenker, Carl<br />

Schmitt, kritisiert den Völkerbund im Grunde aus einer Sehnsucht nach einem<br />

Bund, der ihm nicht echt genug sein kann. Er führt aus, daß ein Staatenzusammenhang,<br />

dem gleichzeitig England und China, Australien und Japan,<br />

Deutschland und Frankreich, Norwegen und Aethiopien angehören, nach allgemeinen<br />

soziologischen Gesetzen sehr lose bleiben müsse und die einzelnen<br />

Mitglieder ungleich erfasse. Die Verschiedenheiten der Kulturkreise, der Rassen<br />

und der Religionen müßten zu Gegensätzen führen. Man könnte dazu . sagen,<br />

daß durch den maßgebenden .,Rat" des Völkerbundes die großeneuropäischen<br />

Mächte entscheidenden Einfluß haben. Es erhebt sich aber der neue Einwand,<br />

Der Realismus und das EuropäerlutrJ 95<br />

daß Rußland fehlt, und daß Universalität ein wesentliches Kriterium des Bundes<br />

ist. Was die formaljuristischen Kriterien des .,Bundes~ betrifft, so zeigt sich<br />

der Genfer Völkerbund als ein Mischgebilde: Die satzungsmäßigen Beschlüsse<br />

des Genfer Völkerbundes gelten ohne besondere Ratifikation unmittelbar für<br />

alle Mitgliedstaaten. Hier enthält der Genfer Völkerbund ein EI ement echter<br />

Bundesorganisation, während er im übrigen kein echter Bund ist, wodurch<br />

eine unabsehbare Verwirrung entsteht" (Schmitt, Verfassungslehre). Es fragt<br />

sich, ob sich die formaljuristischen Kriterien aufstellen lassen, bevor das einmalige<br />

konkrete Bundesgebilde über alle besonderen Schwierigkeiten hinweg<br />

und von den bestimmten geschichtlichen Ansätzen her Realität geworden ist.<br />

Gewisse Widersprüche muß jeder Bund verdauen, wie der nordamerikanische<br />

Bund den Widerspruch zwischen demokratischen Nordstaaten und agrarischaristokratischen<br />

Südstaaten; wie das Bismarcksche Bundesreich, das gegenwärtige<br />

englische und das russische Imperium jeweils einen ganzen Rattenkönig<br />

von Antinomien. Allerdings muß eine Homogenität noch formgebend<br />

überwiegen. Meist wird man diese Gleichartigkeit nicht sofort überschauen,<br />

identifizieren und auf eine rationale Formel bringen können. Auf jeden Fall<br />

ist- einzweites Formalkriterium- in einem Bund- wiein jedem politischen<br />

Gebilde - eine Grundlage physischer Macht notwendig, die Interventionen ermöglicht,<br />

damit die Homogenität aufrecht erhalten bleibt. Gleichartig mü:ssen<br />

die Mächte, die Mitglieder des Bundes sind, nicht nur in ihrer momentanen<br />

Verfassung, sondern vor allem in ihrer geschichtlichen Entwicklungsrichtung<br />

sein. Kulturell, gesellschaftlich, ökonomisch, politisch müssen sie ungefähr im<br />

gleichen Rhythmus aufblühen~ damit kein Glied das andere auffrißt. Die Gleichartigkeit<br />

der Entwicklungsrichtung scheint unter den gegenwärtigen<br />

europäischen Staaten gegeben zu sein; auch auf Grund des Weltkriegsringens<br />

ist es nicht gelungen, einen von ihnen zu erobern, und weiterhin vollzieht sich<br />

Verfall und Aufstieg (bis in die Inflations- bezw. Deflations-, die Arbeitslosenund<br />

Finanzkrisen) in einem gemeinsamen Rhythmus. Die schwierigste Frage<br />

ist, worin das immer wieder Identische in den aufeinanderfolgenden<br />

Situationen liegt. Es liegt nicht mehr in einem "Gleichgewicht"; das kontinentale<br />

Gleichgewichtssystem ist mit dem innerpolitischen System des monarchisch-liberalistischen<br />

Konstitutionalismus, mit dem Gleichgewicht der inneren<br />

Gewalten, endgültig verfallen. Die modernen Mächte, Kartelle und Gewerkschaften,<br />

Parteien mit Riesenapparaten, interkontinentale Mächte und moderne<br />

Staatenbünde, Diktaturen und Massenbewegungen von Proletariern und Nationalisten<br />

auf der Straße, Papismus, interparlamentarische Konferenzen, kontinentaleuropäisches,<br />

finanzimperialistisches Machtbestreben, alldas liegt jeweils<br />

auf ganz verschiedener politischer Ebene, und es fehlt jede Voraussetzung, daß<br />

diese Mächte so zusammenkommen, daß sie sich in einem "Gleichgewichtssystem"<br />

ausbalancieren. Wilhelm von Oranien und Ludwig XVI. konnten sich<br />

noch auf einer einzigen übersichtlichen Ebene in kunstvoller Technik ausgleichen,<br />

zwischen dem kontinental orientierten Napoleon und dem englischen<br />

Kolonialreich besteht bereits keine Möglichkeit mehr, eine Balance zu halten.<br />

Ein künftiger Bund ist nur möglich, indem sich Schicht für Schicht das Zusammengehörige<br />

nach Maßgabe der Staffelung aller Schichten zusammenordnet.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!